Die seltsamsten Sprachen der Welt - Harald Haarmann - E-Book

Die seltsamsten Sprachen der Welt E-Book

Harald Haarmann

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  • Herausgeber: C. H. Beck
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

EINE REISE ZU DEN SELTSAMSTEN SPRACHEN DER WELT

Viele Sprachen erscheinen uns fremdartig, weil wir ihre Schnalzlaute nicht hervorbringen oder ihren Satzbau mit den vertrauten grammatischen Rastern nicht erfassen können. Der renommierte Sprachwissenschaftler Harald Haarmann beschreibt 49 Sprachen mit seltsamen Eigenheiten und lässt uns über die Vielfalt der menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten staunen.

  • Von afrikanischen Klicklauten und deutschen Schachtelsätzen – die wundersame Welt der Sprachen
  • Was spezielle Wortschätze und sonderbare Satzkonstruktionen über ihre Sprecher verraten
  • Für alle Sprachinteressierten und Weltreisenden
  • Das ideale Buch zum Schmökern, Staunen und Lernen

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Harald Haarmann

Die seltsamsten Sprachen der Welt

Von Klicklauten und hundert Arten, «ich» zu sagen

C.H.Beck

Zum Buch

Viele Sprachen erscheinen uns fremdartig, weil wir ihre Schnalzlaute nicht hervorbringen oder ihren Satzbau mit den vertrauten grammatischen Rastern nicht erfassen können. Harald Haarmann beschreibt kurzweilig und kenntnisreich 49 Sprachen mit seltsamen Eigenheiten: ungewöhnliche Lautsysteme, fremdartige Grammatiken, sonderbare Wortschätze, seltsame Zählweisen, Sprachen, die sich je nach sozialer Beziehung ändern, spezielle Sakralsprachen, rätselhafte Schriften sowie Plansprachen. Viele dieser Sprachen erscheinen aus der Sicht des Deutschen seltsam, aber beschrieben werden auch Sprachen, die seltene Eigenheiten aufweisen. So rückt auch das Deutsche selbst mit seinen einzigartigen Schachtelsätzen ins Visier.

Über den Autor

Harald Haarmann gehört zu den weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftlern. Er wurde u.a. mit dem Prix Logos der Association européenne des linguistes, Paris, sowie dem Premio Jean Monnet ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Bei C.H.Beck erschienen u.a. «Geschichte der Schrift» (5. Aufl. 2017), «Weltgeschichte der Sprachen» (3. Aufl. 2016) sowie zuletzt «Vergessene Kulturen der Weltgeschichte» (2. Aufl. 2019).

Inhalt

Einleitung: Was heißt hier seltsam?

1. Eigenartige Lautsysteme

Urtümliche Klicklaute in den Khoisan-Sprachen

Ubychisch: Achtzig Konsonanten und zwei Vokale

Ein Geisterfahrer im Französischen: Das behauchte h

Warum Vietnamesen in zwitschernden Tonhöhen sprechen

Eine konzertierte Aktion: Finnische Vokalharmonie

Wie schreit der Hahn in den Sprachen der Welt?

2. Seltsamkeiten in Grammatik und Satzbau

Hopi: Auf der Suche nach der erlebten Zeit

Das Baskische und seine zwölf Kasusformen

Erster oder zweiter Hand: Erlebnisformen im Jukagirischen

Die spinnen, die Finnen: Vom Stufenwechsel und der Schwierigkeit, «nein» zu sagen

Haben oder nicht haben: Was alte Sprachkontakte im Russischen bewirkt haben

Die Welt in Schubladen: Nominalklassen im Thailändischen

Sprache als Navigator: Das Orientierungspotential sibirischer Eskimosprachen

Archaische Sprachrelikte: Der Sonderfall des Ainu

Wortketten im Yupik

Pidgin: Kleine kanakendeutsche Grammatik

Ajándékképpen: Die ungarische Kunst, mit Suffixen zu sprechen

Von den Ursprüngen deutscher Bandwurmsätze

3. Wortschätze

Kamelzucht auf Somali

Wenn es regnet auf Hawaii

Baskische Verwandtschaftsverhältnisse

Das Gespür der Saamen für Schnee

Maltesisch: Ein Hybrid auf arabischer Grundlage

Die zeitlose Sprache der japanischen Teezeremonie

Hethitisch: Die älteste multikulturelle Sprache

Das Vokabular der Traumzeit: Schlüssel zur Welt der australischen Aborigines

4. Seltsame Arten, zu zählen

Zählsysteme in Korea und im Himalaya

Die heilige 13 und die Zahlenschreibung im Maya

Zählen in einer fremden Sprache: Spanische Zahlwörter bei den Filipinos

5. Status und Sozialverhalten sprachlich markieren

Wenn Göttinnen sprechen: Die Frauensprache im Sumerischen

Frauen bevorzugt: Verwandtschaftsterminologie im Crow

Im Land der rituellen Harmonie:Höfliche Sprache in Japan

Das Khmer und die hundert Arten, «ich» zu sagen

Wer mit wem sprechen darf: Kommunikationsregeln bei den Dyirbal

Per Du oder per Sie? Höflichkeitscodes im Englischen

Visualisierte Hierarchie: Die Schriftsysteme des Altägyptischen

6. Sakral-, Ritual- und Tabu-Sprachen

Der Bär als Urahn: Die mythologische Sondersprache der Westsibirier

Tautaua gegen Darmverstopfung: Zur Öffnung des geheimen Heilwissens der Maori

Mit den Ahnen sprechen: Parallelwelten der Katu

Das Wirken der Geister: Namengebung im Grönländischen

Koptisch: Altägyptisches Erbe in einer christlichen Nischensprache

7. Merkwürdige Schriften

Ein Politikum: Schriftgebrauch in Süd- und Nordkorea

Fossil der Sprachgeschichte: Die Bildzeichenschrift der Naxi in Südchina

Der Geheimcode der Osterinsel: Die Rongorongo-Tafeln

Rätsel um die glagolitische Schrift: Von der Slawenmission bis zu Video Games in Kroatien

