Die Shannara-Chroniken: Die dunkle Gabe von Shannara 3 - Hexenzorn - Terry Brooks - E-Book

Die Shannara-Chroniken: Die dunkle Gabe von Shannara 3 - Hexenzorn E-Book

Terry Brooks

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Beschreibung

Beste heroische Fantasy aus der Feder von New-York-Times-Bestsellerautor Terry Brooks – erstmals in deutscher Sprache!

Der Bann, der die Dämonen aus der Welt der Sterblichen fernhält, erlischt. Immer mehr Bestien haben die magische Grenze bereits durchbrochen und bringen Gewalt und Tod über die Vier Lande. Allein die junge Elfin Arling Elessedil besitzt noch die Kraft, die Barriere zu schließen, doch dann gerät sie in die Gewalt des diabolischen Premierministers der Föderation. Ihre einzige Hoffnung auf Rettung ist ihre Schwester Aphenglow, in deren Besitz sich die mächtigen Elfensteine befinden …

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Seitenzahl: 732

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Buch

Der Bann, der die Dämonen aus der Welt der Sterblichen fernhält, erlischt. Immer mehr Bestien haben die magische Grenze bereits durchbrochen und bringen Gewalt und Tod über die Vier Lande. Allein die junge Elfin Arling Elessedil besitzt noch die Kraft, die Barriere zu schließen, doch dann gerät sie in die Gewalt der diabolischen Premierministerin der Föderation. Ihre einzige Hoffnung auf Rettung ist ihre Schwester Aphenglow, in deren Besitz sich die mächtigen Elfensteine befinden …

Au­tor

Im Jahr 1977 veränderte sich das Leben des Rechtsanwalts Terry Brooks, geboren 1944 in Illinois, USA, grundlegend: Gleich der erste Roman des begeisterten Tolkien-Fans eroberte die Bestsellerlisten und hielt sich dort monatelang. Doch Das Schwert der Elfen war nur der Beginn einer atemberaubenden Karriere, denn bislang sind mehr als zwanzig Bände seiner Shannara-Saga erschienen.

Die Shannara-Chroniken bei Blanvalet:

1. Das Schwert der Elfen2. Elfensteine3. Das Lied der Elfen

Die Erben von Shannara bei Blanvalet:

1. Heldensuche2. Druidengeist3. Elfenkönigin4. Schattenreiter

Die Reise der Jerle Shannara bei Blanvalet:

1. Die Elfenhexe2. Das Labyrinth der Elfen (in Vorbereitung)3. Die Offenbarung der Elfen (in Vorbereitung)

Die dunkle Gabe von Shannara bei Blanvalet:

1. Elfenwächter2. Blutfeuer3. Hexenzorn

Weitere Bände in Vorbereitung

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Terry Brooks

DIE SHANNARA-CHRONIKEN

Die dunkle Gabe von Shannara 3

Hexenzorn

Roman

Deutsch von Andreas Helweg

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Witch Wraith« bei Del Rey, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2013 by Terry Brooks

This translation published by arrangement with Del Rey,

an imprint of Random House, a division of Random House LLC.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Waltraud Horbas

Umschlaggestaltung und -illustration: Max Meinzold, München

DN · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-24111-7V001

www.blanvalet.de

Für Ben Bova

1

Railing Ohmsford stand allein am Bug der Quickening und blickte hinauf in den Sternenhimmel. Sie waren gelandet und ankerten für die Nacht in einem Wäldchen aus Fichten und Schierlingstannen. Das Schiff schwankte kaum wahrnehmbar in der sanften Brise. Mitternacht war vorüber, und eigentlich hätte er wie die anderen schlafen sollen. Doch in diesen Tagen wollte sich der Schlaf nicht so leicht einstellen, und wenn, dann schlief er unruhig und wachte häufig voller Unbehagen wieder auf. Da blieb er lieber wach und versuchte, seine düsteren Gedanken im Griff zu behalten. Es war besser, seinen Dämonen aufrecht entgegenzutreten, gegen sie anzukämpfen und sie zurückzuschlagen.

Ganz vertreiben konnte er sie nicht, auch vermochte er sie nicht an jene Orte zu schicken, wohin sie manchmal verschwanden, wenn auch in letzter Zeit immer seltener.

Was am Ende keine Rolle spielte. Er kannte ihre Gesichter. Und er kannte ihre Namen.

Angst: dass er Grianne Ohmsford vielleicht nicht finden und zurückholen konnte, damit sie gegen den Straken-Fürsten antrat – denn womöglich war sie längst tot. Oder dass sie zwar noch lebte, sich aber nicht überzeugen ließ, ihre Zuflucht aufzugeben, da sie sich auf eine Auseinandersetzung, wie er sie vorschlug, nicht einlassen wollte. Oder vielleicht einfach, weil sie Grianne war und man niemals wusste, woran man bei ihr war.

Zweifel: ob es die richtige Entscheidung gewesen war, diese Reise ans Ende der Welt zu unternehmen, obwohl sie nur so geringe Aussichten auf Erfolg hatte. Er hätte seinen Bruder in der Verfemung suchen sollen, hätte ihm dort nachspüren und ihn allen Widrigkeiten zum Trotz herausholen sollen. Mit jeder Stunde, die verstrich, schmolz seine verbleibende Zeit dahin, und sein Bruder war allein, hatte keine Hilfe und wusste nicht einmal, ob jemals Hilfe kommen würde. Redden war auf ihn angewiesen, und für ihn musste es aussehen, als habe Railing ihn im Stich gelassen.

Schuldgefühle: dass er seine Gefährten mit dieser Unternehmung bewusst täuschte, dass er ihnen etwas vorenthielt, was sie vielleicht davon abgebracht hätte, weiter mit ihm zu reisen. Der König vom Silberfluss hatte ihn gewarnt: Nichts würde so ablaufen, wie er es sich vorstellte, und die Folgen waren zum Teil überhaupt nicht absehbar. Das Feenwesen hatte ihm gesagt, er solle stattdessen in die Verfemung gehen – den einzigen Ort, von dem Railing wusste, dass er ihn niemals würde betreten können, so groß war seine Angst allein bei der Vorstellung.

Er fühlte sich wie ein Feigling und ein Betrüger. Seine Zweifel und Schuldgefühle fraßen ihn auf, und es fiel ihm immer schwerer, sich das alles von den anderen nicht anmerken zu lassen. Er verbarg seine Gefühle und verhüllte sie mit falschen Worten und Taten, aber das nagte an ihm. Fraß ihn auf.

Er ging vom Bug nach hinten zum Heck und bewegte sich leise, damit er die Schläfer nicht störte. Manche lagen, in Decken gewickelt, auf Deck, andere schliefen unten in Hängematten. Nur zwei Fahrende hielten vorn und hinten Wache. Er sah den einen am Heck und wandte sich zur Seite, ehe er den Mann erreichte. Dann ließ er sich an der Steuerbordreling nieder. Es knarzte leise, als die Taue und Leinen sich spannten und wieder nachgaben, und aus dem Schatten war Schnarchen zu hören. Er liebte diese stille Zeit, diese Eintracht von Dunkelheit und Schlaf. Überall herrschte Frieden.

Wenn er nur auch solchen Frieden finden könnte.

Erst vor zwei Tagen waren sie vom Regenbogensee aufgebrochen, aber für ihn fühlte es sich an wie drei Wochen. An jenem Morgen hatten sie nach dem Aufwachen lange über die beste Route für ihre Reise diskutiert. Im Charnalgebirge kannte sich nur Skint aus. Selbst Far­shaun und die Fahrenden waren dort noch nie gewesen. Railing und Mirai waren durchs Grenzland geflogen, wo sie Ersatzteile und Bergungsgut an Kunden ausgeliefert hatten, doch weiter nach Norden hatte es sie nie verschlagen.

Railing sprach sich dafür aus, vom Regenbogensee aus dem Korridor zu folgen, der sich zwischen Wolfsktaag und Drachenzähnen hindurchschlängelte bis zum Oberen Anar, und von dort, schlug er vor, durch den Jannissonpass östlich am Schädelreich und seinen Gefahren und geradewegs am Westrand des Charnalgebirges bis zur Nordlandstadt Anatcherae vorbeizuziehen – was ziemlich genau der Route entsprach, die sein Vater auf der Suche nach dem Tanequil vor vielen Jahren eingeschlagen hatte. Von Anatcherae aus könnten sie den Weg zu ihrem Ziel fortsetzen, nachdem sie die Vorräte wieder aufgefüllt hatten.

Skint hatte eine andere Vorstellung.

Am dringlichsten, so behauptete er, brauchten sie einen Führer, jemanden, der sich im Charnalgebirge auskannte und ihnen helfen könnte, die Ruinen von Stridegate zu finden, wo man, wie es hieß, zum Tanequil gelangte. Es gab nur wenige, die dazu in der Lage waren, und er gehörte nicht dazu. Tatsächlich kannte er nur einen Mann, der ihnen dabei weiterhelfen und auf dessen Zuverlässigkeit und Wissen man sich verlassen könnte. Und selbst den würde man überreden müssen.

