IM AUGE DES FEUERS - Robert Blake Whitehill - E-Book

IM AUGE DES FEUERS E-Book

Robert Blake Whitehill

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Beschreibung

Ben Blackshaws Frau LuAnna liegt seit ihrem letzten Abenteuer auf Smith Island im Koma. Nach einem Streit mit seinem besten Freund Knocker Ellis nimmt Blackshaw vor seinen Problemen reißaus, und auch seine zweite große Liebe, die See, lässt er weit hinter sich. Dank seines untrüglichen Instinkts für Scherereien deckt Blackshaw auf seiner ziellosen Reise einen Lynchmord auf, der ihn nach Arizona führt, wo sich bereits Einiges zusammenbraut … Eine fremdenfeindliche Bürgerinitiative, eine gesetzlose Bikergang, eine fanatische Sekte, Hi-Tech-Drogenschmuggel, Entführung, Mord und Totschlag, dazu ein Racheengel, der nichts zu verlieren hat – und das Chaos ist perfekt. Zu allem Überfluss wütet auch noch ein Buschbrand in der Gegend, welcher Ben mit Del zusammenbringt, dem Mitglied eines indianischen Feuerwehrtrupps, den Geronimo Hotshots. Gemeinsam tauchen sie in eine mysteriöse Welt ab …

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Im Auge des Feuers

ein Ben Blackshaw Thriller – Band 4

Robert Blake Whitehill

Copyright © 2015 by Robert Blake Whitehill All rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: GERONIMO HOTSHOTS Copyright Gesamtausgabe © 2021 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Tina Lohse Lektorat: Astrid Pfister

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2021) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-620-7

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Im Auge des Feuers
Impressum
TEIL I
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
TEIL II
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
TEIL III
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
KAPITEL 53
KAPITEL 54
KAPITEL 55
KAPITEL 56
KAPITEL 57
KAPITEL 58
KAPITEL 59
KAPITEL 60
KAPITEL 61
KAPITEL 62
KAPITEL 63
KAPITEL 64
KAPITEL 65
KAPITEL 66
KAPITEL 67
KAPITEL 68
KAPITEL 69
KAPITEL 70
KAPITEL 71
TEIL IV
KAPITEL 72
KAPITEL 73
KAPITEL 74
KAPITEL 75
KAPITEL 76
KAPITEL 77
KAPITEL 78
KAPITEL 79
KAPITEL 80
KAPITEL 81
KAPITEL 82
KAPITEL 83
KAPITEL 84
KAPITEL 85
KAPITEL 86
KAPITEL 87
KAPITEL 88
KAPITEL 89
KAPITEL 90
KAPITEL 91
KAPITEL 92
KAPITEL 93
KAPITEL 94
KAPITEL 95
KAPITEL 96
KAPITEL 97
KAPITEL 98
KAPITEL 99
KAPITEL 100
KAPITEL 101
KAPITEL 102
KAPITEL 103
KAPITEL 104
KAPITEL 105
KAPITEL 106
KAPITEL 107
EPILOG
SLUDGE
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
Über den Autor
Über Taylor Griffith

TEIL I

SCHATTEN DER VERGANGENHEIT

KAPITEL 1

Der Lynchmord des Jungen war Ben Blackshaw immer noch unbegreiflich.

An diesem ruhigen Morgen stand der Seemann ganz allein in der Nähe des Fischerkahns und dachte an die Vielzahl der Erinnerungen, die den groben, kantigen Linien dieser Behausung innewohnten. Das beengte Hausboot gehörte seiner Familie schon seit mehreren Generationen. Sein Großvater hatte es jedes Jahr zur Blaubarsch-Saison in die oberen Gewässer der Chesapeake Bay geschleppt und dort zusammen mit anderen Seemännern provisorische Uferlager errichtet. Was für grandiose Zeiten waren das gewesen.

