Geschichte der Sintflut - Harald Haarmann - E-Book

Geschichte der Sintflut E-Book

Harald Haarmann

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Beschreibung

Um 6800 v.Chr. zerstörte der dramatische Durchbruch des Mittelmeers in das tiefer gelegene Schwarze Meer die Landbrücke zwischen Europa und Asien und ließ den Wasserspiegel des einstigen Süßwassersees um 150 Meter steigen. Harald Haarmann erklärt, wie Geologen und Archäologen diese "Sintflut" rekonstruiert haben und welche weitreichenden Auswirkungen sie auf die frühen Kulturen an der Donau und in Mesopotamien hatte. Geologen konnten vor zwanzig Jahren mit einer sensationellen Entdeckung aufwarten: Das Schwarze Meer war die längste Zeit ein Süßwassersee, an dessen Küsten frühe Zivilisationen entstanden. Doch um 6800 v.Chr. bahnte sich das Mittelmeer einen Weg durch den heutigen Bosporus. Jahrelang ergoss sich ein tosender Wasserfall in das Schwarze Meer und überschwemmte große Gebiete. Harald Haarmann beschreibt auf der Grundlage der neuesten Erkenntnisse Ursachen und Verlauf dieser Sintflut. Von hier aus geht er den Folgen der Flut für die Kulturentwicklung in der Schwarzmeerregion nach. Er stößt dabei auf die Spuren einer der ältesten Hochkulturen und verfolgt anhand archäologischer Funde, vor allem aber anhand der Sprach- und Schriftgeschichte deren Ausstrahlung bis hin nach Mesopotamien.

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Harald Haarmann

Geschichte der Sintflut

Auf den Spuren der frühen Zivilisationen

C.H.Beck

Zum Buch

Geologen konnten vor einigen Jahren mit einer sensationellen Entdeckung aufwarten: Das Schwarze Meer war lange Zeit ein vom Mittelmeer völlig getrennter, tiefer liegender Süßwassersee. Der Durchbruch des Mittelmeeres durch die Landbrücke um 6700v.u.Z. war eine Naturkatastrophe von kaum vorstellbaren Ausmaßen. Jahrelang ergoss sich ein tosender Wasserfall in das Schwarze Meer und überschwemmte große, teilweise besiedelte Gebiete. Harald Haarmann beschreibt auf der Grundlage der neuesten Erkenntnisse Ursachen und Verlauf dieser Sintflut. Von hier aus geht er den Folgen der Flut für die Kulturentwicklung in der südlichen Schwarzmeerregion nach. Er stößt dabei auf die Spuren einer der ältesten Hochkulturen und verfolgt anhand archäologischer Funde, vor allem aber anhand der Schrift- und Sprachgeschichte, deren Ausstrahlung bis hin nach Mesopotamien.

Über den Autor

Harald Haarmann, geb. 1946, gehört zu den weltweit bekanntesten Sprach- und Kulturwissenschaftlern. Er wurde u.a. mit dem Prix Logos der Association européenne des linguistes, Paris, sowie dem Premio Jean Monnet ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Bei C.H.Beck erschienen u.a. «Geschichte der Schrift» (6. Aufl. 2021), «Das Rätsel der Donauzivilisation» (4. Aufl. 2020), «Auf den Spuren der Indoeuropäer» (2. Aufl. 2023) sowie zuletzt «Die Erfindung des Rades» (2023).

Inhalt

Karte

Vorwort

I: Die Große Flut – Fakten und Mythen

6700v.u.Z.: Katastrophenszenario und Datierung

Die drastischen klimatischen Folgen

Flutmythen und kulturelles Gedächtnis

II: Die Zeitzeugen und ihre Nachkommen

Frühe Populationen in der Schwarzmeerregion: Genetische und sprachliche Spuren

Vorsintflutliche Revolutionen:Der Übergang vom Wildbeutertum zur Nahrungsproduktion

III: Ökologische Umwälzungen in der Schwarzmeerregion

Der Untergang von Siedlungen

Neue Siedlungsgebiete und Regionalkulturen um 5500v.u.Z.

Bevölkerungsverschiebungen im Südwesten, Westen und Nordwesten

Siedlungsentwicklungen im Nordosten

Veränderungen in den Wirtschaftsformen

Die Migrationen der Indoeuropäer

Siedlungskontinuität in der Wolgaregion und die indoeuropäisch-uralische Kultursymbiose

Sprachliche Konvergenzen zwischen dem Proto-Uralischen und dem Proto-Indoeuropäischen

Humangenetische Spuren der indoeuropäischen Urheimat und die Ausbreitung der Kurgan-Kultur  

IV: Kultur und Architektur in frühen Zivilisationen

Wachstumstrends in den Siedlungszonen des 6. Jahrtausends v.u.Z.