Sein Name lautete Challa Nand, und er hatte sich in der ­Ostlandstadt Steilrampeln niedergelassen. Um ihn aufzusuchen, mussten sie mit der Quickening östlich des Charnalgebirges und zum Oberen Anar fliegen. Man konnte also nicht von Westen nach Stridegate gelangen, sondern musste eine Route von Osten suchen. Challa würde sie ihnen zeigen, wenn sie es schafften, ihn von ihrer Sache zu überzeugen.

Railing wusste, dass er auch einfach den Ring benutzen konnte, den ihm der König vom Silberfluss geschenkt hatte, doch dann musste er den anderen entweder von seiner Begegnung mit dem Feenwesen erzählen oder sie belügen, was die Herkunft des Rings anging. Den Ring wollte er jedoch lieber für Notfälle aufbewahren; und am besten war es, ihn im Augenblick geheim zu halten.

Deshalb stimmte er Skints Vorschlag zu, und die anderen waren damit ebenfalls einverstanden, denn jeder wusste, dass sie sich auf unbekanntes Gebiet vorwagten und die Risiken so gering wie möglich halten sollten.

Jetzt waren sie unterwegs nach Steilrampeln und lagen am Nordrand des Dunkelstreifs nicht weit von der Stelle entfernt, wo der Rabb sich in östlicher Richtung aufzweigte und zum Oberen Anar wurde. Wenn man aufmerksam lauschte, konnte man das Rauschen des Flusses hören, der hier aus den Bergen kam und nach Westen durch die Ebene und von dort zum Mermidon führte. Der Fluss war Hunderte von Kilometern lang, und Railing fragte sich, ob ihm jemals irgendwer vom Anfang bis zum Ende gefolgt war. Fallensteller und Händler aus dem Gnomen- und Zwergenvolk hatten das vielleicht gemacht, allerdings hatte wohl niemand eine solche Reise festgehalten.

»Was machst du denn?«

Mirai Leah stand neben ihm. Er hatte nicht gehört, wie sie nach oben gekommen war, und sie überhaupt nicht bemerkt. Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht schlafen.«

»Wenn du hier draußen herumstehst, bestimmt nicht. Du brauchst ein bisschen Ruhe. Geht es dir gut?«

Er sah sie kurz an. Ihr Haar war zerzaust, und sie gähnte. »Mir scheint eher, du bist diejenige, die Schlaf braucht.«

»Den würde ich ja bekommen, wenn ich mir nicht deinetwegen Sorgen machen müsste. Was bedrückt dich, Railing?«

Auf diese Frage hatte er einen ganzen Sack voll Antworten, angefangen mit seinen Gefühlen ihr gegenüber bis zu der Angst, dass sie seinetwegen vielleicht zu Schaden kommen könnte. Dennoch sagte er einfach: »Nichts. Ich konnte bloß nicht einschlafen.«

Sie legte ihm einen Arm um die Schulter, und er erschauderte bei der Berührung. »Wie lange kennen wir uns schon?«

»Ewig, plus ein paar Tage? Jedenfalls, seit wir noch sehr klein waren. Ich erinnere mich noch, als du uns mit deinen Eltern zum ersten Mal besucht hast. Damals konnte ich dich nicht ausstehen. Du wolltest immer alles bestimmen.«

»Daran hat sich nicht viel geändert. Ich will immer noch alles bestimmen. Wenn ich dich also frage, was dich bedrückt, dann nur, weil ich weiß, dass dich etwas bedrückt. Also, was ist los?«

Er strich sich das rote Haar zurück und sah sie an. »Es frisst mich innerlich auf, dass ich nicht zu Redden kann. Ich halte es nicht aus.«

»Warum gehst du dann nicht zu ihm?«

»Weil ich glaube, dies ist die bessere Lösung.«

»Weil du glaubst, Grianne Ohmsford lebt noch und wird Redden retten?« Sie sah ihm in die Augen. »Das haben wir längst besprochen, und ich denke, darüber machst du dir bestimmt keine Gedanken. Es geht um etwas anderes, etwas, das du für dich behältst. Redden ist nicht hier, also kannst du nicht mit ihm reden. Vielleicht solltest du es mit mir versuchen.«

Das war seine Gelegenheit. Sie forderte ihn dazu auf, weil sie ihn durchschaut hatte, und es würde ihn erleichtern, wenn er ihr von seinem Treffen mit dem König vom Silberfluss erzählte. Er könnte ihr schildern, wie er sie alle beeinflusste. Aber das würde er niemals tun. Er wollte sich ihr gegenüber nicht in einem schlechten Licht zeigen. Er wollte, dass sie ihn bedingungslos und von ganzem Herzen liebte. Wie schon immer.

Er spielte mit dem Ring in seiner Hosentasche. »Ich muss mich jetzt schlafen legen. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.« Im Gehen drehte er sich um und blieb noch einmal stehen. »Eins muss ich dir noch sagen: Ich gebe echt mein Bestes. Wenn Redden meinetwegen etwas zustößt, würde ich das nicht ertragen. Das musst du mir glauben. Ich brauche deine Unterstützung und …«

Er ließ es unausgesprochen. Die Worte deine Liebe brachte er einfach nicht über die Lippen. »Gute Nacht.«

»Ich unterstütze dich, Railing. Immer«, rief sie ihm hinterher.

Ohne sich umzublicken, winkte er und verschwand in der Luke zum Frachtraum.

Er hatte gedacht, einschlafen zu können, weil er erschöpft war und weil ihm so schwer ums Herz war. Doch nach einem kurzen, unruhigen Schlummer war er wieder hellwach. Und nicht nur das, ein eigentümliches Gefühl trieb ihn von seinem Lager und zurück die Leiter hinauf zum Deck, wo er sich an die Reling stellte und ins dunkle Land hinausspähte.

Dort draußen war irgendetwas. Etwas, das er aufsuchen musste.

Er konnte nicht erklären, woher er das wusste, doch das Gefühl war so unwiderstehlich, dass er keinen Zweifel hatte: Er musste einfach herausfinden, was da los war. Es war unmöglich, es zu ignorieren.

Also ging er zum Wachposten am Bug und sagte ihm, dass er einen Spaziergang machen wolle und gut auf sich aufpassen würde. Der Fahrende wusste, es wäre ein Fehler, eine Entscheidung des Anführers infrage zu stellen, trotzdem bot er seine Begleitung an. Railing lehnte ab.

Als er das Schiff verlassen hatte und allein in der Nacht stand, überließ sich Railing dem seltsamen Drang und folgte seinem Instinkt. Merkwürdigerweise fühlte er sich nicht bedroht. Das lag vielleicht daran, dass er die Überfälle der Kobolde in den Fängen überstanden hatte, als er ständig die Magie des Wunschlieds anwenden musste, um die Horden zurückzuwerfen. Während andere um ihn herum starben, geschah in diesen finsteren Tagen etwas tief in ihm. Er hatte durch seine Magie eine Quelle der Kraft und der Zähigkeit entdeckt, von der er nichts geahnt hatte. So hatte er sich selbst bewiesen, dass er stärker sein konnte, als er glaubte. Früher war das Wunschlied lediglich ein Mittel gewesen, sich in neue Abenteuer zu stürzen und die Grenzen auszuloten, die der gesunde Menschenverstand gebot. Aber aus den Fängen hatte er etwas anderes mitgebracht. Jetzt glaubte er, dass ihn seine Magie mit Schild und Schwert ausstattete, und deshalb konnte er sich selbst und alle in seiner Umgebung beschützen. Dieser Glauben hatte sein Selbstvertrauen erheblich gestärkt.

Aus diesem Grund wanderte er angstfrei durch die Schatten der Nacht. Er zauderte nicht und dachte auch nicht daran umzukehren, sondern suchte nach dem, was ihn lockte. Sein Entschluss stand fest. Die Stimme erinnerte ihn an den Ruf des Königs vom Silberfluss vor zwei Nächten, und nun wollte er herausfinden, woran das lag. Obwohl dieser Ruf anders war – so anders, dass er von einem ganz anderen Wesen stammen mochte –, bestand doch eine Ähnlichkeit, die ihn faszinierte.

Railing.

Sein Name, deutlich gesprochen, von einer Stimme, die er nicht verwechseln konnte, weil er sie schon sein ganzes Leben lang kannte.

Redden. Sein Bruder rief ihn.

Er überwand seinen Schreck und ging schneller, während er lauschte. Es war wieder still, die Stimme war sofort wieder verstummt. Aber sie lockte ihn weiter. Er lief durch den Wald und wusste nicht mehr, in welche Richtung er rannte – auch nicht, aus welcher er gekommen war. Blindlings stürmte er voran und folgte dem Ruf, ohne auf seine eigene Sicherheit zu achten, bis er sich schließlich fragte, ob er sich vielleicht doch in Gefahr befand und sie einfach nicht erkannte.

Railing.

Wieder die Stimme seines Bruders.