Die Abur-Schrift der Komi: Heidnische Zeichen im Dienst der christlichen Überlieferung

8. Geplante Sprachen

Phönix in neuem Glanz:Die Wiederbelebung des Hebräischen

Esperanto: La sola lingvo, kiun ĉiu komprenas

Klingonisch für Anfänger: Kommunikation mit den Aliens

Literaturhinweise

Einleitung: Was heißt hier seltsam?

1. Eigenartige Lautsysteme

Urtümliche Klicklaute in den Khoisan-Sprachen

Ubychisch: Achtzig Konsonanten und zwei Vokale

Ein Geisterfahrer im Französischen: Das behauchte h

Warum Vietnamesen in zwitschernden Tonhöhen sprechen

Eine konzertierte Aktion: Finnische Vokalharmonie

Wie schreit der Hahn in den Sprachen der Welt?

2. Seltsamkeiten in Grammatik und Satzbau

Hopi: Auf der Suche nach der erlebten Zeit

Das Baskische und seine zwölf Kasusformen

Erster oder zweiter Hand: Erlebnisformen im Jukagirischen

Die spinnen, die Finnen: Vom Stufenwechsel und der Schwierigkeit, «nein» zu sagen

Haben oder nicht haben: Was alte Sprachkontakte im Russischen bewirkt haben

Die Welt in Schubladen: Nominalklassen im Thailändischen

Sprache als Navigator: Das Orientierungspotential sibirischer Eskimosprachen

Archaische Sprachrelikte: Der Sonderfall des Ainu

Wortketten im Yupik

Pidgin: Kleine kanakendeutsche Grammatik

Ajándékképpen: Die ungarische Kunst, mit Suffixen zu sprechen

Von den Ursprüngen deutscher Bandwurmsätze

3. Wortschätze

Kamelzucht auf Somali

Wenn es regnet auf Hawaii

Baskische Verwandtschaftsverhältnisse

Das Gespür der Saamen für Schnee

Maltesisch: Ein Hybrid auf arabischer Grundlage

Die zeitlose Sprache der japanischen Teezeremonie

Hethitisch: Die älteste multikulturelle Sprache

Das Vokabular der Traumzeit: Schlüssel zur Welt der australischen Aborigines

4. Seltsame Arten, zu zählen

Zählsysteme in Korea und im Himalaya

Die heilige 13 und die Zahlenschreibung im Maya

Zählen in einer fremden Sprache: Spanische Zahlwörter bei den Filipinos

5. Status und Sozialverhalten sprachlich markieren

Wenn Göttinnen sprechen: Die Frauensprache im Sumerischen

Frauen bevorzugt: Verwandtschaftsterminologie im Crow

Im Land der rituellen Harmonie: Höfliche Sprache in Japan

Das Khmer und die hundert Arten, «ich» zu sagen

Wer mit wem sprechen darf: Kommunikationsregeln bei den Dyirbal

Per Du oder per Sie? Höflichkeitscodes im Englischen

Visualisierte Hierarchie: Die Schriftsysteme des Altägyptischen

6. Sakral-, Ritual- und Tabu-Sprache

Der Bär als Urahn: Die mythologische Sondersprache der Westsibirier

Tautaua gegen Darmverstopfung: Zur Öffnung des geheimen Heilwissens der Maori

Mit den Ahnen sprechen: Parallelwelten der Katu

Das Wirken der Geister: Namengebung im Grönländischen

Koptisch: Altägyptisches Erbe in einer christlichen Nischensprache

7. Merkwürdige Schriften

Ein Politikum: Schriftgebrauch in Süd- und Nordkorea

Fossil der Sprachgeschichte: Die Bildzeichenschrift der Naxi in Südchina

Der Geheimcode der Osterinsel: Die Rongorongo-Tafeln

Rätsel um die glagolitische Schrift: Von der Slawenmission bis zu Video Games in Kroatien

Die Abur-Schrift der Komi: Heidnische Zeichen im Dienst der christlichen Überlieferung

8. Geplante Sprachen

Phönix in neuem Glanz: Die Wiederbelebung des Hebräischen

Esperanto: La sola lingvo, kiun ĉiu komprenas

Klingonisch für Anfänger: Kommunikation mit den Aliens

Register

Einleitung: Was heißt hier seltsam?

Das Wort «seltsam» bedeutete im frühen Mittelalter neutral «selten zu sehen», hat aber im Laufe der Jahrhunderte vielerlei wertende Nuancen bekommen. Heute meinen wir damit meist «eigenartig, sonderbar, merkwürdig, fremdartig, befremdlich, ungewöhnlich, komisch» oder auch «wunderlich». Das Gegenteil wäre «normal», «nicht weiter auffällig». Was «normale» und was «seltsame» Sprachen sind, kann man auf zweierlei Weise bestimmen. Erstens hängt es subjektiv von der eigenen Vorkenntnis und Perspektive ab, ob man etwas Fremdes seltsam findet. In diesem Sinne liegt das Seltsame immer im Auge des Betrachters, dem die eigene Muttersprache normal vorkommt. Das Seltsame ist nicht immer das Seltene.

