Die silberne Flöte - Sylvia Obergfell - E-Book

Die silberne Flöte E-Book

Sylvia Obergfell

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Beschreibung

Misha ist ein armer Junge, der alleine mit seinem trinkenden Vater in Moskau lebt. Da dieser sich nicht um ihn kümmert, muss er seinen Lebensunterhalt durch stehlen bestreiten. Doch eines Tages wird alles anders, als ihm eine geheimnisvolle Frau eine silberne Flöte schenkt. Diese ist verzaubert, denn sie lässt sich nur von demjenigen spielen, der sie geschenkt bekommen und einen Schwur geleistet hat. Misha muss versprechen nie wieder zu stehlen. Das hat er nun aber auch gar nicht mehr nötig, denn die Leute sind von seiner Musik begeistert und beschenken ihn mit reichlich Geld. Dann aber fällt die Flöte Mishas Vater in die Hände, der sie an einen befreundeten Händler verkauft. Jetzt beginnt für Misha eine abenteuerliche Reise, die ihn auf der Jagd nach der Flöte in fremde Städte und zu fremden Menschen führt. Misha lebt zusammen mit Straßenkindern, die seine ersten richtigen Freunde werden und bricht bald darauf seinen Schwur. Er bestiehlt einen reichen Mann, um seinen neuen Freunden etwas zu essen zu besorgen. Ein schlimmer Fehler, denn ausgerechnet dieser Mann ist der von allen gefürchtete Drogenboss der Stadt und Misha und seine Freunde sehen sich nun von dunklen Kerlen verfolgt. Ihre Wege trennen sich, Misha begibt sich wieder auf die Suche nach seiner Flöte. Er findet sie schließlich bei der durch einen Unfall verbitterten Sofia und es gelingt ihm eine Freundschaft zu ihr aufzubauen. Allerdings kann er nun, da er seinen Schwur gebrochen hat, nicht mehr auf der Flöte spielen. Seine allerletzte Chance besteht darin sich bei dem gefürchteten Drogenboss zu entschuldigen. Gelingt ihm das? Wird er seine Freunde je wiedersehen? Kann er Sofia und seinem Vater helfen? Und was wird aus seinem großen Traum ein berühmter Flötenspieler zu werden? Lesen Sie selbst!

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Seitenzahl: 268

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Sylvia Obergfell

Die silberne Flöte

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Impressum neobooks

Kapitel 1

„Bleib sofort stehen, du kleiner Dieb!“ rief der große, breitschultrige Mann mit dichtem schwarzen Vollbart aufgebracht, stürmte los und stieß jeden, der ihm in den Weg kam unsanft zur Seite, während er immer wieder mit donnerndem Bass diesen Satz wiederholte. Misha drückte den Apfel fest gegen seine Brust, duckte sich unter den Armen der Erwachsenen hindurch, wobei er an den einen oder anderen anstieß, dabei wüst beschimpft wurde und hielt nach einem geeigneten Unterschlupf Ausschau. Misha brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn er war ein geübter und geschickter Dieb. Seine Hände waren so schnell, dass die meisten Leute es erst einige Zeit später erfuhren, dass sie beklaut worden waren und wenn man ihn dennoch erwischte, war er ein Meister im davon haschen und untertauchen, sein Körper war klein und schlank, seine Beine schnell und flink und seinen Augen entging kein Versteck. Dennoch war er heute besonders aufgeregt und sein Herz raste, hauptsächlich deswegen, weil er nicht mit diesem Temperamentsausbruch des Mannes gerechnet hatte, vor allem nicht wegen eines Apfels.

„Haltet ihn, er ist ein Dieb!“ schrie der Vollbärtige jetzt, so laut, dass man es wohl noch in den naheliegenden Häusern hören konnte und tatsächlich versuchte ein junger Bursche nach Misha zu greifen, wahrscheinlich versprach er sich eine Belohnung. Misha war aber schneller. Er drehte sich blitzschnell zur Seite und lief zwischen zwei Ständen hindurch, um den Markt zu verlassen, allerdings war sein Verfolger hartnäckiger als er gedacht hatte und setzte mit riesigen Schritten hinter ihm her. Mishas Atem ging jetzt schneller, die kalte Luft stach in seine Lungen und vor ihm lag die vielbefahrene Hauptstraße. Er wandte sich nach links, sah aber aus den Augenwinkeln, dass sein Verfolger dicht hinter ihm war. Er beschleunigte seine Schritte und sah vor sich die buntflimmernden Lichter des Rummelplatzes. Wenn er den erreichte ließ sich leicht ein Versteck finden. Er rannte noch schneller, hatte den ersten Wagen schon fast erreicht, da verfing sich sein Schuh an einem Stein und er stürzte vornüber. Er schrammte hart mit beiden Knien über den Boden, spürte etwas nach sich greifen und rollte sich im letzten Moment zur Seite. Er sprang wieder auf die Füße und schon war er zwischen den Wagen hindurch, aber sein Verfolger war nun zu dicht hinter ihm und so hatte er keine Chance sich zu verstecken. Kaum war Misha um die Ecke, öffnete sich eine Wagentür, eine starke Hand zog ihn ins Innere und –zack- war die Tür wieder zu. Es ging so schnell, dass er gar keine Zeit hatte zu reagieren, aber er sah durch ein schmutziges, kleines Fenster neben der Tür, wie sein Verfolger vorbeischoss. Jetzt da sich seine Augen an das Halbdunkel des Wagens gewöhnt hatten, konnte er auch seine Retterin erkennen. Es war eine Frau mit einer üppigen Figur, die eine seidene Bluse und mehrere Röcke übereinander trug und ihre Augen dick geschminkt hatte. Sie hatte braune Haare, die mit einem Tuch zusammengebunden waren und stank fürchterlich nach Parfüm.

