DIE SNUFF-KILLER - Robert Blake Whitehill - E-Book

DIE SNUFF-KILLER E-Book

Robert Blake Whitehill

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Beschreibung

Ex-Navy Seal Ben Blackshaw hat sich in die Abgeschiedenheit des Schiffswracks der American Mariner zurückgezogen, doch die Abenteuer der Vergangenheit holen ihn auch dort ein. Ein kleines Boot mit einer nackten, ohnmächtigen jungen Frau an Bord wird angetrieben. Blackshaw erfährt, dass sie einer gemeingefährlichen Gruppe von Soziopathen entkommen konnte, die für viel Geld Menschen entführen, foltern und hinrichten, und das Ganze auf einer Website zur Schau stellen. Blackshaw verfolgt die Spur des kleinen Bootes zurück ans Ufer der Chesapeake Bay, doch dort ermittelt bereits das FBI in einem Doppelmord und einem Entführungsfall, welche zweifellos die blutige Handschrift seines Erzfeindes Maynard Chalk tragen. Die Zeit arbeitet gegen ihn, denn Blackshaw ahnt, dass Chalks Auftauchen und das sadistische Treiben rund um die Entführungsopfer zusammenhängen … (Neuauflage von / ersetzt: TAP RACK BANG)

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DIE SNUFF-KILLER

ein Ben Blackshaw Thriller – Band 3

Robert Blake Whitehill

übersetzt von Tina Lohse

Copyright © 2014 by Robert Blake Whitehill All rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.

Für meinen geliebten Sohn Beau.

Bis ans Ende der Zeit …

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: TAP RACK BANG Copyright Gesamtausgabe © 2021 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Tina Lohse Lektorat: Johannes Laumann

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2021) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-619-1

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

DIE SNUFF-KILLER
Impressum
TEIL I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
TEIL II
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
TEIL III
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Kapitel 113
Kapitel 114
Kapitel 115
Kapitel 116
Epilog
Über den Autor
Danksagungen

TEIL I

VERSCHLEPPT

Kapitel 1

Der Jäger erstarrte in der Dunkelheit. Ein Zephir flüsterte durch die Kiefern wie ein körperloser Geist; Schatten und fahles Mondlicht, die durch das Sieb des wolkenverhangenen Himmels sickerten, ließen die Bäume aussehen, als würden sie winken. Kalte Tropfen rannen von den Nadeln über ihm seinen Nacken hinunter, aber das ignorierte er. Er war eins mit dem Regen.

Mit Disziplin und Konzentration filterte er den Klang glucksenden Wassers in der Nähe aus, aber erst, nachdem er sich gefragt hatte, welche anderen Geräusche womöglich von dem Strom verdeckt wurden. Sein Jägerauge hatte eine Bewegung erspäht, die nicht von einem Ast herrührte. Es mochte ein Eichhörnchen gewesen sein, ein Waschbär oder ein Opossum. Es konnte seine Beute gewesen sein. Er wartete, suchend und lauschend, ließ aber die LED-Lampe an seiner Stirn ausgeschaltet, damit er eins mit der Nacht sein konnte.

Der Wald wurde von einem weiteren Geräusch gestört, ein Objekt, das durch die Luft sauste, gefolgt von einem leichten Aufprall auf dem Boden zu seiner Linken. Vielleicht ein Kiefernzapfen, der vom Ast gefallen war. In dem Augenblick, in dem der Jäger seinen Kopf drehte und seinen Blick zusammen mit seinem Gewehr in die neue Richtung lenkte, beschlich ihn das fragwürdige Gefühl tief in der Magengrube, dass er hereingelegt worden war.

Jemand rauschte mit einem Ächzen in seine Seite, aber er hielt sich auf den Beinen und wankte umher, begleitet vom Klappern der Granaten, die an seiner Funktionsweste baumelten. Er hatte seine Beute schon viele Male im Tageslicht gesehen. Dies sollte keine große Sache werden, selbst wenn sie angriffslustig sein sollte. Er war eins mit seinem Ziel.

Der Jäger senkte sein Gewehr und war kurz davor, seine Beute dazu zu drängen, friedlich mit ihm zu gehen, als er eine Pistole in der Dunkelheit vor sich schweben sah. Er ließ seine Hand auf das Holster an seiner Hüfte fallen und stellte zu seiner Überraschung fest, dass es leer war.

Er blickte seiner eigenen Waffe entgegen.

Drei schnelle Schüsse. Er sah das Mündungsfeuer und fühlte, wie seine gesamte Brust schrecklich brannte, als die Patronen vom Kaliber .45 ihn vernichteten. Er stürzte und rutschte schlaff einen matschigen, steilen Abhang hinunter.

Irgendwo, bevor er in den Wasserlauf am Boden stürzte, war er eins mit den Toten.

Kapitel 2

Ben Blackshaw erwartete keinen Besuch. Als er steif von seinem Feldbett rollte, fiel seine Ausgabe von Aldo Leopolds A Sand County Almanac als zerfledderte Ansammlung von Seiten zu Boden. Obwohl es noch dunkel war, stopfte er seine besockten Füße roboterhaft in die steifen, kalten Springerstiefel, die auf dem frostigen Stahl des Kabinenbodens warteten. Er wünschte, er hätte den kleinen Schmelzofen über Nacht angelassen. So viel zum warmen Mai. Es schien, als herrschten dem Kalender zum Trotz immer noch Aprilschauer vor. Er konnte das dumpfe Prasseln der Regentropfen hören, die auf das Deck über ihm peitschten.

Da war wieder dieses Geräusch. Es war also doch kein Traum gewesen. Das benommene Gefühl, zu früh geweckt worden zu sein, verging, aber der gedämpfte Gong hallte immer noch unter ihm, vermutlich nahe dem Laderaum 2, weit achtern vom Bug des alten Liberty-Frachters.

Ben schlüpfte in seine Feldjacke. Als er vorsichtig die verrosteten Leitern und Treppen in Richtung Laderaum hinabstieg, wusste er, dass die American Mariner nicht auf Grund gelaufen sein konnte. Sie war während der Johnson-Regierung absichtlich auf einer Sandbank in der Chesapeake Bay versenkt worden und hatte dem Patuxent River Marinestützpunkt als Zielübungsschiff gedient. Die Piloten von Pax River hatten in den frühen Siebzigern aufgehört, den Schiffsrumpf zu bombardieren. Nachdem die American Mariner weltweit den amerikanischen Streitkräften gedient hatte, vom Trainingsschiff bis zur Raketenvermessung, würde sie sich heute Nacht auch nicht mehr rühren.

Bens kleine Taschenlampe war mit einem roten Filter ausgestattet, um seine Nachtsicht nicht zu stören und zu verhindern, dass einzelne Lichtstrahlen durch ein ungünstiges Einschussloch drangen und dadurch einen aufmerksamen Bootsfahrer auf seine Fährte lockten. Sein Herz schlug schneller, als er seine langsame Pirsch nach unten fortsetzte. Er fragte sich, was zum Geier gegen seinen einsamen Unterschlupf irgendwo im Nirgendwo knallte. In den Monaten, seit er sich an Bord des verfallenen Wracks versteckte, war nur ein einziges Mal ein Baumstamm in den Laderaum getrieben worden, durch den Schlund auf Höhe der Wasserlinie, wo jahrzehntelang Eis mit Brackwasser und Rost zusammengearbeitet und den Rumpf von Backbord bis Steuerbord zerschnitten hatten. Zu der Zeit waren Wellenhöhe und Tidenhub ideal gewesen, um den halb versunkenen Stamm von mehreren Tonnen Gewicht direkt in den Laderaum zu rollen. Es war gefährlich gewesen, den Stamm im Kampf gegen Wind und Wellen zu befreien, da der Baum ihn jederzeit gegen die gezackte, klaffende Wunde im Schiffsrumpf hätte quetschen und damit zweiteilen können. Das Treibgut im gähnenden Frachtraum herumpoltern zu lassen, stand aber außer Frage. Die dröhnenden Einschläge waren nicht auszuhalten gewesen. Wie das Brüllen eines ewigen Sturms hatten sie seinen Verstand gefährdet.

Hatte sich Bens eigenes Schlauchboot aus seinem Versteck hinter Trümmern im Laderaum befreit? Unwahrscheinlich. Als ehemaliger SEAL kannte sich Ben mit Knoten und Tauen aus. Er betete, dass er nicht das Boot eines neugierigen Eindringlings hörte, wie es rhythmisch an seiner Fangleine zerrte und mit den wachsenden Wellen des Sturms gegen das Schiffswrack stieß. Das schlechte Wetter sollte redliche Menschen am Ufer halten. Gegner, die Ben schaden wollten, waren seit dem letzten Herbst wie Pilze aus dem Boden geschossen, und wie Fungi würden sie sich über seine Leiche hermachen. Ben fluchte leise und wünschte, er hätte seine Bersa Thunder 380 Pistole mit nach unten genommen, aber es war zwei Uhr morgens, er war müde, und wenn er ehrlich zu sich war, wurde er langsam nachlässig.