Haustypen und Schlüsseltechnologien

Der Kult der Göttinnen in den Schwarzmeerkulturen

Wesenszüge der Großen Göttin

Die Töchter der Großen Göttin in den altägäischen Kulturen

V: Schrift – Höchstleistung der Donauzivilisation

Die Entstehung der Schrift in Alteuropa

Schriftlichkeit im Dienst von Kult und Ritual

Organisationsprinzipien der alteuropäischen Schrift

VI: Die alteuropäische Kulturdrift im Mittelmeerraum

Auswirkungen im ägäischen Raum

Der voralphabetische Schriftexport nach Zypern und in den Vorderen Orient

Schrifttransfer nach Italien und die Rolle der Etrusker

Das Patronat der etruskischen Zivilisation in Latium

Das altägäische Kulturerbe der Etrusker

Sprachverwandtschaft zwischen Etruskisch und Lemnisch

Sprachkontakte der Etrusker im ägäischen Raum

Matrifokale Strukturen der etruskischen Gesellschaft

Masken in religiösen Zeremonien

Die Doppelflöte

Prozessionen im Kontext kultischer Zeremonien

Nahöstliches Erbgut in der etruskischen Zivilisation

Schrift- und Kulturexport auf die Iberische Halbinsel

Die Rolle der ägäischen Linearschriften bei der Entstehung des Alphabets

VII: Die frühen Agrargesellschaften in der Schwarzmeerregion

Basismodelle früher Zivilisationen der Alten Welt

Das Modell der Staatsbildung

Das Modell der Ökumene

Egalitäre und matristische Gesellschaften

Der Mythos vom Matriarchat

Alteuropa: Eine Kooperationsgesellschaft

Egalitäre Strukturen

Matrilineare Strukturen

Ausgewogenheit und Gemeinwohl

VIII: Alteuropa und Mesopotamien im Vergleich

Die europäisch-asiatische Konvergenzzone

Kulturschaffen und frühe Sprachkontakteim 6. und 5. Jahrtausend v.u.Z.

Die Göttinnen Europas und Mesopotamiens als Kulturheroen

Die griechischen Schutzpatroninnen zivilisatorischer Errungenschaften

Demeter, die Kornmutter

Athene, die «Supergöttin»

Die sumerischen Kulturheroen und ihre zivilisatorischen Errungenschaften  

Uttu, Schutzpatronin der Webkunst

Ninkasi, Schutzpatronin des Bierbrauens

Ninurra, Schutzpatronin der Töpferei

Nisaba, Schutzpatronin der Schreibkunst und der Gelehrsamkeit

Zeitgefälle in der technologischen Entwicklung

Die west-östliche Kulturdrift im 4. Jahrtausend v.u.Z.

Die Entstehung der sumerischen Schrift

Jenseits von Mesopotamien: Fernwirkungen der west-östlichen Kulturdrift

Transformationen in der akkadisch-babylonischen Welt

Epilog: An der Wiege unserer Grundwerte

Literatur

Geographisches Register

Karte

Vorwort

«Die Flut auf der Erde dauerte vierzig Tage. Das Wasser stieg und hob die Arche immer höher über die Erde. Das Wasser schwoll an und stieg immer mehr auf der Erde, die Arche aber trieb auf dem Wasser dahin. Das Wasser war auf der Erde gewaltig angeschwollen und bedeckte alle hohen Berge, die es unter dem ganzen Himmel gibt… Das Wasser aber schwoll hundertfünfzig Tage lang auf der Erde an.»

(Genesis 7,17–​19.24)

Geschichten über Flutkatastrophen sind in den Mythen vieler Völker überliefert. In den vergangenen Jahren haben Naturwissenschaftler immer mehr Hinweise darauf gefunden, dass es solche Katastrophen in der Erdgeschichte wirklich gegeben hat, in den verschiedensten Regionen zu unterschiedlichen Zeiten. Umweltkatastrophen größten Ausmaßes in Verbindung mit Flutwellen können von Seebeben ausgelöst worden sein oder von Erdbeben, bei denen es zu massiven Erdrutschen kam. Die Massen von Geröll und Erde, die dabei ins Meer stürzten, können Flutwellen ausgelöst haben, die sich auf offener See durch ihre Eigendynamik verstärkten und dann mit unvorstellbarer Wucht an entfernt liegenden Küsten aufprallten.

Auf den Bahamas gibt es ein hügeliges Gelände, auf dem riesige Granitbrocken liegen. Dieses Felsgestein, so haben Geologen festgestellt, lag ursprünglich auf dem Boden des Atlantik. Die einzige Erklärung, wie die Brocken auf die Hügel gekommen sein könnten, ist, dass in prähistorischer Zeit eine Riesenwelle vom Atlantik her durch ihren tiefen Grundwirbel Gestein vom Meeresboden hochgerissen, mitgetragen und weit an Land geschwemmt hat. Eine solche Flutkatastrophe wird für die Zeit vor ca. 120.000 Jahren angesetzt, als dort noch keine Menschen lebten.

Aber diese große Flut war wohl nicht die einzige, die die Ostküste Amerikas verwüstet hat. Auch von jüngeren gewaltigen Fluten sind Spuren nachzuweisen. Sie finden sich in den Mythen nordamerikanischer Indianer, etwa in der Stammeschronik der Delawaren, «Walam Olum» genannt. In dieser Chronik, die in Bildern erzählt wird und auf fünf Blättern aus Birkenrinde überliefert ist, ist von der Mondfrau die Rede, die die Menschen vor den Wassermassen rettet. Verbirgt sich hinter dieser Erzählung vielleicht eine weit entfernte Erinnerung an eine wirkliche Umweltkatastrophe?