„Na mein Junge“, meinte sie mütterlich, „du musst vorsichtiger sein das nächste Mal.“

Misha hatte keine Lust zu antworten, außerdem wollte er so schnell wie möglich wieder zur Tür hinaus, aber die Frau streckte ihren Arm aus und hielt sie zu. „Nun, nicht so schnell“, sagte sie freundlich, „Wie wäre es mit einem heißen Kakao?“

Misha rang mit sich selbst. Einerseits hörte sich das Wort Kakao zauberhaft an, er hatte lange keinen mehr getrunken, andererseits war er nicht die Person, die einem fremden Menschen vertraute, er konnte ja nicht mal seinem Vater trauen. Schließlich nickte er und die Frau führte ihn zu einem Tisch mit einer Bank, wo er sich setzte.

„Du musst besser aufpassen!“ wiederholte die Frau, während sie am Herd hantierte.

„Ich bin noch nie erwischt worden“, meinte Misha gleichgültig.

Außerdem war es ja egal, ob der Obststandbesitzer ihn verprügelte oder sein Vater zuhause, weil er nichts mitgebracht hatte, aber das sagte er natürlich nicht. Heute war er sehr erfolgreich gewesen und hatte zwei Geldbörsen und eine Handtasche gestohlen. Der Apfel war für ihn gewesen, weil er Hunger gehabt hatte.

„Damit ist nicht zu spaßen“, warnte ihn die Frau, während sie eine Tasse mit dampfendem Kakao vor ihn hinstellte. „Erst gestern habe ich gesehen, wie eben dieser Mann einen jungen Dieb fast zu Tode gewürgt hat.“

Misha begann genüsslich das warme Getränk zu schlürfen. Als Kind hatte er öfter Kakao getrunken, als seine Mutter noch gelebt und sein Vater noch nicht getrunken hatte, aber heute hatte er fast vergessen, wie wunderbar er schmeckte. „Lebst du auf der Straße?“ wollte die Frau wissen und da es Misha gerade so gut ging, war er sogar bereit zu antworten.

„Nee, bei meinem Vater, aber der säuft den ganzen Tag nur und deshalb muss ich Geld ranschaffen.“

Er beobachtete bei diesen Worten ganz genau das Gesicht der Frau, denn meistens gelang es ihm damit die Erwachsenen zu schockieren oder wenigsten ihr Mitleid zu erwecken, aber sie lächelte nur und meinte: „Dann bist du also der Familienernährer.“

Misha war das unheimlich, also sah er wieder in seine Tasse.

„Hast du schon einmal etwas anderes probiert als stehlen?“ wollte sie plötzlich wissen und Misha fühlte sich in die Enge getrieben, also lehrte er mit einem hastigen Zug seinen Kakao und sprang auf.

„He“, besänftigte ihn die Frau aber sogleich, „du brauchst nicht zu antworten, wenn du keine Lust hast.“

Misha fand etwas Besonderes an ihr, also setzte er sich wieder. Sie sah aus, wie eine Frau aus einem Märchen, eine Hexe, nur dass sie nicht hässlich war. Ihr Gesicht war alt und zu sehr geschminkt, trotzdem ließ sich ihre Schönheit erahnen. Als junge Frau musste sie sehr hübsch gewesen ein. Sie lächelte und Misha wurde bewusst, dass er sie anstarrte, deshalb senkte er schnell den Kopf. „Gefall ich dir?“ fragte sie und der überrumpelte Misha wusste gar nicht, was er darauf sagen sollte.

„Na, ja“, murmelte er schließlich, „Sie sehen nicht so aus wie andere Leute.“ Die Märchenfrau lachte, beugte sich zu ihm hinunter und fragte flüsternd: „Und du, bist du wie die anderen Menschen?“

So hatte noch nie jemand mit Misha gesprochen, aber er fühlte sich plötzlich ganz entspannt und geborgen. Er schüttelte den Kopf und begann sich im Wagen umzusehen. Überall lagen oder hingen seidene Tücher herum, auf dem Tisch vor ihm lag ein Stapel Zeitschriften, außerdem stand links von ihm eine alte Holztruhe, die mit allerlei Schnitzereien verziert war.