Ben gelangte ans untere Ende einer Niedergangstreppe, der die letzten beiden Stufen fehlten, und setzte seinen Weg entlang des Korridors bis zu einem Laufgang fort, der rund um die obere Ebene des Laderaums führte. Da er dank früherer Patrouillengänge den Rest des Weges auch blind fand, schaltete er die Taschenlampe aus. Zu solchen Gelegenheiten wäre ein Nachtsichtmonokular praktisch gewesen. Sein Freund, Knocker Ellis Hogan, der auf Smith Island an der östlichen Seite der Chesapeake Bay lebte, hatte versprochen, ihm eines zu besorgen. Ellis, der mindestens dreißig Jahre älter als Ben war, wäre beinahe an einer Blutvergiftung gestorben, nachdem er während ihres letzten gemeinsamen Unterfangens verwundet worden war, und erholte sich nur langsam. Ben war niemand, der meckerte, noch würde er Ellis beleidigen wollen, indem er jemand anderes fragte, die Besorgung zu erledigen. Letztlich war dies das Leben eines Mannes auf der Flucht, der für alles auf seine Freunde angewiesen war.

Ben rückte mit verstohlener Vorsicht vor. Er hatte mal gehörte, dass die visuellen Nerven einer blinden Person nicht komplett tot waren, sondern teilweise umfunktioniert wurden, um stattdessen einen größeren Anteil an akustischen Informationen zu verarbeiten und eine Klanglandschaft zu erstellen, durch die der Blinde navigieren konnte. Ben hatte daran keinen Zweifel. Erst als Jäger in den Marschen um Smith Island und dann als Navy SEAL hatte er festgestellt, dass er sich seinen Weg durch absolute Dunkelheit lauschen konnte, wenn er sich entspannte und seinen Ohren erlaubte, durch eine Art Echolotung zu sehen. Anstatt den Widerhall eines langen, weißen Stabes zu analysieren, ließ er sich von den subtilen Änderungen von Brisen und Schritten helfen, die von seiner Umgebung reflektiert wurden, um das Umfeld unmittelbar um ihn herum zu kartografieren.

So faszinierend dieser Supersinn in der Theorie auch war, in dieser Nacht war er ein Zivilist, der weit von seiner Bestform entfernt war, und er vermisste die versprochene Nachtsichtausrüstung.

Ben schob sein Bedauern beiseite und ließ seine Ohren und Finger an die Arbeit gehen. Er tastete sich an der Wand des Laufgangs entlang, wobei er seine Schritte zwischen den Schotts zählte, bis seine Hand lautlos um die Laibung eines wasserdichten Türschotts glitt. Er blieb stehen. Der obere Laufgang des Laderaums lag hinter dieser Türöffnung, aber Ben wusste, dass er ein furchtbares, wehleidiges Stöhnen von sich gab, wenn er sein ganzes Gewicht auf das Metallgitter verlagerte.

Ben lauschte. Das hohle Dröhnen des kollidierenden Objekts, was auch immer es war, war hier lauter, verschmolz aber nun mit dem Rauschen der Wellen, die querschiffs durch die Risse im weiten Raum des Laderaums brachen. Etwas war da unten in der Dunkelheit. Ben musste es sehen.

Er hockte sich hin und richtete die Taschenlampe durch die Tür nach unten, bevor er sie für einen einsekündigen Blick in den Raum anschaltete. Er konnte seinen Augen kaum glauben. Es bedurfte all seiner Willenskraft, um das Verlangen zu bezwingen, das Licht wieder einzuschalten und auf das zu starren, was sich dort unten befand.

Er hielt es für möglich, dass die vom Metallgitter des Laufgangs geworfenen Schatten ihm einen Streich spielten, sodass sein Verstand gezwungen war, die Lücken fantasievoll auszufüllen. Ben erkannte ein Boot, wenn er es sah. Und es war ganz bestimmt nicht sein Schlauchboot, das im gefluteten Frachtraum trudelte. Es war ein altes, weißes Glasfaser-Beiboot, mit einigen Zentimetern Wasser darin. Wie der Baumstamm zuvor musste es durch die klaffende Wunde auf der Steuer- oder Backbordseite des Schiffes hereingespült worden sein. Nach Bens kurzem Blick im schwachen, roten Lichtstrahl zu urteilen, war das Boot kurz davor, durch die schartige Lücke in der Steuerbord- oder östlichen Wand des Laderaums zu verschwinden und in die stürmische Chesapeake zurückzukehren. Dort würde es bei steigendem Wellengang vermutlich volllaufen und bald ganz verschwunden sein.

Normalerweise brächte das Ben nicht in Gewissensnot. Er konnte das Boot nicht gebrauchen, also kam ihm die Bergung für den persönlichen Gebrauch gar nicht in den Sinn. Aus kürzlich mühsam erworbener Erfahrung wusste er, dass die Bergung fremder Boote sehr viel mehr Ärger einbrachte, als es wert war. Abgesehen davon wollte er definitiv nicht, dass jemand auf der Suche nach dem kleinen Beiboot die American Mariner und ihre Umgebung unter die Lupe nahm.

Das Problem lag am Boden des Bootes, wo Ben sich sicher war, eine kleine, dunkel gekleidete, menschliche Gestalt gesehen zu haben; ein Schiffbrüchiger, der Länge nach auf einen Arm gestützt, Kopf gerade so aus dem Wasser und entweder bewusstlos oder tot.

Falls Ben dortblieb, wo er war, wäre es unmöglich zu wissen, ob der unglückselige Eindringling am Leben oder hoffnungslos verloren war. Er riskierte es, den roten Lichtstrahl einmal mehr einzuschalten. Das Boot war dem großen Riss im Steuerbordschott nun näher und kurz davor, auf ewig in die Nacht gespült zu werden.

Bens Instinkt übernahm die Führung und siegte über jeden natürlichen Trieb, sich versteckt zu halten, nichts zu tun und das Problem davontreiben zu lassen. Ohne Zuhilfenahme der Taschenlampe drückte er sich durch die Türöffnung und ertastete sich den Weg zur Steuerbordseite des Laderaums, während er mit sich rang. Wenn schon ein verlorenes Beiboot Aufmerksamkeit erregte, dann würde eine vermisste Person ganz sicherlich für Aufsehen sorgen. Die zuständigen Behörden um die Chesapeake würden in Alarmbereitschaft versetzt werden, falls eine Leiche angespült würde. Ben wäre dann nicht länger sicher. Ganz gleich, ob seine Motive nun selbstlos oder eigennützig waren, er musste etwas unternehmen.

Seine linke Hand ergriff die zweite Leiter an der Wand des Laderaums. In gespannter Erwartung, dass die verrosteten Sprossen unter seinem Gewicht nachgaben, kletterte er hinunter. Als seine Füße auf dem Algenbewuchs der Sprossen zu rutschen begannen, setzte er die Taschenlampe für einen weiteren Augenblick ein. Zu seinem Entsetzen war das Beiboot bereits auf halbem Weg nach draußen. Er ließ die Lampe gerade lang genug an, um sich von der Leiter aus nach der Anlegeleine des Bootes zu strecken. Von seiner niedrigeren Position aus konnte er nicht über das Schandeck auf die reglose Gestalt blicken.

In der Dunkelheit mühte sich Ben ab, das Beiboot entgegen der Wellen zurück in den Laderaum zu ziehen, und machte die Leine mit einem Roringstek an der Leiter fest. Vorsichtig stieg er in das wankende Boot.

Ben ließ sich auf dem schmalen Bugsitz nieder. Er war im Begriff, die Taschenlampe ein letztes Mal einzuschalten, um an dem Körper nach einem Puls zu suchen. Ohne Vorwarnung traf ihn ein Schlag und er sah helle Sterne und Blitze in seinem linken Auge, als etwas Kaltes und Hartes in seinen Wangenknochen gerammt wurde. Er schätzte, es war der eisige Lauf einer Pistole. Das wurde bestätigt, als der Klick des gespannten Hahns über das Heulen des Windes und der rauschenden Wellen hörbar wurde. Ben blieb so bewegungslos, wie das schaukelnde Boot es erlaubte. Eine Hand tastete an seinen Schultern und Armen entlang und entriss ihm schließlich die Taschenlampe.

Als das rote Licht anging, erkannte Bens gutes Auge im blutroten Schein, dass er nun die Geisel eines Kindes war; eines vierzehnjährigen Mädchens, wenn es überhaupt so alt war. Sie zitterte im Wind. Was Ben für dunkle, nasse, anliegende Kleidung gehalten hatte, war ihre schwarze Haut. Das Mädchen war komplett nackt und Wasser schimmerte auf ihrer Haut, das aus ihrem Haar lief. Sie starrte Ben an, aber das Einzige, was er in ihren Augen und an ihrem fest entschlossenen Kiefer sehen konnte, war blanke, schiere Wut.

