IM FADENKREUZ - Robert Blake Whitehill - E-Book

IM FADENKREUZ E-Book

Robert Blake Whitehill

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Beschreibung

IM FADENKREUZ - der spannende 2. Teil der BLACKSHAW-Serie In seinem kalten Versteck in einem New Yorker Keller erhält Ben Blackshaw von einem früheren Vorgesetzten einen codierten Notruf. Die anschließende Jagd nach einem mysteriösen Scharfschützen führt Blackshaw einmal um die ganze Welt, von den chilenischen Wüsten bis hin zu den eisigen Einöden Kanadas. Blackshaw überlebt den Absturz mit einer Drohne, gerät in Los Angeles ins Visier des Scharfschützen, und zusammen mit seinem alten Freund Knocker Ellis Hogan versucht er, den Todesschützen in eine Falle zu locken. Aber dieser ist ihnen wie ein Geist immer eine Nasenlänge voraus. Es dauert nicht lange, bis Blackshaw Verbindungen zu einer weitaus größeren und gefährlicheren Verschwörung aufdeckt, die nicht weniger als einen profitablen Krieg in Südafrika plant. Doch es gibt einen Ort, an dem Blackshaw gegenüber seinem Widersacher im Vorteil sein könnte … (Neuauflage von NITRO EXPRESS)

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Im Fadenkreuz

ein Ben Blackshaw Thriller - Band 2

Robert Blake Whitehill

übersetzt von Tina Lohse

Copyright © 2013 by Robert Blake Whitehill All rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.

For my precious Mary

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: NITRO EXPRESS Copyright Gesamtausgabe © 2021 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Tina Lohse

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2021) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-618-4

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Im Fadenkreuz
Impressum
TEIL I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
TEIL II
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
TEIL III
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
TEIL IV
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
TEIL V
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Epilog
ÜBER DEN AUTOR
Danksagungen

TEIL I

TODESSTOSS

Kapitel 1

Der Mord war spektakulär. Obwohl unmittelbar darauf die gängigen Nachrichtenproduzenten und ihre Geldgeber davon absahen, es ein Attentat zu nennen, reagierten die ergebenen, manche würden sagen fanatischen Fans von Lucilla Calderon, als wäre Kennedy vor ihren Augen erschossen worden. Verglichen mit Calderon war der Tod des kurzlebigen Tex-Mex-Stars Selena lediglich eine Bagatelle gewesen.

Menschen, die Tragödien anziehen, sind leicht zu erkennen. In den schlimmsten Fällen leiden sie unter der Furcht, dem Untergang allein entgegenzutreten. In dieser Nacht zerbrach sich La Luz, wie sie genannt wurde, über nichts weiter den Kopf als ihr Make-up und die Busca-Novio-Schmachtlocke, die sich von ihrer linken Schläfe zu lösen drohte. Sie war sicherlich nicht allein an diesem Abend. Dank ihrer Liebhaber und ihres Gefolges von Assistenten hatte sie seit einigen Jahren keinen abgeschiedenen Moment erlebt, abgesehen von einigen, aber nicht allen Toilettenpausen. Heute Abend erwartete sie, bei der Hollywood-Premiere ihres Films in der Gesellschaft bewundernder Fans zu baden. Sie fühlte, dass der Abend umwerfend werden sollte.

Lucilla Calderon war ganz groß. Galaktisch. Mit vierundzwanzig war sie eine Ausnahme-Künstlerin, die tief mit traditioneller lateinamerikanischer Musik verwurzelt war, diese aber mit modernen Texten und funkigen, tanzbaren Technoarrangements kombinierte und dieser Mischung ihren Erfolg verdankte. Sie schrieb meistens über die Probleme des Volkes; sprich, jeder, der mit zwanzig noch kein Multimillionär war. Sie beherrschte Krumping, Pop & Lock oder Tango, je nachdem, welchen Stil ihr Musikvideo verlangte. Jeder Pieps, den sie in den letzten sechs Jahren geäußert hatte, erklomm die Top Five der großen Popmusik-Charts, wobei die meisten es auf den ersten Platz schafften. Ihre Fangemeinde erstreckte sich über den ganzen Globus. Es gab einen Astronauten auf der International Space Station, ein Biologe, der bekanntlich Calderons Songs spielte, während er an seinen Experimenten arbeitete. Schon diese Geschichte allein sprudelte auf den großen Fernsehsendern durch mehrere Nachrichtenzyklen.

Und doch war La Luz, oder Das Licht, wie Journalisten in Ignoranz jeglicher Subtilität und Finesse eilig übersetzt hatten, auf dem Boden geblieben. Das behaupteten ihre begeisterten Fans. Sie war eine von ihnen. Sie zelebrierte ihre Herkunft mit einer wilden Art von Würde, was eine der züchtigeren und doch meistverkauften Bilderreihen im Playboy Magazine des letzten Jahrzehnts beinhaltete.

Und nun hatte sie die Hauptrolle in ihrem ersten Film. Dieser hieß Ganar – Sieg. Er handelte von einer mutigen, großherzigen Revolutionsführerin und ihrem Freiheitskampf in einer fiktiven südamerikanischen Inselnation. Calderon spielte die charismatische Walküre, wie Evita, die aber nicht durch den Tod ihres Ehemannes an die Macht gelangte, sondern durch eigene Initiative und Integrität, indem sie grundverschiedene politische und sozioökonomische Fraktionen vereinte und in eine unschlagbare Rebellentruppe verwandelte. Der Streifen war mit einem gewissen Maß an Gewalt und einem Liebesdreieck mit einem Genossen und einer Genossin gewürzt, und während das von den Spießern noch als schockierend gewertet wurde, hatte sie damit bei den offeneren Kritikern, auf die es ankam, Punkte gesammelt. In einer unrealistischen Wende hält ihre Figur gleich, nachdem sie die faschistische Opposition bezwungen hat, Mehrparteienwahlen ab, die von europäischen Beobachtern als ehrlich und fair bewertet werden, und übernimmt die Führung ihrer frischgebackenen Demokratie. Luz war George Washington, aber mit ihren eigenen Zähnen und ohne jegliche Implantate, sofern man ihrem Publizisten Glauben schenken konnte.

Vorankündigungen für Ganar in den Printmedien, der Blogosphäre, dem Twitterversum der sozialen Medien und in Film- und Fernsehmagazinen sagten dem Film atemlos die allerhöchsten Auszeichnungen bei den großen Preisverleihungen voraus. Luz war im Begriff, das glorreiche, medienübergreifende Schicksal zu erfüllen, das Selena auf so tragische Weise versagt worden war.

Nach einem glanzlosen Jahr für die Filmindustrie garantierte die Filmpremiere im Dolby-Theatre in Los Angeles dem Projekt einen phänomenalen Erfolg an den Kinokassen am folgenden Wochenende. Das kleinere Graumans Theatre eine Ecke weiter war für diesen Anlass kurzzeitig in Erwägung gezogen worden, wurde aber als zu klein wieder verworfen, und weil es zu sehr an eine längst vergangene Hollywood-Ära erinnerte, die damals vom weißen Establishment dominiert worden war.

Es war eine gute Entscheidung. Innerhalb einer halben Stunde nach Ankündigung der Premiere war fast jeder der 3332 Plätze des großen Kinos vergeben, ausgebucht von Hollywoods Schönsten und Mächtigsten, sowohl vor als auch hinter der Kamera. Die Normalsterblichen überschwemmten jegliche Götter oder Halbgötter der Filmindustrie, die auch nur die geringste Verbindung mit der Produktion oder dem Vertrieb des Films hatten, mit aufgeregten Anfragen, ob man ihnen nicht Zutritt verschaffen könnte. Selbst die unbedeutenden Filmautoren, alle acht von ihnen, ob nun im Abspann gewürdigt oder nicht, bekamen Angebote für großzügige Geschenke, Drogen, Bargeld, Reisen und sogar Sex, wenn sie sich nur von einem einzigen Ticket trennen oder eines auftreiben könnten.