„Wie alt bist du jetzt?“ fragte die Märchenfrau, während sie aus dem Schrank in der Kochecke eine Schachtel Kekse holte und vor ihn hinstellte.

Gierig griff Misha danach und steckte sich gleich zwei auf einmal in den Mund. Zwischen kauen und schlucken erwiderte er: „Zwölf.“

Die Märchenfrau sagte eine Weile nichts, sondern sah ihm beim Essen zu, dann stand sie auf, ging hinüber zu der Truhe und öffnete sie. Sie winkte Misha und zog einen länglichen in ein Seidentuch gewickelten Gegenstand heraus. Misha trat neugierig näher.

„Ich habe ein Geschenk für dich“, hauchte die Märchenfrau geheimnisvoll, während sie langsam das Tuch aufwickelte. Darunter kam eine kleine, silberne Flöte zum Vorschein, die so hell glänzte, als wäre sie eben erst hergestellt worden. Alles an ihr war aus Silber, sogar das Mundstück. Die Märchenfrau gab Misha die Flöte in die Hand, sie fühlte sich kalt und glatt an.

„Das ist eine ganz besondere Flöte“, erklärte sie, „du kannst sie spielen wann immer du willst und die Leute werden dir zuhören. Aber eines musst du mir versprechen: Du darfst nie wieder etwas stehlen.“

Misha verstand nicht. Was meinte die Frau damit, alle würden ihm zuhören? Er konnte doch gar nicht Flöte spielen. Und wieso sollte er versprechen nie wieder zu stehlen? Am liebsten hätte er die Flöte zurückgegeben, aber dann besann er sich plötzlich. Wenn die Flöte aus echtem Silber war, konnte er sie verkaufen und viel Geld mit nach Hause bringen.

„Ich verspreche es“, sagte er schnell, mit Lügen und Betrügen hatte er keine Probleme, aber die Märchenfrau war noch nicht zufrieden.

„Nein, nein“, rief sie, „du darfst das nicht nur so dahinsagen. Du musst erst einmal in die Flöte hineinblasen und dann musst du laut und deutlich sagen: Solange ich diese Flöte spiele, werde ich nicht mehr stehlen.“

Misha sah die Frau verwundert an, vielleicht war sie ein bisschen verrückt, aber leichter würde er an so ein wertvolles Stück nicht mehr gelangen, also tat er, wie ihm befohlen. Vorsichtig setzte er die Flöte an die Lippen und blies hinein. Ein hoher, schriller Ton erklang, der in Mishas Ohren klingelte, so dass er erschrocken abbrach und laut und schnell den vorgegebenen Satz wiederholte: „Solange ich diese Flöte spiele, werde ich nie mehr stehlen.“

Die Märchenfrau lächelte und flüsterte: „Sie gehört dir. Nimm sie und geh und spiele damit den Leuten etwas vor.“

Misha bedankte sich bei der Frau und stieg zum Wagen hinaus. Er betrachtete die Flöte eine Weile, dann lies er sie in seiner Tasche verschwinden. Er würde sie zum alten Oleg bringen. Dieser besaß einen kleinen Krämerladen und hatte Misha schon einiges an Diebesgut abgenommen: Uhren, Taschen, kleine Spiegel. Misha machte einen weiten Bogen um den Gemüsemarkt, weil er dem Bärtigen nicht noch einmal über den Weg laufen wollte. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und es war bitterkalt. Misha zog die viel zu dünne Jacke fest um seinen Körper zusammen und schob seine Hände tief in die Taschen. Er beobachtete seinen Atem, der weiße Wölkchen in die Luft zeichnete, während er lief. Von weitem konnte er schon den Krämerladen sehen, über dem in Großbuchstaben PETROV KLEINHANDEL stand. Zufällig berührte Mishas Hand die Flöte, die in der Tasche lag und zu seinem Erstaunen fühlte sie sich nicht mehr glatt und kalt an, sondern warm und lebendig. Verwundert griff er danach, zog sie aus der Tasche und betastete sie. Tatsächlich, sie strömte Wärme aus und regte seine Finger dazu an, über die verschiedenen Löcher zu gleiten. Misha sah nach vorne. Nur wenige Meter trennten ihn noch von Olegs Laden. „Ach was soll`s, ich hab ja Zeit“, sagte er zu sich selbst, er konnte später auch noch zu Oleg gehen, denn der wohnte direkt über dem Laden, war also immer da. Misha setzte sich auf die Treppenstufen eines Hauseingangs, hob die Flöte zum Mund und blies vorsichtig hinein. Ein heller, weicher und bezaubernd schöner Ton erklang, seine Finger fanden von selbst die Löcher, hüpften auf und nieder, formten eine Melodie, die weithin zu hören war und klang, als käme sie aus einer anderen Welt. Mishas Hände waren nicht mehr kalt, sondern warm und er fühlte sich, als würde er schweben. Sanft, weich und harmonisch klang die Melodie, die der Flöte entwich, die Töne wurden hoch in die Luft getragen und verklangen leicht und leise. Erstaunt hielt Misha inne, sah die Flöte an und bemerkte, dass um ihn herum die Leute in ihrem Tun innehielten und zu ihm herübersahen. Er blies ein zweites Mal in die Flöte und wieder spielten seine Finger von alleine, wieder erklang eine Melodie, wie aus einer fernen Welt. Die Leute kamen näher, um genauer zu betrachten, welch kleiner Junge zu solch wundervoller Musik fähig war. Misha zog seine Fellmütze vom Kopf, legte sie vor sich hin und innerhalb kürzester Zeit klimperten unzählige Münzen darin. Misha fühlte sich sofort hineinversetzt in eine andere Welt, eine Welt die nur aus Tönen und Klängen bestand, Hunderten von Tönen, die in der Luft schwirrten und die Ohren zum Zuhören zwangen. Eben war er noch ein kleiner Dieb gewesen, jetzt war ein Botschafter der Musik, einer den alle bewundernd ansahen. Das Gefühl für Zeit und Raum ging ihm völlig verloren, er bemerkte nicht einmal, dass es schon dunkel geworden war, bis ihn plötzlich jemand grob in die Seite stieß und der Zauber von der einen auf die andere Sekunde erlosch. „He“, schnauzte ein dicker Mann, mit einer sehr großen, knollenförmigen Nase, „Jetzt ist Nachtruhe, die Menschen wollen schlafen.“