Oh bitte nicht!, dachte Ben. Nicht so …

Kapitel 3

Das wutverzerrte Gesicht des Mädchens – nein, der Frau – erfüllte Ben mit einer Angst, die ihm so noch nicht widerfahren war. Irgendetwas hatte sie in diese Welt entsandt, so nackt wie am Tag ihrer Geburt und doch so beseelt mit Hass, und Ben war klar, dass sie nur ein winziges Fingerzucken davon entfernt war, das Schott mit seiner Gehirnmasse zu streichen. Er konnte nichts weiter tun, als sich in dem schaukelnden Dingi aufrecht zu halten und zu beten, dass sie seine Versuche, das Gleichgewicht zu halten, nicht als feindselige Handlung verstand und alles beendete.

»Ich will keinen Ärger.«

Als der Druck des Pistolenlaufs auf seiner Wange abnahm, dachte er für einen Moment, dass sie den Abzug betätigt hatte, weil er zu sprechen gewagt hatte. Dies war also das kraftlose Ende, die Leere, die schnelle Beförderung ins Jenseits, dem unheiligen Ort, an dem Bens Opfer, die lange Verschiedenen und die kürzlich Erkalteten, auf ihn warteten. Sie hatte ihn aus Prinzip getötet. Er war das bequeme Ziel. Er stand für ihr wahres Ungeheuer. Oder hatte sie vielleicht in seiner schuldbewussten Seele gelesen, in seiner blutigen Vergangenheit, und hatte derart schnell ein Todesurteil gefällt? Nun gab es einen wuchernden Feigling weniger, der ihre Welt verpestete. Sicherlich konnten ihr nur die Machenschaften eines bösen Mannes die Unschuld des Kindes ausgetrieben haben.

Einen Augenblick später stellte Ben fest, dass er immer noch atmete und die stürmischen Wogen der Chesapeake in den Laderaum 2 spülen hörte. Er spürte noch immer den pochenden Schmerz unter seinem Auge, wo die Frau den Pistolenlauf platziert hatte. Dann folgte das knirschende Klappern seiner Zähne, als Ober- und Unterkiefer hart aufeinandertrafen; nicht die Kastagnetten der Angst, sondern von einem harten Schlag unter seinem Kinn. Ben rollte seinen Kopf zu spät zurück und benommen spuckte er Blut, da er sich auf die Zunge gebissen hatte.

Die schmachvolle Angst, im Dunkeln von einem Kind – nein, einer jungen Frau – mit einer Pistole eins übergezogen zu bekommen, verschwand, als sie die rot leuchtende Taschenlampe wieder einschaltete und wortlos auf die Leiter zeigte. Die Frau war zum Heck des Dingis zurückgewichen, außerhalb Bens Reichweite. Kluger Zug. Sie richtete die Pistole auf sein Gesicht und machte eine Aufwärtsbewegung, um ihre Absicht zu verdeutlichen.

Ben richtete sich langsam auf, drehte sich um und zog das Boot an der Fangleine Stück für Stück an die Leiter heran. In dem Augenblick, als er die unterste Sprosse berührte, schaltete die Frau das Licht wieder aus. Nun fragte sich Ben, ob sie versuchte, ihn durcheinanderzubringen, damit er sich die Dunkelheit nicht zunutze machen konnte. Dann ging ihm auf, dass sie womöglich ebenso besorgt war wie er, dass das Licht von jemandem dort draußen auf der windgepeitschten Chesapeake entdeckt werden könnte. Vielleicht war auch ihr Verlangen nach Zuflucht größer als ihr Durst nach Blut.

Es gab immer noch hunderte Möglichkeiten, wie die Sache in die Hose gehen konnte, ob absichtlich oder versehentlich. Langsam kletterte Ben die antike Leiter hinauf und stellte sich auf den Laufgang, seine Arme zur Seite ausgebreitet. Ein weiteres Flackern der Taschenlampe von unten und der Strahl wanderte auf dem Laufgang bis zu einem Punkt etwa sieben Meter von der Leiter entfernt. Ben ging zu der angezeigten Stelle. Er warf einen Blick über seine Schulter und sah, dass der Pistolenlauf stets zwischen seine Schulterblätter gerichtet war. Seine Wirbelsäule juckte an der Stelle, wo die Kugel einschlagen und sie zerschmettern würde. Die Frau machte das Licht aus. Bens Soldateninstinkt riet ihm, zur Leiter zu stürmen, sie hinunterzustoßen und im wogenden Wasser ertrinken zu lassen. Doch sein Selbsterhaltungstrieb, normalerweise in perfektem Einklang mit seinem inneren Krieger, ließ ihn vorerst auf der Stelle stehen, bewegungslos.

Nach nur wenigen gefühlten Sekunden hatte die Frau die Leiter hinter sich gelassen, stand auf dem Laufgang und leuchtete Ben mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht. Sie hielt die Lampe und die Waffe auf Armeslänge von sich, um ihre Nacktheit in den Schatten zu verbergen. Sie hatte das Boot losgemacht, bevor sie die Leiter erklommen hatte, und im düsteren Rot sah Ben, wie das Heck auf einer Welle aus dem Laderaum und in die Bucht verschwand. Das Boot war fort, bis es gefunden wurde oder versank.

Die Frau machte mit der Waffe eine schnelle Drehbewegung, die sagte, er solle sich umdrehen und in Bewegung setzen. Ben hatte genug Erfahrung, um dem Befehl langsam hinzuzufügen. Die Frau war geschickter, als er erwartet hatte. Und alles ohne ein einziges Wort von ihr.

Ben tat, wie ihm geheißen, und ging entlang des Laufgangs zurück zur Schottluke. Die Frau ließ die Taschenlampe die meiste Zeit aus, als sie ihm folgte. Sie bewegte sich geräuschlos und sicheren Schrittes und trotz der Kälte ohne auch nur ein zittriges Einatmen.

An der Luke blieb Ben stehen. Im kurzen Flackern des roten Lichts sah er die verrostete Metalltreppe mit den zwei fehlenden Stufen vor sich. Die Frau hinter ihm war nackt, barfuß.

Gerade laut genug, um über den Lärm des tosenden Wassers im Laderaum gehört zu werden, sagte Ben: »Ich lebe da oben.« Er zeigte hinauf. Dann drehte er sich um, legte langsam seine Jacke ab, ließ sie auf das Deck fallen, stieg aus seinen immer noch offenen Stiefeln und ging in Socken die Treppe hinauf, begleitet von dem eigenartigen Gefühl, immer noch ein Fadenkreuz im Rücken zu haben.

Kapitel 4

So schnell sie auch die Leiter im Laderaum heraufgeklettert war, so dauerte es doch ein Weilchen, bis die Frau in der Tür von Bens Bugkabine erschien, dem ehemaligen Lazarett der American Mariner. Er stellte einen Wasserkessel und eine kleine Pfanne mit Dosengulasch zum Aufwärmen auf einem kleinen Campingkocher. Eine sorgfältig abgedeckte Laterne warf tiefe Schatten in die Ecken, wohin die geisterhaften Phantome Bens nächtlicher Einsamkeit sich fürs Erste verzogen hatten.

Die Frau an der Kabinentür gab ein interessantes Bild ab. Trotz der Gefährlichkeit seiner Lage musste Ben beinahe lächeln. Sie war gerade mal eins-fünfzig groß. Seine Feldjacke hüllte sie in schwere Falten tristen Baumwollstoffes und reichte fast bis zu den Stiefeln hinunter, wo er einen flüchtigen Blick auf ihre gut ausgeformten, kräftigen Waden erhaschte. Sein Künstlerauge bemerkte, dass ihr Gesicht abgesehen von dem finsteren Ausdruck des Misstrauens ein perfektes, hübsches Oval war, in einer Schattierung aus tiefem Braun mit einer Spur Ocker. Ihr schwarzes Haar war kurz geschoren und kräuselte sich dicht an ihren Kopf. Trotz seines Friedensangebots aus Kleidung und Schuhen schmückte sich die junge Frau noch immer mit der Pistole.

Ben sagte: »S'reicht für zwo.«

Er erhielt keine Antwort.

Hinter dem Zorn und der Erschöpfung entdeckte Ben eine exotische Note in den braunen Augen und kräftigen Wangenknochen der Gestrandeten, die zu erklären schien, warum sie noch kein Wort mit ihm gesprochen hatte. Er nahm an, dass sie nicht aus der Gegend war.

Mit der Waffe auf Ben gerichtet, machte die junge Frau einen selbstbewussten Schritt in die Kabine, blieb aber augenblicklich stocksteif stehen, als sie seine Thunder 380 auf der Holzkiste liegen sah, auf der er sonst Verpflegung zubereitete. Sie zeigte mit ihrer Pistole darauf und machte mit einer Geste klar, dass er sich von der Waffe entfernen sollte.

Ben wappnete sich für einen blutigen Ausgang, falls er falschliegen sollte. Er schüttelte seinen Kopf. Sie gestikulierte wieder, noch energischer als zuvor. Ben sah ihr in die Augen und rührte sich nicht.