Zweitens kann man Sprachen vergleichen und seltene Merkmale in der Lautbildung, im Satzbau oder im Vokabular bestimmen. Amerikanische Linguisten haben versucht, nach zwanzig Kriterien eine Rangliste der merkwürdigsten Sprachen zu erstellen (Bach 2013). Von den 239 untersuchten Sprachen landete ein mexikanischer Dialekt auf Platz 1, weil man hier zum Beispiel weder an der Wortstellung noch an der Betonung erkennen kann, ob ein Satz eine Frage oder eine Aussage ist. Auf Platz 10 folgte bereits Deutsch. Hindi stellte sich als die normalste Sprache heraus. Wie objektiv solche Rankings sind, bleibt freilich offen, denn die untersuchten Sprachen bilden nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus der Vielfalt der heute gesprochenen Sprachen und Dialekte, und auch die Auswahl der Kriterien ist bereits eine Vorentscheidung.

Das vorliegende Buch versucht einen Mittelweg. Es behandelt Sprachen, die uns aus der Perspektive des Deutschen seltsam vorkommen, aber auch Sprachen, die seltene Merkmale aufweisen, etwa besondere Baupläne, und in diesem Sinne seltsam genannt werden können. Die Schnittmenge zwischen der subjektiven Seltsamkeit und der objektiven Seltenheit ist groß, aber thematisiert werden auf diese Weise auch Sprachen, die uns subjektiv gar nicht seltsam vorkommen, etwa das Deutsche, Französische oder Englische, eben weil wir sie kennen.

Es gibt viele Dinge, für deren Beschreibung uns die Wörter fehlen und die wir darum oft gar nicht bewusst wahrnehmen. Unterschiedliche Sprachen bringen unterschiedliche Wahrnehmungen der Welt zum Ausdruck (Deutscher 2020). Das sieht man schon daran, wie in unterschiedlichen Sprachen gezählt wird oder wie in ihnen lautmalerisch der Hahn schreit. In letzterem Beispiel wird schnell die komische Bedeutungsnuance von «seltsam» evident. «Wir können eine unfassbare Anzahl von Dingen in all ihrem herrlichen phänomenologischen Reichtum, ihrer sinnlichen Tiefe und ihrer Subtilität erleben, ohne dabei die Mittel zu besitzen, sie zuverlässig zu identifizieren. Wenn das aber so ist, können wir eigentlich nicht über sie sprechen» (Metzinger 2011: 79f.). Ein Mitteleuropäer kann über Schneeverhältnisse nur so weit sprechen, wie er in seiner Sprache dafür geeignete Ausdrücke findet. Wenn er nach Lappland reist und mit einem saamischen Rentierzüchter nördlich des Polarkreises ins Gespräch kommt, kann der Saame dem Besucher unzählige Nuancen des Schnees auf Saamisch erklären, für die dieser selbst gar keine Begriffe hätte.

Sprachen können aber auch seltsam wirken, weil in ihnen bestimmte Ausdrucksweisen fehlen, die in anderen Sprachen selbstverständlich sind. Im Russischen gibt es zwar ein Existenzverb est’ («sein»), das aber nicht in den Kontexten verwendet wird, in denen wir es erwarten würden. Der Satz «Meine Mutter ist zu Hause» heißt auf Russisch moja mat’ doma («Meine Mutter zu Hause»). Zwischen mat’ und doma fehlt die Form des Existenzverbs, das der Sprecher sozusagen nur «mitdenkt». Dieses Phänomen ist in der Sprachwissenschaft als «Nullzeichen» (ø) bekannt. «Jede Sprache verfügt über eine riesige Menge an sprachlichen Ausdrücken: Laute, Silben, Wörter, Sätze und ganze Texte – jede Schulgrammatik dekliniert dies endlos durch. Dies ist die sichtbare und hörbare Seite, die Helle Materie von Sprachen. Linguisten und Semiotiker wissen jedoch schon seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, dass in jeder natürlichen Sprache und ihrem System auch dunkle Zeichen beteiligt sind, die keinen eigenen Ausdruck haben, aber jede Grammatik entscheidend mitprägen, die sogenannten ‹Nullzeichen›: Dies ist grammatische Dunkle Materie» (Hinrichs 2014: 106).

In der Sprache kristallisiert sich das Bewusstsein der Sprecher einer Kultur (Jackendoff 2007), und dazu gehören auch die sozialen Verhältnisse. Das kann zu Besonderheiten in der Sprache führen, die wir als merkwürdig wahrnehmen. Wir erwarten selbstverständlich, dass jede Sprache ein Wort für «ich» haben muss – und in der Regel auch nur eins. Für Menschen, die Khmer, also Kambodschanisch sprechen, ist es jedoch unmöglich, einfach «ich» zu sagen, ohne den eigenen Sozialstatus im Verhältnis zu dem der angeredeten Person (auch Altersunterschiede, Geschlecht etc.) zu markieren. Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Wörtern, deren Nuancen verloren gehen, wenn wir sie alle mit «ich» übersetzen. In einigen Sprachen Sibiriens, etwa im Jukagirischen, muss mit grammatischen Formen unterschieden werden, ob man etwas selbst erlebt oder es aus zweiter Hand erfahren hat.