Die Planken der Behausung hatten sich durch die Wärme des kleinen Brennofens zusammengezogen, aber dank seiner stetigen Bemühungen und auch denen seines Vaters, verdeckte Dachpappe die meisten der Ritzen und stoppte die eisigen Winde, die selbst im späten Frühling noch über die Inseln der Bucht fegten. Auch der Tod lungerte in Blackshaws Herz, aber es war die Letzte Ölung für den Jungen, der er einst gewesen war, und gewiss nicht für ein fremdes, hilfloses Kind. Bens Entdeckung des eigentlichen Blutvergießens stand noch aus.

Um Blackshaw herum auf dem Boden verteilt, lagen ein Rucksack, etwas Proviant und seine Schrotflinte. Drei Plastikflaschen, die Brennstoff für den Ofen enthielten, standen noch auf dem Heckbalken des Kahns.

Sein Vater, Richard Willem Blackshaw, hatte erst kürzlich Zuflucht in dem alten Hausboot hier auf Lethe Island gesucht, als er sich von einer Verletzung erholt hatte, vermutlich einer entzündeten Schusswunde. Ben betrachtete den Stamm der riesigen Weide, die die Lichtung überschattete, und bemerkte zum ersten Mal, wie sorgfältig sein Vater die Stellen ausgewählt hatte, um die Rindenstücke herauszuschneiden, die er kaute oder zum Brauen fiebersenkender Tees nutzte. Der Baum würde die Krankheit seines Vaters noch lange überleben. Sofern Blackshaw nichts unternahm, würde er seine eigene, tiefer sitzende Unpässlichkeit allerdings nicht überstehen.

Dieser Kahn weit weg von Smith Island, war der letzte Ort, an dem er mit seinen Eltern gesprochen hatte, wenn auch nicht zur gleichen Zeit. Seine Mutter würde womöglich wieder auftauchen, vielleicht aber auch nicht, das war schwer zu sagen.

Auf der anderen Seite hatte Ben das Gefühl, dass der kürzliche Besuch seiner Mutter, Ida-Beth, ihr letzter gewesen war. Beide Eltern hatten versucht, ihre Abwesenheit während der letzten fünfzehn oder sechzehn Jahre herunterzuspielen. Ihre Ausreden hatten abwechselnd hochtrabend, überzeugend oder eigennützig geklungen.

Sein Vater war durch seine Zeit in Vietnam ungeeignet für ein normales Leben geworden. Falls Richard Blackshaw jemals eine Behandlung in Anspruch genommen hatte, um sich niederlassen und Frieden finden zu können, wusste Ben nichts davon. Der Zustand seines Vaters hatte heutzutage sogar einen Namen: Posttraumatische Belastungsstörung. Aus eigener furchtbarer Erfahrung als Veteran, der den Grauen des Krieges entkommen war, konnte er das Verlangen, vor diesem Wolf zu fliehen, der ihm stets auf den Fersen war, durchaus verstehen. Ein Verlangen, das Richard Blackshaw nun als Söldner in Kriege auf der ganzen Welt zurücktrieb. Das alles war längst viel zu sehr Teil von ihm geworden, und nicht mit Medikamenten, einem aufrichtigen Gespräch oder mitfühlender Kameradschaft zu behandeln. Die Chesapeake rund um Smith Island hatte eine Palisade geschaffen, die viele Familien über die harten Zeiten hinweg zusammengehalten hatte. Bens Vater war eingezogen worden und würde sich niemals wieder heimisch fühlen, egal, auf welchem Kontinent er auch sein Haupt bettete. Seine langwierige Genesung hier im Schutz dieser Behausung hatte bei Weitem nicht ausgereicht, um ihn davon zu überzeugen, wieder heimzukehren, und sich auf Smith Island niederzulassen. Auch wenn Richard Blackshaw dieses Mal näher um seine Heimatgewässer zu kreisen schien, machte sich Ben keine großen Hoffnungen. Es mochte am Alter liegen, konnte aber auch einfach nur pure Neugier sein.