Ein paar glückliche Mitglieder der breiten Masse bekamen genau das, was sie wollten, ohne ihre Seelen zu verkaufen. Luz Calderon hatte darauf bestanden, dass fünfhundert Plätze für das Volk reserviert wurden, und verteilte sie unentgeltlich durch ein Gewinnspiel auf speziell markierten Flaschen und Dosen des Softdrinks AzteKola; ungültig, wo gesetzlich verboten, kein Kauf erforderlich. Wenn man mal einen Moment vergaß, dass das sprudelnde, süße Getränk ursprünglich in Mexiko in den Dreißigern von einem weißen Einwanderer aus Kansas erfunden worden war. Diese Geste, von manchen Zynikern als aalglattes Manöver bezeichnet, hatte einem Star, der ohnehin schon nichts falsch machen konnte, noch mehr berauschte Pressestimmen verschafft.

Luz Calderons volksnahe Art machte ihren Gefolgsleuten zu schaffen. Sie mied die aufgepumpten Sicherheitsdienste, auf die so viele Prominente der Industrie bestanden. Der Premierenabend im Dolby sollte keine Ausnahme sein. Ihr einziges Zugeständnis an Schutz vor Verrückten, denn nur Geistesgestörte könnten La Luz wehtun wollen, war ein Trio unbewaffneter Cholo-Freunde, die sie seit Kindergartentagen damals in East L.A. kannte. Auf Luz' Forderung hin hatten diese drei Männer öffentlich sämtliche Gang-Zugehörigkeiten aufgeben müssen, bevor sie sie in den Dienst stellen würde. Die Presse war begeistert. Verschlang es. Heute Abend war Luz also allein, und das gefiel ihr so. Es gab keine künstlichen Barrieren, da sie nicht den Drang verspürte, sich von genau den Leuten zu distanzieren, die sie liebten und die wiederum sie liebte, jeden Einzelnen von ihnen. Letztendlich war es auch egal. Selbst wenn La Luz die entschlossene, zusammengewürfelte Rebellenarmee, die ihre Figur im Film befehligte, rekrutiert hätte, hätte es keinen Einfluss auf den Verlauf des Abends gehabt.

Die Anwesenheit von Luz' drei Kumpanen hielt die Polizeibehörde von L.A. nicht davon ab, zusätzliche Beamte für den Abend abzustellen. Viele davon. Es gab die übliche Machtdemonstration entlang mehrerer Blocks rund um das Kino, eine lockere Kette aus Uniformen, angefangen am West Sunset Boulevard südlich, North La Brea westlich, Franklin Avenue im Norden und North Las Palmas im Osten. Es gab noch mehr uniformierte Beamte auf den Straßen um das Kino herum und sie wurden unterstützt von Zivilpolizisten, die aus den Valley-, Central- und Südbezirken kamen, um das Sternchen des Volkes nicht mit einer offensichtlichen Polizeiinvasion in der Gegend zu verärgern.

Hausdächer waren ein anderes Problem. Jedes Gebäude im Block des Kinos und unmittelbar daneben wurde von Scharfschützenteams gesichert. Ungewöhnlicherweise befand sich die Einsatzleitung für das Ereignis direkt auf dem Kino selbst, um weniger provokativ zu wirken. Das machte die Einsatzleiterin nicht sehr glücklich. Sie war eine praktisch veranlagte Beamtin, die sich von ihrer ersten Position als Streifenpolizistin heraufgearbeitet hatte, aber sie hatte sich daran gewöhnt, dass Pragmatismus neben den Launen der Berühmtheiten die zweite Geige spielte.

Obwohl sechs der zwölf Helikopter vom Typ Aérospatiale B-2 Astar der Luftunterstützungsdivision des LAPD in der Luft waren, kreisten sie fünf Meilen entfernt, damit die Gegend um das frühere Kodak-Theatre nicht aussah, als wäre während der Premiere eine Luftverfolgungsjagd im Gange. Es war eine zeitweilige Flugbeschränkung für die allgemeine Luftfahrt im Umkreis von zehn Meilen um das Kino erhoben worden. Die einzige Ausnahme war für fünf Presse-Hubschrauber gemacht worden. Sie waren mehr als willkommen, solange ihre Sender sich rechtzeitig um die Freigaben gekümmert hatten, und sie übermittelten die eigens für den Anlass ausgegebenen Freigabecodes auf ihren Transpondern. Wenn Luz Calderon etwas wollte, bekam La Luz es auch. Sie bekam mehr, als ihr lieb war.

Wie immer lag die größte Aufmerksamkeit um das Kino auf dem Hollywood-Boulevard. Kameratürme und Kommentatorenboxen waren über Nacht von Spitzenteams errichtet worden, von denen viele zwar wie Chaoten aussahen und sich nicht gerade zu überarbeiten schienen, die aber ihre Arbeit gleich beim ersten Mal richtig machten. Die Aufbauten waren mit Wimpeln in den Farben der Revolutionsarmee des Films dekoriert worden und bevölkert mit Kameramännern, damit sie die Totale des Promi-Aufmarschs auffangen konnten. Kamera- und Tonteams für die Nahaufnahmen und Moderatoren der Sender tummelten sich in Rudeln entlang der abgeteilten, mit Teppich ausgelegten Gasse, die zu der außen gelegenen Vorbühne am Eingang führte.

Die Einschaltquoten eines Senders hatten Einfluss auf die Position seines Interviewers. Andere Crews schnappten sich weniger begehrte Stellen, an denen die Elite passieren und Kommentare abgeben musste. Dies war ein spezielles Ereignis für die Bevölkerung, aber für die Gewerkschaftsarbeiter, die es verwirklichen mussten, war es nur wenig mehr als eine Trockenübung. Sie hatten es gerade für die große Preisverleihung im Februar ein paar Wochen zuvor vollbracht. Diese leicht zurückgeschraubte Veranstaltung gleich im Nachhinein war ein Leichtes.

Eine Hürde für die Prominenten während ihres Eintreffens war es, sich immer wieder neue Formulierungen dafür auszudenken, wie die Arbeit an Ganar sie in einem fortwährenden Zustand des emotionalen Orgasmus gehalten hatte, dass mit jedem Beteiligten, vor allem mit Luz, traumhaft zu arbeiten war, und dass Ganar das wichtigste Projekt ihres Lebens und das aller anderen war. Autoren standen schon seit Wochen auf Abruf, um perfekte Sieben-Sekunden-Sätze für die Filmgötter zu produzieren, die es vorzogen, diesen Spießrutenlauf nicht aus dem Stegreif zu absolvieren. Mit den üppigen Honoraren konnten die Schreiberlinge beinahe Tiaras erstehen, entweder die mit Juwelen besetzte Sorte oder die Glasfaserrennboot-Variante mit den Doppeldieselmotoren. Große Eröffnungen führten zu großen Geschäften in der ganzen Stadt.

Es wurde langsam Zeit für den Vorstellungsbeginn. Inzwischen hatten die meisten der anwesenden Stars, Regisseure, Agenten, Manager und Produzenten in die Mikrofone auf dem roten Teppich gesprochen. Sie glitten nun an den Theken vorbei, an denen sie Flöten mit Cristal-Champagner grapschten wie ausgelaugte Marathonläufer, die den Freiwilligen Wasserbecher entrissen. Die fünfhundert Gewinnspielsieger standen immer noch auf dem Hollywood-Boulevard. Sie würden nach La Luz' Ankunft hineingehen, deren Wagen zuletzt ankam. Sie verstand, wie wichtig es war, gespannte Erwartung aufzubauen und einen großen Auftritt hinzulegen. Es war ihr Abgang, an den sich alle erinnern würden.