Auch in der Assoziation von Sprache mit Schrifttechnologie haben sich in einigen Sprachen der Welt sonderbare Eigenheiten entwickelt. So spiegelt sich im Schriftgebrauch des Alten Ägypten die strenge Sozialhierarchie der damaligen Gesellschaft: Die Hieroglyphenschrift war für zeremonielle Texte reserviert, die hieratische Schrift war der Priesterschaft vorbehalten und die demotische für den Alltag bestimmt.

So wie die sozialen Verhältnisse haben auch religiöse Vorstellungen viele Sprachen geprägt. In der sumerischen Gesellschaft kommunizierten die Menschen mit Göttinnen anders als mit Göttern, nämlich in einer speziellen Frauensprache. In einigen Kulturen hat sich ein Spezialwortschatz für die Kommunikation mit Göttern und Geistern entwickelt, der nur von Spezialisten erlernt werden darf und ansonsten tabu ist, etwa bei westsibirischen Völkern, die in Ritualen um den mythischen Bären das Tier nicht beim Namen nennen dürfen, oder bei den Katu in Laos und Vietnam, die für alle Phänomene des Übersinnlichen einen Parallelwortschatz entwickelt haben. Die mühelose Kommunikation zwischen Extraterrestrischen und Irdischen in einfach gestrickten Science-Fiction-Filmen erinnert dagegen an die antiken Mythen, in denen sich Götter und unsterbliche Heroen problemlos in ihrer Muttersprache mit den Sterblichen verständigen. Für die Klingonen in der Serie Star Trek wurde dagegen eigens eine künstliche Sprache entworfen, die inzwischen von Star-Trek- Fans als Fremdsprache erlernt wird.

Was im vorliegenden Buch zusammengetragen wurde, ist nicht als Kuriositätenkabinett gedacht. Vielmehr will das Buch vor Augen führen, wie vielfältig die kulturellen Muster sind, aus denen die Sprachen hervorgehen, und wie nahezu grenzenlos das menschliche Potenzial, mit Lauten zu kommunizieren und Gedanken sprachlich zu organisieren. Die Vielzahl sprachlicher Sonderformen ist als Reichtum zu begreifen und als Einladung, die Welt mit anderen Augen – oder besser: mit anderen Sprachen – zu sehen. Das Seltsame in seinem Eigenwert und als Bereicherung zu verstehen, dazu will dieses Buchs anregen. Wer das scheinbar Seltsame so versteht, der blickt zugleich in einen Spiegel, in dem er sich selbst und seine eigene Sprache neu wahrnehmen und verstehen kann.

1.

Eigenartige Lautsysteme

Urtümliche Klicklaute in den Khoisan-Sprachen

Im weltweiten Vergleich heben sich einige Sprachen durch ganz besondere Laute aus der großen Masse der rund siebentausend Sprachen heraus, die auf der Welt verbreitet sind. Im südlichen Afrika werden Sprachen gesprochen, die ganz eigenartige, urtümliche Laute kennen. Dies ist die Makrogruppierung der Khoisan-Sprachen, die früher auch «Schnalzsprachen» (engl. click languages) genannt wurden. Die wichtigsten Sprachen dieser Gruppe sind das Khoikhoi (die Sprache der Hottentotten), das San (die Sprache der Buschmänner) und das Nama. Der Name für die Buschmänner, San, stammt aus dem Khoikhoi und bedeutet «die Leute, die Dinge vom Boden aufsammeln». Die Europäer haben die San während der Kolonialzeit als Jäger und Sammler kennengelernt. Die Khoikhoi hatten über ihre Kontakte mit der Bantu-Bevölkerung die Viehhaltung übernommen.

Nach Schätzungen leben im südlichen Afrika rund 300.000 Khoikhoi, rund 200.000 Nama und rund 90.000 San. Die regionalen Gruppen sind auf die Territorien von Botswana, Namibia, Lesotho, Südafrika, Angola, Sambia und Simbabwe verteilt. Den Khoikhoi hatten die Holländer der Kapkolonie den Namen Hottentotten gegeben. Sie sollen die Einheimischen oft betrunken gemacht und sie animiert haben, einen rituellen Tanz aufzuführen. Der rhythmische Gesang, der den Tanz begleitete, klang in den Ohren der Kapholländer wie «hot-en-tot».

Die Khoisan-Sprachen sind dialektal stark zersplittert. Ihre genetische Verwandtschaft untereinander schlüssig nachzuweisen, ist schwer. Da diese Sprachen schriftlos und viele Kleinsprachen während der Kolonialzeit (19. und 20. Jahrhundert) ausgestorben sind (wie das Prieska, Maluti, Khakhea, Xiri, Kwadi u.a.), ist das Sprachmaterial für einen historischen Vergleich zum Nachweis einer Sprachfamilie – über viele Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zurück in die Geschichte – sehr begrenzt. Die Khoisan-Sprachen sind aber nicht irgendeine der vielen Sprachfamilien Afrikas, denn sie sind bis heute in einer Region verbreitet, wo die anthropologische Forschung die Ursprünge der Hominiden-Spezies verortet. Hier wird deutlich, dass der sprachhistorischen Forschung Grenzen gesetzt sind, wie überhaupt die Rekonstruktion von Sprachfamilien lediglich wenige Jahrtausende in die Geschichte zurückgreifen kann. Im günstigsten Fall – wie im Fall der indoeuropäischen Sprachfamilie – öffnet sich auf dem zeitlichen Horizont ein Fenster von maximal achttausend Jahren.