Das vergangene Jahrhundert ist mit einer wissenschaftlichen Sensation ausgeklungen: der Entdeckung einer Flutkatastrophe, die möglicherweise mit der biblischen Sintfluterzählung in Verbindung steht. 1997 veröffentlichten die amerikanischen Geologen William Ryan und Walter Pitman vom Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia University (New York) zusammen mit internationalen Kollegen die ersten Ergebnisse eines langjährigen marinen Forschungsprojekts. Ein Jahr später standen die Resultate in Buchform einem breiten Publikum zur Verfügung (Ryan/Pitman 1998): Vieles deutet darauf hin, dass es im Süden des Schwarzen Meeres, da wo es heute über einen engen Kanal mit dem Marmara-Meer und dem Mittelmeer verbunden ist, vor Tausenden von Jahren eine Flutkatastrophe gegeben hat.

Nicht nur diese Flut selbst war ein «Ereignis, das die Geschichte verändert hat». Die Entdeckung ihrerseits ist ein Ereignis, das die Forscher vieler Fachdisziplinen dazu herausfordert, vertraute Vorstellungen von der Entstehung der Zivilisationen der Alten Welt zu überprüfen. Denn die neuen Erkenntnisse darüber, warum sich die Kulturen in Europa und Asien so unterschiedlich entwickelt haben, können nicht mehr unberücksichtigt bleiben, wenn wir nach den Wurzeln unserer westlichen Kultur fragen.

Die beiden amerikanischen Geologen und ihr Team haben, wie es in der trockenen Wissenschaftssprache heißt, mit der Annahme einer prähistorischen Flutkatastrophe eine arbeitsfähige Hypothese aufgestellt, die durch bestimmte Fakten gestützt wird und (bisher) nicht durch andere Fakten widerlegt werden kann. Bei der Flut handelte es sich um eine ökologische Katastrophe größten Ausmaßes. Der Landriegel, der früher die Kontinente im Gebiet zwischen dem heutigen Schwarzen Meer und dem Marmara-Meer verband, brach unter dem Druck der Wassermassen, die vom Mittelmeer aus ins Marmara-Meer geflutet waren. Der Durchbruch öffnete den Weg für das Wasser aus dem Süden, das in den Süßwassersee im Norden strömte. Auf diese Weise entstand das Schwarze Meer, und seit der Flut gibt es an seiner Südküste keine Landverbindung mehr zwischen Europa und Asien. Das Ausmaß dieser Flutkatastrophe bietet vielleicht eine Erklärung dafür, dass sich im kulturellen Gedächtnis aller Gesellschaften rings um das Schwarze Meer Flutmythen bis heute erhalten haben. Auch die biblische Erzählung von der Sintflut ist wahrscheinlich in diese Tradition einzureihen.

Es ist anzunehmen, dass die kollektive Erinnerung an ein solches Ereignis auch Folgen für das Alltagsleben der Menschen hatte. Aber wie lassen sich die Folgen der Flutkatastrophe in der Küstenregion des Schwarzen Meeres und dessen Hinterland nachweisen, und wie haben sich ökologische Veränderungen auf die Wirtschaftsformen und das Kulturschaffen der Menschen in jener Region ausgewirkt?

Antworten auf diese und andere Fragen sucht eine Gruppe von Forschern, die sich im Juni 2002 in Italien (im ligurischen Forschungszentrum von Bogliasco bei Genua) zur ersten Fachkonferenz über die Schwarzmeerkatastrophe und ihre Folgen traf. Inzwischen widmen sich Wissenschaftler aus Europa, Amerika und Australien dieser neuen Forschungsaufgabe, eine solide interdisziplinäre Kooperation hat begonnen, an der sich Geologen, Archäologen, Anthropologen, Mythologieforscher, Sprachwissenschaftler und Vertreter anderer Fächer beteiligen. Die Erforschung der Schwarzmeerkatastrophe und ihrer Auswirkungen auf die Kulturentwicklung in der Alten Welt zieht immer mehr Wissenschaftler in ihren Bann, neuerdings zeigen auch Althistoriker ihr Interesse.

Das vorliegende Buch fasst die aktuellen Forschungsergebnisse zur Schwarzmeerkatastrophe und zu ihren Folgen allgemeinverständlich zusammen und lädt den Leser zu einer Expedition in die Kulturlandschaften ein, die für uns Europäer die wichtigsten sind. Es gilt, die Entstehung der ältesten Zivilisationen in Europa und Asien auszuleuchten. Diese Expedition hält so manche Überraschung bereit, etwa die Erkenntnis, dass auch die älteste Kulturentwicklung in Mesopotamien mit den ökologischen Umwälzungen in der Schwarzmeerregion zusammenhängt.