Dabei machte er eine weitausholende Handbewegung in Richtung der umliegenden Häuser. Misha blinzelte, als sei er aus einem Traum erwacht und stellte fest, dass außer ihm und dem Mann keiner mehr zu sehen war. Schnell steckte er die Flöte in seine Tasche, packte seine Mütze mit dem Geld und rannte an dem Mann vorbei, der ihm kopfschüttelnd nachsah. Zwei Straßen weiter stoppte er, legte die Mütze vor sich hin und begann das Geld zu zählen. Langsam wurden seine Finger wieder kalt, während er die Münzen aufhob und eine nach der anderen in seiner Tasche verschwinden ließ. So viel Geld hatte er wohl noch nie in seiner Tasche gehabt, die Leute die er bestahl hatten meist selbst nicht viel, wenn er Glück hatte war mal ein Schein dabei. Die richtig Reichen verirrten sich nur selten in diese Gegend und wenn, dann hüteten sie ihre Geldbörsen wie einen Schatz. Mishas Tasche wurde ganz schwer, von den vielen Münzen. Er griff in die andere Tasche und fühlte die Flöte, immer noch warm und lebendig und noch immer konnte er nicht so recht begreifen, was eigentlich geschehen war. Nur eines hatte er verstanden: Die Märchenfrau war nicht verrückt gewesen, sondern eine Zauberin, die ihm eine Zauberflöte geschenkt hatte. Obwohl es schon so spät war, schlug er nicht den Weg nach Hause ein, sondern steuerte seine Schritte wieder Richtung Rummelplatz. Er musste sich unbedingt näher erkundigen, was dies für ein Zauber war und er musste sich noch einmal richtig bedanken. Bald schon konnte er die flimmernden Lichter vor sich sehen und den Lärm des Rummels hören. Vielleicht war aber alles nur Zufall gewesen. Misha stoppte mitten im Schritt, zog die Flöte aus seiner Tasche und betrachtete sie lange. Sie war klein und schön. Er konnte sein Spiegelbild in ihr erkennen, das kleine Gesicht mit der vor Kälte geröteten Stupsnase, den blau – grünen Augen und dem blonden Haarschopf, der unter seiner Mütze hervorblickte. Stimmen wurden hinter ihm laut und aus den Augenwinkeln konnte er eine Gruppe Jugendlicher erkennen, die schnell näher kamen und wohl getrunken hatten, denn sie redeten laut und ihr Gang war schwankend. Eilig lies Misha seine Flöte tief in der Tasche verschwinden und lief schnell, fast schon rennend hinüber zum Rummelplatz. Dort zwängte er sich zwischen zwei Buden hindurch und versuchte sich zu orientieren. Er sah in die Richtung in der der Gemüsemarkt lag. Rechts war ein Kettenkarussell, links eine hell beleuchtete Schießbude. Dazwischen standen drei Wagen, von denen einer der Märchenfrau gehören musste. Es schien schon sehr spät zu sein, denn die meisten Buden hatten geschlossen oder waren gerade dabei zu schließen, der Rummelplatz war, bis auf ein paar vereinzelte Personen, menschenleer. Misha wurde ein bisschen unheimlich zumute, aber da er jemand war der eigentlich keine Angst haben durfte, drängte er dieses Gefühl zur Seite, steckte seine Hände, fest zu Fäusten geballt, tief in die Taschen und ging entschlossen hinüber zu den Wohnwagen. Der Erste war rot gestrichen, fiel also schon mal aus, der Zweite war weiß und klein, er könnte es sein, der Dritte war auch weiß, aber viel zu groß und schied somit auch aus. Misha lauschte. Irgendwo im Hintergrund grölte ein Besoffener herum und die Metallgestänge des Kettenkarussells nebenan schlugen im leichten Wind gegeneinander und erzeugten so ihr eigenes Konzert. Vorsichtig trat er an den mittleren Wagen heran, zog seine Hand aus der Tasche und klopfte laut und deutlich dreimal. Einige Zeit regte sich nichts, doch dann konnte Misha hören, wie sich etwas im Innern des Wagens bewegte und schließlich wurde die Tür aufgestoßen, aber in ihr stand nicht die, die er erhofft hatte zu erblicken, sondern eine dünne, große Frau im abgeschabten Morgenmantel und mit seltsam schwarz geschminkten Augen. Sie hielt eine Zigarette in der Hand und sofort schlug Misha ein intensiver Rauchgeruch entgegen. Komisch, heute Morgen hatte es überhaupt nicht nach Rauch gerochen. Die Frau schien über die Störung zu später Stunde nicht gerade erfreut zu sein und raunzte: „Was willst du hier? Kommt ihr jetzt schon nachts zum Betteln? Hier gibt`s nichts!“