Ben schob die Gedanken an seinen Vater zur Seite, denn die Flut war da. Es war endlich soweit. Er machte die Leinen los und schob den alten Kahn ins Wasser, bis er schwerfällig in den Wirbeln des Stroms dahintrudelte. Ben machte sich nicht die Mühe, im Kielraum nachzusehen, ob das Boot dicht war und das Brackwasser der Bucht draußen blieb. Es würde schließlich nicht lange schwimmen müssen. Bis zur Hüfte im Wasser, schob er die schwere Schute weiter bis zu einer Stelle, an der der Strom eine breite Kurve machte, und zerrte sie dann ans Ufer. In ein paar Stunden hätte die Ebbe den alten Kahn wieder auf Grund laufen lassen. Auf diese Weise lag er wenigstens nicht direkt unter der weit ausladenden Weide, die das Boot vor Blicken aus der Luft geschützt hatte, während sein Vater sich so weit erholt hatte, wie es eben möglich war.

Während ihres Besuchs vor ein paar Wochen hatte Blackshaws Mutter weitaus weniger über ihr Verschwinden von Smith Island, und damit aus seinem Leben, offenbart, als er gehofft hatte. Als ob es der Preis dafür war, mit ihm zusammensitzen zu können, hatte sie widerwillig erklärt, dass sie die Rolle der Hausfrau und Mutter bereitwillig und frohen Mutes für eine ganze Weile ausprobiert hatte. Bald jedoch hatte sie das traditionelle Leben sattgehabt, das für sie vorgesehen gewesen war. Sie hatte auf der Stelle getreten und von Orten geträumt, die hinter dem Horizont gelegen hatten, wo neue Versionen ihrer selbst womöglich freier waren. Sie brachte die Zeit in ihrer Fantasie herum, wartete auf den richtigen Augenblick, als Richard Blackshaws alte Probleme aus dem Krieg und die Tatsache, dass er um sein Leben rennen musste, ihr die Gelegenheit verschafften, dieser so fremden Existenz auf Smith Island zu entkommen; ein Leben, zu dem sie einfach nicht länger passte. Aber sie hatte weder mit ihrem Ehemann fliehen wollen, noch hatte sie einen Weg einschlagen wollen, der auch ihrem Sohn genug Platz geboten hätte. Stattdessen hatte sie eine Leere hinterlassen, umrahmt von gerade genug sorgfältig orchestrierten Beweisen, die ihren Tod belegten. Für Blackshaw war es besser, sie als tot anzusehen. Er hatte bis dahin seine Erwartungen an sie auch eher niedrig gehalten.

Fernweh, so hatte sie Ben erzählt, hatte sie nach ihrer Flucht für eine Weile zu anderen Kontinenten getrieben, aber sie war schließlich in die Staaten zurückgekehrt und hatte sich ausgerechnet in Baltimore niedergelassen, nur wenige Meilen vom Haus ihres Sohnes auf Smith Island entfernt. Sie hatte während dieser langen Zeit niemals Kontakt mit ihm aufgenommen, aber sie hatte seine Zeichnung eines Gänsesägers, die sie auf einem Wasservogel-Kunstfestival erstanden hatte, stets in Ehren gehalten.

Genau wie ihr Weggang Jahre zuvor war Ida-Beths Besuch auf Lethe Island sehr viel mehr dazu da, ihre eigene Neugier hinsichtlich ihres einzigen Kindes zu befriedigen, als um Vergebung zu bitten und einen Platz in seinem Leben einzunehmen. Sie hatte einen einzigen Abend zögerlicher, gestelzter Konversation mit ihrem Sohn in dem Kahn zugebracht und am nächsten Morgen war die Frau erwartungsgemäß verschwunden gewesen. Sein Vater hatte wenigstens sein tödliches Handwerk zur Verfügung gestellt, als Ben in Not gewesen war, bevor er seinen Rucksack aufgesetzt und seinen Rückzug angetreten hatte.