Die Naturkatastrophe der Schwarzmeerflut wirkte sich wie ein Big Bang auf die Kulturgeschichte aus. In der archäologischen Hinterlassenschaft Südosteuropas ist ab der Mitte des 7. Jahrtausends v.u.Z. eine zunehmende Dynamik in der kulturellen Entwicklung zu beobachten (Brukner 2006). Die Initialzündung für diese dynamische Aufbauphase der Zivilisation Alteuropas ist ganz offensichtlich das traumatische Erlebnis der Flutkatastrophe mit Langzeitwirkung, das als Erzählung von der Sintflut im kulturellen Gedächtnis der Menschen durch alle Zeitepochen hindurch tradiert worden ist. Die Menschen, die von der Sintflut betroffen waren, wurden mobilisiert, sich eine neue Lebenswelt zu schaffen, die beständiger war als die, die verloren ging (Ivanova et al. 2012). Die Aufbaudynamik leitete eine Ära technologischer Innovationen ein, ohne Parallelen in anderen Regionen der damaligen Welt.

Casa Blanca, im Februar 2023

Harald Haarmann

I

Die Große Flut – Fakten und Mythen

Um das Jahr 6700 vor unserer Zeitrechnung lag das Niveau des Mittelmeeres rund 15 Meter niedriger als heute. Auf gleichem Niveau lag die Oberfläche des Marmara-Meeres, das mit dem Mittelmeer direkt über die Meerenge der Dardanellen verbunden ist. Ein Landriegel aus Sandstein trennte das Mittelmeer und das Marmara-Meer von einem riesigen Süßwassersee im Norden, dem Vorläufer des Schwarzen Meeres. Sein Wasserspiegel lag rund 70 Meter tiefer, er hatte keinen Abfluss, und seine Zuflüsse von Norden her waren spärlich. Seit Jahrhunderten verdunstete mehr Wasser als hinzufloss. Der See schrumpfte.

Entstanden war dieser Süßwassersee, als die Eismassen des riesigen Kontinentalgletschers, der das nördliche Europa während der letzten Eiszeit bedeckte, abzuschmelzen begannen. Damals, vor rund 12.500 Jahren, entstanden die großen Seen im Norden, der Ladoga- und der Onegasee, und die großen Wasserreservoire im Süden, das Kaspische Meer, der Aralsee und eben jener prähistorische Euxinos-See. Benannt wird dieser von Geologen in seinen ursprünglichen Umrissen entdeckte See nach dem Namen, den die Griechen der Antike dem Schwarzen Meer gaben: Pontos Euxinos.

Bald nachdem die Eisschmelze eingesetzt hatte und enorme Wassermassen freigesetzt wurden, transportierten die Urflüsse des südlichen Europa, die Donau, der Dnepr und der Don, das Schmelzwasser in den Euxinos-See. Der Zufluss an Schmelzwasser hielt aber nur etwa zweitausend Jahre an, dann versiegte er. Dies hängt mit den Umweltbedingungen der zweiten Schmelzphase zusammen. Um die Mitte des 10. Jahrtausends v.u.Z. war die Eisgrenze des Kontinentalgletschers schon weit nach Norden zurückgewichen. Als dann als Folge einer Wärmeperiode eine neue verstärkte Schmelzphase einsetzte, floss deren Wasser nicht mehr nach Süden, sondern sammelte sich in den großen Seen des Nordens und im Nordmeer.

Dies erklärt man sich folgendermaßen: Während der Eiszeit war der Erdboden in Mittel- und Nordeuropa unter dem Gewicht der Eismassen heruntergedrückt worden, er lag deutlich unter dem jetzigen Niveau und hob sich erst allmählich wieder. Das Schmelzwasser der zweiten Wärmephase konnte nicht nach Süden abfließen, weil dort der Boden, der nicht vom Eis bedeckt gewesen war, höher lag. Der Euxinos-See erhielt also nur noch spärlichen Zufluss, und sein Wasservolumen verringerte sich.

6700v.u.Z.: Katastrophenszenario und Datierung

Dies ist die Situation um 6700v.u.Z. Für das, was nun geschieht, haben Geologen folgendes Katastrophenszenario entworfen: Der Landriegel aus Sandstein zwischen dem Marmara-Meer und dem Euxinos-See bricht. Vielleicht erschüttert ein Erdbeben oder gar eine Serie von Erdstößen die Region und verursacht den Durchbruch der Wassermassen. Eine Erdbebenkatastrophe, wie sie im Spätsommer und Herbst 1999 die Region um das Marmara-Meer verwüstete, hätte wohl ohne weiteres den Landriegel aufbrechen können. Vielleicht ist es aber auch nur der Druck der Wassermassen hinter der brüchigen Sandsteinformation, der den Durchbruch verursacht.

Als die Klippen zusammenbrechen, stürzt das Salzwasser von Süden her mit unheimlichem Getöse und in mächtigen Strömen in das 70 Meter tiefer liegende Süßwasserbecken des Euxinos-Sees. Millionen von Kubikmetern Wasser gischten zunächst durch eine schmale Rinne. Der tosende Strom – er rast schätzungsweise mit rund 60 Stundenkilometern dahin – reißt immer mehr Steine und Erde aus den Rändern, und die Rinne weitet sich. Der Spalt wird zur Schlucht, die Schlucht wird zum Sund. Wochenlang, monatelang, vermutlich sogar jahrelang tost das Salzwasser durch die Enge in das Süßwasserbecken, das sich stetig füllt und schon bald über seine Ufer tritt.