Er ging langsamer, wollte nicht hetzen, denn nun machte er sich Sorgen, dass er sich überschätzt hatte. Er hatte sich am Rand des Dunkelstreifs verirrt, und dieses Land war nicht nur überaus wunderlich, sondern es barg auch viele Gefahren. Er entfernte sich vom Rabb; das wusste er, weil er das Rauschen nicht mehr hörte. Um ihn herum herrschte tiefe Stille, die nur gelegentlich vom Schrei der Nachteulen durchbrochen wurde.

Vor sich entdeckte er zwischen den Bäumen ein schwaches silbriges Schimmern.

Er schlängelte sich durch den Wald und erreichte das Ufer eines kleinen Sees. Über der gekräuselten Oberfläche lag unheimlicher Nebel. Das Wasser schwappte ans Ufer, und in der Mitte wehte der kräftige Wind sogar Gischt auf. Obwohl sich der Junge alle Mühe gab, konnte er nicht erkennen, was sich auf der anderen Seite befand. Die Bäume umringten den See wie eine Palisade, und von dort, wo er stand, wurden die dunklen, dicken Stämme nach einigen Metern fast undurchdringlich. In der Ferne erspähte er die Gipfel der Berge.

Railing.

»Ich bin hier, Redden«, rief er zurück und kam sich dumm vor, weil er laut auf eine Stimme antwortete, die er nur im Kopf hören konnte.

Schallendes Gelächter begrüßte die Antwort, durchbrach die Stille und hallte in Wellen über den See. Railing wich einen Schritt zurück, da er nicht wusste, was hier vor sich ging. Nur eines war ihm klar: Was er da hörte, war ganz sicher nicht sein Bruder. Das Lachen klang befremdlich und überhaupt nicht menschlich. Er hätte Reißaus genommen, wenn da nicht dieser Drang gewesen wäre, der ihn an Ort und Stelle verharren ließ.

Dann bildete sich mitten auf dem See eine dunkle Gestalt und schwebte über das Wasser auf ihn zu.

Raaaiilingg.

Wieder die Stimme seines Bruders, doch diesmal klang sie flehend. Railing schauderte und war von der Eindringlichkeit erschüttert. Dennoch blieb er stehen und wartete auf das Wesen, das langsam auf ihn zukam. Er spürte die Angst nicht, die ihn sonst vermutlich in den Wald getrieben hätte. Stattdessen empfand er eine unerklärliche Abneigung.

Als ihn die dunkle Gestalt erreichte, war sie vollständig ausgeformt. Sie stand auf dem Wasser und schaute auf ihn herab.

»Bruder.« Redden Ohmsford sprach mit hohler, leerer Stimme.

Railing war wie vor den Kopf geschlagen und konnte nicht antworten.

»Hast du geglaubt, ich würde keinen Weg finden, auch wenn du nicht zu mir kommst? Hast du mich in der Hoffnung im Stich gelassen, ich würde einfach aus deinem Leben verschwinden und dich in Ruhe lassen? Damit du Mirai für dich allein hast? Hast du geglaubt, ich würde keinen Weg zu dir zurückfinden, selbst wenn ich tot wäre?«

Railing kämpfte mit seiner zunehmenden Verzweiflung. »Du bist nicht mein Bruder. Mein Bruder lebt noch. Ich wüsste es, wenn er tot wäre!« Er schluckte. »Was bist du? Ein Schatten? Ein Gestaltwandler?«

Das Wesen vor ihm flimmerte und veränderte sich. »Vielleicht bin ich du.«

Und im nächsten Moment betrachtete Railing sein eigenes Spiegelbild – jede Einzelheit stimmte, jeder Zug und jede Eigenheit.

»Warum hast du mich gerufen? Was willst du?«

»Oh, es geht nicht darum, was ich will. Sondern um das, was du willst.«

»Das stimmt nicht. Es kommt alles von dir. Und du bist nicht ich!«

»Nun, wohl, Nachfahre der Talbewohner und der Druiden, wer bin ich dann?«

Railing kramte in seinem Kopf nach einer Erklärung, nach einer Erinnerung, nach einem Hinweis darauf, worum es sich bei diesem Wesen handeln könnte. Doch während er seinen Doppelgänger anstarrte, konnte er keinen klaren Gedanken fassen.

»Ich kenne deine Familie, deine bedeutenden und deine weniger bedeutenden Vorfahren. Mit einigen habe ich mich im Laufe der Jahre unterhalten. Mit Brin Ohmsford, als sie nach dem Ildatch gesucht hat. Und mit Walker Boh, als er den Schwarzen Elfenstein brauchte.« Gelächter folgte, wispernd und aufdringlich. »Na, weißt du immer noch nicht, wer ich bin?«

Doch. Plötzlich wusste Railing die Antwort – und zwar sowohl aus den Erinnerungen an die Familiengeschichte als auch aus den Erzählungen seines Vaters.

»Du bist der Finsterweiher. Du bist ein Schatten, der an diese Welt gebunden ist, der an diese Ebene der Existenz gekettet ist.«

»Ein unsterbliches Wesen, das Geheimnisse kennt, die anderen verborgen bleiben. Ein Wesen, das in die Zukunft blicken kann. Jemand, der dir helfen kann.«

Railing wusste, dass der Finsterweiher ein gehässiger Gefangener seiner Welt war, der aus unbekannten Gründen hier in der Falle saß und die Völker verabscheute. Er war ein treuloser Betrüger. Was auch immer er sagte – auch wenn er Dinge wusste, die anderen verborgen blieben –, durfte man auf keinen Fall glauben.

»Ich habe gedacht, du haust tiefer im Dunkelstreif, irgendwo in der Nähe vom Kamin.« Jetzt fiel ihm alles wieder ein, was er über diesen Schatten wusste. »Wieso bist du hier?«

Der Schatten kräuselte und verwandelte sich, und nun stand Railings Mutter mit strenger und unnachgiebiger Miene vor ihm. »Du solltest doch auf deinen Bruder aufpassen, aber das hast du nicht getan! Was für ein Bruder bist du, Railing? Was für ein Sohn?«

Railing beachtete die Beleidigungen nicht und verschränkte die Arme. »Ich verschwende nur meine Zeit. Wenn du mir etwas mitzuteilen hast, dann bitte. Ansonsten geh ich jetzt wieder ins Bett.«

»Und du glaubst, du kannst gut schlafen, obwohl du weißt, was du getan hast? Dass du diejenigen, die von dir abhängig sind, belogen und beeinflusst hast? Dass du ein Geschenk von einem Feenwesen verbirgst, weil du Angst hast, seinen Besitz bekanntzugeben? Im Grunde bist du ja ein viel schlimmeres Wesen als ich. Oh, ganz bestimmt wirst du nicht einschlafen!«

Railing kämpfte gegen den Zorn an, der in ihm aufstieg, und hielt die Hände bewusst von den Hosentaschen fern. »Da du mich so gut kennst, weißt du sicherlich auch, dass alles, was du mir sagst, nichts daran ändert, wie ich mich meinem Bruder oder meinen Freunden gegenüber fühle.«

»Nichts?« Eine vielsagende Pause. »Wirklich?«

Railing holte tief Luft. »Nun, was?«

»Du bist so eine Enttäuschung für mich, Railing! Solch eine Verschwendung von Möglichkeiten.« Die Stimme seiner Mutter schimpfte ihn aus. Dann kräuselte sich der Schatten erneut und plötzlich verwandelte er sich in ein gesichtsloses Wesen mit einem Kapuzenmantel. »Vielleicht bin ich es, der lieber ins Bett gehen und dich deinem Schicksal überlassen sollte.«

»Du hast keine Ahnung vom Schicksal!« Railing hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Du kennst dich nur mit Geheimnistuerei aus. Du bist ein Meister der Täuschung und der Heuchelei. Mein Schicksal habe ich selbst in der Hand.«

Der Finsterweiher verstummte und schwebte über dem Wasser wie der Nebel, aus dem er sich geformt hatte. Langsam löste er sich auf und begann zu verschwinden. »Wenn du so überzeugt von dir bist, dann geh nur. Ich bin fertig mit dir. Ich würde dir helfen, aber du willst ja nicht. Du vertraust mir nicht und willst nicht einsehen, dass ich über Wissen verfüge, an dem es dir mangelt. Wissen, das du gerne hättest, Railing Ohmsford. Wissen, wonach es dich dürstet.«

Railing trat zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, du würdest mich mit deinen Worten und falschen Behauptungen nur in die Irre führen. Das hast du bei anderen meiner Familie auch schon versucht. Es steht in den Chroniken. Du bist für deine Hinterlist bekannt, und ich werde nicht dein nächstes Opfer sein.«

Der Finsterweiher formte sich plötzlich neu. »Warum hörst du dir nicht an, was ich zu sagen habe, und beurteilst es selbst? Können Worte Schaden anrichten, wenn man sie nur hört? Hast du solche Angst vor mir?«

Die Nacht hüllte den Jungen ein, während er über seine Antwort nachdachte. Was sollte er erwidern? Sollte er seine Befürchtungen einräumen und es dabei belassen? Sollte er seine Angst abstreiten und verlangen, dass ihm der andere gab, was er ihm versprach? Sollte er einfach weggehen? Das Schweigen zog sich in die Länge, und der Finsterweiher wartete.