Heute Nacht sah La Luz wie eine Königin aus. Die Augen waren mit schwarzem Mascara hervorgehoben, die Lippen glänzend rot, die widerspenstigen Schmachtlocken gebändigt. Sie trug einen Mantilla-Kamm in ihrem Haar, ein türkisfarbenes Oberteil mit Nackenträger und enge schwarze Mariachi-Hosen mit Silberknöpfen, die von der Hüfte zu dem engen Saum gleich unter ihrem Knie gingen. Ihr einziges Schmuckstück war ein wunderschöner, türkisfarbener Anhänger, fünf Zentimeter breit an einer langen, silbernen Venezianerkette auf Höhe ihres Brustbeins zwischen ihren kleinen, der Schwerkraft trotzenden Brüsten. Luz war jedermanns ruca, die wahre Liebe.

Sie steuerte auf das Kino zu in einem leuchtend neongrünen Lowrider, einst ein '58er Ford Fairlane Skyliner mit abnehmbarem Verdeck. Sie führte eine Prozession weiterer auffällig umgestalteter Wagen an, die hüpften und hopsten und tanzten, die Kofferräume voll mit 72-Volt-Batterien für die hydraulischen Heber an jedem einzelnen Rad. Aus dem Auto hinter Luz dröhnte das Titellied des Films, das sie selbst geschrieben hatte. Die Fenster der naheliegenden Gebäude pulsierten und bogen sich im Takt mit der Bassline und drohten, breite Fensterscheiben wie Guillotinen in die Straßen zu entsenden.

La Luz' Parade aus Lowridern hatte bereits mehrere Runden in den Straßen außerhalb der Polizeikette absolviert, allein zur Freude der fröhlichen Menge des Volkes, von denen manche ihre eigenen Gründe dafür hatten, mit der Polizeiaufwartung in der Nähe des Kinos nicht auf Tuchfühlung zu gehen. Crips und Bloods sowie die Black P-Stones, Los Zetas und Mara Salvatruchas, die MS-13, waren in ihren Farben präsent, aber der Waffenstillstand, den Luz unter ihnen für den Anlass ausgehandelt hatte, schien zu halten. Sie wurde auch im wahren Leben langsam zu ihrer Filmfigur; die große Vereinigerin. Ihre Revolution war bereits im Gange.

Endlich war es so weit. Die neun Parade-Lowrider stahlen sich davon, um sich auf der Sycamore Avenue außerhalb der Polizeikette aufzustellen, wo sie nach der Vorstellung wieder zu ihnen stoßen wollte. Es waren einige After-Partys angesetzt und sie hatte vor, bei jeder dieser Partys mit ihrem vollen Konvoi anzurücken. Luz' Skyliner hielt weiter auf das Kino zu, aber natürlich war er nicht allein.

Eine Schar überprüfter Paparazzi-Cabrios und Motorräder rückte nach, um die Lücke zu füllen, die von den neun Lowriders hinterlassen worden war. Blitzgeräte von unzähligen Kameras machten aus der Nacht helllichten Tag. La Luz' Auto hüpfte nun nicht mehr, damit sie vor dem Kino auf der Kofferraumklappe sitzend vorfahren konnte, die Beine drapiert über der Rücksitzrückenlehne, ohne wie ein Rodeoreiter abgeworfen zu werden. Sie war wie ein wunderschönes Wildtier, das den Jägern von lauten Treibern in die Fänge getrieben wurde.

Luz' Auto kam vor dem Kino zu stehen. Ihre Fans kreischten. TV-Sprecher in Abendkleidern und Smokings checkten ihre Positionen und warfen flüchtige Blicke auf ihre Kamerateams. Bereit.

Die ohrenbetäubende Explosion kam mit einer solchen Sprengkraft daher, dass die Druckwelle jedem im Umkreis von zweihundert Metern in die Brust fuhr. Luz' Oberkörper zerteilte sich in grobe Stücke und die Bröckchen flogen in hohem Bogen davon. Ihre Hüfte und Beine blieben im Rücksitz des Wagens. Begeisterte Fans, überglücklich, für die Chance auf ein Autogramm ausgesucht worden zu sein, wurden auf dem Asphalt in blutigen Fetzen aus Fleisch niedergemäht. Das Licht erlosch für immer, aber erst nach einem nassen Blitz aus Rot.

Kapitel 2

Tote Männer sollen in Frieden ruhen. Sie erzählen keine Geschichten. Sie geraten bald in Vergessenheit, trotz der tiefen Furchen in ihren Grabsteinen. Ben Blackshaw, seit den letzten vier Monaten der Welt entschwunden, war eigenartig nervös. Das sollte nicht so sein. Er sollte so etwas wie diese Unruhe, die über seine Haut kroch und ihm die Nackenhaare aufstellte, nicht spüren. Aber die Schrift war nun mal an der Wand und er erkannte die Handschrift wieder.

Der Winter im Greenwich Village war hart und kalt gewesen. Weihnachten und Neujahr waren an Ben vorübergegangen, mit wenig mehr als einem leeren Verlangen nach Menschen und Orten, die entweder zu weit entfernt lagen oder von denen er durch Tod und Zeit getrennt war. Sein Heimweh grenzte an Depression. Er hätte sich noch schlechter gefühlt, wenn die Arbeit nicht seine Tage und große Teile seiner Nächte beansprucht hätte. Er konnte nicht schlafen, war stets erschöpft. Er war nicht aus New York. Das Schnitzen neuer Vorlagen für die Wachsformen, die für seine ungewöhnlichen Aufträge nötig waren, genügte nicht, um ihn von dem Gefühl abzulenken, ein Fremder weit hinter den feindlichen Linien einer fremden Stadt zu sein. Ben war von Smith Island in der Chesapeake Bay und doch war Manhattan anders als jede Insel, die er je gekannt hatte. Es war überhaupt nicht wie zuhause.

Die Frühlingskälte hielt sich mit eisigen Krallen in den Schatten zwischen den alten Fabrikgebäuden fest. Die meisten Gebäude in der Gegend waren schon vor langer Zeit zu luftigen oder zugigen Räumlichkeiten umgebaut worden, je nachdem, ob man Makler oder Mieter war. Nun waren sie hochwertiger Wohnraum oder trendige, minimalistische Großraumbüros mit ums Überleben kämpfenden Einzelhandelsgeschäften auf der Fußgängerebene. Es war so früh am Tag, dass nichts geöffnet hatte.

Ben schleppte sich durch Vierundzwanzig-Stunden-Tage in einem unausgebauten Keller eines heruntergekommenen Gebäudekomplexes, der von den hungrigen Bauunternehmen geschmäht wurde, wegen einer belastenden Menge an ungeklärten Besitzansprüchen, gepfefferten Steuerrückständen, die niemand zahlen wollte, Gerichtsverfahren, Bauvorschriftsverstößen und Problemen mit der Bauordnungsbestimmung. Ein gesamtes fünfstöckiges Gebäude, dass unter Papierkram begraben war. Wäre er am Leben, hätte man Ben einen Besetzer genannt. Heute war er ein Geist.

Das hätte er zumindest sein sollen. Nun, im Gegensatz zu den vielen Toten, für die er selbst verantwortlich war oder deren Ableben er während des ersten Golfkrieges und auf anderen Einsätzen beobachtet hatte, anders als der Tote, der er eigentlich sein sollte, verspürte er Furcht. Das fasste es ganz gut zusammen. Ein flaues Gefühl im Bauch. Er hatte Angst.