Die aus dem Mittelmeer herüberströmenden Wassermassen treffen mit solcher Wucht auf das Reservoir des Sees, dass sich meterhohe Wellen aufbauen, die auf die Küstensäume zurasen. Aus den Gebieten, in denen Taifune oder Hurrikane das Meer aufwühlen, ist die Zerstörungskraft solcher Tsunami-Wellen wohlbekannt. Allein die Geräuschkulisse, die sie beim Auftreffen auf die Ufer hervorriefen, muss diejenigen, die die Katastrophe überlebten, auf lange Zeit traumatisiert haben.

Besonders im nördlichen Teil ist das Seeufer flach, und das Wasser kann ohne größere Hindernisse ins Hinterland fluten. Der alte «vorsintflutliche» Ufersaum ist heute noch auszumachen. Ein weites, stellenweise viele Kilometer breites Unterwasserplateau erstreckt sich ins offene Meer hinaus. Das Wasser ist hier, verglichen mit dem bis zu 2 Kilometer tiefen Zentrum des Schwarzen Meeres, flach, mit Tiefenwerten zwischen 180 und 200 Metern, in Küstennähe nur maximal 100 Metern. Weit draußen erst fällt das Plateau abrupt in die große unterseeische Senke ab, die früher einmal der Euxinos-See war.

Geologen haben mit Unterwassersonaren die Untiefen im Meeresboden gemessen und kartiert. Dabei haben sie eine überraschende Entdeckung gemacht. Auf dem Boden des flachen Wassers vor der Straße von Kertsch zeichnet sich ein filigranes Bild von Unterwasserschluchten ab. Der mittlere Canyon und die kleineren Seitenschluchten sind das alte Flussdelta des Don, der heute weit im Norden in das Asowsche Meer mündet. Vor der Großen Flut war das Asowsche Meer eine weite Tiefebene, die der Don durchquerte; er floss dann durch die Enge bei Kertsch und mündete weit draußen auf dem heutigen Unterwasserplateau in einem breiten Delta in den Euxinos-See.

Auch andere Unterwasserphänomene geben Hinweise auf die alte Küstenlinie. Auf dem flachen Meeresboden kommt es bis heute zu Ausstößen von Methangas. Unten auf dem Meeresgrund faulen die Reste von Pflanzen, die zur ehemaligen Landvegetation gehörten. Die Ufer des Euxinos-Sees waren verschlungen, es gab Lagunen und morastige Niederungen, an deren Rändern allerlei Wasserpflanzen wuchsen. Als die Region überflutet wurde, bedeckte Salzwasser die alte Vegetation. Das Wasser des Schwarzen Meeres ist sauerstoffarm, so dass sich Reste der alten Pflanzen bis heute, Jahrtausende nach der Flut, erhalten haben.

Abb. 1:  Das Schwarze Meer und seine flachen Küstengewässer (Karte des Autors)

Die Zustände auf dem Unterwasserplateau lassen das Ausmaß der Überflutung erahnen. Das, was die Große Flut zu einer ökologischen Katastrophe macht, liegt allerdings weit unter dem heutigen Wasserspiegel des Schwarzen Meeres. Das große Wasserreservoir der tiefen Senke des einstigen Euxinos-Sees ist biologisch tot. Dort leben weder Fische noch Pflanzen, nur auf dem Meeresboden existieren Schwefelbakterien, es gibt kaum Licht und Sauerstoff. Der Mangel an Sauerstoff ist der wichtigste Umweltschaden, den die Große Flut angerichtet hat. Das salzige Wasser aus dem Weltmeer ist nicht langsam in den See geflossen. In dem Fall hätte sich nämlich das Salzwasser allmählich mit dem Süßwasser vermischt. Der Zufluss war jedoch abrupt und massiv, so dass das Süßwasser unter einer dicken Schicht von Salzwasser buchstäblich «begraben» wurde. Die Sauerstoffzufuhr wurde unterbunden, und der Euxinos-See starb unter der Last der Salzwassermassen.

Als Folge der damaligen Ökokatastrophe gehen noch heute vom Schwarzen Meer Gefahren für alles Lebende ringsum aus (Ascherson 1996: 4f.). Dabei sieht man ihm seine bedrohlichen Eigenschaften nicht an. Seinen Namen hat dieses Meer nämlich nicht wegen des tiefschwarzen Farbtons des Wassers bekommen, denn ebenso dunkel sind die Ostsee oder auch das Mittelmeer an vielen Stellen. Das Schwarze Meer ist das größte Reservoir einer der giftigsten natürlichen Substanzen: Schwefelwasserstoff (H2S). In einer Tiefe zwischen 150 und 200 Metern wird Sauerstoff nicht mehr aufgelöst, und das Wasser weist eine hohe Konzentration an Schwefelwasserstoff auf. Weil das Schwarze Meer sehr tief ist, sind etwa 90 Prozent seines Volumens hochgiftig, und in diesem Tiefenwasser gibt es kein organisches Leben, soweit es von Sauerstoff abhängig ist. Durch Stürme wird das Wasser manchmal derart aufgewühlt, dass Tiefenwasser bis an die Oberfläche gelangt. Ein Schiffsrumpf, der damit in Berührung kommt, nimmt eine tiefschwarze Farbe an.