»Dann tu, was du nicht lassen kannst«, sagte Railing schließlich. »Wenn du mir etwas zu sagen hast, höre ich zu. Wenn nicht, gehe ich.«

Der Finsterweiher lachte leise und schimmerte wieder. Aber diesmal veränderte er die Gestalt nicht und gab auch keine hastige Widerrede. Stattdessen schien er nachzudenken.

»Hör mich also an«, sagte er schließlich. »Ich habe dich gerufen, um zu sehen, aus welchem Holz du geschnitzt bist, das ist wohl wahr. Wärst du ein Schwächling, hätte ich dir eine Lektion erteilen können. Aber so erzähle ich dir einfach, was ich weiß und du nicht. Du bist auf der Suche nach Grianne Ohmsford. Du sollst ihr Schicksal erfahren und auch, ob es eine Chance gibt, dass man sie zurückholen kann, damit sie sich dem Straken-Fürsten stellt.«

Er legte eine Pause ein, und der Junge wartete geduldig.

»Sie lebt, Railing Ohmsford. Sie lebt, und vielleicht ist sie die Lösung für deine Probleme. Sie kann tun, was du erwartest. Wenn du das von ihr willst, magst du die Reise in dem Wissen fortsetzen, dass es möglich ist. Dennoch solltest du genau darauf achten, um was du bittest – eine alte Weisheit, doch man sollte sie beherzigen, denn nicht alles ist so, wie es scheint. Es gibt Fäden, und wenn man an denen zieht, wird das Ganze entwirrt, so wie die Fäden an dem Ring, den du in deiner Tasche trägst.«

Railing war plötzlich aufgeregt. Die Mühe würde sich lohnen. Es bestand tatsächlich die Chance, dass er Grianne fand und zurückholte, damit sie gegen den Straken-Fürsten antrat und so seinen Bruder und vielleicht auch die Vier Lande rettete. Natürlich hatte ihm der Finsterweiher auch gesagt, dass sich die Dinge nicht so entwickeln würden, wie er es hoffte, aber das hatte er ja von Anfang an gewusst. Und im Augenblick musste er einfach selbst die geringste Chance wahrnehmen.

»Ist das die Wahrheit?«, fragte er den Schatten. »Oder lügst du?«

»Kein Wort von dem, was du gehört hast, ist eine Lüge, doch deine Erwartungen könnten das, was ich gesagt habe, in die Unwahrheit verdrehen. Das liegt nicht an mir. Vergiss das nicht. Präge dir gut ein, was ich gesagt habe.«

»Das mache ich.«

Der Finsterweiher schimmerte und zog sich zurück. »Genug jetzt. Was ich dir mitteilen wollte, habe ich gesagt. Alles, was von nun an geschieht, liegt allein in deiner Hand. Ich werde deine Fortschritte beobachten und aufzeichnen, wie du auf die Ereignisse reagierst. Das wird sehr unterhaltsam werden.«

Der Junge schaute zu, wie der Schatten nach und nach verschwand, während das Licht erlosch. Noch war er zu erkennen, als er den Nebel erreichte.

Dann löste er sich in winzige Teilchen auf und war verschwunden.

2

Im Morgengrauen brachen sie auf. Sie stiegen der Sonne entgegen, die rot über dem Horizont hing und deren Strahlen sich wie Ranken aus Blut über das Land reckten. Das purpurne Licht leuchtete im Gegensatz zur schwindenden Nacht so intensiv, dass es beunruhigend wirkte, und Passagiere wie Mannschaft nahmen ihr Frühstück schweigend ein und warfen immer wieder unbehagliche Blicke nach Osten. Einen derartigen Dunst, der dem Licht diese Farbe verlieh, hatten auch die Fahrenden noch nicht gesehen, aber allen fielen unheilverkündende Sprüche ein.

Trotzdem setzten sie die Segel, und bald darauf hatte sich das Morgenrot verflüchtigt. Stattdessen zog bleicher Dunst auf, und Wolken machten sich breit, bis vom blauen Himmel nur noch Streifen zu sehen waren. Im Norden und Westen zog Regen in geballten Gewitterwolken herauf. Sturm im Anmarsch, murmelten einige. Und noch dazu ein heftiger, so wie es aussieht.

Für Railing, der mit dem Rücken zur Pilotenkanzel saß – um ein wenig Abstand zu den anderen zu haben –, war der aufziehende Sturm ein Zeichen. Wieder behielt er alles für sich und entschied sich, mit niemandem über seine Begegnung mit dem Finsterweiher und über das Gesagte zu sprechen. Jetzt hatte er schon zwei Geheimnisse von immenser Bedeutung, die er beide eigentlich den anderen hätte mitteilen müssen. Aber er konnte sich nicht überwinden, irgendetwas preiszugeben, das die Reise möglicherweise beenden würde. Gleichgültig, was sonst ­passierte, er durfte nicht zulassen, dass sie umkehrten.

Er befand sich in einer schrecklichen Lage. Natürlich stand es ihm nicht zu, diese Entscheidung allein zu treffen. Ihm war klar, dass er egoistisch und gefährlich handelte. Wahrscheinlich war er am wenigsten geeignet, die Wahl zu treffen, da ihm die Notlage seines Bruders am stärksten zusetzte. Aber weder der König vom Silberfluss noch der Finsterweiher hatten ihn von seinem Entschluss abbringen können. Er wollte Grianne Ohmsford suchen und mit ihrer Hilfe seinen Bruder retten. Der Finsterweiher hatte ihm verraten, dass sie noch lebte und dass er sie finden würde. Das genügte, um alle Risse in seiner Entschlossenheit zu kitten. Die Ausflüchte in den Worten des Wesens spielten keine Rolle, ja, vielleicht waren sie nur als Spott gemeint. Auch die doppelte Warnung – jeweils von beiden übernatürlichen Besuchern –, dass die Sache anders als erwartet ausgehen könnte, war ihm nicht so wichtig.

Von Belang war nur eines: Er würde eine Chance bekommen, Redden zu retten.

Die Risiken waren ihm sehr wohl bewusst. Grianne könnte ihn abweisen oder sogar wegschicken. Doch er hielt sich für stark genug, solche Hindernisse zu überwinden. Ganz bestimmt fand er einen Weg, das zu erreichen, was er sich längst als Ziel gesetzt hatte, auch wenn er dabei auf Widerstand traf.

An diesem glühenden Glauben hielt er sich fest. Er war bis hierher gelangt, weil er auf seinen dunklen Schwingen flog, und er würde sich auf dem rutschigen Rücken festklammern und seinem ungewissen Kurs folgen, bis die Angelegenheit erledigt war und er Redden in Sicherheit gebracht hatte.

Dabei konnte er leicht sein Leben verlieren, aber das machte ihm nichts aus. Im Grunde machte er sich deswegen gar keine Gedanken. Dagegen bedrückte es ihn schon, dass es auch ­seine Gefährten das Leben kosten könnte, aber auch wiederum nicht so viel, dass er sein Vorhaben deshalb aufgab. Sie waren mitgekommen, weil sie an das glaubten, was sie unternahmen. Und er sah es als seine Aufgabe an, diesen Glauben bei ihnen zu bestärken.

Sie flogen nordwestlich am Oberen Anar entlang und folgten der gewundenen Linie des Rabbs, der sich durch die Wälder und die Berge schlängelte. Dieser Kurs würde sie zu einem Punkt bringen, von dem aus sie nördlich zur Suche nach der Stadt Steilrampeln aufbrechen würden. Far­shaun kam irgendwann zu ihm, setzte sich zu ihm und teilte ihm dies mit. Vielleicht auch, weil er sich Sorgen machte, da sich Railing so sehr von den anderen zurückzog. Wann immer sich der alte Mann nicht die Mühe machte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, saßen sie schweigend da. Aber Railing hatte sich innerlich längst von solchen Unterhaltungen verabschiedet, denn auf diese Weise kam er mit den emotionalen Folgen seiner Entscheidung am besten zurecht. Er sagte lieber gar nichts, als sich dazu verleiten zu lassen, alles hervorzusprudeln.

»Du hast dich verändert«, sagte Far­shaun schließlich. »Als hättest du uns verlassen und wärest irgendwo anders hingegangen. Nicht wahr? Was ist mit dir los?«

»Nichts«, antwortete Railing sofort. Er bemühte sich zu lächeln, was ihm nicht gelang. »Ich denke einfach ständig an Redden und daran, was er durchmachen muss. Das macht es so schwer für mich.«

»Natürlich wissen wir das. Aber du solltest dich trotzdem nicht von uns zurückziehen.«

Dazu gab es nichts zu sagen, und nach einer Weile erhob sich der Fahrende und ging davon.

Mirai ließ sich den ganzen Tag nicht bei ihm nieder, winkte ihm aber ein oder zwei Mal im Vorbeigehen zu. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Austrum – und darüber ärgerte sich Railing so sehr, dass er am liebsten Streit angefangen hätte. Aber mit der einzigen weiteren Person, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielte, wollte er nicht zanken. Er beobachtete sie still und erinnerte sich daran, was sie ihm über den großen Fahrenden gesagt hatte: Zwischen ihnen spielte sich nichts ab.