Blackshaw leerte nun die Brennstoffflaschen überall innerhalb der Baracke und außerhalb auf dem Deck, den Wänden und dem Dach aus. Sicher am Ufer stehend, entzündete er ein einzelnes Streichholz und warf es an Bord. Er hörte ein Wuuusch, als der Alkohol Feuer fing, und für einen Augenblick waren die Flammen so klar, dass sie beinahe unsichtbar waren – Hitzeflimmern stieg in die Luft. Dann verfärbten sich die Flammen blau und kletterten an den trockenen Planken der Barackenwand hinauf. Die Dachpappe, die hauptsächlich aus Bitumen-getränktem Filz bestand, loderte gelb auf und sonderte grauen Rauch ab.

Blackshaw lief nun stromaufwärts durch das Schilf zu seinem Gepäck. Als er die Lichtung betrat, wo der Kahn ursprünglich gelegen hatte, sah er nur einmal zurück, um sich zu vergewissern, dass der Rauch und die Funken auch von der Weide wegtrieben.

»’Ne Menge Erinnerungen, die das Feuer da nähren.«

Blackshaw unterbrach den Check seiner Ausrüstung, sah, wie Knocker Ellis gegen den Weidenstamm lehnte und steckte seine Bersa Thunder .380 Automatik wieder weg, die reflexartig in seiner Hand erschienen war.

Der schwarze Mann, der vermutlich in den Sechzigern war, aber so drahtig und zäh wie ein viel jüngerer Mann wirkte, taxierte seinen Freund mit besonderer Sorgfalt.

»Bist du jetzt Seelenklempner?«, fragte Blackshaw.

»Bin ich das? Vielleicht ist ein Freudenfeuer ja besser, als den alten Kahn als Anbau an irgendein Haus zu klatschen.«

»Manche Leute kommen wegen der Ruhe hierher«, merkte Ben an.

»Du bist seit einer Woche nicht an dein Satfon gegangen, Ben.«

Eine Mischung aus Furcht und Hoffnung huschte über Blackshaws Gesicht. Um das Unbehagen seines Freundes zu lindern, berichtete Ellis schnell: »Noch keine Veränderung.«

Blackshaw verbarg sich augenblicklich wieder hinter der teilnahmslosen Maske, um seine tiefe Sorge zu überspielen. Seine Frau, LuAnna, war vor einem Monat bei einer Schießerei mit Menschenhändlern am Dove Point schwer verwundet worden und obwohl sie nun selbstständig atmete, hatte sie noch immer nicht das Bewusstsein wiedererlangt.

Ellis sagte: »Die Ärzte sind fort. Sie stehen aber noch auf Abruf bereit, nur für den Fall, und wir haben gute Pfleger, die rund um die Uhr arbeiten und die den Stadtratfrauen in deiner Saltbox zur Seite stehen. Aber manche sagen trotzdem, sie wäre in ‘nem Pflegeheim besser aufgehoben.«

»Nein!«, brach es aus Ben hervor. »Sie ist zu Hause, genau dort, wo sie gerade ist.«

»Aber du bist es nicht. Woher willst du also irgendwas wissen, wenn du hier nur Trübsal bläst und Feuer legst?«

Blackshaws Zorn, dieser Tage nie weit unter der Oberfläche, sprudelte bei dieser Anschuldigung sofort wieder hervor. »Ich war gerade im Begriff aufzubrechen.«

»Aber du kommst nicht zurück nach Smith Island?«

Blackshaw sagte nichts.