Für den Menschen sind bereits einige tiefe Atemzüge des Schwefelgases tödlich. Ölprospektoren und die Arbeiter, die in der Region das «schwarze Gold» fördern, sind sich der Gefahren des «schwarzen Todes», der auf sie lauert, bewusst. Das Tückische an Schwefelwasserstoff ist, dass der Geruchssinn des Menschen nur am Anfang etwas wahrnimmt, schon bald aber betäubt wird, so dass gefährliche Portionen des Schwefelgases gar nicht mehr als Gefahr gerochen werden können. Daher die Faustregel: beim kleinsten Anflug eines Gestanks nach faulen Eiern schleunigst die Flucht ergreifen.

Fast alle sensationellen Entdeckungen rufen helle Begeisterung und Zustimmung bei den einen und scharfe, neidvolle Ablehnung bei den anderen hervor. Im Fall der Entdeckung der Großen Flut des Schwarzen Meeres und damit des Rätsels seiner Entstehung war es nicht anders. William Ryan und Walter Pitman wurden von den einen gefeiert und von den anderen heftig angegriffen. Besonders eine Gruppe von Fachkollegen machte es sich zur Aufgabe, die Hypothese zu «Noahs Flut» zu entkräften (Aksu et al. 1999, Hiscott/Aksu 2002, Mudie et al. 2002). Debatten um wissenschaftliche Streitfragen können emotional entgleisen und sich wie in einer Sackgasse festfahren, und dann dauert es lange, bis man wieder objektiven Boden gewinnt. Sie können aber auch sehr fruchtbar sein, so dass sich sachliche Argumentationen pro und contra gegenüberstehen, die dann zur Auswertung anstehen. In diesem Sinne konstruktiv verlief die Auseinandersetzung um die Fluthypothese, sie hat im Endeffekt eine solide Erkenntnisbasis geschaffen. Ryan und Pitman sind gehalten, einige Teile ihres Forschungsgebäudes umzubauen und durch neue zu ersetzen, aber das Fundament bleibt. Alles spricht dafür, dass die Flut am Schwarzen Meer tatsächlich stattgefunden hat.

Gestritten hat man sich vor allem um die Datierung der Flutkatastrophe; Ryan und Pitman (1998) hatten sie um 5600v.u.Z. datiert. Aber andere Geologen kamen auf Grund eigener Messungen von Unterwasserströmungen im Bosporus zu dem Ergebnis, dass es einen Austausch der Wassermassen zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmara-Meer bereits lange vorher gegeben hat. Auf dem Boden des Marmara-Meeres hatte man eine bestimmte lokale Form von Schlamm (Sapropel S 1 genannt) entdeckt, der mit geradezu seismographischer Sensitivität Unterschiede im Salzgehalt des Wassers registriert. Die Messungen ergaben, dass der früheste Durchfluss durch den Bosporus wesentlich früher stattgefunden hat (Aksu et al. 2002).

Ryan und Pitman haben ihrerseits – und unabhängig vom Team um Aksu – Untersuchungen der Sedimente am Bosporus durchgeführt und nehmen ihre frühere Datierung nach den neuesten Ergebnissen zurück. Sie kommen auf einen Zeitpunkt um 6700v.u.Z. Das neue Messergebnis basiert auf einem Strontium 87/86-Wert, wobei die Radiokarbondaten der Dendrochronologie (Baumringaltersbestimmung) für die Region kalibriert, d.h. angeglichen sind (Ryan 2003).

Anlässlich des 1. Kongresses der europäischen Geowissenschaftler in Nizza (im April 2004) war eine eigene Sektion für die Diskussion der neuesten Erkenntnisse zur Schwarzmeer-Katastrophe reserviert. Die neue Datierung (d.h. 6700v.u.Z.) ist durch die Ergebnisse zweier weiterer Großprojekte (K. Eris et al. sowie C. Major et al.) bestätigt worden («European Geosciences Union – 1st General Assembly», Nice, 25–​30 April 2004, Sektion CL 26, S. 68ff.).

Die drastischen klimatischen Folgen

Nach der Flutkatastrophe kam es zu durchgreifenden ökologischen Umwälzungen. Diese waren allerdings weniger dramatisch als die Flut selbst, und ihre Auswirkungen wurden erst allmählich spürbar.

Dem Prozess der globalen Klimaerwärmung, der ungefähr vor 12.500 Jahren einsetzte und noch einige Zeit nach der Flut anhielt, wirken nun – als Folgen der Überflutung weiter, bis dahin trockener Gebiete – regionale Faktoren entgegen. Tausende von Quadratkilometern Land sind rings um die Ufer des Euxinos-Sees überflutet worden. Die Wasserfläche hat sich enorm vergrößert, so dass nun auch die Verdunstung viel größer ist, mit entsprechendem Einfluss auf die Regenmengen. Als Langzeitfolge der großen Flut kühlt sich das Klima in der Schwarzmeerregion drastisch ab. Um 6200v.u.Z. setzt eine kleine «Eiszeit» ein. Die Kälteperiode erstreckt sich bis um 5800v.u.Z. Dann erfolgt eine erneute Schwankung, diesmal in die andere Richtung. Die kleine Eiszeit schlägt in eine rapide Erwärmung um und führt zu einer längeren Wärmeperiode – ein in der globalen Klimageschichte nicht seltenes Phänomen (Burroughs 2005: 19ff.). Letztlich ist also die Große Flut auch für diese weitere große Klimaschwankung verantwortlich.