Das Gulasch begann zu brutzeln. Der ständige Luftzug unter Deck wehte das verführerische, schwere Aroma von warmem, nahrhaftem Essen durch die Kabine. Ben ging eines der größten Risiken seines Lebens ein, indem er eine Kelle mit Gulasch füllte und in eine Schale löffelte, die auf der Holzkiste neben seiner Pistole stand. Er schöpfte eine weitere Kelle voll Gulasch in eine zweite Schale. Dann legte er Löffel auf die Papiertücher, die für feine Leinenservietten herhielten. Er fragte sich, ob sie mit ihrer freien Hand die Schale oder seine Pistole ergreifen würde – oder ihn einfach erschießen und die Sache beenden.

Sie kam näher. In den besseren Lichtverhältnissen konnte Ben sehen, dass es sich bei der Pistole um eine M1911 Colt .45 handelte. Sie wirkte gewaltig in ihrer kleinen Hand. Obwohl die Waffe drei Pfund wog,

ging sie gekonnt mit der großen Pistole um, als ihr Blick auf der Suche nach weiteren Anwesenden durch den Raum schweifte. Ihr Auge kehrte immer wieder zu Ben und seiner Bersa zurück. Dies war nicht das erste Mal, dass Ben in dem alten Schiff eine Knarre unter der Nase hatte und es wurde langsam lästig.

Mit einem Satz, der einem Mungo alle Ehre machte, sprang die junge Frau zur Holzkiste hinüber, packte Bens kleinere Waffe und stopfte ihre eigene .45er in die Cargotasche der Feldjacke. Dann schnappte sie sich den Löffel und die Gulaschschüssel und zog sich zum Schott neben der Tür zurück. Sie kauerte sich zusammen und fing an zu essen, wobei sie den Löffel in der gleichen Hand hielt wie die Bersa. Auf Ben wirkte die Geste … routiniert.

Interessant, dachte er. Sie traute seiner Waffe mehr als ihrer eigenen. Womöglich hatte sie die Colt im Eifer des Gefechts ergattert oder das Magazin während ihrer Flucht entleert. Auch gut. Seine Bersa enthielt auch keine Patronen. Ben hatte sie entladen, bevor er die Gulaschdose geöffnet hatte.

Zum ersten Mal, seit das Poltern des Dingis ihn vor zwanzig Minuten geweckt hatte, atmete Ben tief durch. Er nahm seine eigene Schüssel in die Hand und war ziemlich zuversichtlich, aber nicht sicher, dass er während des Frühstücks nicht erschossen würde. Auch gut. Er brauchte Zeit zum Nachdenken.

Kapitel 5

Joachim DePriest hatte seit drei Jahren kein natürliches Tageslicht mehr gesehen. Und das aus guten Gründen.

Der erste Grund war ziemlich einleuchtend. Er hatte sich unter Tage häuslich eingerichtet, und der Raum, in dem er all seine Zeit verbrachte, besaß keine Fenster. Der Mangel an Fenstern spielte für ihn keine Rolle. Er bekam von der Außenwelt alles mit, was er wollte, auch von den anderen Räumen in seinem Domizil, eingefangen durch diverse Satellitenspeisungen und Überwachungskameras auf zahlreichen Flachbildschirmen, die ganze Wände vom Boden bis zur Decke einnahmen.

Sein Refugium zu verlassen, mochte einmal zur Wahl gestanden haben, aber seit er zum allerersten Mal in sein Reich getaucht war, verließ ihn sämtliches Interesse, je wieder die Welt über sich zu betreten. Jemand, der ihn nicht kannte, hätte vermuten können, dass er unter Agoraphobie litt. Darauf angesprochen hätte DePriest hinsichtlich seiner Wahl der Unterbringung gelächelt, denn seiner Ansicht nach litt er unter gar nichts. Er betrachtete solch kleingeistige Diagnosen, die das Leben anderer, geringerer Männer bestimmten, als nichtig und unbedeutend für einen Mann seines enormen Formats. Sein Leben unter Tage erfüllte ihn mit völliger Genugtuung. In gewisser Weise war er dort geboren worden. Wonach auch immer ihm aus der Welt da oben verlangte, konnte erstanden und geliefert werden. Geld spielte keine Rolle.

Seine freiwillige Entscheidung war für eine Zeit der einzige Grund gewesen, der DePriest von einem Leben in Licht und Luft abgehalten hatte. Heutzutage gab es einen weiteren Faktor, der seine Abschottung vom Rest der Welt garantierte: Joachim DePriest war inzwischen zu dick, um seine Gemächer zu verlassen. Auch wenn er überaus empfindlich gegenüber Spott bezüglich seines Leibesumfangs war, war die einzige Schwelle, die er in letzter Zeit übertreten hatte, jene, die einen Übergewichtigen von den krankhaft Fettleibigen trennte. DePriest war nicht nur einfach dick. Er war ein menschlicher Koloss, eine Flutwelle aus zerfurchten Wogen, Falten und Fettröllchen, die schwabbelten, wenn er lachte oder in Rage geriet.

Er war nicht immer so gewesen. Joachim DePriest hatte seinen bosnischen Namen Dragoslav Demirović vor langer Zeit abgelegt. Diese Bezeichnung lag vergraben in Srebrenica, wo er, sein Vater und seine zwei Brüder 1995 von der serbischen Armee unter Ratko Mladić erschossen und in ein Massengrab geworfen worden waren.

Er hätte sterben sollen, aber ähnlich den muskelbepackten Gladiatoren des alten Roms hatte DePriests fettes Fleisch, das selbst in seiner Jugend üppig gewesen war, das Schlimmste des Angriffs aufgefangen. Obwohl keine lebenswichtigen Organe verletzt worden waren, hatte er lange genug aus drei Schusswunden geblutet, um für eine Weile das Bewusstsein zu verlieren, was die Killer am Rande der Grube davon überzeugt hatte, dass er fertig war, auch wenn sie es sicherlich nicht waren. Das Benzin kam als Nächstes.

Die Vollstrecker schütteten den Brennstoff literweise über die Leichen, bevor sie ihn anzündeten. Die infernalische Hitze erreichte den sterbenden jungen Mann durch den Wust der Leiber und setzte ihn dem urzeitlichen Schrecken aus, lebendig verbrannt zu werden. Dann folgte das prasselnde Feuer den Rinnsalen des Benzins und fand schließlich ihn. Andere Opfer, die noch Leben in sich trugen, begannen zu schreien, aber sie verstummten, als weitere Schüsse erklangen. Dragoslavs Gesicht, Kopf und Haare fingen Feuer, aber das Gewicht der Toten auf seinen Gliedmaßen verhinderte, dass er sich verriet. Er kämpfte verbissen darum, keinen Laut von sich zu geben, während seine Ohren, Nase und ein Auge wegschmorten. Er atmete qualmende Flammen ein, versengte seine Stimmbänder. Leiber brannten, platzten und bluteten über ihm, und das strömende Blut folgte dem Benzin nach unten und erstickte die tieferen Brandherde; jedoch erst, als schreckliche Verstümmelung aus einem jungen Mann einen hasserfüllten, schauerlichen Dämon gemacht hatte. Hilflos unter den Leichen ihrer Familie brütend, wurde eine unheilige, groteske und rachsüchtige Seele ins Leben gerufen.

Als das Blut um ihn herum in der Grube gerann und der heiße, erstickende Gestank von Fäulnis seine Lunge füllte und ihm den Atem nahm, gab er sich einen neuen Namen; einer, der niederländisch klang, damit er niemals die Dutchbat-Blauhelmtruppen vergaß, die seine Familie ihren Mördern überlassen hatten. Ein verwirrter, sanftmütiger Achtzehnjähriger namens Dragoslav war in das Massengrab gestolpert und dem Tod überlassen worden; aber das neue Ungeheuer, DePriest, kroch heraus und stieg empor, um alles zu plündern, was ihm in die Finger kam.

Eine junge Frau, die drei Tage nach dem Massaker am Ort des Gemetzels nach ihrem toten Mann suchte, fand stattdessen DePriest und brachte ihn in ihr Heim, um seine Wunden zu versorgen. Aus Dankbarkeit für die Monate der Güte hatte er die trauernde Witwe und ihre junge Tochter auf brutale Weise auf den Strich geschickt, um Liebesdienste an vorbeiziehenden Soldaten aller Nationen zu verrichten. So wie DePriest und seine Familie wilden Tieren überlassen worden waren, um getötet zu werden, so wollte er jeden ausbeuten, dem er begegnete, aber für Profit. Auf diese Weise häufte er ein schmutziges Vermögen durch Menschenhandel an. Er fuhr auch weiterhin damit fort, zwanghaft zu essen und immer dickere Schichten des Fettes anzulegen, das ihn gerettet hatte.

Im Gegensatz zu seiner ungeheuren Masse war DePriests Stimme wegen des Rauchs und der Verbrennungen ein hohes, keuchendes Flüstern geblieben, aber wegen seiner Macht und seines launenhaften, kindlichen Vergnügens daran, anderen wehzutun, versetzte selbst seine leise Stimme jeden, der sie hörte, in Angst und Schrecken. Seine beiden Knechte, Armand und Wallace, waren beides attraktive Männer Ende zwanzig, mit feinen, femininen Zügen, die sie auf DePriests Drängen hin mit Mascara, Eyeliner und Rouge betonten. Sie sprangen immer dann in Aktion, wenn DePriests Stimme durch Wut der schrillen Frequenz eines pfeifenden Wasserkessels gleichkam.