Ellis fuhr fort: »Soll Leute geben, die viel davon halten, mit Komapatienten zu reden. Wenn sie dann aufwachen, erinnern sie sich nämlich angeblich an jedes nette Wort, das über Tage und Wochen mit ihnen gesprochen wurde.«

Bens Wut loderte auf wie der Kahn. »Kannst du dir mich dabei vorstellen? Was soll ich ihr denn sagen? Dass es mir leid tut? Dass sie besser auf mich gehört und sich aus der ganzen Scheiße rausgehalten hätte?«

»Nein«, sagte Ellis. »Passt nicht zu dir, jemanden anzuklagen, der sich nicht verteidigen kann. Und du weißt genau, dass sie ein Wörtchen dabei mitzureden hatte. Es war ihre Entscheidung, mitzumischen.«

Blackshaw konnte nichts dagegen sagen, denn LuAnna hörte mehr auf ihn, als die meisten in ihre Ehemänner vernarrten Frauen, aber letzten Endes folgte sie doch immer ihrem eigenen Kopf. Das war es, was Ben am meisten an ihr liebte, zumindest bis zu diesem beinahe tödlichen Moment.

Ellis schlug vor: »Mann, du könntest ihr doch das Telefonbuch vorlesen oder die Zeitung oder schlechte Gedichte, sogar den Wetterbericht.«

Blackshaw gestand: »Ich kann ihr so nicht gegenübertreten.«

»Obwohl du's versprochen hast«, sagte Ellis. »Aber ich versteh' schon. Du kannst ja noch nicht mal ihren Namen sagen.«

»Jetzt gehst du zu weit.«

»Zu weit für unsere Freundschaft? Meine Rasse? Sag schon, Ben, wie habe ich den König des Kummers beleidigt? Habe ich dein perfektes Selbstmitleid gestört? War das zu viel Wahrheit auf einmal für deinen Geschmack?«

»Ellis, bitte hör auf mich, wenn ich dir sage, dass du jetzt gehen musst. Sofort.«

»'N Scheiß muss ich! Du musst hier weg und nach Hause kommen, bevor du deine Dummheiten noch auf die Spitze treibst.«

Ein Teil von Ben wusste, dass sein Freund recht hatte. Das änderte jedoch nichts an seinem Entschluss, einen anderen Kurs einzuschlagen. Er schulterte deshalb sein Gepäck, hob das Jagdgewehr auf und warf es Ellis zu.

»Du willst reden, Ellis? Dann sag ihr, dass ich sie liebe.«

»Sag's ihr doch selbst!« Ellis drehte sich um und verließ die Lichtung in Richtung des Stroms, wo sein Skiff angebunden war.

Blackshaw warf einen letzten Blick auf die Lichtung und sah zu, wie stromabwärts die Steuerbordwand des Hausboots knisterte und in einer Wolke aus Rauch und Funken zusammenfiel. Dann machte er sich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg, wo sein altes Deadrise Miss Dotsy lag.

KAPITEL 2

Timon Pardue schoss gerade sein vorletztes Pferd nieder. Er war ganz kurz davor, so etwas wie Bedauern zu empfinden. Das führte dazu, dass sein Abzugsfinger eine Picosekunde zögerte, bevor der Hahn seines Henry-Gewehrs auf das Zündhütchen der geladenen Patrone prallte und Bucky zu Boden ging. Der Schecke war lahm, zum Reiten oder als Packtier nicht mehr zu gebrauchen, aber Pardue hatte trotzdem leichte Gewissensbisse. Das war mehr, als der frühere Sheriff von Cochise County, Arizona, für die meisten menschlichen Wesen empfand. Bucky hatte immerhin stets seine Pflicht erfüllt und das wollte etwas heißen.