Die Entwicklung der Hominiden als eigener Zweig in der Evolution der Primaten hat aber bereits vor mindestens sieben Millionen Jahren begonnen, also in einer Zeit, in die höchstens die humangenetische Forschung vordringen kann. Wie also die Sprache der frühen Hominiden (Homo australopithecus, Homo habilis, Homo erectus, u.a.) beschaffen war, darüber kann man nur vorsichtig spekulieren (Haarmann 2006: 28ff.). Die Forscher sind sich einig, dass die Vorfahren der Sprecher des Khoikhoi und des San nicht von anderswoher in die Region eingewandert sind, in der ihre Nachkommen bis heute leben (Rito et al. 2013).

Die ältesten Felsbilder Südafrikas werden den Vorfahren der Buschmänner zugeschrieben. Dies trifft auch auf symbolische Ritzungen auf Objekten zu, die man in Höhlen gefunden hat, wie in der Blombos Cave an der Kapküste. Die Datierung ergab einen Horizont zwischen 70.000 und 77.000 Jahren vor der Jetztzeit (Haarmann 2007: 45f.). In der Nähe der Höhle wurden auch Fußspuren des anatomisch modernen Menschen («Fußspuren Evas» genannt) gefunden, rund 117.000 Jahre alt. Damals waren die Vorfahren der Khoisan-Populationen im gesamten südlichen und östlichen Afrika verbreitet. Das heutige Siedlungsgebiet ist ein Rückzugsgebiet dieser Gruppen.

Wenn die Khoikhoi und San Nachkommen der einheimischen Bevölkerung der Region sind, müssen ihre Sprachen späte Ausgliederungen der frühesten Sprachform des Homo sapiens sein, die dort vor Urzeiten gesprochen wurde. Neuere humangenetische Untersuchungen zur mitochondrialen DNA (der weiblichen Linie) in Populationen wie den Hadza, den Ju|’hoansi (!Kung) und Sandawe zeigen, dass sich diese Gruppen bereits vor Jahrzehntausenden aus dem lokalen Hominidenzweig ausgegliedert haben (Knight et al. 2003). Es öffnet sich ein Zeitfenster für die Ausgliederung zwischen mindestens 150.000 und maximal 260.000 Jahren vor der Jetztzeit.

Heutzutage sind Schnalz- oder Klicklaute in den Khoisan-Sprachen und in lokalen Kontaktsprachen verbreitet (Tishkoff et al. 2007). Es ist nur eine einzige Sprache außerhalb Afrikas bekannt, die Schnalze verwendet hat. Dies ist das Damin, eine ausgestorbene Aborigine-Sprache in Australien. Die Verwendung von Schnalzlauten war im Damin auf den Sprachgebrauch in einer besonderen Variante beschränkt, der Ritualsprache, die ausschließlich Männern in Initiationsriten beigebracht wurde.

Das Vorkommen von Klicklauten in der Region, von wo sich Hominidenspezies verbreitet haben (südliches Afrika), sowie in einem Rückzugsgebiet von Reliktsprachen (Australien) spricht dafür, dass die Gewohnheit, solche seltenen Laute zu verwenden, eine uralte Tradition fortsetzt. Diese ist wohl über die Migrationen der Hominiden aus Afrika bis nach Südostasien und Australien gelangt und hat sich dort als Relikt bis in die historische Zeit gehalten.

Diese Tradition muss im Ursprungsgebiet fest verankert gewesen sein, denn im Kontakt der Khoisan mit ihren Nachbarn (d.h. Nicht-Khoisan-Ethnien) haben deren Sprachen ebenfalls die Sprachtechnik der Schnalze übernommen und tradiert. Zu diesen Kontaktsprachen gehören einige Bantusprachen, mit denen die Khoisan-Gruppen seit mehr als tausendfünfhundert Jahren interagiert haben, sowie einige Sprachen, die sich nicht mit Sicherheit irgendeiner der bekannten Sprachfamilien zuordnen lassen, wie Sandawe, Hadza oder Dahalo.

Es werden mindestens vier Klick- oder Schnalzlaute unterschieden, sie kommen in allen Khoisansprachen vor. In den südlichen Dialekten gibt es einen fünften Schnalz, und in einigen lokalen Sprachvarianten noch weitere; die Forscher sind sich hier nicht ganz einig. Die linguistische Beschreibung der Schnalzlaute ist denkbar komplex. Ein erstes Schema wurde in den 1930er Jahren für die Schnalze des Nama erstellt, das mit einigen Modifikationen auch heute noch in Gebrauch ist. Es gibt die unterschiedlichsten phonetischen Beschreibungen der Artikulationsstellen im Mund und verschiedene Transkriptionen für die Klicklaute, die folgenden sind klar und sehr gebräuchlich (Vossen 2013):

ǀ

dental (am Zahnfleisch),

ǃ

alveolar (mit Zungenwölbung),

ǁ

lateral-alveolar (seitlich mit Zungenwölbung),

ǂ

palatal (am Gaumen),

ʘ

bilabial (mit beiden Lippen gebildet) 