Die Menschen, die an den Küsten des Schwarzen Meeres und weiter im Inland siedeln, erleben innerhalb weniger Generationen einen radikalen Wandel ihrer natürlichen Umgebung. Dort, wo während der Kälteperiode Mischwälder wuchsen, breitet sich im warmen Klima Gras- und Buschland aus. Die Veränderung der Vegetation hat auch weitreichende Folgen für die Verbreitung des Ackerbaus. In der kalten Periode hemmt der Waldbestand ein rasches Ausbreiten. Während der warmen Periode dagegen bieten Wiesen und Weiden gute Voraussetzungen für die Bodenbebauung. In der Tat folgt die Besiedlung der Schwarzmeerregion durch Ackerbauern dem Rhythmus der Klimaschwankungen.

Die Große Flut um 6700v.u.Z., eine Mini-Eiszeit zwischen ca. ​6200 und 5800v.u.Z., dann eine rapide Erwärmung um 5800v.u.Z. – die Konsequenzen dieser großen Umweltveränderungen für die Lebensweisen und das Kulturschaffen der Menschen in der Schwarzmeerregion sind unübersehbar. Nur wenige Jahrhunderte nach der Katastrophe zeichnen sich große Umwälzungen in der Kulturlandschaft ab. Die archäologischen Fundschichten lassen einen klaren Entwicklungssprung und damit eine deutliche Phasentrennung zwischen einer vorsintflutlichen Periode und der Ära nach der Flut erkennen: «Das was allen Regionen gemeinsam ist, ist der Sachverhalt, dass die Veränderungen die Periode nach 6500v.u.Z. von den vorhergehenden Jahrtausenden deutlich absetzen.» (Bailey 2000: 39)

Flutmythen und kulturelles Gedächtnis

So wie sich Individuen erinnern, erinnern sich auch Gemeinschaften und Völker, nur ist dieses kollektive Gedächtnis weitaus komplexer als das von Individuen. Die Summe der Inhalte, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind, bezieht sich auf das Verhalten und Handeln von Individuen in Bezugsgruppen und darauf, wie sich Gruppen in ihrer Umwelt orientieren. Dieses Bezugssystem kann man mit dem Ausdruck «Kultur» umschreiben. Das inter-individuelle, kollektive Erinnern macht das aus, was als kulturelles Gedächtnis gilt (Assmann 2000).

Wie das kulturelle Gedächtnis funktioniert, lässt sich am Beispiel der Überlieferung von Mythen veranschaulichen, in denen die Große Flut das Hauptmotiv ist. Es gibt sie in zweierlei Ausführung, in einer elementaren, mündlich überlieferten Form und in schriftlicher Fixierung. Der Mechanismus des kollektiven Erinnerns ist also weder einseitig auf das Mündliche noch auf das Schriftliche festgelegt, beide Medien sind unabhängige Quellen des kulturellen Gedächtnisses. Dabei sind die Inhalte mündlich tradierter Flutmythen nicht mit denen identisch, die schriftlich aufgezeichnet worden sind. Die Gesamtheit aller Mythen in mündlicher und schriftlicher Überlieferung ist folglich überaus variantenreich.

In allen Zivilisationen rings um das Schwarze Meer sind Flutmythen überliefert. Die berühmteste aller Geschichten ist zweifellos der biblische Bericht über die Große Flut, die Noah in seiner Arche überlebte (Genesis 6,9–​9,17). Lange Zeit war man überzeugt, dass die Erzählung von der Sintflut ein Lehrstück der Bibel wäre, eine erfundene Geschichte, die Stoff für anschauliches Moralisieren bietet. Denn die von Gott gewählte Bestrafung der sittenlosen Menschen in ihrer alten Welt durch eine Flut, die alles auslöscht, passte gut in die Denkmuster der antiken Menschen, deren moralisches Bewusstsein mit farbenfrohen Geschichten angesprochen wurde.

In den 1920er Jahren ging die Nachricht von einer archäologischen Sensation um die Welt. Der britische Archäologe Charles Leonard Woolley, der die Ausgrabungen der alten Stadt Ur leitete, war auf eine mehr als drei Meter dicke Schicht aus Schlamm gestoßen, die unschwer als Anschwemmung zu erkennen war. Für Woolley bestand kein Zweifel: Sein Fund war der Beweis dafür, dass Noahs Flut tatsächlich stattgefunden hatte. Und die Öffentlichkeit glaubte ihm. Das taten auch die Wissenschaftler, denn dem Zeitgeist entsprechend war es eine besonders ehrenvolle Aufgabe, archäologische Beweise für die Richtigkeit biblischer Geschichten zu erbringen, konnte man doch damit den Wahrheitsgehalt eines der kulturellen Eckpfeiler der abendländischen Kultur untermauern.