Aber dann ergriff Austrum ihre Hand und hielt sie fest, und Mirai zog sie nicht zurück.

Am Nachmittag waren sie weit über dem Oberen Anar und die Quickening profitierte vom Rückenwind, während sie nördlich auf das Charnalgebirge zuhielten. An diesem Tag kamen sie gut voran, und ihr Glück blieb ihnen auch beim neuen Ziel treu. Der Sturm schien sich hinter die Drachenzähne zurückgezogen zu haben und grollte auf der Westseite des Wolfsktaags, bis er sich ausgetobt hatte. Far­shaun kam kurz zu ihm und teilte ihm mit, dass sie Steilrampeln noch am gleichen Tag kurz nach Sonnenuntergang erreichen würden.

In den restlichen Stunden half Railing der Mannschaft mit der Takelage, denn plötzlich hatte er das Gefühl, sich mit etwas beschäftigen zu müssen. Er sah sich nicht nach Mirai um, denn er fürchtete, sie in Austrums Gesellschaft zu entdecken, doch als er sie schließlich bemerkte, stand sie zwei Meter neben ihm und arbeitete ebenfalls an den Leinen. Sie grinste wissend, als habe sie seine Gedanken gelesen und seine Absichten erraten. Er wurde rot, grinste zurück und fühlte sich sofort besser, weil er erleichtert war, dass sie in seiner Nähe war und noch dazu allein.

Die Nacht war angebrochen, als sie die Lichter ihres Ziels entdeckten, Fackeln und Lampen in großer Zahl, die im Stockdunkeln leuchteten. Wolken schoben sich über die Berge und machten die Nacht noch düsterer. Die ersten Regentropfen gingen nieder, kündigten den Sturm an und mahnten dazu, das Luftschiff schnellstens zu sichern.

Sie glitten sanft abwärts. Mirai stand am Ruder, und Far­shaun und Skint halfen ihr beim Navigieren, während sie auf das kleine Flugfeld außerhalb der Stadt zuhielten. Dort war eine Handvoll Luftschiffe vertäut – doch es befand sich kein Kriegsschiff darunter und auch keines, das die Größe der Quickening besaß. Die meisten sahen ramponiert und vernachlässigt aus und machten eher den Eindruck, als wären sie in letzter Zeit selten geflogen worden und würden auch vermutlich nicht noch einmal abheben. Niemand war auf dem Flugfeld zu sehen, als sie landeten; niemand kam heraus, um sie zu begrüßen oder beim Vertäuen zu helfen.

Das war für die Fahrenden kein Problem, denn sie waren daran gewöhnt, alles selbst in die Hand zu nehmen. Sie liefen auf Deck herum, zogen die Lichtsegel ein, sicherten die Strahlungssammler und ließen Seile und Anker nach unten, damit sie das Schiff festmachen konnten. Railing schaute ihnen eine Weile zu, ehe er den Blick auf Steilrampeln richtete. Es war zu dunkel, um weit zu sehen, doch wenn die Lampen und die Fackeln nicht täuschten, war es keine besonders große Stadt. Zum einen lag sie weit oben in den Ausläufern der Berge, und der einzige Grund für ihre Existenz war offensichtlich diese Lage – alle Pässe, die ins Charnalgebirge führten, begannen hier. Far­shaun hatte ihnen erzählt, dass die Bedeutung der Stadt vor allem daher rührte, dass sie von Fallenstellern, Jägern und Reisenden, die einen Führer suchten, als Zwischenstation genutzt wurde. Ansonsten würde niemand den Weg hierher auf sich nehmen.

Als er nun die Gebäude am Rand des Flugfeldes betrachtete, stellte er fest, dass Instandhaltung und Reparatur bei den Bewohnern der Stadt nicht gerade in hohem Kurs standen. Holzverkleidungen waren gesplittert und gebrochen, Dächer hingen durch oder waren eingestürzt, Fensterscheiben waren gesprungen, und die Häuser hatten offensichtlich schon vor Jahren den Kampf gegen den Verfall aufgegeben. Einige sahen noch so gut aus, dass sie einen Sturm überstehen und ihren Bewohnern Wärme und Trockenheit bieten konnten, doch selbst diese gaben sich nicht den Anschein, mehr als ein schlichtes Dach über dem Kopf zu sein.

Weiter hinten sahen die Lichter dichter und heller aus, und dort war die Stadt vielleicht in einem besseren Zustand. Wenn Railing aufmerksam lauschte, konnte er Gesang und Gelächter hören.

»Morgan Leah war vor langer Zeit hier«, sagte Mirai. Sie stand neben ihm und betrachtete ebenfalls die Stadt. Das Haar hatte sie zusammengebunden, und ein paar verirrte Strähnen glitzerten golden im fernen Lichtschein. »Er war unter anderem mit Walker Boh unterwegs und mit Quickening, dem Mädchen. Sie waren auf der Suche nach Eldwist und dem Steinkönig Uhl Beck, weil sie den Schwarzen Elfenstein brauchten.«

»An die Geschichte erinnere ich mich.« Railing sah sie nicht an, weil er sich davor fürchtete, was sie in seinen Augen entdecken könnte. »Wir haben sie von Vater gehört, als er uns die Familiengeschichte erzählt hat. Das war noch zu Zeiten von Par und Coll Ohmsford. Die Schattenwesen machten Jagd auf sie.«

Sie erwiderte einen Augenblick lang nichts und schaute weiter zur Stadt. »Pass gut auf, wenn ihr dort seid.«

Er sah sie an, da er ein gewisses Bedauern aus ihrer Stimme heraushörte. »Kommst du nicht mit?«

Sie schüttelte den Kopf. »Skint hält das für keine gute Idee. Er denkt, ich würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Far­shaun ist der gleichen Meinung. In solchen Städten sind Frauen nur für eine Sache gut.«

Railing nickte. »Vermutlich haben sie recht. Es ist zu riskant.«

Trotzdem war er überrascht. Irgendwie hatte er geglaubt, sie würde schon allein deswegen mitkommen, weil sie immer alles zusammen machten. Sie nicht dabei zu haben fühlte sich irgendwie merkwürdig an.

»Vielleicht solltest du doch mitkommen«, sagte er und wünschte sich, sie würde zustimmen. »Ein Mantel und eine Kapuze würden …«

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und ging davon, ohne sich den Rest anzuhören. Er sah ihr hinterher, und der Rest dessen, was er sagen wollte, war vergessen. Die unausgesprochenen Worte hinterließen einen bitteren Geschmack im Mund.

Kurz darauf hatte Far­shaun die gesamte Besatzung auf dem Hauptdeck versammelt. Der Fahrende hatte offensichtlich das Kommando übernommen, da Railing kein Interesse mehr daran zeigte.

»Alle außer Skint, Railing und mir bleiben an Bord. Wir drei gehen in die Stadt und suchen unseren Mann. Das könnte eine Weile dauern, übt euch also in Geduld. Niemand …« – während er weitersprach, suchte sein Blick besonders Austrum und die anderen Fahrenden – »… verlässt das Luftschiff, während wir unterwegs sind.«

»Hier gibt es kaum etwas Verlockendes«, erwiderte Austrum grinsend. »Ich denke, du musst dir keine Sorgen machen, alter Mann.«

Er sagte es durchaus mit Anerkennung in der Stimme, und Far­shaun nahm es auch so auf und grinste ebenfalls, ehe er hinzufügte: »Ihr werdet schon herausfinden, wie alt ich bin, wenn ihr euch meinen Befehlen widersetzt.«

Während sich die anderen also eine Beschäftigung für die Zwischenzeit suchten, stiegen Skint, Railing und Far­shaun die Strickleiter nach unten und brachen auf.

Im Dunkeln überquerten sie das Flugfeld und hielten auf die Lichter der Stadt zu. Dabei mussten sie Haufen und ­Wagenspuren und Felsbrocken ausweichen. Dann erreichten sie das erste Licht – eine Lampe an einem Schuppen, der jedoch eher an eine Ruine erinnerte, wo man offensichtlich Ausrüstung erstehen konnte. Hier fanden sie einen Pfad, dem sie durch eine Ansammlung von Gebäuden, Wohnhäusern, Schuppen und Scheunen in Richtung des Lachens und des Gesangs folgten. Überall lag Schutt verstreut, und niemand war unterwegs. Ein paar besser gepflegte Häuser waren dunkel, die Fensterläden und die Vorhänge geschlossen. Niemand war zu sehen, bis der Pfad auf einer vom Wetter ausgewaschenen Straße endete. Und auch hier hielten die Männer, denen sie begegneten, die Köpfe gesenkt und den Blick abgewandt. Manche taumelten betrunken. Andere wichen zwischen die Gebäude aus. Keiner sprach mit ihnen und keiner zeigte auch nur das geringste Interesse an ihnen oder ihrem Vorhaben.