Er war von seinen unruhigen Träumen vom Sonnenaufgang über der Chesapeake in dem kalten Kerker erwacht. Wie üblich war er an diesem Morgen aus dem versteckten Hintereingang seines Gebäudes gekrochen und vorsichtig sieben Blocks zu einem Imbissladen gegangen, der die ganze Nacht geöffnet hatte. Er variierte seine Route täglich, wobei er manchmal ziemliche Umwege für einen schlechten Kaffee auf sich nahm, der auch durch Milch und Zucker nicht besser wurde.

Wenn das Heimweh besonders stark war, übertrug er die mäandernden Wasserwege und Ströme des Smith Island Archipels auf das winklige Straßenraster. Ein Bummel zum Drum Point Market zuhause auf Smith führte ihn stadtauswärts und auf die Westseite. Ein imaginärer Besuch im Haus seines guten Freundes Knocker Ellis bedeutete einen Marsch stadteinwärts und dann nach Osten. Er brach seine Fantasiepfade immer ab, bevor er seine eingebildeten Ziele erreichte. Es war sogar zu schmerzhaft für ihn, sich vorzustellen, wie seine Braut LuAnna seine Hand auf diesen Streifzügen hielt. Es würde keine wundersame Heimkehr in der verwitterten Smith Island Saltbox geben, die er sein Zuhause nannte. Kein Geplänkel mit seiner Frau. Keine Witze oder Sticheleien, die man mit Freunden teilte. Er landete immer in dem koreanischen Vierundzwanzig-Stunden-Imbiss, wo niemand jemals auf die Idee käme, Käse in den Kaffee zu tun, wie es auf Smith Island Brauch war.

Ben brauchte das Koffein nicht. Er wollte verzweifelt an die frische Luft, sofern sie in New York zu finden war. Kaffee zu holen, war lediglich eine Mission. Der Imbiss, ein Ziel. Sein Jäger-Verstand, von den Jahren im Militärdienst geschärft, funktionierte besser, wenn es einen Plan gab. Die Akkordarbeit seiner derzeitigen Beschäftigung, so lukrativ sie auch war, betäubte seine Seele. Erschöpfung erledigte den Rest und alles zusammen machte ihn anfällig für ein Heimweh, wie er es nie gespürt hatte, als er im Golf gedient hatte; das war eine unverzeihliche Gefühlsduselei, die ihn dazu veranlassen konnte, unachtsam zu werden und am Ende dem Tod sehr viel näher zu kommen, als er bereits war.

Jemand wusste, dass er in der Stadt war, aber Bens anonyme Arbeitskluft hatte ihn nicht verraten. Der Stoff war dunkel, von seinem Schöpfer gefärbt, um den Schmutz und die Schmiere von harter, niederer Arbeit über viele Tage zwischen den wenigen Waschgängen zu verstecken. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hinauf. Die Jacke war aus billigem Nylon, ein verhaltenes Dunkelblau. Es war eine unförmige, wattierte Kopie aus Übersee und wurde in den Billigläden Manhattans an Arbeiter verkauft, die gerade so über die Runden kamen. Er hatte die paar Löcher, die durch die enorme Hitze bei seiner Arbeit entstanden waren, mit schwarzem Duct Tape zugeklebt. Ben zog seine Rollmütze tiefer über seine Ohren. Das Walle-Polyester-Gemisch war ebenfalls dunkel. Nichts Besonderes. Keine Logos.

Von Kopf bis Fuß war Ben ein unbeschriebenes Blatt. Ein Geheimnis. Er passte sich seiner Umgebung an. Er war nicht mehr von dieser Welt, und nun versuchte jemand, ihn zurückzuholen.

Auf dem umständlichen Rückweg nahm er etwa jeden halben Block einen Schluck Kaffee. Wenn er seinen Kopf leicht zurückneigte, um zu trinken, ließ er seine Augen über den Gehweg vor ihm, die andere Straßenseite und die darüberliegenden Fenster schweifen. Ohne nachzudenken, filterte er die sanften Schritte seiner eigenen Gummisohlen aus; rechnete stets mit Geräuschen hinter sich. Alles, was auch nur annähernd wie verstohlene Schritte auf sechs Uhr klang, wie es im Militär hieß, oder direkt hinter ihm, ließ ihn lässig über seine Schulter blicken. In der ersten Woche in der Stadt hatte er befürchtet, diese Vorsicht würde ihn verdächtig wirken lassen und daher Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Doch er lernte schnell, dass dies der Big Apple war und dass hier jeder Augen im Hinterkopf hatte.

Dennoch, zu dieser Stunde waren nur wenige auf den Straßen unterwegs und sie hatten größere Probleme als irgendeinen Typen, der mit einem lausigen Käffchen herumlief. Straßenräuber waren im Bett, nachdem sie bis spät in die Nacht denjenigen aufgelauert hatten, die völlig betrunken oder auf Drogen waren. Sie zehrten von den Party-Kids, die einen schnellen und stillen Angriff wegen der lauten Musik in ihren Kopfhörern nicht bemerkten, und von denen, die schon ein hohes Alter erreicht hatten und nun wehrlos waren. Bens Schritte wiesen gerade genug Bestimmtheit auf, dass er kombiniert mit seiner einschüchternden Größe und seinen schäbigen Klamotten den Eindruck erweckte, den Ärger nicht wert zu sein. Damit blieben nur Polizisten und verzweifelte Junkies, die ihn schikanieren konnten, und wären solche in Sicht, würden sie sich nur gegenseitig Beachtung schenken und nicht einem Niemand wie Ben.

Er hielt am Eingang der Gasse an, die zu seiner Tür führte, nippte an seinem Kaffee, sah sich um und starrte in die noch immer sonnenlose Leere. Er ließ seine Augen alle paar Sekunden ruhen, als er nicht nur auf, sondern durch die Fenster parkender Autos schaute, auf der Suche nach Anzeichen, dass ihn jemand von der anderen Seite aus beobachtete. Die Straße war leer. Sein Herz wurde schwer wie das eines Sträflings, der den Gefängnishof verlassen musste, um seine Einzelhaft anzutreten.

Der elektrische Schmelzofen, den er angestellt hatte, bevor er gegangen war, musste inzwischen ziemlich heiß sein und zog genug Ampere, dass sich die Scheibe im uralten Stromzähler wie ein Frisbee drehte. Ben konnte gleich damit beginnen, das Gold für den ersten Guss zu schmelzen. Die Elektrizität, die seine Arbeit verschlang, war nur ein weiteres Opfer der bürokratischen Verwirrung, die sein armes, kleines Gebäude umgab. Als er sich hier einnistete, hatte er die Hauptleitung angezapft, ohne großartig Gefahr zu laufen, dass jemand den hohen Verbrauch meldete. Bisher hatte es sowieso noch niemand bemerkt. Falls es so weit kommen sollte, gab es keinen eindeutigen Eigentümer, dem man die Rechnung präsentieren konnte. Die wenigsten Phantome besaßen Geld. Es wären vielleicht größere Anstrengungen unternommen worden, das Geld für Nebenkosten einzutreiben, wenn der Stromversorger gewusst hätte, dass Ben Multimillionär war.

Noch einmal scannte Ben die abgedunkelten Gebäude um sich herum von den Kellerfenstern bis zu den Dachflächen. Überzeugt, dass ihn niemand mit übermäßiger Neugier beobachtete, deponierte er den blauen Styroporbecher in einem schlecht verschlossenen Müllcontainer des benachbarten Gebäudes. Zeit, zu arbeiten. Er drehte sich um und betrat die Gasse, vorbei an kleinen, schmutzigen Schneehaufen, die seit dem letzten Schneesturm in der Dunkelheit zwischen kaputten, verrottenden Holzpaletten überlebt hatten.