Das Telefon begann zu piepsen, als Wallace und Armand gerade DePriests morgendliche Waschung beendeten. Die beiden Männer ignorierten das flötende Trillern in stiller Dankbarkeit, dass das Unterfangen von DePriests Reinigungsroutine nicht länger beinhaltete, ihn zum geräumigen Duschraum und zurück zu verfrachten. Selbst diese eingeschränkte Fortbewegung war Monate zuvor schon gefährlich geworden. DePriest war ausgerutscht und hatte in einem Desaster, das als die Letzte Dusche bekannt war, Armand unter sich begraben. Wallace hatte eine Stunde gebraucht, um mit dem Schwerlast-Lifter, einer clever umgebauten Maschine, mit der früher LKW-Motoren bewegt worden waren, den erstickenden Armand zu befreien und den hyperventilierenden DePriest zu seinem Bett zurückzubringen.

Heute, wie in jeder Minute jedes einzelnen Tages, thronte DePriest auf einer speziell angefertigten Liege, die sanfte, angenehme Luftzirkulation um seinen ganzen Körper herum ermöglichte. Er schlief auch an der Stelle, aber aufrecht sitzend. Sein Gewicht drückte zu sehr auf seine Lunge, wenn er sich hinlegte. Diese Liege erlaubte auch die ungehinderte Exkretion und Intimpflege, ohne dass er jemals einen Schritt tun musste. Die Knaben, wie DePriest seine Diener nannte, kümmerten sich um alles. Wallace benutzte eine gut geschmierte Pizzaschaufel, um behutsam DePriests untere Speckwülste anzuheben, während Armand Schmutz, Talg und Smegma auswusch und den Bodenablauf hinunterspülte. Er verwendete einen sanften, warmen Strahl aus Wasser, das mit Antibiotika und feuchtigkeitsspendenden Zusätzen versetzt war, um die Entstehung von Infektionen, Druckstellen und unangenehmen Gerüchen zwischen den Bädern zu verhindern.

DePriest streckte seinen gewaltigen Arm aus, packte sein Bluetooth-Headset und stülpte es über seinen runden, haarlosen Kopf. Er betätigte einen kleinen Schalter an dem drahtlosen Gerät und sprach: »Joachim.« Er betonte es JO-akim, in Anspielung auf den hebräischen Ursprung dieses Namens, der von Gott aufgerichtet bedeutete.

Eine Stimme am anderen Ende der Leitung fragte: »Mr. DePriest?«

Der gewaltige Mann korrigierte die förmlichere Anrede des Anrufers nicht. DePriest legte gern ein zwangloses Auftreten an den Tag, aber in seiner Eitelkeit genoss er die Vorzüge, die sein Reichtum und seine bedrohlichen Verschrobenheiten mit sich brachten.

»Was ist denn, Maynard?« DePriest versuchte, eine gelangweilte, genervte Note in seiner pfeifenden Stimme mitklingen zu lassen, aber das war schwierig. Unterhaltungen mit Maynard Chalk spendierten den Nachmittagen immer ein gewisses Prickeln. Momentan beaufsichtigte Chalk DePriests bisher aufregendstes Projekt.

Chalk überbrachte seine Neuigkeit nur ungern. »Mr. D, wir könnten ein winziges Problemchen haben.«

An dem finsteren Blick, der DePriests mondartiges Gesicht verdunkelte, konnten Wallace und Armand abschätzen, dass die häusliche Glückseligkeit ihres Abends gerade den Bach runterging.

DePriest sagte: »So was habe ich nicht. Ich habe dich.«

»Und zwar am Sack, das stimmt wohl. Es geht um die Herde. Eines der Viecher – die kleine Unruhestifterin – ist abgehauen.«

DePriests ausgedehnte Pause diente nicht zur Erhöhung der Dramatik, sondern war eine echte Folge seiner Unzufriedenheit. »Ich weiß es zu schätzen, jede kleine Einzelheit deines Tagesablaufs zu erfahren, Maynard. Wirklich wahr. Aber dies scheint kaum erwähnenswert zu sein, da ich sicher bin, dass du die Ausreißerin längst wieder im Stall unter Dach und Fach hast, gesund und munter.«

»Ich bin ein regelrechter Cowboy, Mr. DePriest, das stimmt schon. Aber diesmal müssen wir wohl einen Verlust verzeichnen. Ausgeschlossen, dass das kleine Kalb den Sprung über den Zaun überlebt hat.«

»Also hast du einen Kadaver. Friere ihn ein bis zur Veranstaltung. Jedes kleine Stück hat einen Wert für die richtige Person.«

»Sorry noch mal. Weg heißt ganz weg.«

Das überraschte Joachim DePriest. »Ein entlaufenes Kalb? Und du kannst es nicht finden?« Er kicherte und keuchte für einen Moment.

Chalk erklärte: »Bisher nicht. Die Sache ist die … sie ist in die falsche Richtung gelaufen. Hat sich wahrscheinlich im Dunkeln verirrt. Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass wahrscheinlich nichts übrig ist, was sich irgendjemand noch anschauen will, von bearbeiten ganz zu schweigen.«

Eine weitere Pause von DePriest. Die Angelegenheit war nun nicht mehr zum Lachen. »Wir haben unseren Bestand mit großer Sorgfalt ausgewählt, Maynard, und mit hohen Kosten. Meine Kosten. Es ist so simpel. Du verwaltest die Ware. Ich bringe die Käufer. Ich verlasse mich auf dich. Aber jetzt schäme ich mich für dich. Ich fange an, deinen Nutzen für mein Unternehmen anzuzweifeln.«

»Schwund war eingeplant. Wir haben Rücklagen, die sich vermutlich viel besser machen, von Anfang bis Ende, also sollten wir …«

»Wir haben eine Ausreißerin«, unterbrach DePriest. »Wir wissen nicht, wo sie ist, und ihr Kopf ist voll schlimmer Gedanken. Falls die Kleine noch am Leben ist, aber außerhalb deiner Aufsicht, dann könnte es Gerede geben. Du verstehst meine Lage, da bin ich sicher. Verstehst du deine Lage, Maynard?«

DePriest beendete das Gespräch, ohne auf Antwort zu warten. Er atmete dreimal tief ein, um sich zu beruhigen, aber er brauchte etwas anderes. Etwas Besonderes. Er zog eine Schnute und sagte: »Armand, ich bin verspannt.«

Wallace warf Armand einen Blick zu, der besser du als ich sagte, und machte sich an die Arbeit. Beide waren heterosexuell, ungeachtet der Kostümerie, die DePriest sie tragen ließ; es gab ihnen eine söldnerische Sicht auf die Dinge, die DePriest verlangte. Ein Job war ein Job – und ihre waren besser bezahlt als die meisten.

Wallace schmierte die Pizzaschaufel erneut, während Armand einen Latexhandschuh über seine rechte Hand zog. Dann, während Armand DePriests linken Oberschenkel und die monströsen Bauchfalten anhob, manövrierte Wallace die Pizzaschaufel sachte unter den gewaltigen Mann und schuf damit einen fettleibigen Tunnel, der zu dem unbesehenen Ziel führte. Armand hatte keinen tröstenden Gedanken für sich, abgesehen davon, dass die äußerst monotone Bewegung, die er gleich wiederholt ausführen würde, seinem rechten Trizeps und Unterarmmuskeln ein enormes Work-out bescheren würde. Was man nicht alles so machte. Aber schließlich war er ein Handlanger.

Kapitel 6

Maynard Pilchard Chalk starrte schockiert auf die zerschmetterten Überreste seines Handys. Er konnte sich nicht daran erinnern, es gegen die Betonwand seines Büros geworfen zu haben, aber er war sich dessen bewusst, dass er schon zu lange seine Psychopharmaka außer Acht gelassen hatte. Das war das Problem mit Psychosen, die Krankheit gaukelte dem Patienten vor, dass alles in Ordnung sei, und häufig auch noch mit dessen eigener Stimme. Davon abgesehen glaubte Chalk nicht, dass die Medikamente ihm dabei halfen, mit den tödlichen Begegnungen umzugehen, die in seiner Branche üblich waren. Tatsächlich fand er, dass die Pillen ihn schwächten und seine Reaktionszeit herabsetzten. Chalk hatte das Gefühl, dass er einmalig war – und einmalig irre zu sein, gefiel ihm und machte ihn seiner Meinung nach unberechenbar. Er trug Chaos wie ein Schild. Man konnte keinen Wirbelwind töten. Auf der anderen Seite bedeutete eine Nichtbeachtung seiner Rezepte noch mehr Schlamassel, den er zu beseitigen hatte, wenn sein Temperament mit ihm durchgegangen war. Ein hoher Preis, aber seiner Ansicht nach fair.