Als sie sich schließlich der Ortsmitte näherten, war der Sturm da, und es regnete. Der Regen nahm an Heftigkeit zu, während sie die Straße entlanggingen, und der Boden unter den Stiefeln wurde weich und nass. Vor ihnen brannten die Lampen trübe im Dunkeln, und die Fackeln zischten.

Beim ersten Gasthaus blieb Skint stehen. »Wartet hier.«

Er verschwand im Inneren, kam jedoch Augenblicke später wieder heraus und winkte sie weiter. Railing war inzwischen hungrig und fror, er war nass und ungeduldig. Aber sie zogen an mehreren anderen Wirtshäusern vorbei, ohne anzuhalten, und hatten schon fast das andere Ende der Stadt erreicht, als der Gnom auf die Tür eines heruntergekommenen Hauses zusteuerte, auf dessen Schild »Zum bunten Weibsbild« stand. Verrauchte Luft und trübes Licht begrüßten sie; der Nebel war im Inneren fast so übel wie draußen. Der Schankraum war mit Tischen und Bänken vollgestellt, und die meisten Plätze waren besetzt. An einem Tresen, der die eine lange Wand einnahm, lehnten Männer, die scherzten und tranken. Ein paar Leute drehten den Kopf in ihre Richtung, doch die meisten Gäste beachteten sie nicht. Skint blieb an der Tür stehen, sah sich um und führte sie dann zu einem Tisch an der Wand gegenüber. Sie gingen hintereinander zwischen Tischen und Gästen hindurch und erreichten ihr Ziel, ohne angesprochen zu werden. Neben dem Tisch brannte ein Feuer in einem riesigen Kamin. Sie zogen die Mäntel aus und warteten, dass die Wärme die Kälte vertrieb, die ihnen in die Knochen gekrochen war.

»Besser?«, fragte Far­shaun, und Railing nickte abwesend.

Skint ging ohne ein Wort hinüber zum Tresen. Ein paar Minuten später war er mit Bierkrügen zurück. »Trinkt erst mal etwas. Unser Mann kommt gleich rüber.«

Sie warteten und tranken ihr Bier. Railing hätte sich gern nach dem Mann erkundigt, den sie treffen wollten – Challa Nand –, damit er eine Vorstellung bekam, mit wem er es zu tun hätte. Aber Skint hatte zuvor nichts über den anvisierten Führer gesagt, und er hielt sich auch jetzt bedeckt. Daher war es wohl besser, für den Augenblick den Mund zu halten und den Dingen gelassen entgegenzusehen.

Plötzlich richtete sich Skint auf. »Da kommt er. Überlasst mir das Reden«, sagte er so leise, dass Railing ihn beinahe nicht verstanden hätte.

Ein riesiger Troll hielt auf sie zu und schob sich zwischen den Tischen entlang, als sei es ihm gleichgültig, ob er sie umwarf oder nicht. Die Gäste an den betroffenen Tischen rückten eilig zur Seite, entweder aus Höflichkeit, oder um nicht zerquetscht zu werden; so genau war das nicht zu sagen. Challa Nand war nicht nur einfach groß. Mit guten sechs Zentnern Gewicht und einer Größe deutlich über zwei Metern war er ein wahres Ungetüm. Die rindenartige Haut und die schroffen Gesichtszüge waren eher gewöhnlich, doch der Körperbau war ­beeindruckend. Railing hätte behauptet, dass sich zwischen all den Muskeln keine Unze Fett finden ließ. Challa Nand sah aus, als könnte er jeden Tisch im Raum – mitsamt den daran Sitzenden – in die Höhe heben und durch die Tür hinausschleudern.

An ihrem Tisch angekommen, setzte er sich ans Ende der Bank neben Skint, der rasch Platz machte. Sein dunkler Blick schweifte von einem zum anderen, bis er auf dem Fährtenlesergnom zur Ruhe kam. »Was hast du für mich?«

Er sprach im Dialekt des Südlands, der sich im letzten Jahrhundert überall verbreitet hatte. Seine Stimme dröhnte tief und schroff. Railing konnte nicht aufhören, ihn anzustarren.

»Wir brauchen einen Führer ins Charnalgebirge«, antwortete Skint. Obwohl der Troll neben ihm dreimal so groß war wie er selbst, wirkte der Gnom ruhig. »In ein Gebiet, das kaum einer kennt oder zu betreten wagt.«

»Wohin genau?«

»Zu den Ruinen von Stridegate.«

Ein barsches Lachen. »Urda-Land. Warum wollt ihr dorthin? Ach nein, erzählt es mir nicht. Ich muss es nicht wissen. Stride­gate. Das ist im Inkrim.« Er blickte Railing und Far­shaun an. »Nur ihr drei?«

»Wir haben ein Schiff. Eine Mannschaft aus Fahrenden. Und noch zwei Passagiere.«

»Ein Kriegsschiff?«

»Nein, aber es ist gut ausgerüstet.«

»Das sollte es auch sein. Das Land ist selbst für Männer gefährlich, die es kennen, und davon gehe ich bei euch nicht aus. Es befindet sich tief im Klu, und das liegt tief im Charnalgebirge.« Er schüttelte den gewaltigen Kopf. »Ein alter Mann, ein dürrer Gnom und ein Knabe. Sind die anderen vielleicht ein bisschen vielversprechender ausgestattet?«

Ohne die Antwort abzuwarten, nahm er Skints Bierkrug und trank ihn leer. »Du solltest noch eine Runde holen, was?«

Skint sah ihn böse an, gehorchte jedoch. Der Troll blickte ihm hinterher und wandte sich dann an Railing. »Du hast so etwas an dir – das habe ich gleich gespürt –, und es gefällt mir nicht. Allerdings kann ich den Finger nicht darauf legen. Sonderlich eindrucksvoll siehst du nicht aus, aber du hast irgendetwas an dir. Wo kommst du her, Junge? Wie heißt du?«

Railing errötete bei dieser Beurteilung und musste sich zusammenreißen, weil er sich darüber ärgerte, so barsch angesprochen zu werden. »Railing Ohmsford. Aus dem kleinen Ort Patchrun am Regenbogensee.«

Der Troll betrachtete ihn. »Von diesem Patchrun habe ich noch nie gehört, aber dein Name kommt mir bekannt vor. Woher bloß?«

Railing wich dem dunklen Blick nicht aus, sagte jedoch nichts. Warum sollte er diesem Geschöpf irgendetwas erzählen?

Skint kehrte mit dem Bier zurück. Challa Nand nahm ihm die vier Krüge ab, schob einen Far­shaun zu, einen dem Gnomen und behielt die anderen zwei für sich. Railings Miene wurde noch düsterer.

»Du hältst mich für dreist?« Challa Nand zuckte mit den Schultern. »Ich sag dir was, Railing Ohmsford. Ich bin ein großer, starker Mann. Das siehst du ja. Ich bekomme allein wegen meiner Größe meistens das, was ich will. Es gibt auch nicht viel, weswegen ich mir Sorgen machen muss. Aber hin und wieder treffe ich auf jemanden, der mir aus dem einen oder anderen Grund gewachsen ist. Früher habe ich das nicht sofort gemerkt. Allerdings habe ich gelernt, darauf zu achten. Ich habe gelernt, mich nicht zu sehr auf Größe und Kraft zu verlassen und nicht immer darauf zu vertrauen, dass mich ­meine körperliche Erscheinung überall durchbringt. In dieser Welt ist es wichtig, seine Grenzen zu kennen.«

Er trank aus seinem Bierkrug. Den anderen schob er Railing zu. »Diese Grenzen spüre ich jetzt bei dir. Du verfügst über Magie, nicht? Magie, die so stark ist, dass du keine Angst vor mir hast. Welche Form von Magie ist es?«

Railing zögerte, während er nach dem Krug griff. »Sie heißt Wunschlied. Ich kann mit meiner Stimme Dinge verändern und beeinflussen. Sie wird in meiner Familie vererbt.«

Der Troll blickte Skint an und suchte nach Bestätigung. Der Gnom nickte. »Ohmsford«, wiederholte er und plötzlich veränderte sich seine Miene. »Grianne Ohmsford?«

»Meine Großtante.«

Er nickte bedächtig. »Die Ilse-Hexe. Was ist da im Busch? Warum unternimmst du diese Reise?«

»Du hast gesagt, du brauchst es nicht zu wissen«, konterte Railing.

»Da brauchte ich es noch nicht zu wissen; jetzt aber schon. Dein Name ändert so einiges. Wenn ich für euch arbeiten soll, wirst du mir die Wahrheit sagen müssen.«

Railing und Skint wechselten einen Blick. »Das liegt ganz bei dir«, sagte der Fährtenleser.

Railing dachte kurz darüber nach. Da Skint meinte, sie würden diesen Mann als Führer brauchen, hatte er keine große Wahl. Auf jeden Fall sah der Troll so aus, als wäre er der Aufgabe gewachsen. Außerdem würde Railing auch Bescheid wissen wollen, wenn er an Stelle des anderen säße.

Aber deshalb musste er ihm ja nicht gleich alles auf die Nase binden.