Er erreichte die alte Stahltür und stoppte, sein Körper angespannt, sein Verstand auf der Hut vor Gefahr. Es gab keine Klinke an dieser Tür, aber das war nicht das Problem. Gleich nach seiner Ankunft vor ein paar Monaten hatte er ein fünf Zentimeter großes Loch in das Türblatt auf der von den Angeln abgewandten Seite gebrannt. Dann hatte er eine Kette durch das Loch in der Tür und um den Stahlrahmen gefädelt, wo das Mauerwerk abgebröckelt war. Die unauffällige Sicherheitsmaßnahme war noch genauso intakt, wie er sie hinterlassen hatte. Die Mauer war das Problem. Jemand hatte dort eine Nachricht hinterlassen.

Die schwarze Sprühfarbe war auf der rußigen Gebäudefassade kaum zu erkennen. Die Symbole, etwa eine Handbreit hoch, waren an sich harmlos, aber sie zerschmetterten seine Welt mit mehr Gewalt als eine gut gezielte Kugel. BB2AMKIABNRMCG1300ZRIPAU. Er war sich sicher, dass die Wand nackt gewesen war, als er losging, um sich einen Kaffee zu besorgen. Das Kommuniqué war für ihn gedacht. Irgendjemand ignorierte die Tatsache, dass Tote nicht lesen können.

Mit dem stabilen Schlüssel aus seiner Hosentasche öffnete Ben das Vorhängeschloss und ging hinein. Er machte die Kette wieder fest und schloss sich im Keller ein. Der Schmelzofen heizte den zugigen Ort auf. Aus Gewohnheit schob er eine alte Decke mit dem Fuß gegen die Türschwelle, um kalte Luftzüge auszusperren. Er saß im Dunkeln auf einem einzelnen Metallklappstuhl, den er im Sperrmüll am Straßenrand aufgegabelt hatte, und dachte nach.

Die ersten fünf Zeichen adressierten die Nachricht an ihn persönlich. Es gab keinen Zweifel, dass er der Empfänger war. Obwohl er seine Hundemarken seit Jahren nicht mehr getragen hatte, kannte er sie auswendig. Wie jeder Soldat. Von oben nach unten statt von links nach rechts gelesen war das erste Zeichen jeder Zeile auf dem Metallplättchen ein B für Blackshaw, noch ein B für Benjamin, die Zwei war die erste Ziffer seiner Sozialversicherungsnummer, A stand für seine Blutgruppe und M für Methodist. Nur wenige Auserwählte verstanden diesen Code, auf den man sich vor Ewigkeiten zu gefährlicheren Zeiten geeinigt hatte.

Die Tatsache, dass der Code das Format der Army trug, war die Bestätigung, dass die Nachricht echt war.

Dieser Geheimcode war auf dem Balkan während eines gemeinsamen Sondereinsatzes mit Soldaten der zehnten Gebirgsdivision entworfen worden.

Der Rest der Nachricht erschloss sich Ben nach einer etwas genaueren Untersuchung. KIABNR stand für ›Killed In Action, Body Not Recovered‹ – Im Kampf gefallen, Leiche nicht geborgen – ein Ausdruck, der in Militärfamilien leider allzu bekannt war. Der Absender wusste, dass Ben sich versteckte, wusste wo, und wusste sogar, dass sein vorgetäuschter Tod durch Ertrinken in der Chesapeake Bay Monate zuvor keinen Leichnam hinterlassen hatte. MCG1300Z war der Aufruf zum Handeln, den er nicht ignorieren konnte. Er wurde von jemandem gebraucht, dem er sich einst mit Leib und Leben verschworen hatte. Es war nicht schwer, das zu verstehen. McGuire Air Force Basis. Da musste er hin. 1300Z war eine Angabe nach Zulu- oder koordinierter Weltzeit. Gemessen nach Ortszeit musste Ben irgendwie bis neun Uhr an diesem Morgen McGuire erreichen. Er hatte immer noch keine Ahnung warum, aber das würde sich zu gegebener Zeit herausstellen.

Es war das RIPAU, das ihm am meisten zu schaffen machte, mehr noch als der Aufruf zu einer mysteriösen Mission. Rest In Peace – Ruhe in Frieden – das war deutlich genug. Aber warum das hinzufügen? Jeder, der dieses Format verstand und der sich die Mühe machte, es zu benutzen, anstatt ihn persönlich anzusprechen, hätte seine prompte Antwort erhalten. Der Absender teilte ihm zwei Dinge mit. Die erste Botschaft lautete, dass es bekannt war, dass Bens derzeitiges Unterfangen seine volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Sein fingierter Tod und das Exil am letzten Ort der Welt, den er je besuchen, geschweige denn zur Heimat machen wollte, konnte nur etwas Großes beinhalten. Wie viel wusste der Absender wirklich? Das wurde in der zweiten Botschaft klar. Au war der Clou. Das chemische Symbol für Gold im Periodensystem der Elemente.

Jemand wusste über Bens Machenschaften Bescheid. Falls die Loyalität und der Blutschwur, die von der Nachricht verlangt wurden, noch nicht überzeugend genug waren, erfüllte die Neugier darauf, wer ihn aufgespürt hatte, den Zweck. Es war möglich, dass noch ein oder zwei Kleinigkeiten erledigt werden mussten, bis er und seine Arbeit endgültig sicher waren. Die Erwähnung des Goldes wies darauf hin, dass der Absender annehmen konnte, dass es um Kubik-Dollar ging und vielleicht um andere Anspruchsberechtigte, die auf ihn angewiesen waren. Jemand schlich in seinem Kopf herum, in seinem Leben. Das machte Ben sauer. Er wollte die Schrift mit einem seiner Schnitzmesser von der Wand kratzen. Wer auch immer die Nachricht hinterlassen hatte, wusste, dass er fast alles tun würde, um sein derzeitiges Unterfangen und seine Tarnung nicht für das Unbekannte aufgeben zu müssen.

Ben analysierte die gesamte Nachricht. Alles in allem sagten die scheinbar zufälligen Buchstaben und Ziffern: Ich weiß, wer du wirklich bist. Ich weiß, wo du bist. Du bist nicht tot. Du tauchst besser um neun in McGuire auf. Du kannst in Ruhe dein Leben mit deinem Gold genießen, nachdem du mir geholfen hast. Lass mich im Stich und es wird nicht friedlich werden.

Es gab die geringe Chance, dass er die unausgesprochene Drohung nur hineindeutete, aber Ben nahm das nicht auf die leichte Schulter. Resigniert schaltete er den Schmelzofen aus. Das dumpfe Brummen der Energiemassen, die durch unzureichende Leitungen strömten, verstummte. In der neu entstandenen Stille sah er sich um. Das graue Morgenlicht kroch beinahe versehentlich durch schmutzige, schmale Fenster. Ein kleiner Vorrat an gestohlenen Goldbarren lag unter einer Packdecke. Nicht viel. Etwa vier Millionen Dollar wert laut heutigem Marktpreis. Innerhalb von fünf Minuten konnte derselbe boomende Markt das Gold bedeutend wertvoller machen, ein oder zwei Marktkorrekturen mehr oder weniger. Der Rest des Goldes lagerte auf Smith Island. Jeder Barren war mit einem schiefen Grinsegesicht geprägt. Bei jeder Lieferung wurden Ben nur kleine Mengen des Goldes gebracht, um das Risiko zu verringern, den gesamten Schatz durch Diebstahl oder eine Razzia zu verlieren. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Die früheren Besitzer des Goldes hatten ein gutes Gedächtnis und waren höchstwahrscheinlich ziemlich angefressen, so hereingelegt worden zu sein.