Misha ließ sich davon aber nicht beeindrucken, denn er war es gewohnt, dass die Leute meckerten oder ihn beschimpften und so gab er fest und laut zurück: „Ich brauche kein Geld. Ich suche jemanden. Eine Frau mit vielen Röcken übereinander an.“

Die Frau schien einen Moment lang zu überlegen, ob sie ihm antworten sollte oder nicht, dann nahm sie einen Zug aus ihrer Zigarette, blies den Rauch in die Luft und sagte: „Eine solche Frau gibt es hier nicht!“

Misha trat einen Schritt zurück, um nicht ihren ganzen Rauch einatmen zu müssen und fragte sich, ob sie sich einen Spaß mit ihm erlaubte. „Aber sie war hier. Ich war heute Mittag noch bei ihr im Wagen“, beharrte er.

Die Frau schien jetzt gefallen an dem Gespräch gefunden zu haben, sie lachte rau, beugte sich vor und meinte leise: „Hör zu mein Junge. Ich bin seit über zwölf Jahren hier und seitdem hat es noch nie eine solche Frau hier gegeben. Ich bin hier die einzige Frau, die alleine wohnt, das andere sind Männer oder Familien. Mir kannst du das ruhig glauben.“

Mit diesen Worten warf sie ihre Zigarette direkt vor Mishas Füße und schloss die Tür. Misha sah sich um und überlegte. Es konnte nur hier gewesen sein und wenn diese Frau sie nicht einmal kannte musste etwas Wahres daran sein, das sie hier nicht wohnte. Aber mit wem hatte er dann gesprochen? In welchem Wagen war er gewesen? Unwillkürlich griff Misha in seine Tasche, um zu prüfen, ob doch nicht alles nur ein Traum gewesen war, aber da fühlte er schon die Flöte, warm und lebendig. Es war eine bitterkalte Nacht und an der Zeit nach Hause zu gehen, also machte sich Misha auf den Weg, eilig hatte er es allerdings nicht. Er schlenderte die Straßen entlang, bis er schließlich vor dem großen alten Haus stand. Die Eingangstür ließ sich leicht aufschieben, das Schloss war schon seit Jahren kaputt, auch die Birne des Flurlichts funktionierte nicht mehr, so dass Misha im Dunkeln die Treppe hinaufsteigen musste. Bevor er jedoch die Wohnung betrat, holte er einige der Münzen, die er verdient hatte, aus der Tasche, zog seinen Schuh aus, lies die Münzen hineinrieseln und zog ihn wieder an. Das machte er immer so, schließlich musste er ja auch überleben und da sein Vater nicht dafür sorgte, musste er sich eben selber helfen. Mit der Flöte wurde es allerdings schwieriger, sie war ein bisschen zu lang um in seinen Schuh zu passen, aber sein Vater durfte sie auf keinen Fall finden, sonst kam er noch auf die Idee sie zu verkaufen. Misha entschloss sich dazu, sie erst schnell in sein Zimmer zu befördern, wenn er Glück hatte, bemerkte sein Vater es nicht. Er schloss so leise wie möglich die Tür auf, spähte in die Wohnung und lief dann schnell durch den Hausgang in sein Zimmer. Dort hatte er sein Versteck unter einer Latte, die nicht mehr richtig befestigt war. Dahinter war ein Hohlraum, in dem man gut kleinere Sachen aufbewahren konnte. Schnell hob Misha die Latte an, schob die Flöte dahinter und drückte die Latte wieder in die Ecke der Wand. Später würden noch die Münzen dazu kommen, denn manchmal durchsuchte sein Vater nachts seine Kleidungsstücke und sein Zimmer, wenn er dachte sein Sohn schliefe tief und fest. Vom Lattenversteck wusste er allerdings nichts und das war auch gut so. Misha lief wieder in den Flur hinaus. Zum Glück war alles gutgegangen, aber in Zukunft musste er sich wohl etwas anderes einfallen lassen. Er öffnete die Haustür und lies sie laut hinter sich ins Schloss fallen. Sein Vater erschien im Türrahmen zum Wohnzimmer, wie immer trug er seinen alten Trainingsanzug, sein Gesicht war welk und eingefallen, da er kaum noch etwas aß und er stank furchtbar nach Alkohol. Es tat Misha noch immer weh seinen Vater so zu sehen, obwohl er mit der Zeit gelernt hatte, diesen Schmerz und diese Enttäuschung zu verdrängen.