Pardue schlachtete Bucky unter dem gelassenen Blick seines letzten Pferdes, Popper. Nach einer kurzen Katzenwäsche in dem kleinen Bach, der sich durch den Arroyo nahe seines Camps schlängelte, hauchte er der Glut seines Lagerfeuers neues Leben ein und bereitete sich auf eine Nacht vor, die genauso wie die letzten ungefähr sechzig Nächte verlaufen sollte (er hatte beschlossen, dass es ihm beim Vergessen half, die Tage nicht mehr zu zählen), seit er aus Frust seine Dienstmarke abgegeben hatte und aus seinem Büro in Bisbee marschiert war. Nach acht Jahren treuen Dienstes war er in einer Abstimmung der Liberalen in Bisbee und dieser angeblich legal eingewanderter Latinos in Douglas abberufen worden, aber er war davon überzeugt, dass es einige Ungehörigkeiten in manchen der Wahllokale gegeben hatte. Die Jungs in Fort Huachuca waren daran gehindert worden, für ihn zu stimmen, da sie wegen eines ungelegenen Terrorismus-Alarms ihre Basis nicht hatten verlassen dürfen. Pardue hätte dahingehend nachgeforscht, wenn es ihm nicht scheißegal gewesen wäre. Und er hatte sich selbst geschworen, dass dies der Fall war.

Seit dieser furchtbaren Nacht stapfte er zwischen den Ausläufern der Chiricahua-Berge umher, begleitet von Bucky, Popper und einem Muli namens Arschloch, welches Pardue zuerst erschossen und gegessen hatte, hauptsächlich, um sich des faulen Gemüts des Tieres zu entledigen, da es sich stur geweigert hatte, sein Gepäck zu tragen. Er hatte das Maultier demokratischer Neigungen verdächtigt oder vielleicht hatte es dem Symbol dieser politischen Partei für Pardues Geschmack einfach zu ähnlich gesehen. In einem Akt posthumer Rache hatte das alte Tier noch dazu fürchterlich geschmeckt, selbst nach der Zugabe großzügiger Mengen getrockneter Chilischoten aus seinen Vorräten. Pardue war beinahe eine Woche schlecht gewesen, nach nur zwei Portionen des zähen Fleisches.

Zu streng im Umgang mit illegalen Einwanderern, das war es, was ihm vorgeworfen wurde. Profiling hatten sie es genannt. Timon Pardue sah sich selbst und die loyalen Mitglieder seiner Abteilung als die letzte Verteidigungslinie der Vereinigten Staaten gegen eine Invasion von Kriminellen, die von Sonora, Mexiko, nach Norden rollte. Erweiterte Grenzpatrouillen wie in San Diego und El Paso waren in Cochise County noch nicht veranlasst worden, beziehungsweise waren sie nicht sehr erfolgreich gewesen, obwohl die Zoll- und Grenzschutzbehörde, Customs and Border Protection, der größte Arbeitgeber in der Stadt Naco war. Pardue glaubte, dass das CBP mehr zur Zufriedenheit des Kongresses in Washington als zur Effektivität an der Grenze ausgelegt war.

Als Sheriff hatte Timon Pardue also alle seine Männer mit der Aufgabe betraut, sämtliche verdächtigen Personen anzuhalten, mit besonderem Augenmerk auf Dokumentations- und Einwanderungsstatus der fraglichen Personen. Das Problem mit den illegalen Einwanderern war nicht neu, die Anschuldigungen der Voreingenommenheit hingegen schon. Die ganze Geschichte wurde schließlich in den Medien wieder aufgekocht, als die neu ernannte Vorsitzende des Bezirksgerichts bei einer Routinekontrolle festgenommen worden war und ein langes Wochenende im Gefängnis von Bisbee verbracht hatte, bevor irgendjemand begriffen hatte, wer sie war, abgesehen von sauer und hispanisch.