Chalk verstand die Drohung, die DePriest gemacht hatte. Er hatte kein Verlangen danach, mit Armand und Wallace zu tanzen. Nicht so kurz vor Schluss. Nicht so kurz vor dem Zahltag. DePriests Knaben mochten zwar zierlich aussehen, aber sie waren eiskalte Killer. Sie dienten außerdem als persönliches Schutzkommando, und Gott allein wusste, welche Aufgaben sie für den aufgeblasenen Pottwal hinter verschlossenen Türen verrichteten.

Während Chalk sich sammelte, spürte er das volle Ausmaß seines neuen Lebens als gefallener Held. Er hatte Washington, D.C. vor einem Terroranschlag durch eine schmutzige Bombe gerettet, so hatten zumindest die Medien berichtet. Als seine Chefin, Senatorin Lily Morgan, (R) Wisconsin, sich die Anerkennung unter den Nagel gerissen hatte und auf den freien Posten des Ministers für Innere Sicherheit befördert worden war (ein Posten, den Chalk durch die unauffällige Vergiftung ihres Vorgängers erst zugänglich gemacht hatte), vergaß sie alles, was sie ihm schuldig war, und ließ ihn dumm dastehen. Sie ignorierte einfach seine Anrufe. Wenn er hartnäckig blieb, drohte sie damit, ihn vor aller Welt bloßzustellen und sein wahres Ich zu enthüllen: Ein brillanter BlackOps-Stratege, der sich nicht mit Moral, Skrupel oder auch nur dem geringsten Respekt gegenüber menschlichen Lebens aufhielt.

Chalk hatte früher genug Geld auf diversen Konten auf der ganzen Welt für mehrere Lebenszeiten in ausschweifendem Luxus gehabt, aber Lily hatte alles gefunden und entweder eingefroren oder sich angeeignet. Chalk sagte sich, dass es nicht um das Geld ging und dass er nicht für ein Leben weit weg von der Front gemacht war. Lily Morgans Projekte waren ideal für ihn gewesen, da sie von ihrer ganz eigenen Marke an Wahnsinn geprägt waren. Zugegeben, Chalk vermisste die Action. Er machte sich gern die Hände schmutzig, blutig, mit dem zerfetzten Fleisch seiner Feinde tief unter seinen Fingernägeln. Und so hatte er die letzten Mitglieder seines BlackOps-Teams eingesammelt, die nach dem Bombendebakel noch am Leben waren.

Unter dem Deckmantel seiner Scheinfirma, Right Way Umzüge & Lagerung, hatten Chalk und sein sadistischer Kader bei Joachim DePriests faszinierendem Projekt angeheuert. Die Action war gut. Das Geld schadete auch nicht.

Als er sich von den Trümmern seines Telefons wegdrehte, bemerkte Chalk, dass er in dem fensterlosen Büro nicht allein war. Überraschung. Diese psychotischen Ausfälle ließen keine Langeweile aufkommen. Er wusste nie, wo er zu sich kommen würde oder bei wem. Sebastian Kentish, ein sportlicher, rothaariger Brite Mitte dreißig, der vom MI7 vor die Tür gesetzt worden war, stand mit offenem Mund und aufgerissenen Augen da, seine Waffenhand schwebend über seinem Schulterholster unter seiner Jacke. Kentish war als Ersatzmann aus Chalks Niederlassung in Bangkok gekommen, und obwohl er die Gerüchte gehört hatte, hatte er sich noch nicht an die launischen Ausbrüche seines Chefs gewöhnt. Das passte Chalk prima. Er zog es vor, wenn seine Neulinge und erfahrenen Männer gleichermaßen leise um ihn herumtraten, während eine Mischung aus Angst und Respekt ihre Handlungen bestimmte, vor allem, wenn sie nicht unter seinem direkten Befehl standen.

Tahereh Heydar, noch eine Person, die er nicht in seinem Büro erwartet hatte, war eine heimtückische Iranerin von atemberaubender Schönheit. Sie war einst die hochrangigste weibliche Dschihadistin einer al-Qaida-Zelle in den Staaten gewesen. Chalk hatte ihr Team auf seiner letzten Mission abgefangen und langsam aber vollständig vernichtet. Tahereh war seine Geliebte geworden, erst aus überlebenstaktischen Gründen, doch schließlich hatte sie sein kühnes Draufgängertum lieben gelernt. Keine Drohung und keine materiellen Hindernisse konnten sie dazu bringen, jetzt von seiner Seite zu weichen. Nur ihr Herz blieb gefangen. Die beiden verband eine toxische Art von Liebe, auf die gleiche Weise, wie Schorf auf einer brandigen Wunde klebte.

Tahereh kniete besorgt über der zukünftigen Leiche von Matt Flynn, der ein paar Schluckbeschwerden hatte. Genauer gesagt erstickte er an seiner zerdrückten Luftröhre. Ups! Saubermachen in Gang Drei, dachte Chalk. Musste ein ziemlicher Ausraster gewesen sein, wenn er spontan einen seiner eigenen Männer ausgeschaltet hatte. Das war nun mal der Preis für ein Leben am Rande des Wahnsinns.

Chalk schätzte schnell Flynns Überlebenschancen ein und sagte zu Kentish: »Rotschopf, bring unseren Burschen in den Kühlschrank, solange er noch frisch ist.«

»Ja, Sir«, war die zackige Antwort.

Sowohl Kentish als auch Tahereh wussten es besser, als sich um einen Doktor für Flynn zu bemühen, selbst wenn sie gewollt hätten. Nur Tahereh wusste, dass Chalk sich nicht um Flynns Arztkosten drückte. Während eines psychotischen Schubs, der Chalk eher gesprächig als gewalttätig gemacht hatte, und der mit einer glühenden Runde Sex zusammengefallen war, die in den meisten Staaten auch ohne die Gegenwart eines verdutzten Leguans illegal gewesen wäre, hatte er sich ihr gegenüber verplappert. Es schien, dass die medizinische Untersuchung, der jeder neue Angestellte beim Eintritt in Right Way unterzogen wurde, volle Blut- und Genuntersuchungen einschloss, die archiviert wurden, um Organentnahme und -verkauf auf dem Schwarzmarkt zu erleichtern. Falls der Agent umkam oder wie in Flynns Fall kurz davor war, strich Chalk das Sterbegeld ein. Es hielt die Pensionskasse überschaubar. Selbst wenn ein Agent auf einer Mission Mist baute, sonst aber gesund war, so brachte Chalk die Patienten-Akte des armen Schweins in mehreren Schwarzmarkt-Organdatenbanken in Umlauf, um zu sehen, ob nicht gut betuchte Empfänger ein oder zwei Ersatzteile bitternötig hatten. Eine Kugel und der geschickte Umgang mit dem Skalpell dünnten die Lohnliste effektiv aus und verschafften Chalk einen netten Profit. Außerdem blieb dadurch der Rest des Teams höchst motiviert. Verdächtigungen in den Reihen wurden niemals ausgesprochen. Gerüchte mochten unbestätigt kursieren. Niemandem war entgangen, dass es nicht allzu viele Right-Way-Pensionäre gab, die bei der Firmen-Weihnachtsfeier vom Leder zogen. Chalk betrachtete diesen eigentümlichen Rentenplan als die rote Uhr.

Nachdem Kentish den noch immer zappelnden Flynn im Gamstragegriff auf seine Schultern gehievt und das Büro für den kurzen Trip zum Tiefkühlraum verlassen hatte, klang Chalks Stimme eher kleinlaut. »Ziemlich übel, glaub' ich.«

Tahereh konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Warte ab. Seb kommt gleich in frischer Hose zurück.«

Chalk schätzte Taherehs gute Meinung. Er war dankbar, dass sie trotz seiner tödlichen Tendenz zu psychotischen Marotten nicht weniger von ihm hielt. Er sagte: »DePriest meint, dass wir den Ausreißer schnappen müssen.«

Tahereh seufzte und rollte ihre verführerischen Rehaugen. »Hab ich mitbekommen. Hätte er mich doch Ortungs-Chips bei denen anbringen lassen, wie ich's wollte.«

»Nicht wahr? Aber ich kann verstehen, was ihn gestört hat. Alles, was wir verfolgen können, kann auch jemand anderes aufspüren. Und die Kosten gehen vom Profit ab.«

»Mehr noch als verschwundene Ware?«

»Du rennst offene Türen ein, Schatz. Lass uns ein Team aufsatteln. Wir gehen den Zaun ab und schauen mal, was Sache ist. Und nein, wir warten nicht bis Tagesanbruch.«

Tahereh zuckte mit den Schultern. »Ich folge dir überallhin.«

Kapitel 7

Bens Gast schnarchte. Es war ungewohnt bei einer so jungen Person. Es war auch kein niedliches Schnurren mehr. Der röchelnde Rhythmus ihrer tiefen Erschöpfung hallte durch die Kabine. Sie hatte tapfer gegen den unvermeidlichen Schlaf gekämpft und ihre Waffe anfangs noch auf Ben gerichtet, bis ihr Handgelenk ermattete und sie es mit der anderen Hand stützen musste. Das schwere Essen und die wärmende Kabine taten den Rest, wie Ben vermutete. Ob nun aus Unschuld, Vertrauen oder, viel wahrscheinlicher, wegen völliger Erschöpfung hatte sie nicht daran gedacht, ihn zu fesseln oder einzusperren, um in Sicherheit ruhen zu können.