„Wo treibsten dich so lange rum?“ fragte sein Vater, halb lallend, denn um diese späte Zeit war er seiner Sprache nicht mehr so ganz mächtig.

Misha sagte nichts, weil es leicht das Falsche sein könnte und weil er gar nicht wusste, ob sein Vater es überhaupt noch verstand, sondern drängte sich an ihm vorbei ins Wohnzimmer und legte das Geld auf den Tisch. Sein Vater drehte sich langsam herum und starrte eine Weile auf das Geld, bevor er überhaupt zu realisieren schien, dass es sehr viel Geld war. Plötzlich machte er einige Schritte vorwärts und drückte Misha in seine Arme, so fest dass es schmerzte. Misha versuchte freizukommen, was gar nicht so einfach war, denn sein Vater war ziemlich kräftig.

„Bist ein guter Junge“, lallte dieser und schließlich gelang es Misha sich aus der Umarmung zu befreien.

„Ich geh ins Bett“, rief er und war schon zur Tür hinaus, bevor ihn sein Vater zurückhalten konnte. In seinem Zimmer schloss er die Tür hinter sich, zog seine Schuhe, Jacke und Hose aus. Er versteckte noch schnell die Münzen, dann fiel er wie er war ins Bett. Zum Zähneputzen war er zu müde, aber obwohl er so erschöpft war, gelang es ihm nicht einzuschlafen. Immer wieder schwirrten die Bilder von einem Wohnwagen, einer Frau mit vielen Röcken und einer kleinen silbernen Flöte in seinem Kopf herum. Es musste Zauberei sein, anders konnte er sich die Ereignisse nicht erklären, vielleicht war die Frau nur gekommen, um ihm zu helfen. Schließlich siegte doch die Müdigkeit und trotz aller Schwierigkeiten, die dieser Tag mit sich gebracht hatte, lag ein Lächeln auf seinem Gesicht, als er einschlief.