Die Markierung der Schnalze durch Sonderzeichen zur Notation von Sprachmaterial orientierte sich an den Verhältnissen im Nama. «Wäre der Gebrauch dieser seltsamen Orthographie nur auf das Nama beschränkt geblieben, hätten sich die mit ihr verbundenen Probleme in Grenzen gehalten. Aber diese Schreibung der Effluxe [Schnalzlaute] in der vom praktischen Gesichtspunkt aus bei weitem bedeutendsten Khoisansprache musste auch manchen gleichzeitigen Versuch, andere Khoisansprachen niederzuschreiben, beeinflussen» (Winter 1981: 350). Daher unterscheidet man heute, je nach Artikulationsstelle, für alle Khoisansprachen mindestens acht Arten von Klicklauten, entsprechend komplex ist ihre Darstellung. Und die Verteilung und Quantität von Klicklauten, d.h. die Zahl der Varianten von Effluxen bzw. Plosivlauten in den einzelnen Sprachen, zeigt ein hohes Maß an Komplexität (vgl. en.wikipedia.org/wiki/Click_consonant).

Artikulationsstellen

Einzelsprachen

Nur dental: ǀ

Dahalo

1 Efflux, variabel: ǀ ~ ǃ ~ ǁ

Sotho, Gciriku, Mbukushu

2 Effluxe: ǀ, ǂ

Kwadi

2 Effluxe: ǀ, ǁ

ǁXegwi

3 Effluxe: ǀ, ǃ, ǁ

Sandawe, Hadza, Xhosa, Zulu

4 Effluxe: ǀ, ǂ, ǃ, ǁ

Korana, Khoekhoe, Yeyi, Juǀʼhoan

4 Effluxe: ǀ, ǂᶴ, ǃ, ǁ

Ekoka !Kung

5 Effluxe: ʘ, ǀ, ǂ, ǃ, ǁ

ǂHõã, Nǀu, ǀXam, Taa

5 Effluxe ǀ, ǂ, ǃ, ‼, ǁ

Grootfontein !Kung

5 Effluxe, ʘ, ʘ↑, ǀ, ǃ, ‼

Damin

Bei den Klick- und Schnalzlauten handelt es sich nicht nur um Laute mit bestimmter Artikulationsbasis, sondern einzelne Schnalze haben auch phonematische Funktion, d.h. sie sind bedeutungsunterscheidend.

Die ersten Europäer, die im 19. Jahrhundert versucht haben, mit Klicklauten umzugehen, waren Missionare. Manche Europäer, die sich bemühten, eine Khoisan-Sprache zu lernen, aber unfähig waren, die seltsamen Laute zu artikulieren, sollen in Gesprächssituationen jeweils mit den Fingern geschnippt haben, um Schnalze zu imitieren.

Ubychisch: Achtzig Konsonanten und zwei Vokale

Die Zahl der in natürlichen Sprachen vorkommenden Laute mutet fast grenzenlos an, wenn es allein um den akustischen Eindruck geht (Ladefoged / Maddieson 1996). Die Variationsbreite von Lauten, die von Menschen beim Sprechen ihrer Sprachen hervorgebracht werden, ist im Hinblick auf ihre Artikulationsbasis enorm und umfasst mehrere Tausend Einzellaute. Wenn man allerdings das Kriterium anlegt, welche der Laute in einer Sprache die Funktion übernehmen, Bedeutungsunterschiede von Wörtern zu bewirken (Gut vs. Hut vs. Mut vs. Wut), dann ist die Zahl deutlich reduziert. Dennoch zeigen sich hier im Vergleich der Sprachen der Welt extreme Unterschiede: Die jeweilige Anzahl der Laute mit bedeutungsunterscheidender Funktion, also der Phoneme, variiert stark (Haarmann 1991: 246f.). Es gibt Sprachen mit einer signifikant geringen Anzahl von Phonemen (z.B. Hawaiianisch: 13, Maori: 15, Arapaho: 16); Sprachen mit einer durchschnittlichen Anzahl von Phonemen (z.B. Englisch: 36, Armenisch: 36, Finnisch: 39); und Sprachen mit einer signifikant großen Zahl von Phonemen (z.B. Litauisch: 57, Ubychisch: 82, Kildin-Saamisch: 116).

Hinsichtlich der Differenzierungen seines Lautsystems ist das Ubychische eine Sprache der Superlative. Es ist eine kaukasische Sprache und gehört zur regionalen abchasisch-adygeischen Untergruppe des Nordwestkaukasischen. Die meisten Sprecher leben heutzutage im Kaukasusvorland auf türkischer Seite. Im Ubychischen stehen lediglich zwei Vokale in Opposition zu einer Vielzahl von Konsonanten (insgesamt 80), d.h. in einem Verhältnis von 1: 40. Die Vokale können allerdings sowohl kurz als auch lang auftreten, z.B.: azbejan (mit zweitem kurzen a) «ich sehe ihn»: azbejān (mit zweitem langen a) «ich sehe sie (Plural)».

Der Grad der Differenzierung im System der Konsonanten ist extrem (Kumachov 1967: 692f.). So ist das p in vier Qualitäten vorhanden: p, p̱, p’, p̱’, einfach aspiriert, verengt/pharyngalisiert aspiriert, als einfacher Kehllaut, als verengter Kehllaut, das z in sechs: z, z̆°, ž, ž’, ż, z°, das q sogar in acht Qualitäten; es gibt drei verschiedene l-Laute, und so weiter und so fort. Da, wo in den Sprachen mit «Durchschnittssystem» zwischen einfach-stimmhaftem und einfach-stimmlosem Konsonant unterschieden wird, fächert sich im Ubychischen die entsprechende Opposition äußerst komplex aus.