Die anmutige, massive Goldskulptur eines Schwans, etwa fünfundzwanzig Zentimeter hoch, wartete unter einer weiteren Decke auf ihren Feinschliff. Das Gold war so rein, so weich, dass Ben es mit einem scharfen Messer hätte schnitzen können, anstatt es zu gießen. Tatsächlich wurden viele der letzten Details, die aus dem Schwan einen so kostbaren Ausdruck seiner Vision machten, per Hand ausgearbeitet. Aber das musste nun warten. Der Käufer, ein Waffenhändler, der in Londons Connaught Square lebte, würde sich gedulden müssen.

Ben war kein Geldwäscher. Er wusch gestohlenes Gold. Er verwandelte Barren in Bargeld und das zum 1,38-fachen des Marktpreises pro Unze zur Zeit des Verkaufsabschlusses, so geschätzt war seine Kunstfertigkeit. Bisher hatte das System funktioniert. Sechsunddreißig Millionen Dollar hatte er schon mit dieser Methode erzielen können. Die gesamten Einnahmen gingen nach Smith Island. Genauer gesagt, der Verkaufspreis jedes Stücks, abzüglich der Galeriekommission, wurde auf ein Nummernkonto der Scotiabank auf den Cayman Islands transferiert. Ben und seine Leute vertrauten auf die Sicherheit von Inseln. Manhattan allerdings, wie sich herausstellte, war wohl doch nicht so narrensicher.

Während Ben die Skulpturen anfertigte, schmiedeten seine Mitverschwörer Pläne, eine Ladenfront im Village zu mieten, um die derzeitigen Galeriekommissionen zu umgehen. Die Smith Islander konnten es sich jetzt leisten. Bis vor Kurzem hatten viele in der Heimat aufgrund der mageren Zeiten kaum mehr als eine Mahlzeit pro Tag gehabt. Das hatte sich geändert. Der Goldpreis stieg schneller als die Grundstückspreise in New York City. Bens langsame Produktionsweise von seinem Kellerstudio aus hatte ihre Vorteile im Durchschnittskosteneffekt.

Der Absender der Nachricht hatte recht. Die Zelte abzubrechen und die Stadt zu verlassen gehörte nicht zu Bens Plänen; nicht, falls er seine Arbeit hier in Manhattan jemals abschließen und nach Hause zu dem offenen Himmel und den Gewässern von Smith Island zurückkehren wollte.

Es war gar keine Frage, ob Ben der Aufforderung Folge leisten würde. Andererseits lief er nur ungern blindlings in ein mögliches Verderben, dennoch musste er einen Besuch abstatten.

Ben verließ den Keller, machte die Kette wieder mit dem Vorhängeschloss an der Tür fest und sah sich noch einmal die Nachricht an. Zorn wallte in ihm auf. Falls sich eine richtige Mission hinter dem Code verbarg, würde es seine Arbeit hier verzögern und seine Rückkehr nach Hause in eine ungewisse Zukunft schieben. Er hatte sich New York nur für einen heftigen, kurzfristigen Arbeitseinsatz verpflichtet, um aus dem Gold harte Währung zu machen. Er war bereit gewesen, den Kontakt zu allem, was er liebte, zu opfern, weil es so viel Not und Elend auf Smith Island gab. Doch er hatte niemals vorgehabt, lange fortzubleiben. Sein Vater hatte vor ewiger Zeit ihr Zuhause verlassen und damit alles aufgegeben, was ihm wichtig war. Ben fragte sich, ob er am Ende doch wie sein Vater geraten war, obwohl er sein Leben lang versucht hatte, einen anderen Weg einzuschlagen.

Mit all der Verstohlenheit, die er als Scharfschütze besaß, erklomm Ben die Feuerleiter auf der Rückseite des Gebäudes. Er bewegte sich langsam, da die Metalltreppe alt war und seine Schritte vielleicht Erschütterungen auslösen konnten, die die Person, auf die er es absah, warnen würden oder schlimmer noch, die ganze Konstruktion zum Einsturz bringen.

Auf dem Treppenabsatz im dritten Stock spähte er durch eine ungetrübte Stelle einer verschmutzten Glasscheibe, die als Guckloch von der Bewohnerin sauber gemacht worden war. Sie lag da drin auf ihrer Matratze und schlief tief und fest. Ω war das Zeichen, mit dem sie ihre Arbeit signiert hatte. Omega. Sie war schwarz, ungefähr zwanzig, zu dünn. Sie lebte nicht gerade das pralle Leben in diesem besetzten Gebäude, aber sie schätzte die Freiheit, zu tun, was ihr gefiel. Sie schlief in ihren Baggypants, eine zerfetzte Decke um die Arme geschlungen. Omega war ein Ein-Mädchen-Betrieb, eine Hardcore-Sprayerin, die sich in der Nachbarschaft einen Namen machte. In letzter Zeit verteilte sie ihre Graffiti in der ganzen Stadt; geniale Wandbilder, die die Insel sprenkelten. Ben hatte sie eines Nachts heimlich beobachtet; er bewunderte ihren ungewöhnlichen Stil und hielt die Augen nach neuen Werken offen. In ihrer Welt war sie eine große Nummer. Er war sich sicher, dass Omega die Nachricht neben seiner Tür geschrieben hatte. Da er ihre Arbeit in den letzten Monaten oft genug gesehen und bestaunt hatte, erkannte er ihre Schrift.

Ben schob seine Finger unter den Fensterrahmen und schob das Fenster nach oben. Es ließ sich leicht bewegen. Das musste es auch, denn es war die Eingangstür zu Omegas illegalem Zuhause. Die innen liegende Tür zu der Wohnung war wegen der Junkies, die im restlichen Gebäude lungerten, verbarrikadiert. Genau wie Ben scheute sie Aufmerksamkeit jeglicher Art, es sei denn, es betraf ihre Kunst.

Als er das Fenster etwa einen halben Meter angehoben hatte, ließ ein kühler Luftzug Omega im Schlaf die Stirn runzeln und stöhnen, woraufhin sie die Decke fester um sich zog. Ben bemerkte über fünfzig Dosen farbenprächtiger Sprühfarbe mit dicken und dünnen austauschbaren Sprühköpfen, alle gereinigt und bereit für das nächste Projekt. Die verschiedenen Schattierungen standen farblich sortiert auf dem Boden, wie ein Farbkreis aus dem Kunstunterricht. An einer Wand des Raumes prangte das Wandgemälde einer Unterwasser-Traumwelt, in der sich Dämonenfische tummelten.

Das war das erste Mal, dass Ben sie aus der Nähe ohne die Atemschutzmaske über ihrem Gesicht und dem Tuch über ihrem Haar sah. Sie war hübsch, tief-goldene Haut, ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen mit Sommersprossen, ein wilder Schopf schwarzer, lockiger Haare, lange Wimpern, volle Lippen und eine kleine Narbe an der rechten Kiefernseite. Ben schlüpfte durch das Fenster. Er schlich sich nur ungern so an sie heran, da es für sie beide gefährlich war. Er hatte nicht die Zeit für gute Manieren.

Er schloss das Fenster hinter sich, nahm zwei Sprühdosen zur Hand und schüttelte sie kräftig. Die Kugeln in den Dosen klapperten laut, wie Kastagnetten bei einem lahmen Tango. Er rief: »Omega!«

Sie riss die Augen auf. Ben ignorierte das Messer, das sie zur Verteidigung unter der Decke hervorzog. Er war völlig gebannt von ihren lebendigen, blauen Augen.