Die ehrenwerte Richterin war vom diensthabenden Polizisten nämlich für eine Prostituierte gehalten worden, trotz der Tatsache, dass er sie nahe einer einsamen Landstraße aufgegabelt hatte, fern von jeglicher potenzieller Kundschaft. Sie schwor dem Polizisten, dass ihr Teleskop, welches sie für ihr Hobby der Amateur-Astronomie verwendete, gleich hinter dem nächsten Hügel stand. Ihre Jacke, in der sich ihr Ausweis befand, lag gleich daneben. Sie hatte sich nur kurz vom Teleskop entfernt, um sich zu erleichtern. Es war diese kompromittierende Position, in der der Polizist sie schließlich entdeckte, nachdem er von dem Rancher, der das Grundstück besaß, auf einen Herumtreiber aufmerksam gemacht worden war.

Ebenso wie das Teleskop und ihre Jacke mit dem Ausweis war auch ihr Lexus LX zum Zeitpunkt ihrer Festnahme nicht zu sehen gewesen. Trotz der empörten Proteste der Richterin hatte der Beamte es abgelehnt, auf der zweifellos vergeblichen Suche nach diesen Gegenständen im Dunkeln herumzutappen. Vasquez‘ Behauptung, eine Richterin zu sein und keine Prostituierte, wurden letzten Endes bestätigt, als ihr Lexus am folgenden Montagmorgen auf dem Abschlepphof des Bezirks eintraf und der Fahrzeugschein von einem Mitarbeiter überprüft wurde, der manchmal Telemundo schaute.

Zu Pardues Bestürzung hatte Richterin Vasquez viele gute Freunde bei der örtlichen Niederlassung des spanischen Fernsehsenders. Sie war außerdem gut befreundet mit dem obersten Staatsrichter des Gerichtshofs von Arizona, der sie damals ins Amt erhoben hatte. Ihre Geschichte verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Medien, sogar bei Fox News, die Sheriff Pardue daraufhin förmlich unter den Zug warfen und ihn diffamierten, um selbst weniger als Sprachrohr der Koch-Brüder und Rupert Murdoch zu erscheinen. Pardue wurde daraufhin an den Pranger gestellt. Das war acht Monate her. Die daraus resultierende Abstimmung verlief nicht gut für ihn. Oh, man, sie würden Timon Pardue noch vermissen. Er hatte nur noch keine Ahnung, wie sehr.

KAPITEL 3

Blackshaw hatte keine Ahnung, wohin er wollte. Er hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, wo er nicht sein wollte. Zum ersten Mal in seinem Leben kam ihm die Chesapeake Bay wie ein Sumpf vor. Er konnte seine eigene Abscheu überhaupt nicht verstehen … diese neue Geringschätzung seiner wunderschönen Heimat. Vielleicht war der Grund auch viel simpler, als ihm lieb war. Alles, was er kannte, jeder, den er liebte, und jeder Ort, der sich tröstend und lebensspendend für ihn anfühlte, war nun von seinen eigenen Gefühlen der Reue verschmutzt.

Er richtete Miss Dotsy nach Südwesten. Der Himmel war klar und die Wellen schwappten mit einer behutsamen Schaukelbewegung, die ihn immer weiter ins Unbekannte trieb. Dann fiel Blackshaw auf, was passiert war. Irgendwann in den letzten vierundzwanzig Stunden hatte er sich offenbar selbst in den Einsatz geschickt, und das ganz ohne irgendwelche Befehle von oben. Er war anscheinend auf der Suche nach Ärger.

Der Windy Point Jachthafen in Calvert County, Maryland, brummte, obwohl es ein Wochentag war. Zur Zeit war Hochsaison. Der Hafenvorsteher hatte aber noch einen Platz für die Saison frei und Blackshaw zögerte nicht lange. In einem Büro gleich neben dem Jachtausrüster, ein äußerst übertriebener Name für den Windy Point Köderladen, schälte Blackshaw vor dem Manager Geldscheine von einem Bündel, bis Miss Dotsys Unterbringung für den Sommer und den Herbst beglichen war. Mit der Anweisung, Miss Dotsy winterfest zu machen, sollte er sich bis November nicht gemeldet haben, ließ er noch mehr Bares springen. Und er hinterlegte außerdem einen Umschlag. Falls er bis zum nächsten Frühling nicht zurück sein sollte, enthielt dieser Umschlag ein Blatt Papier mit einem Namen und einer Telefonnummer. Die darauf genannte Person war bevollmächtigt, Miss Dotsy nach Begleichung jeglicher offener oder unerwarteter Rechnungen abzuholen. Abgesehen von den Standard-Nachlassdokumenten der Navy war Blackshaw noch nie so nahe daran gewesen, für den Fall seines Ablebens vorzusorgen, wenn man die paar Minuten vergaß, in denen er in das gefährliche Ende einer geladenen Flinte gestarrt hatte.