Kapitel 2

Als Misha am nächsten Morgen die Augen aufschlug stand die Sonne schon hoch am Himmel, er musste also sehr lange geschlafen haben, fühlte sich aber immer noch müde und erschöpft. Er tappte hinüber ins Bad und warf dabei einen Blick ins Wohnzimmer, wo sein Vater morgens meistens halb schlafend auf dem Sofa zu finden war. Heute war er allerdings nirgends zu sehen, noch nicht mal leere Flaschen standen herum, wie es normal gewesen wäre. Im Bad angekommen wusch er sich und begann dann nach seinem Vater zu suchen, doch der war in der ganzen Wohnung nicht zu finden, er war wohl schon früh aus dem Haus gegangen. Misha erinnerte sich daran, was gestern passiert war, lief schnell hinüber in sein Zimmer und hob die Latte an. Tatsächlich lag unter ihr die kleine silberne Flöte, es war also kein Traum gewesen. Vorsichtig hob Misha die Flöte auf und sofort spürte er sie warm und lebendig in seiner Hand, so als würde sie leben und ein Herz in ihr pulsieren. Er freute sich plötzlich unheimlich darauf sie zu spielen, aber hier drin war es zu gefährlich, also zog er sich schnell an und griff nach seiner Jacke. Da fiel ihm ein, dass er das Problem noch nicht gelöst hatte, wie er die Flöte abends hereinschmuggeln konnte. Er sah die Flöte an, dann seine Schuhe, grübelte und hatte schließlich den rettenden Einfall. Er ging hinüber zur alten Kommode, wühlte darin herum und fand schnell was er suchte: seine alten Winterstiefel. Da waren ihm zwar zu klein, hatten vorne ein Loch und die Sohle war abgelaufen, aber sie waren hoch und boten so genügend Platz die Flöte zu verstecken. Er schlüpfte hinein, legte die anderen Schuhe in die Kommode und verließ die Wohnung. Es war ein kalter, klarer Tag, der Himmel war blau und die Sonne schien hell. Misha ging hinüber zur Fußgängerzone, wo die meisten Leute vorbeiliefen, stellte sich hin, denn zum Sitzen war es viel zu kalt und begann ein Lied zu spielen. Sogleich wurde ihm warm, als die ersten Töne erklangen, die Kälte konnte ihm nichts mehr anhaben. Wie gestern fanden seine Finger von alleine die Löcher und eine wunderschöne Melodie erklang. Kurz darauf klimperten die Münzen nur so in seiner Mütze, die Leute blieben stehen und sahen dem kleinen Jungen zu, der so wundervolle Töne zustande brachte. Misha spielte und spielte, er wurde eins mit der Musik, schwebte mit den Tönen durch die Luft uns setzte sich in den Ohren der Leute nieder. Erst als die Sonne schon tief am Himmel stand, hörte er auf, packte seine schwergefüllte Mütze, verstaute die Flöte gut in seiner Tasche und verließ seinen Platz. Nach Hause zu gehen hatte er noch keine Lust, er kam immer so spät wie möglich, weil er dann nicht so lange mit seinem Vater allein zu sein brauchte. Er verstaute das Geld in seinen Taschen und schlenderte ein wenig umher. Auf einmal spürte er, dass er großen Hunger hatte, denn er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Da er genug Geld besaß, lief er hinüber zur Stadtbäckerei und kaufte sich zwei große Schokobrötchen und einen dampfenden Kakao, denn seit gestern wusste er wieder, wie herrlich dieser schmeckte. Das hatte er sonst noch nie gemacht, aber schließlich war es ein besonderer Tag und er ließ sich auch nicht davon abschrecken, dass die Bedienung ihn böse ansah. Er setzte sich im Café zu all den reichen Leuten und genoss seine Brötchen und seinen Kakao. Er ließ sich Zeit mit dem Essen und beobachtete die Leute ringsherum, die, zumindest für ihn, aus einer ganz anderen Welt kamen. Geschäftsmänner und –frauen waren da, in Anzügen und schicken Kostümen, die alles sehr schnell in sich hineinschlangen, weil sie wahrscheinlich schon wieder zum nächsten Termin mussten und nebenher auch noch mit ihren tragbaren Telefonen sprachen. Mütter gab es da, mit Kinderwagen und dick eingepackten Kindern, die sich mit ihren Freundinnen trafen und für einen Kaffee zwei Stunden brauchten, weil sie vor lauter reden gar nicht erst zum Trinken kamen, während die Kinder quengelten und mit Süßigkeiten zur Ruhe gebracht wurden. Alte Damen saßen dort, in teuren Kleidern und mit dicker Schminke im Gesicht, die riesige Stücke Sahnetorte verschlangen und sich darüber ärgerten, dass die Bedienung so langsam war. Erst als die meisten Leute schon gegangen waren, brach auch Misha auf. Er lief noch ein wenig umher, aber inzwischen war es so kalt, dass er es nicht lange aushielt und den Nachhauseweg antrat. Er lief den dunklen Gang entlang, die Treppen hinauf, versteckte ein bisschen von dem Geld in seinem linken und die Flöte in seinem rechten Stiefel und betrat die Wohnung. Sein Vater kam ihm im Hausflur entgegen, hatte heute ausnahmsweise eine Cordhose und ein Hemd an und schien auch noch nicht so viel getrunken zu haben. Manchmal war er aber ohne Alkohol jähzorniger und gefährlicher, deshalb war Misha vorsichtig. Sein Vater betrachtete ihn eine Weile, während Misha ganz still und steif dastand und sich nicht zu rühren traute. Eigentlich wollte er so schnell wie möglich in sein Zimmer, aber er kannte diesen Blick seines Vaters und der verhieß nichts Gutes. „Wieso trägt du diese alten Schuhe?“ wollte sein Vater auf einmal wissen.

Seine Stimme klang rau und heiser und Misha erschrak jedes Mal, wenn er sie hörte. Er antwortete nicht, sondern versuchte wie gestern an seinem Vater vorbeizukommen, doch dieser verstellte ihm den Weg und fragte noch einmal: „Wieso trägst du diese Schuhe?“

Mishas Herz schlug schneller und er verdammte seinen Vater. Wieso fiel ihm das ausgerechnet heute auf, sonst bekam er doch auch nie etwas mit.

„Lass mich ins Bett, ich bin müde“, bat er, ohne seine Frage zu beantworten, aber sein Vater zeigte wieder auf die Schuhe.

„Wo sind die neuen?“ wollte er wissen, jetzt klang seine Stimme schon drohender.

„Ich habe dir Geld mitgebracht“, sagte Misha schnell und hob die Münzen in die Höhe, denn das konnte seinen Vater manchmal besänftigen. Heute hatte er allerdings kein Glück. Sein Vater machte ein paar Schritte auf ihn zu, schlug ihm mit einem mal das Geld aus der Hand und schrie ihm ins Gesicht: „Ich habe dir die neuen Schuhe gekauft, damit du nicht wie ein Straßenkind mit kaputten Schuhen herumlaufen musst!“

„Sonst ist dir das auch egal“, dachte Misha bitter, sagte aber nichts, sondern machte sich instinktiv einige Zentimeter kleiner und presste die Hände zu Fäusten zusammen.