Bedeutungsunterscheidungen ubychischer Wörter durch Konsonantenphoneme

Opposition

Beispielwörter

b: ḇ

-ba «falls»

ḇa- «stapeln, sammeln»

m: m̱

ma (Verneinung)

m̱a «Apfel»

w: w̱

wa «lang»

w̱a «Hund»

z: ż

za «eins»

ża «Kamm»

ž: ž’

ža «Baumstrunk»

ž’áwa «Schatten»

z°: z̆°

z°ə «(Menschen-)Menge»

z̆°ə «alt»

x: x̄

xa- «stricken»

x̄á- «kratzen»

x°: x̄°

x°a- «bitten, flehen»

x̄°a «Schwein»

c: ċ

ca «Suppe»

ċa «Schachtel»

c’: ċ’

c’a «fliehen»

ċ’a- «wissen»

Ein Geisterfahrer im Französischen: Das behauchte h

Nach Sprachen mit seltsam anmutenden Techniken oder Ausdrucksweisen muss man nicht unbedingt in der Ferne suchen, es gibt sie auch in unserer Nähe. Seltsame Sprechgewohnheiten hat zum Beispiel das Französische. Wer es auch nur ein wenig gelernt hat, dem ist bewusst, dass französische Orthographie und Lautung sehr komplex sind, ganz zu schweigen davon, dass die Wiedergabe der Sprachlaute in der Rechtschreibung alles andere als einleuchtend und regelhaft ist. So werden geschriebene Buchstaben häufig gar nicht ausgesprochen. Diese Diskrepanz zwischen Schreibung und Lautung hängt damit zusammen, dass die Schreibung extrem konservativ ist und sich an der Aussprache orientiert, wie sie im Mittelalter verbreitet war. Die Lautung hat sich allerdings im Laufe der Jahrhunderte stark gewandelt, so dass die ehemals existente Verbindung mit der Schreibung in weiten Teilen abgerissen ist (Söll 1980).

Buchstaben, die in bestimmten Positionen im Wort zwar geschrieben, nicht aber gesprochen werden, werden in anderen Positionen durchaus ausgesprochen; z.B. bleibt das -s in Endposition zur Markierung des Plural wie in les maisons «die Häuser» stumm, das –s- in der Mitte klingt jedoch. Nun gibt es aber einen geheimnisvollen Buchstaben, der nur geschrieben, aber im Standardfranzösischen in keiner Position ausgesprochen wird, sozusagen ein «Geisterfahrer» der Orthographie. das h. Hinter diesem h verbirgt sich eine außergewöhnliche funktionale Differenzierung, die sich in zwei grundsätzlich verschiedenen Varianten des h manifestiert: das h aspiré, das «behauchte h», und das h muet, das «stumme h».

Das h muet erscheint in der Schreibung von Kulturwörtern lateinischer oder griechischer Herkunft. Es ist stumm in dem Sinne, dass es die für das Französische charakteristische phonetische Bindung (liaison) der Wörter im Satzgefüge mitmacht: l’habit «die Kleidung», l’hygiène, «die Hygiene»; aus den Artikeln le und la wird l’, als würde das Wort mit einem Vokal beginnen. Das behauchte h dagegen wird zwar nicht ausgesprochen, genauer: auch nicht mehr ausgesprochen, es hat aber eine auffällige Funktion: Es verhindert nämlich diese phonetische Bindung der Wörter. Das behauchte h wirkt wie ein Unterbrecher mit Stoppeffekt, ein Knacklaut, bekannt als Glottal Stop. Die Bindung eines Wortes mit einem nachfolgenden Wort mit h aspiré wird im Redefluss blockiert: z.B. la haie «die Hecke», mit dem Stoppeffekt in der Lautung, so dass gesprochen wird: [la | ’aie], der Artikel bleibt ganz erhalten.

Wie kommt es nun, dass sich die Franzosen, die von ihrer Sprache sagen, sie sei überaus logisch gebaut und daher könne man mit ihr die anspruchsvollsten philosophischen Gedankenflüge absolvieren, Sprachtechniken leisten, die eben nicht logisch und leichtgängig erscheinen?

Die Antwort auf diese Frage findet man, wenn man in die Tiefen der französischen Sprachgeschichte eintaucht und sich die Welt des frühen Mittelalters vergegenwärtigt. Vor eineinhalbtausend Jahren gab es das Französische noch gar nicht, die Vorfahren der heutigen Franzosen unterhielten sich damals noch in Sprechlatein, das gegen Ende der Antike im historischen Gallien deutlich Lokalkolorit angenommen hatte. Sprechlatein war damals bei den meisten Bewohnern Galliens verbreitet, obwohl es noch einige Gruppen gab, die die Sprache ihrer Vorfahren, der keltischen Gallier, bewahrt hatten. Es gab auch noch andere Einwohner Galliens, die zur damaligen Zeit weder Lateinisch noch Keltisch sprachen, und das waren Zuwanderer aus dem Osten: die Franken.