Allmählich aber meldeten sich bei Altertumsforschern Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Woolleys Fluttheorie an. Es wurde bald klar, dass die Schlammschicht von Ur nicht das Ergebnis einer einzigen großen Flut, sondern mehrerer kleinerer war. Man fand heraus, dass es in Mesopotamien alljährlich zu Überschwemmungen kam, in deren Verlauf fruchtbarer Schlamm über die Flussufer ins Inland getragen wurde. Kleinfluten waren sozusagen eine saisonale Erscheinung, die wohl kaum Anlass zu einer literarischen Dramatisierung wie dem Flutmythos der Bibel gegeben hätte. Es gab noch weitere Schwachpunkte in Woolleys Auffassung. Wie kann es sein, dass Flutmythen auch in Syrien und Palästina erzählt wurden, obwohl dort solche Naturereignisse unbekannt sind? Als Erklärung gab man an, die syrischen Flutmythen seien ein Kulturimport aus Mesopotamien.

Es wurden aber noch andere Unstimmigkeiten offenbar, etwa bei der Lektüre des ältesten aufgezeichneten Flutmythos, der in sumerischer Sprache verfassten Geschichte von Atrahasis. Der Titelheld Atrahasis ist das sumerische Pendant zum biblischen Noah, er wird als Bürger der Stadt Šuruppak vorgestellt. Archäologen haben herausgefunden, dass die Anschwemmungen von Schlamm im Gebiet von Šuruppak jünger sind als die von Ur, und die Schicht ist nicht so dick wie dort. Dies bedeutet, dass eine der zahlreichen Überflutungen, die auch Šuruppak betrafen, weniger bedeutend war als die Flut von Ur. Wenn Atrahasis der Held der Großen Flut war, warum ist dann seine Geschichte nicht mit der alten Königsstadt Ur verknüpft, mit dem Ort also, wo tatsächlich eine größere Flut stattgefunden hat?

Auch folgende Stelle in der Beschreibung der Naturkatastrophe macht nachdenklich: «Die Flut brüllte wie ein Stier / Schreiend wie ein wilder Esel [heulten] die Winde» («Atrahasis» III, OBV iii; zitiert nach Dalley 1998: 31). Die alljährlichen Überflutungen in Mesopotamien haben mit diesem Szenario wenig zu tun. Ihr Wasser bewegte sich zwar hartnäckig vorwärts, aber es floss still dahin. Da gab es kein Sturmwellengetöse, das die Erinnerung der Menschen nachhaltig beeindruckt hätte.

Aber die andere Flut, das wirklich mächtige Ereignis, bei dem monumentale Naturkräfte entfesselt wurden, passt sehr gut zu dem schrecklichen Szenario, das in der Geschichte von Atrahasis dem Leser ausgemalt wird. Das Getöse des dahinschießenden Wassers sowie der riesigen Flutwellen, die an den Küsten aufschlugen, muss in der Tat den Eindruck des Brüllens wilder Tiere hervorgerufen haben.

Und warum hätten die Sumerer in Mesopotamien aus den alljährlichen lokalen Fluten eine große Flut erfinden sollen, die so bedeutend war, dass die alte Welt zerstört wurde und eine neue entstand? In der alten Welt waren die Götter den Menschen nahe, weise Männer wurden zu Kulturheroen, und die Tapferen konnten Unsterblichkeit erlangen. In der Welt nach der Sintflut aber waren selbst die Weisen und Tapferen sterblich.

Angesichts der apokalyptischen Erfahrung der Schwarzmeerkatastrophe liegt es auf der Hand, dass die traumatische Erinnerung an die Große Flut das kulturelle Gedächtnis nachhaltig prägen und schon bald den menschlichen Geist nach einer Art Therapie drängen würde. Die Menschen würden anfangen, nach dem überwundenen Erstschock die erlebte Katastrophe in immer neuen Geschichten zu erzählen und damit verbal zu verarbeiten. Solche Geschichten würden immer wieder aufs Neue erzählt und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Es war nur eine Frage des zivilisatorischen Fortschritts, wann die Schrift in Gebrauch kommen und der Erzählstoff festgehalten und literarisch verarbeitet werden würde.

Am Anfang stand also die mündliche Überlieferung des Ereignisses. Erzählstoffe, die so eindrucksvoll sind, dass sie immer wieder thematisiert und häufig vorgetragen werden, nehmen den Charakter von Memen an. Meme sind Gedächtnismuster, die nach ihrer Funktion den Genen als kreativen Konstruktionstechniken des Lebens ähneln. «Wenn wir Geschichten als Beispiel nehmen, so wird eine Geschichte, die an die Gefühle appelliert oder aus irgendeinem anderen Grund so eindrucksvoll ist, dass man einfach nicht aufhören kann, daran zu denken, immer in den Gedanken kreisen. Dies wird das Gedächtnis für die Geschichte festigen, und es wird bedeuten, dass man sie mit größerer Wahrscheinlichkeit an jemand anderen weitergeben wird, eben weil man darüber so viel nachdenkt.» (Blackmore 1999: 40f.)