Also erzählte er Challa Nand, dass sie nach den sterblichen Überresten von Grianne Ohmsford suchten, die, als sie den Druidenorden verlassen hatte und ins Charnalgebirge ­gegangen war, einen sehr mächtigen Talisman mitgenommen hatte, für dessen Bergung die Druiden gut bezahlen würden. Das alles beschrieb er mit ehrlicher Miene und schmückte die Geschichte nicht zu sehr aus, da er wusste, dass ihm Wortkargheit eher nutzen würde, wenn er den Troll überreden wollte. Auch die Auflösung der Verfemung und die Bedrohung der Vier Lande durch die dort eingesperrten Wesen erwähnte er nicht. Das Gleiche galt für seinen verschollenen Bruder. Er wusste, wenn er damit anfing, gab es keine Stelle, wo er aufhören konnte, ohne alles preiszugeben. Bei einem Kerl wie diesem würde die Aussicht auf Geld bessere Wirkung zeigen.

Allerdings begann Challa Nand, nachdem Railing fertig war, so schallend zu lachen, dass alle Köpfe zu ihnen herumfuhren. »Wenn davon auch nur die Hälfte wahr ist, bin ich der Zwillingsbruder eines Spinnengnoms.« Er schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht würde ich mich an deiner Stelle auch bedeckt halten. Sogar deinem Führer gegenüber – obwohl dieser Führer sich dazu entschließen könnte, euch irgendwo im Stich zu lassen, von wo ihr nie zurückfindet. Wenn er sich über euch ärgert.« Er schwieg vielsagend. »Also, wo stehen wir jetzt?« Challa Nand blickte Skint an. »Was zahlt ihr mir für diesen Metzgergang?«

»Hundert Goldstücke und alles, was uns unterwegs in die Hände fällt und das dir zusagt, außer natürlich dem, wonach wir suchen.« Der Fährtensucher sah ihn von der Seite an. »Das Gold bekommst du sofort.«

»Du hältst mir eine Karotte vor die Nase? Das gefällt mir zwar, Skint, aber ich kenne dich zu gut, um dir zu vertrauen. Das Angebot ist trotzdem gut, auch wenn ich nicht weiß, worauf ich mich da einlasse. So. Wir können geradewegs hinfliegen – durchs Charnalgebirge, durchs Klu und das Inkrim nach Stridegate. Die Reise ist nicht einfach und nicht ungefährlich, aber das wisst ihr wohl längst. Dort leben Urdas und ­Gnomenräuber. Und noch üblere Gesellen – und wenn es denen gelingt, euer Schiff vom Himmel zu holen, bedeutet das für uns alle das Ende. Na ja, für mich nicht unbedingt, aber für euch mit ziemlicher Sicherheit.«

»Würdest du uns in dem Fall im Stich lassen?«, wollte Railing wissen.

Der große Troll beugte sich vor. »Könnte sein, wenn du mir nicht unterwegs irgendwann die Wahrheit sagst. Ich bin bereit, ein gewisses Risiko einzugehen, aber nicht für Leute, die mir nicht vertrauen. Haben wir uns da verstanden?«

Railing atmete tief durch und nickte. »Wenn ich dir irgendwann die Wahrheit erzähle, bleibst du dann bis zum Ende bei uns?«

»Falls ich zu dem Schluss komme, dass es die Sache wert ist? Ja. Falls nicht, werde ich euch bitten, mich abzusetzen, und dann seid ihr auf euch selbst gestellt. Natürlich kannst du damit warten, so lange du möchtest. Du bist der Herr deines eigenen Schicksals, Railing Ohmsford, Nachfahre der Ilse-Hexe. Nur lass dir eins gesagt sein: Ich bin groß und stark, aber nicht dumm.«

Er setzte den Krug an die Lippen und trank ihn leer. »Das wär’s dann erst mal. Kommt morgen früh wieder. Hierher. Bringt das Gold mit. Sobald ich es sicher verstaut habe, geht es los.«

Er stellte den Krug auf den Tisch und erhob sich. »Hoffentlich wisst ihr, worauf ihr euch einlasst. Allerdings habe ich da so meine Zweifel.« Er warf Railing einen Blick zu. »Und hoffentlich kannst du gut mit deiner Magie umgehen.« Er reckte sich. »Ich gehe schlafen.«

Damit marschierte er zur Tür hinaus. Railing war zwar immer noch streitlustig nach der Auseinandersetzung, doch trotz allem mochte er Challa Nand überraschenderweise.

Jedoch hätte er nicht genau erklären können, weshalb.

Auf dem Weg zurück zur Quickening erinnerte sich der Junge an das Angebot, das Skint gemacht hatte. »Woher hast du hundert Goldstücke?«

Die Falten auf Skints runzliger Stirn vertieften sich noch. »Von ihm.«

Er zeigte auf Far­shaun, der jedoch lediglich mit den Schultern zuckte. »Sind ja nur Münzen, und Münzen kann man ersetzen. Redden dagegen nicht.« Er legte Railing eine Hand auf die Schulter. »Er ist es doch wert, oder? Dein Bruder? Mir ist er sogar noch mehr wert. Schließlich gehört ihr zur Familie, und wir Fahrenden passen aufeinander auf.«

Railing verschlug es trotzdem kurz die Sprache. Hundert Goldstücke waren eine Menge. »Danke, Far­shaun. Ich habe gar nicht an die Bezahlung gedacht.«

Der alte Mann nickte. »Gut, dass du mich hast.« Er blickte Skint an. »Der Troll sollte es aber auch wert sein, oder?«

Der Gnom hatte die Schultern hochgezogen, um sich gegen den Regen zu schützen. »Der ist jede Münze wert und noch mehr. Ihr werdet schon sehen.«

Railing sagte nichts darauf. Er dachte an die Dinge, die er den anderen verschwieg, und an die Täuschungen und die Falschheit, die er eingesetzt hatte, um sein Geheimnis zu wahren. Ja, er schämte sich dafür, dass er seinen besten Freunden nicht vertraute. Aber nicht so sehr, dass es ihn davon überzeugt hätte, seine Meinung zu ändern und ihnen die Wahrheit zu sagen.

Nicht, wenn sie dann vielleicht beschlossen umzukehren.

Den Rest des Wegs durch den prasselnden Regen legten sie mit gesenkten Köpfen zurück.

3

In dieser Nacht träumte Railing von Mirai.

Hinterher fragte er sich, warum er nicht von Redden träumte. Solange er wach war, galt praktisch jeder Gedanke seinem Bruder und den Maßnahmen, die notwendig waren, um ihn zurückzuholen, deshalb ergab es keinen Sinn, dass er von Mirai träumte. Ihr erneutes Interesse an Austrum machte ihm zu schaffen, doch längst nicht so viel wie die Sorgen, die er sich um seinen Zwillingsbruder machte.

Und dennoch träumte er in dieser Nacht von ihr.

Sie gingen gemeinsam über ein Feld, hielten sich an den Händen und redeten. Beide waren mächtig verliebt, und in ihren Augen spiegelte sich diese gegenseitige Zuneigung. Vor ihnen hob sich ein weiter Wald vor dem hellen, heiteren Himmel ab. Railing war sich des Waldes bewusst, doch er hatte keine Angst davor. Sie würden bestimmt einen Bogen darum schlagen, wenn sie ihm zu nahe kamen. Mirai wusste, dass sie nicht hineingehen sollten, und sie würde ihn davon fernhalten.

Aber je näher sie kamen, desto weniger sicher war er sich ihrer Absichten. Anscheinend bemerkte sie die lauernde Gefahr nicht, denn ihr Blick war unverwandt auf Railing gerichtet.

Kehr um, wollte Railing ihr sagen, doch die Worte wollten nicht heraus. Sie gingen über seine Lippen, leise zunächst und dann immer eindringlicher, aber sie erzeugten keinen Laut.

So gingen sie weiter auf die Bäume zu. Er zog an ihrem Arm und wollte sie zur Umkehr bewegen, doch vergeblich. Er war nicht stark genug, um ihre Richtung zu ändern, und sie wollte sich nicht führen lassen. Sie starrte ihn weiterhin voller Liebe und Hingabe an, nur reagierte sie nicht auf seine Bitten.

Die Bäume waren fast erreicht. Aus den Schatten reckten sich Hände, die nach ihr griffen. In der Dunkelheit konnte er sie nur gerade eben erkennen, wie sie sich Tentakeln gleich wanden. Die würden sie ihm wegnehmen, und er würde Mirai niemals zurückbekommen. Vor Angst wurde er fast verrückt, und ihn packte die Verzweiflung. Inzwischen schrie er sie an, sie solle umkehren, die Richtung ändern, irgendetwas tun, um von hier fortzukommen, ehe es zu spät war.

Er schrie ihren Namen.

Dann wurde er heftig geschüttelt und war schlagartig wach. In seine Decke verwickelt lag er in seiner Hängematte unter Deck, in dem stickigen Raum. Die Bilder des Traums waren noch so frisch, dass sie real erschienen.

»Still, Junge!«, zischte Skint ihm ins Ohr. »Mit deinem Geschrei weckst du noch das ganze Schiff auf.«

Railing nickte und erkannte gerade genug vom Gesicht des Gnomen, um die Sorge in seiner Miene zu sehen. »Ich habe geträumt«, flüsterte er.