Der Name der Franken geht zurück auf ein indoeuropäisches Stammwort, das «ehrgeizig, kühn, mutig» bedeutet, mit Parallelformen in altnordisch frekr «gierig, hart, streng», mittelhochdeutsch vrech «mutig, tapfer, dreist», altenglisch frec «eifrig, kühn» (Nonn 2010: 11ff.). Die Franken waren die Freien, während es bei der einheimischen Bevölkerung Galliens, die von den Franken beherrscht wurde, neben Freien auch Unfreie, Sklaven gab. Bei den Romanischsprachigen bürgerte sich im Mittelalter der Ausdruck franc ein, mit der Bedeutung «frei» (wie auch in der deutschen Redensart «frank und frei»).

Im 3. Jahrhundert n. Chr. entfalteten sich die frühen Kontakte fränkischer Stämme zum römischen Reich. Nach dem Ende des weströmischen Reichs im Jahre 476 vereinigten sich die beiden Hauptstämme der salischen Franken (Salier) und der Rheinfranken, und die Zuwanderung nach Gallien nahm zu. Die Franken stellten nicht bloß die politische Elite, es kamen auch viele fränkische Siedler, die sich im Nordosten des späteren Frankreich niederließen. Sie behielten auch über viele Generationen ihre heimische Sprache (auf westgermanischer Basis) und ihre kulturellen Traditionen bei. Weiter im Westen siedelten die Nachkommen der Kelten Galliens, die sich weitgehend an römische Lebensweisen assimiliert hatten und bei denen bereits gegen Ende der Antike das Sprechlateinische dominierte. Nach den durch die fränkische Einwanderung verursachten Umwälzungen fanden die Menschen in den beiden Gruppen mit unterschiedlicher Alltagssprache ihren Ausgleich. Viele gingen auch soziale Bindungen ein, gründeten Familien, deren Nachkommen zweisprachig aufwuchsen, mit einer frühen Form des Galloromanischen und mit Fränkisch. Es bildete sich eine zweisprachig-bikulturelle Übergangszone aus, mit dem Stadium eines «romanogermanischen Nebeneinanders in den Führungsschichten der neuen politischen Gebilde in Gallien» (Werner 1995: 310).

Unter Karl dem Großen vollzog sich ein unumkehrbarer Wandel in den Sprachverhältnissen. Karl der Große selbst entstammte einer zweisprachigen Adelsfamilie, und mit dem ihm eigenen Weitblick «verkörpert [er] eben in seiner Person die auf Dauer geglückte Verschmelzung der römischen, gallischen und germanischen Elemente im künftigen Europa» (Werner 1995: 420). Doch seine Untertanen verloren ihr zweisprachiges Kulturerbe innerhalb kurzer Zeit. Zu stark war der Druck des Lateinischen als Sakral- und Amtssprache im mittlerweile christlichen Land.

Als die Enkel Karls des Großen sich nach dessen Tod 814 in Streitigkeiten über die Erbfolge verstrickten, wurde beschlossen, das vormals einheitliche Reichsgebiet zu teilen, in ein westfränkisches und ein ostfränkisches Reich. Die Franken im Westteil konnten kein Fränkisch mehr. Bereits vor dem 9. Jahrhundert hatte die Bevölkerung im Nordosten Frankreichs und im Süden des späteren Belgien (Wallonie) den Wechsel vom Fränkischen zum Frühromanischen vollzogen. Dies bedeutete nun nicht, dass diese germanische Sprache sang- und klanglos verschwunden wäre. Ganz im Gegenteil, das Fränkische hat deutliche Spuren im Frühromanischen hinterlassen, aus dem sich das Französische entwickelte.

In den Wortschatz des Französischen haben rund sechshundert fränkische Lehnwörter Eingang gefunden (Dubois et al. 2007), die sich auf zahlreiche thematische Bereiche verteilen, z.B.: Pflanzen und Pflanzenanbau (blé «Getreide, Weizen», jardin «Garten», saule «Salweide», u.a.); Mobiliar (banc «Bank», fauteuil «Sessel», u.a.); Handwerk (gâche «Schließklappe», guiche «Lederriemen», rochet «Spule»); Hausbau (bâtir «bauen», étai «Stützbalken», maçon «Maurer», gâcher «Mörtel anrühren); Justiz (gibet «Galgen», gehir «gestehen»); Seefahrt (flotter «im Wasser treiben», bord «Bord»); Farbbezeichnungen (jaune «gelb», bleu «blau», brun «braun», fauve «falb (von Pferden)», gris «grau», u.a.) sowie viele andere Bereiche (garder «bewahren», gagner «gewinnen», garantir «garantieren», u.a.).

Zahlreich sind im Kreis der fränkischen Entlehnungen Ausdrücke mit behauchtem h, die den gesamten französischen Wortschatz wie ein Leitmotiv germanischen Spracheinflusses durchziehen: hache «Axt», hagard «wild; verängstigt; scheu», haine «Hass» (dazu haïr «hassen»), halle «Markthalle», hampe «(Lanzen-)Schaft», hanche «Hüfte», haricot «Bohne», hâte «Hast, Eile» (dazu se hâter «sich beeilen»), havre «kleiner Hafen», herse «Egge», heurt «Stoß, Aufprall», hic «Haken», honte «Schande», hors «außerhalb, draußen», houle «Dünung, Brandung», hune «Mastkorb», u.a. In Wörterbüchern wird das h aspiré zwar gelegentlich markiert: ’haine, aber allgemein nicht geschrieben.