»Was zum Teufel!« Omega sprang auf die Beine, trat ihm mutig in der Mitte des Raums entgegen, das Messer auf seine Kehle gerichtet.

»Was soll die Scheiße!« Sie war noch nicht richtig wach, aber da sie schnell munterer wurde, wusste Ben, dass sie tödlich sein konnte. Er stellte die Sprühdosen weg und hielt ihr seine Hände entgegen. Das allgemeingültige Zeichen für friedliche Absichten in heiklen Situationen.

Wieder schrie sie: »Was zur gottverdammten Hölle!« Angst versteckte sich nun hinter der geläufigeren Maske des Zorns.

Ben versuchte, das Thema zu wechseln. »Du hast in letzter Zeit 'n paar krasse Pieces gerockt. Du hast mit den Dosen echt was drauf. Bin beeindruckt.«

»Das wird das Letzte sein, was du bist«, entgegnete sie.

Ben legte nach. »Das Quickpiece an meiner Wand. Nicht deine beste Arbeit. Kam wohl nicht von Herzen. Wer hat dich beauftragt?«

Omega ließ sich nicht beirren. »Hau ab, solange du noch kannst. Ich will mir mit deinem Blut nicht die ganze Bude versauen.«

Ben nickte. »Ich hab selbst schon öfter in dieser Farbe gearbeitet. Komm mal runter. Sag mir, wer dir die Nachricht gegeben hat, dann bin ich gleich wieder weg. Ganz ohne Probleme.«

Omega sagte nichts. Das Messer senkte sich ein Stück.

»Die Stehlerei und das Sprühen sind mir egal«, meinte Ben. »Mir geht's um das Throw-up an meiner Wand. Seh ich wie ein Bulle aus? Komm schon, Nachbarin. Du kennst mich vom Sehen. Das wird nicht zu dir zurückführen. Du hast mir da 'ne heftige Botschaft überbracht. Ich muss alles erfahren, was ich kann.«

Omega zögerte. »Ich dachte, er wär 'n Wachhund.«

Wachhunde waren ungewöhnlich engagierte ältere weiße Männer, die in einem Anflug von Selbstjustiz Graffiti von Gebäuden schrubbten oder sie im Namen von Recht und Ordnung übermalten. In den Augen der Polizei waren die Leute, die Farbe verwendeten, genauso sehr Vandalen wie die Sprayer.

Ben nickte. »Aber er war kein Wachhund. Kannst du das Messer runternehmen?«

Das Messer rührte sich nicht. »Nein, ich glaube nicht.«

»Okay. Wie du willst. Hat er dich bezahlt?«

»Von irgendwas muss man leben.«

»Ganz bestimmt. Ich greife jetzt schön langsam in meine Tasche. Bleibst du cool?«

Sie antwortete nicht, sondern schaute zu, wie er seine Hand in seine rechte Jackentasche schob. Er zog sie genauso langsam wieder heraus, aber sie wappnete sich gegen Ärger.

Ben öffnete seine Hand. Darin lag ein grob geschnittenes Rechteck aus reinem Gold in der Größe einer Streichholzschachtel. Er sagte: »Marktpreis, etwa fünftausend Dollar. Verkauf es nicht hier in der Gegend. Das könnte zu dir zurückführen. Oder zu mir. Fahr raus, nach Jersey oder sogar Philly. Im Ernst. Jeder Laden mit Wir kaufen Gold im Fenster wird mit Freude versuchen, dich abzuzocken, ohne weitere Fragen. Ich würde wetten, dass du dafür 'ne ganze Menge mehr bekommen kannst, als der Typ dir für den Sprühjob gezahlt hat. Hab ich recht? Du hast es selbst gesagt, man muss von irgendwas leben.«

Omega entspannte sich ein wenig. »Wirf's rüber auf meine Jacke.«

Ben zögerte. »Haben wir 'nen Deal?«

»Weiß, zehn oder zwölf Zentimeter kleiner als du und dünner. Vielleicht eins-achtzig. Aber kräftig. Grüne Augen. Dunkelrote Haare. Kleiner Leberfleck am Kinn.«

Ben ließ das auf sich wirken. »Was hat er gesagt?«

»Er sagte, wirf das Gold auf meine Jacke, bevor ich dich aufschlitze.«

Ben warf das Goldstück in einem sanften Bogen in Richtung der Jacke neben ihrem Bett. Es glänzte in der Luft wie ein heller, kleiner, gelber Komet und machte ein sattes Geräusch, als es in ein Nest aus Leder plumpste. Omega war so scharfsinnig wie ihr Messer scharf war. Sie ließ Ben nicht aus den Augen.

»Er hat mit nur gesagt, was ich schon wusste«, meinte sie. »Da gäb's 'nen Kerl, der in meinem Gebäude haust. Im Keller. Er hat erzählt, wie du aussiehst, aber er sagte, deine Haare wären kurz rasiert.«

Bens Haare waren jetzt viel länger und nicht gerade ordentlich. Also kam die Nachricht von jemandem, der ihn aus dem Militärdienst kannte oder eine alte Beschreibung besaß.

»Okay. Die Botschaft?«

»Er hat mir 'n Stück Papier mit den Buchstaben und dem ganzen Scheiß gegeben. Hat über dich Bescheid gewusst. Über mich auch, meine Street-Art und so. Hat gemeint, ich soll das ganze Ding neben deine Tür sprühen, wo du's auch sicher siehst.«

»Du hättest das Papier auch unter meiner Tür durchschieben können und ich hätte niemals erfahren, dass du das warst.«

Omega schüttelte den Kopf. »Ging nich', er hat's mich nur lesen lassen. Ich musste es auswendig lernen und ungefähr hundertmal aufsagen. Dann hat er's wieder eingesteckt. Meinte, ich soll warten, bis du weg bist.«

»Schien er zu wissen, worum es ging?«

Omegas Augen verengten sich. »Nein. Eigentlich kam's eher so rüber, als ging's ihm auf den Sack, sich mit mir abzugeben. Als wär das unter seiner Würde oder als ob er's scheiße fänd, 'ne Botschaft weiterzugeben, die er nicht verstehen konnte.«

»Als wäre er für was Größeres und Besseres bestimmt. Hast du ihn schon mal gesehen?«

»Scheiße, ja. Typen wie den seh ich jeden Tag. Diesen Speziellen aber nicht, nein.«

»Wann? Wann hast du ihn getroffen?«

Das Messer zuckte in ihrer Hand. »Um vier heute Morgen, so um den Dreh.«

Ben versuchte, geduldig zu bleiben. »Geht das etwas genauer?«

Omega hielt sich gerade so zurück. »Nein. Muss vergessen haben, meine Rolex aufzuziehen.« Sie trug keine Uhr.

»Wo ist das alles passiert?«

Omega schauderte vor Wut und noch etwas anderem. »Etwa da, wo du gerade stehst. Hab's so satt, dass mir ständig weiße Männer in die verdammte Bude laufen!«

»Hab's kapiert. Tut mir leid. Letzte Frage, aber es ist wichtig. Was hat er dir dafür gezahlt, meine Wand zu besprühen?«

Omega sagte nichts, aber Ben glaubte, den Ansatz von Tränen in ihren Augen zu erkennen. Einen Moment später zerrte sie den abgegriffenen Kragen ihres T-Shirts über ihre linke Schulter. Ein unschöner Bluterguss in Form eines Handabdrucks verschandelte ihre Haut.