Ein paar wenige Minuten, nachdem der Kopf der jungen Frau endgültig nach unten gekippt war, hatte Ben sie behutsam auf sein Feldbett gelegt und mit all seinen Decken zugedeckt. Er hatte überlegt, ihr zum Komfort die salzverkrustete Feldjacke abzustreifen, aber als er sie aufhob, fiel das Revers zur Seite und entblößte eine erstarrte, dunkle Brustwarze. Plötzlich und mit absoluter Gewissheit wusste Ben durch den Blitz, der von seinen Augen in seine Lenden und dann in sein Herz fuhr, dass jegliches Vertrauen, das er seit ihrem Aufeinandertreffen aufgebaut hatte, sofort in Hass umschlagen würde, wenn sie nackt unter den Decken aufwachte. Ihm fiel die Wut ein, die ihr unten im Laderaum ins Gesicht gestanden hatte. Er wollte nicht der Auslöser davon sein. Also ließ er die Jacke, wo sie war. Auch die Stiefel nahm er nicht zurück. Als einzige Ausnahme seiner Nichteinmischungspolitik nahm er die .45er aus der Jackentasche in Verwahrung.

Ben hatte einen Gast. Er hatte ein Problem. Er sollte hier draußen auf dem Wrack allein und unerreichbar sein. Woher, in Gottes Namen, war sie gekommen? Wer wagte sich bei diesem kalten Wind, Regen und Nebel in einem kleinen Boot in die Chesapeake, ohne Kleidung, ohne Ruder und nur mit einer Pistole? Wie kam es, dass sie all das auf sich nahm, anstatt an Ort und Stelle Schutz zu suchen, wo auch immer das war?

Er grübelte darüber nach. Falls sie freiwillig nackt schlief, war es komisch, dass ihre Kleidung vom Vortag außer Reichweite gewesen sein musste. Womöglich war sie in einer verfänglichen Situation überrascht worden. War eine eifersüchtige Ehegattin zu früh nach Hause gekommen? Vielleicht. War sie im Eva-Kostüm von einem aufgebrachten Liebhaber vor die Tür gesetzt worden? Das schien grausam. Es war möglich, aber Ben hielt es für unwahrscheinlich. Zugegeben, sich nackt auf der falschen Seite einer verschlossenen Tür wiederzufinden, kam häufiger vor, als die meisten Leute vermuteten, was die Flur-Überwachungskameras vieler Hotels bestätigen würden. Diese selbstschließenden, selbstverriegelnden Türen taten ihr Übriges, auch wenn man nur unschuldig ein Tablett herausstellte, wo der Zimmerservice es abholen konnte. Alles in allem nichts Ernsteres als eine Blamage aufseiten der Gäste und Belustigung aufseiten des Empfangsmitarbeiters, den man wegen eines Ersatzschlüssels aufscheuchte. Ob nun ein Hotelflur oder sogar ein Vorgarten, Ben dachte, dass sich eine hilflose, nackte Person nicht weit von der Tür entfernte, hinter die sie sich zurückziehen wollte. Es sei denn, die Person fürchtete sich vor dem, was hinter dieser verschlossenen Tür lag, und wollte entkommen, ohne Rücksicht auf Verluste. Er – oder sie, wie in diesem Fall – würde nicht bei schlechtem Wetter in ein Boot springen, wenn Hilfe am Ufer zu bekommen war. Außer vielleicht, sie war vorher auf einem anderen Boot unterwegs gewesen. Nein, der Gedanke mit dem Hotel und dass die Frau irgendwo Gast war, blieb bei Ben hängen.

Er zog Turnschuhe und eine Fleece-Jacke an und stahl sich mit seiner Taschenlampe wieder nach unten in den Laderaum. Wie er befürchtet hatte, war das Beiboot durch den Riss auf der Leeseite aus dem Frachtraum gespült worden und in der Nacht verschwunden.

Auf dem Weg zurück zur Kabine versuchte Ben, sich Einzelheiten des Bootes ins Gedächtnis zu rufen. Abgenutzte Registrierungsnummern waren ordnungsgemäß unterm Schandeck am Bug aufgeklebt oder -gemalt gewesen, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr an die Zahlen erinnern, nur dass die Bezeichnung mit MD für Maryland anfing. Von einer stocksauren, nackten Frau einen Pistolenlauf ins Gesicht gerammt zu bekommen, war seinem sonst ausgezeichneten Gedächtnis nicht zuträglich gewesen. Er war somit nicht in der Lage, die Nummer zurückzuverfolgen.

Als er durch seine flüchtigen Erinnerungen wühlte, wurde ihm klar, dass das Boot von hoher Qualität gewesen sein musste, aber das war schon lange her. Sein Kennerblick hatte sofort bemerkt, dass der Glasfaserrumpf seit wenigstens einem Jahrzehnt keinen neuen Gelcoat-Anstrich mehr bekommen hatte. Er trug immer noch pulvrigen, weißen Rückstand von Oxidationsspuren an den Knöcheln seiner linken Hand. Es war also vor langer Zeit ein gutes Boot gewesen, aber vor einer Weile zu raueren Bedingungen und geringerer Pflege degradiert worden. Ein Jacht-Beiboot? Früher vielleicht, aber jetzt nicht mehr. Ben konnte sich nicht erinnern, ein lasttragendes Rechteck aus Sperrholz oder Mahagoni am Heck gesehen zu haben, an dem ein Außenbordmotor angebracht worden sein konnte, aber das war mindestens seit den letzten fünfzig Jahren Standard für solche Dingis.

Er entsann sich keines Schwertkastens oder Seitenschwerts oder eines Mastschuhs, die daraus eine Segeljolle machen würden. Falls diese Komponenten Teil des Boots gewesen waren, er sie aber nicht bemerkt hatte, dann konnte die Frau das Boot weggesegelt und den Mast später eingeklappt haben. Das war kaum zu schaffen, ohne das kleine Boot zum Kentern zu bringen und selbst mit eingebauten Schwimmkörpern an Bord wäre es ein ganzes Stück Arbeit gewesen, bei dem hohen Wellengang das ganze Wasser aus dem Boot zu lenzen. Also doch keine Segeljolle.

Als Ben die Kabine betrat, sah er, dass sich die junge Frau keinen Zentimeter gerührt hatte. Und sie schnarchte immer noch wie ein knurrender Wachhund. Warum hatte er sie nicht auf die Seite gedreht, um den Lärm einzudämmen? Seine Frau hatte ihn oft genug gewendet, wenn sie ein Bett teilten. Das würde hier nicht funktionieren. Er wagte es nicht, sie anzufassen, wenn sie schlief. So, wie sie aussah, würde sie sich mit Zähnen, Klauen und Ellbogen wehren. Ben wollte sich diesen Spaß verkneifen. Sollte sie doch in Ruhe schnarchen.

Er fand sich mit dem Lärm ab, und als er am Schott herunterrutschte, fielen ihm plötzlich die Dollen des Dingis ein. Das war zumindest etwas. Da waren zwei Rudergabeln gewesen, ja. U-förmige Halterungen aus Aluminium an den Schandeckeln gleich hinter der Ruderbank. Bis zu dem Punkt oxidiert, an dem sie alt und matt aussahen, aber auf der Innenseite von den Bewegungen der Ruder poliert. Doch es hatte keine Ruder an Bord gegeben. Wer auch immer das Boot besaß, ruderte es normalerweise, kümmerte sich nicht um die Festmacherleinen oder den Zustand des Bootes, schätzte aber die Ruder so sehr, dass er sie nicht zusammen mit dem Boot aufbewahrte. Die fehlenden Ruder waren vermutlich nachgekauft und der stolze Preis war wohl besser in Erinnerung als die einstige Anschaffung des Bootes selbst. Ben wusste aus eigener Erfahrung, dass ein Bootsfahrer nicht immer vernünftige Entscheidungen traf. Das Boot zu vernachlässigen, aber die glänzenden, teuren, neuen Ruder zu sichern, würde nur Landratten komisch vorkommen.

Ohne Ruder an Bord war das alte Dingi auch sicherer vor Dieben. Wahrscheinlich war das Boot schon im Wasser gewesen, als die junge Frau es gefunden hatte. Das Dingi war kein verhätscheltes Bootslift-Baby. Und es hatte auch nicht gehoben an einem Bootskran gehangen. Das hätte ein zügiges Ablegen selbst für einen erfahrenen Seemann erschwert, ganz zu schweigen für eine Frau in Eile.

Basierend auf dem Boot formte sich in Bens Kopf die Vorstellung, dass die Frau überstürzt einen Ort verlassen hatte, an dem sie nicht sein wollte. Ein Ort nahe am Ufer.