»Weiß ich«, sagte Skint. »Und im Übrigen weiß es das ganze Schiff. Aber jetzt ist es gut. Schlaf weiter.«

Er ging davon. Railing blieb in seiner Hängematte und verscheuchte die Reste des Traums. Aber obwohl er lange Minuten dalag, blieben die Erinnerungen wach. Schließlich stand er auf und stieg die Leiter nach oben. Die Nacht war ruhig und dunkel. Der Sturm war weitergezogen, der Himmel hatte aufgeklart. Sterne funkelten am Firmament – Tausende und Abertausende. Er ging zur Reling und schaute fasziniert zu ihnen hinauf.

Plötzlich weinte er. Die Tränen rannen ihm einfach über die Wangen und er konnte sie nicht zum Versiegen bringen. Die riesige Last, die er zu tragen versuchte, erdrückte ihn. Wieso glaubte er auch nur eine Sekunde lang, seine Suche könnte irgendetwas verändern? Das Schicksal seines Bruders würde aller Wahrscheinlichkeit nach von Mächten entschieden, auf die er keinen Einfluss hatte, und diese törichten, unbesonnenen Bemühungen, eine schon vor seiner Geburt verschollene Frau zurückzubringen, waren eine unaussprechliche Dummheit.

Er überließ sich noch ein paar Minuten seinem Elend und schaffte es nur mit Mühe, sein Schluchzen zu unterdrücken. Dann erholte er sich langsam, die Tränen versiegten und er erlangte die Fassung wieder. Doch nach dem Weinen fühlte er sich leer und hatte seine Willenskraft und seine Orientierung verloren. So stand er nur da und starrte hinaus auf den Sternenhimmel und die Dunkelheit.

Wie lange er so an der Reling verharrte, wusste er nicht, als er ihre Stimme hörte und ihre Anwesenheit spürte.

»Wunderschön, nicht?«, sagte Mirai. Wieder einmal hatte sie sich ihm so leise genähert, dass er es nicht bemerkt hatte. »Als ob der Sturm den Himmel sauber gewischt hätte, und nur die Sterne sind geblieben. Wie sie funkeln.«

»Ja«, sagte er.

Ihre Hand legte sich auf seine, die auf der Reling ruhte. »Alles in Ordnung? Du wirkst irgendwie verloren.«

»Alles gut. Ich bin nur müde.«

»Willst du nicht schlafen?«

»Ich hatte im Schlaf schlechte Träume als Gesellschaft.«

»Railing, was ist los?«

Er antwortete nicht und konnte sich nicht überwinden, die Lüge auszusprechen, die ihm auf der Zunge lag.

Sie schob sich zwischen Reling und ihn, sah ihm ins Gesicht und war ihm so nah, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte. Er wollte zurückweichen, doch sie packte seine Arme und hielt ihn fest.

»Hör damit auf.« Sie wartete auf seine Antwort und hielt ihn noch fester. »Sag nichts, das dir hinterher leidtut. Und tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich rede. Ich habe gesehen, wie du mich beobachtest – besonders wenn ich in der Nähe von Austrum bin. Das muss aufhören. Du und Redden, ihr seid meine besten Freunde, aber ich bin nicht euer Eigentum. Ihr könnt mir nicht sagen, was ich zu tun und zu lassen habe.«

»Ich weiß«, antwortete er und klang selbst in seinen eigenen Ohren defensiv.

»Aber du benimmst dich nicht so.«

»Mir gefällt es nicht, wenn ich dich mit ihm sehe.«

»Das ist zwar schon ehrlicher, ändert aber nichts an den Tatsachen. Merk dir, was ich dir gerade gesagt habe, und hör mit dieser Eifersucht auf. Manche Dinge kann man nicht ändern. Was mit dir und mir oder Redden und mir passiert – oder mit mir und jemand anderem –, ist nicht in Stein gemeißelt. Es kommt eben so, wie es kommt, ganz von allein.«

Sie zögerte und sah ihm fragend in die Augen. »Aber das ist gar nicht das Wichtigste, oder? Dir liegt etwas ganz anderes auf dem Herzen. Ich spüre es, seit wir uns auf die Suche nach Grianne Ohmsford gemacht haben. Solche Dinge kannst du vor mir nicht verbergen; ich kenne dich zu gut. Dich zerfrisst innerlich etwas, und es wird dich zerstören, wenn du es für dich behältst. Du weißt etwas, was wir anderen nicht wissen, oder? Nein, du brauchst gar nicht so zu tun, als hättest du keine Ahnung, wovon ich rede.«

Er setzte zu einer Antwort an und brachte sie nicht heraus. Plötzlich wollte er ihr alles gestehen und die Bürde teilen, die auf seinen Schultern lag. Aber wenn er sich ihr anvertraute, riskierte er alles, und das würde er nicht tun.

»Ich habe einfach Angst um Redden«, sagte er stattdessen.

Sie sah ihn an, ließ seine Arme los und trat zur Seite. »Wenn du bereit bist, mir die Wahrheit zu sagen, werde ich dir zuhören. Aber lass dir nicht zu viel Zeit, Railing. Ich spüre, wie du mir entgleitest – im wahrsten Sinne des Wortes –, und es würde mir sehr leidtun, falls es dazu kommt.«

Er schaute ihr hinterher, sehnte sich nach ihr, wünschte sich, dass sie zurückkam, hasste den Gedanken, dass sie recht hatte und er nichts daran ändern konnte, und er wusste, am Ende würde er sie verlieren. Diese Offenbarung traf ihn wie ein Schlag, und er lehnte sich kraftlos an die Reling.

Ich werde sie verlieren.

Eine knappe Stunde nach Anbruch der Dämmerung kehrte Skint mit Challa Nand zurück, und die Quickening brach in Richtung Norden auf. Der große Troll unterhielt sich kurz mit Far­shaun und den anderen Fahrenden, besprach die Route, die sie einschlagen würden, und die Gefahren, mit denen sie zu rechnen hatten. Railing hörte zu, doch als Mirai ihn in die Pilotenkanzel rief, wo sie am Ruder stand und die Steuerung des Schiffs bediente, ging er zu ihr, weil er hoffte, ihre Gesellschaft werde ihm mehr Vergnügen bereiten. Allerdings war das Vergnügen von kurzer Dauer: Sobald er neben ihr stand, schob sie ihn ans Ruder und ging davon.

Im nächsten Moment war sie bei den Fahrenden und hörte zu, wie sie sich mit Challa Nand unterhielten.

Der Morgen zog sich dahin, blieb aber ohne Zwischenfälle. Sie flogen nordöstlich durch den mittleren Korridor, der den Nordteil und Südteil des Charnalgebirges voneinander trennte und nach vielen Tagen am Gezeitenstrom-Ozean endete. Railing stand die meiste Zeit am Steuer, allerdings kamen Far­shaun und Skint vorbei und unterhielten sich mit ihm. Mirai hielt sich absichtlich fern. Wenn er sie sah, arbeitete sie meistens mit den Fahrenden an den Leinen, scherzte und lachte und war offensichtlich unbeschwert. Immer wieder erwischte er sich dabei, wie er nach Austrum Ausschau hielt, doch nur einmal sah er die zwei nahe beieinander und auch nur für kurze Zeit.

Die Sonne erreichte gerade den Zenit, als Challa Nand ihn aufsuchte. Railing saß mit dem Rücken vor dem massiven Hauptmast, und der Troll ließ sich neben ihm nieder. Überrascht sah der Junge den Riesen an, doch ihr neuer Reisegenosse starrte nur vorwärts zum Bug und schwieg.

Nach endlosen Minuten des Schweigens sagte Challa Nand: »Denkst du an deinen Bruder, Railing?«

Der Junge starrte ihn an. »Wieso weißt du über Redden Bescheid?«

Der andere zuckte mit den Schultern. »Die Männer reden. Alle reden. Auf einem Schiff dieser Größe gibt es nicht viele Geheimnisse. Ich habe die Sache mit deinem Bruder heute erfahren. Und auch ein paar andere Dinge.«

Railing zog das Stirnband zurecht, mit dem er sein rotes Haar bändigte, das er seit Wochen nicht hatte schneiden lassen. Es war lang geworden.

»Mir scheint, du sprichst am wenigstens mit mir«, fügte der Troll hinzu. »Schäm dich.«

Railing musste fast lachen. »Was glaubst du denn zu wissen?«

»Dass dein Bruder verschollen ist und dass du ihn finden willst. Dass er irgendwo in Gefangenschaft sitzt und du ihn befreien möchtest. Dass wir nach deiner Großtante suchen, der Hexe, weil du aus irgendeinem Grund glaubst, sie könnte nach über hundert Jahren noch am Leben sein. Und dass sie, falls es so ist, dir und deinem Bruder helfen kann.« Er machte eine kurze Pause. »Und natürlich bestärkt das meinen Eindruck von einem Metzgergang, so wie ich es befürchtet habe, und deshalb habe ich das Recht, mich beim ersten Anzeichen von Ärger zu verkrümeln.«