„Wo hast du so viel Geld her?“ fragte sein Vater und plötzlich wusste Misha worauf er hinaus wollte. Sein Vater vermutete, dass er die Schuhe verkauft und deshalb so viel hatte.

„Ich hab die Schuhe nicht verkauft“, rief er ängstlich, „sie sind in der Kommode. Ich wollte sie nur ein bisschen schonen, damit sie nicht so schnell kaputt gehen.“ Erst sah es so aus, als wolle sich sein Vater auf ihn stürzen, aber dann wandte er sich ab, wühlte in der Kommode, wobei er alles herauswarf, was darin war und fand schließlich die Schuhe.

„Ich wollte nur nicht, dass sie so schnell kaputt gehen.“ wiederholte Misha und plötzlich war sein Vater wie verwandelt.

Er klopfte ihm auf die Schulter, murmelte: „Guter Junge“, dann begann er das Geld einzusammeln, dass überall im Flur verstreut lag.

Misha beeilte sich in sein Zimmer zu gelangen und versteckte in Windeseile die Flöte und das Geld. Er setzte sich auf sein Bett und versuchte sein Herz zu beruhigen, das immer noch wie wild gegen seine Brust hämmerte. Langsam liefen ihm ein paar Tränen über die Wangen, aber er wischte sie schnell weg, denn er wollte nicht, dass sein Vater sie sah, falls er noch mal hereinschaute. Er lauschte, hörte seinen Vater im Gang herumlaufen, schließlich ging eine Tür und es wurde leise. Schnell zog Misha sich aus, legte sich ins Bett, zog die Decke bis über die Ohren und schloss die Augen, denn er wollte nichts mehr hören und nichts mehr sehen.

Kapitel 3

Von diesem Tag an ging Misha jeden Tag in die Fußgängerzone und spielte. Er bekam richtig Spaß daran und machte eine neue Entdeckung: Er konnte sein Spiel mit seinen Gedanken beeinflussen. Wollte er etwas Trauriges hören, spielte er etwas trauriges, hatte er Lust auf etwas fröhliches, erklang ein fröhliches Lied. Er bekam immer viel Geld, so dass er sich genügend zu essen und zu trinken kaufen konnte und sein Vater meistens zufrieden war. Ans Stehlen dachte er schon gar nicht mehr, denn erstens hatte er keine Zeit mehr dazu und zweitens war er nicht mehr darauf angewiesen. Der Rummel war inzwischen weitergezogen, aber Misha verbot sich selbst über die Märchenfrau nachzudenken. Er ging jetzt öfters ins Café, denn dort gefiel es ihm richtig gut und inzwischen hatte sich sogar die Frau hinter der Theke an ihn gewöhnt. Außer Misha gab es noch eine Frau, die fast jeden Tag da war, einen Kaffee trank und die Leute beobachtete. Sie war mittleren Alters, hatte halblange, blonde Haare, ein schmales Gesicht, aber einen beleibten Körper und trug einen Pelzmantel. Eines Tages kam sie zu Misha herüber und sagte: „Ich habe dich spielen hören, du kannst es wirklich gut.“

Misha, der etwas scheu gegenüber Fremden war, sagte nichts, sondern sah sie abwartend an. Sie sah edel aus in ihrem Pelzmantel.

„Gefällt er dir?“ wollte sie wissen, wohl seinen Blick deutend.

Sie trug einen grell rosa Lippenstift und ihre Augen waren schwarz umrandet. Misha sagte immer noch nichts, denn eigentlich wollte er in Ruhe gelassen werden, aber die Frau gab nicht so schnell auf.

„Er ist aber nicht echt“, plapperte sie weiter und lachte, als hätte sie etwas Witziges gesagt, dann wurde sie wieder ernst. „Mein Name ist Valerie. Valerie Tsanovka“, stellte sie sich vor, „Ich arbeite in einer Musikschule und habe dich spielen hören. Wer hat dir das beigebracht?“

Misha war eigentlich nicht bereit etwas von seiner Flöte zu erzählen, weil er um sein Geheimnis fürchtete, aber schließlich sagte er, wohl auch weil er ein bisschen angeben wollte: „Ich mir selber.“

Valerie sah ihn an, als glaube sie ihm nicht, aber das war ihm gleichgültig, er wollte dass sie ging.

„Weißt du was eine Musikschule ist?“ fragte sie plötzlich.

Misha schüttelte den Kopf.

„Dort bekommen Kinder Musikunterricht. Sie lernen ein Instrument zu spielen und manche von ihnen werden große Musiker und geben Konzerte vor Hunderten von Leuten“, erklärte sie.

Misha verstand nicht so recht, was das mit ihm zu tun hatte.

„Wir suchen immer talentierte Kinder und ich denke du bist eines. Vielleicht hast du mal Lust bei uns zu spielen“, fuhr Valerie fort.