Ben stand auf und ging hinüber zu dem Spind, in dem er ihre .45er bunkerte. Angenommen, die Waffe war mit dem vollen Acht-Schuss-Magazin in ihren Besitz gekommen. Angenommen, sicherheitshalber, da war auch noch eine Kugel im Lauf, als sie die Waffe bekommen oder genommen hatte. Bei näherem Hinsehen fand Ben eine Kugel im Patronenlager und weitere sechs im Magazin. Die ganze Waffe roch so streng nach Kordit, dass weder das schlechte Wetter noch das Eintauchen im brackigen Wasser am Boden des Boots den Gestank hatten wegwaschen können. Also war die Waffe kürzlich abgefeuert worden. Hatte dieses zarte Geschöpf letzte Nacht zwei, vielleicht drei Schüsse abgegeben? Angesichts des Gesichtsausdrucks bei ihrer ersten Begegnung und der Leichtigkeit, mit der sie die Waffe handhabte, wäre er nicht überrascht.

Nachdem er das Puzzle mit seiner Erfahrung und Intuition zusammengesetzt hatte, nahm Ben an, dass diese Frau nicht aus freien Stücken nackt ausgerückt war. Jemanden all seiner Kleidung zu berauben, war eine simple Methode, um ihn zu erniedrigen und zu kontrollieren; eine Geisel. Die kürzlich abgefeuerte Pistole bedeutete, dass ihre Abreise mit tödlicher Gewalt vonstattengegangen war. Ihrem Entführer war es wichtig gewesen, sie in der Nähe zu behalten, und er war gewillt, Gesetze auf Bundes-, Landes- und lokaler Ebene zu brechen und sämtliche Regeln des Anstands und der Würde gleich mit.

Der Lärm der Schüsse hatte ihre Flucht wahrscheinlich verraten. Sie war wohl erfolgreich bis zu einem gewissen Punkt gekommen, aber am Ende doch zu unvertraut mit ihrer Umgebung gewesen. Sie war bis zum Ufer gerannt und hatte in der Klemme gesteckt. Sie war auf einen Steg gestoßen und hatte das Boot gefunden. Ihre schiere Verzweiflung musste so groß gewesen sein, dass ihr die mangelnde Seetüchtigkeit in diesem derben Wetter vollkommen egal gewesen war. Die steifen, wechselhaften Brisen hatten die fehlenden Ruder ersetzt und das Boot vom Steg ins gefahrvolle Unbekannte befördert. Den Tod durch Ertrinken oder Unterkühlung zu riskieren, war immer noch besser als das Schicksal, dem sie entkommen war. Also war sie vermutlich vom westlichen Maryland-Ufer der Chesapeake gekommen. Wie lange war sie nackt durch den Regen und die Dunkelheit geirrt, bis ihr Fluchtweg von Wasser abgeschnitten worden war? Wie lange hatte sie auf dem Wasser getrieben, bis sie in das Wrack der American Mariner gespült wurde? Sein rostendes Heim, einst Refugium seiner vorübergehenden Abgeschiedenheit, erinnerte ihn nun an die Gefängnisschiffe in Dickens Große Erwartungen.

Die Frau erzählte ihm vielleicht mehr, wenn sie aufwachte. Vielleicht auch nicht. Abgesehen davon war klar, dass Ben keinen Gast hatte. Er beherbergte einen gefährlichen Flüchtling.

Sie war außerdem ein ungelöstes Problem.

Kapitel 8

Dunkelheit und Regen überschatteten Maynard Chalks schlechte Erinnerungen an seine letzte Mission, die abgesehen von seinem andauernden Herzschlag ein kompletter Misserfolg gewesen war. Darüber hinaus war Taherehs Gesellschaft damals wie heute sein einziger Trost. Wenigstens blutete sie diesmal nicht aus einem aufgeschlitzten Unterarm oder floh mit ihm vor der unmittelbar bevorstehenden Detonation einer schmutzigen Bombe, und all das in einem beschissenen, kleinen Boot, das in der wütenden Chesapeake zu kentern drohte. Damals war es dunkel und stürmisch gewesen, so wie heute. Das Fiasko hatte erst vor wenigen Monaten stattgefunden, gar nicht weit entfernt von den Wäldern, die sie gemeinsam mit den anderen Zwei-Mann-Teams durchkämmten.

Die Melancholie, die mit den Gedanken an die Vergangenheit einherging, mit den Verlusten, der Schande und seiner Verbannung von der privilegierten Schicht der Geheimdienstarbeit mit den Eimern voller Schmiergeld, das er abschöpfen konnte, hatte sich noch nicht als rasender Wutanfall niedergeschlagen,

aber der Tag war noch jung. Wie bei Herpes war der erste psychotische Vorfall meist der heftigste, konnte aber nach längerer Ruhephase wieder auflodern. Als statistischer Ausreißer hatte Chalk bewiesen, dass seine Zusammenbrüche gewalttätig genug waren, um einem Insassen im Hochsicherheitsgefängnis ADX Florence lebenslange Einzelhaft zu bescheren. Er hoffte, dass Tahereh einen Ausbruch rechtzeitig erkannte, um sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Durch die Nervenschäden war ihr zerfleischter Arm noch immer so gut wie nutzlos, und Chalk wäre nur ungern der Grund für einen Rückfall. Er hatte eine wirkliche Schwäche für diese Frau.

»Haben sich alle unsere Posten zurückgemeldet?«, murrte er.

Tahereh trat vorsichtig durch den Nadelwald und leuchtete mit ihrer Taschenlampe links und rechts von der Rasterlinie, an der sie entlanggingen. »Noch nichts von Sanders. Er ist jetzt acht Minuten überfällig.«

Chalk sprach in sein verschlüsseltes Funkgerät. »Sanders! Wo zum Geier steckst du?« Er bekam keine Antwort außer dem Summen der Elektronik. Chalk drückte wieder die Sprechtaste. »Sanders, ich kürze dir das Gehalt, wenn du dich nicht sofort meldest, du faules Stück Scheiße.« Natürlich war die Androhung einer Gehaltskürzung nur eine Umschreibung für heftige Prügel und möglicherweise Hinrichtung. Chalk berechnete bereits Sanders Wert als Organspender auf dem Schwarzmarkt.

»Er hatte Sektor Charlie, oder?«

Tahereh antwortete mit einem geistesabwesenden »Ja.«

»Wir hätten mehr Hunde besorgen sollen«, regte sich Chalk auf. »Bluthunde. Nicht diese verdammten Rottweiler. Ich hab schon Rennmäuse mit mehr Mumm gesehen. Und warum haben wir eigentlich nur zwei?«

Tahereh sagte: »Zu hohe Kosten. Wie bei den Ortungs-Chips.«

»Scheiß auf das Suchraster. Raster sind für Armleuchter. Marschieren wir doch mal in den Charlie-Sektor und sehen nach, was Sache ist.«

Tahereh stellte ihr Funkgerät auf die gemeinsame Frequenz des Suchtrupps, um die anderen Teams über ihren Planwechsel zu informieren. Sie stapften zwanzig Minuten durch die nebligen Wälder, bis sie Sektor Charlie erreichten, wo Sanders patrouillieren sollte. Zwei Gestalten zeichneten sich im dunklen, nassen Nebel ab.

Chalk hob seine Pistole und zielte damit auf die herannahenden Schatten, die ihre MagLite-Taschenlampen löschten. Tahereh nahm sie mit ihrer eigenen LED-Taschenlampe ins Visier.

Chalk brüllte: »Wasser ist nass!«

»Trink noch was!«, kam als Bestätigung von einer der Gestalten.

Chalk holsterte seine Pistole. »Irgendwas gefunden?«

Ein großer Soldat, Felix Harrower, an dessen Weste zwei Splittergranaten baumelten, hob eine Hand vor seine Augen und blinzelte in Taherehs Lichtstrahl. »Nein. Gar nichts. Er ist einfach weg.«

Harrowers Teamkamerad, eine kleine, drahtige Frau mit einem ungepflegten Vokuhila, der unter ihrer Schirmmütze hervorschaute, trat mit einer laminierten Geländekarte in der Hand nach vorn. Earline Byrd fuhr mit ihrem Finger entlang eines dunkelgrünen Abschnitts. »Wir sind da überall durch. Wollten gerade in die kleine Schlucht.«

»Wir übernehmen das«, sagte Chalk. »Ihr zwei dampft zurück und springt für uns im Echo-Sektor ein.« Er zeigte auf eine andere Stelle der Karte. »Wir sind bis dahin gekommen, immer in nördlicher Richtung.«

»Sanders? Nichts gefunden?«, fragte Harrower.

»Würde ich sonst hier stehen und mit dir quatschen? Zieh Leine. Im Laufschritt!«, bellte Chalk.

Harrower und Byrd knipsten ihre MagLites an und eilten in die Nacht, begleitet vom unprofessionellen Klappern ihrer Ausrüstung. Chalk fragte sich, wer sie auf diese hirnverbrannte Idee gebracht hatte, für diesen Einsatz Granaten anzuschaffen. Zugegebenermaßen marschierte er selbst von Zeit zu Zeit gern schwer bepackt. Vorsicht war besser als Nachsicht.

»Beschissene Amateure«, murmelte er. »Schauen wir uns die Schlucht an.«