Kapitel 3

Der Fremde wusste, dass die Mission erfolgreich war. Der Fernseher lief im Hintergrund des Motelzimmers und die unaufhörlichen Wiederholungen der dramatischen Videos von Fernsehkameras und privaten Handyaufnahmen, die Archivfotos und Grabreden erwiesen sich fröhliche Ablenkung vom banalen Tagesgeschäft. Im derzeitigen Zustand des Killers, der gerade von einer kürzlich selbstverschriebenen Fuhre Halluzinogene runterkam, verlief das Packen des kleinen Koffers nur schleppend, aber es blieb noch reichlich Zeit, bevor das Flugzeug den LAX verließ. Der Erzengel des Todes entschied sich gegen ein Nickerchen, aus Angst, dass die furchtbaren Albträume zurückkehrten. Also hielt sich der Fremde beschäftigt und blieb wach. Den Raum von sämtlichen Fingerabdrücken zu reinigen, würde seine Zeit brauchen, aber da dieser methodische Meuchelmörder geradezu in Latex-Handschuhen lebte, sollte es nicht allzu mühsam werden.

Natürlich war die Berichterstattung über Luz Calderons Dahinscheiden wichtig, um die Arbeit beurteilen zu können, aber es war der Anruf der Klienten, der wirklich zählte. Die Kritiken waren da. In der oberen Etage waren alle zufrieden. Der nächste Auftrag würde bald folgen.

Der Dienstleister war erfreut, zu erfahren, dass ihn noch mehr Arbeit erwartete, aber das war kein Grund, jetzt nachlässig zu werden. Es war durchaus möglich, dass tatsächlich keine weiteren Aufträge kommen würden, und dass die Aussicht auf eine neue Mission nur eine Finte war, um Sicherheit vorzugaukeln, während des Killers eigene Terminierung geplant und ausgeführt wurde. Der Sensenmann hatte eine gute Saison mit diesem Klienten gehabt, aber alles neigte sich irgendwann dem Ende zu. Vielleicht fühlte sich der Klient nach den letzten Bemühungen zu sehr der Öffentlichkeit ausgesetzt. Es war sicherlich der öffentlichste aller Morde dieser Serie gewesen. Daraus eine Sensation zu machen, war Teil der Auftragsbeschreibung gewesen, ein gewünschtes Ergebnis. Eine große Nummer. Vor allen Augen. Es entsprach nicht der verstohlenen Art des Scharfschützen, derart sichtbar zu arbeiten, vor allem nicht auf amerikanischem Boden, aber manchmal ließ die Prominenz des Ziels nichts anderes zu. Abgesehen von ein paar Bekanntschaften war der Killer tatsächlich für alle ein Fremder. Das Bündel falscher Identitäten, die Jahrzehnte zurückreichten, gewährten schon lange Anonymität.

Unglücklicherweise war der stille Profi so gut und ein so perfekter Angestellter, dass sich bei den Klienten häufig Angst zu dem Respekt und der verächtlichen Bewunderung gesellte, die so vielen erfolgreich ausgeführten Aufträgen gebührte. Diese Entartung der Stimmungslage, diese schwindende Wertschätzung war schon bei früheren Geschäftsbeziehungen aufgetaucht, gewöhnlich dann, wenn der Klient den Preis als zu hoch empfand. Niemand in der Branche war so gut, dass er nicht früher oder später als riskant eingestuft würde. Selbst dem dümmsten Menschen sollte einleuchten, dass es keine gute Idee war, einen Auftragsmörder um die Zeche zu prellen, und doch probierten es manche Klienten. Zu versuchen, einen Profikiller zu ermorden, war noch lächerlicher – und trotzdem kam es vor. Es war wichtig, auf Zack zu sein, selbst in Zeiten großen Erfolgs.

Der Anruf des Klienten hatte nicht lange gedauert. Der wahre Beweis der Zufriedenheit fand sich im Internet. Durch eine Reihe von geheimen Unter-Accounts, die jegliche Online-Aktivitäten durch Shell-Server in fernen Ländern lotsten, in denen Bestechung geschätzt wurde, hatte der Fremde feststellen können, dass der abschließende Betrag inklusive erheblicher Spesen auf einem Konto bei einem kleinen Schweizer Finanzinstitut in Bern eingegangen war. Es fehlte nichts. Der Kontostand betrug eine satte Million Euro, Spesen nicht mitgerechnet. Ein paar Minuten und einige Tastenanschläge später würde sich dieses Konto wieder auf null belaufen, sobald das Geld aufgeteilt und in den Cyber-Morast anderer Konten in anderen Ländern, acht insgesamt, verschickt war. Falls ein Konto jemals aufgespürt und gehackt würde, gab es noch viele andere. Diese Art von Absicherung war kompliziert, lohnte sich aber für den Seelenfrieden des freiberuflichen Killers.

Das Flugticket, welches der Fremde gebucht hatte, war für die erste Klasse. Und warum auch nicht? Es war nicht aus Eitelkeit. Um die ganze Welt zu jetten, Spuren zwischen den Auftragsorten und der Heimat zu verwischen mithilfe einer Reihe von falschen Identitäten, die sich auf teure, gefälschte Dokumente stützten, forderte seinen Tribut am müden Reisenden.

Kapitel 4

Ben Blackshaws Taxifahrt von New York City zur McGuire-Air-Force-Base verschlang beinahe zwei Stunden. Der Fahrer, Malik Qadeem, laut seinem Ausweis, war zu Anfang seiner Schicht glücklicherweise nicht sehr gesprächig, abgesehen davon, dass er wissen wollte, ob Ben bei dem ungewöhnlich hohen Fahrpreis genug Geld dabei hatte. Ben war früh dran, als das Taxi an das explosionsgeschützte Wachhäuschen heranfuhr. Er hielt ein Bündel Geldscheine bereit.

Der bewaffnete Wachposten wurde von einem Captain Michaels flankiert, weiß, Anfang dreißig, sportlich. Ben erkannte schnell, dass sein Rang für den Wachdienst zu hoch war. Ben kurbelte sein Fenster herunter, nicht sicher, wie er sein Erscheinen auf der Basis erklären würde, doch wie sich herausstellte, musste er das nicht.

Nach einem kurzen Blick auf ein Foto in seiner Hand sagte Captain Michaels: »Bitte steigen Sie aus dem Fahrzeug, Sir.«

Ben gehorchte und nahm seinen Fluchtrucksack mit. Er enthielt alles Notwendige für eine kurze Reise: Bargeld, Wechselsocken, eine zweite Identität und eine Zahnbürste. Er lag immer gepackt und bereit neben seiner Tür. Captain Michaels Tonfall gab ihm das Gefühl, als ob er beim Zuschnellfahren erwischt worden wäre, aber wegen etwas viel Schlimmerem unter Verdacht stand. Der Offizier verließ das Wachhäuschen und beugte sich zu Qadeem hinunter. Ohne einen Blick auf das Taxameter zu werfen, das sich im dreistelligen Bereich befand, reichte er einige Geldscheine herüber, die Qadeem die Augen herausspringen ließen.

Als er wieder sprechen konnte, sagte Qadeem: »Und die Maut?«

Captain Michaels reagierte nicht darauf. »Setzen Sie zurück, drehen Sie um und fahren Sie nach Hause. Verstanden, Sir? Was ich Ihnen gerade gegeben habe, sollte Ihre ganze Woche abdecken.«

Qadeem zuckte ›den Versuch wert‹ mit den Schultern und tat, wie ihm geheißen. Michaels wies mit einer Handbewegung vom Wachhäuschen weg. »Hier entlang, Sir.« Er führte Ben an einem Tor vorbei zu einem Humvee, der die graugrüne Highet-Kräcker-Digital-Tarnung trug, die ein paar Jahre zuvor so beliebt gewesen war. Der Captain hielt Ben die Tür auf, sah ihm aber nicht in die Augen.