Nun, da Miss Dotsy in guten Händen war, benutzte Blackshaw das Telefon des Managers, um ein Taxi zu rufen. Er schwang seinen Rucksack wieder über seine Schulter, lief zum Eingang des Jachthafens und wartete dort. All das, während er sich größte Mühe gab, sich nicht mit seinem Vater zu vergleichen.

KAPITEL 4

Bucky schmeckte ganz okay nach Timon Pardues Einschätzung, aber trotzdem würden Chili-Pferdesteaks niemals an die Köstlichkeiten von Sammys Hot Dog Company an der Bundesstraße 92 herankommen. Seine Feldflasche voller Jack Daniels half ihm beim Herunterspülen. Im Exil, auch im selbstauferlegten Exil, waren Annehmlichkeiten zu genießen und gewisse Standards dennoch aufrechtzuerhalten.

Er hatte sich gut ausgerüstet, bevor er in die Wildnis gezogen war, und hatte sich deshalb nicht neu bevorraten müssen. Der Mangel an menschlichem Kontakt, selbst so geringem, wie er einem beim Schnapskaufen widerfuhr, machte sich mit der Zeit deutlich bemerkbar. Pardue redete mittlerweile schon mit seinen schwindenden Tieren und dachte sich nichts weiter dabei. Mit genug Jack Daniels würde es nicht mehr lange dauern, bis er seine Hosen hochkrempelte und die Sterne anschrie, überzeugt davon, den ungesehenen Massen undokumentierter Eindringlinge aus dem Süden Angst einzujagen. Bevor er das Bewusstsein verlor, murmelte er etwas an die undankbaren Bürger von Cochise County und widmete ihnen ein Gebet, in dem er ihnen die Beulenpest und andere Demütigungen an den Hals wünschte.

Da das übliche Ziel des Abends schon fast in Reichweite war, brauchte Pardue ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass diese neue Stimme nicht seine eigene war, und auch um seine Glock zu ziehen.

Auf nichts Bestimmtes zielend, lallte er mürrisch: »Wer ist da? Zeig dich gefälligst!«

Die Antwort, gedämpft von dazwischenliegenden Felsen, die der Sprecher wohlweislich zwischen sich und den bewaffneten, betrunkenen Pardue platziert hatte, kam sofort. »Ich bin’s, Timon. Sam Wimble. Nicht schießen, bitte! Nimm die Waffe runter, okay?«

»Zeig mir deine Hände«, knurrte Pardue. »Und komm schön langsam ins Licht, wo ich dich sehen kann.«

Es war beinahe Schlafenszeit für Pardue. Er hatte das Feuer deshalb runterbrennen lassen. Wimbles Wampe und die staubigen Spitzen seiner Cowboy-Stiefel waren das Erste, was Pardue zu Gesicht bekam, der Rest seines alten Freundes folgte kurz darauf.

»Bist du allein?«, fragte Pardue.

»Nur Lobo und ich.« Wimbles Bluthund trottete jetzt hinter ihm in den Schein des Feuers. »Ich schwör’, du liest zu viel Louis L’Armour Westernkrimis.«

Pardue holsterte daraufhin seine Waffe. »Zuviel Louis L’Armour Westernkrimis gibt’s gar nicht. Willst du ‘n Drink?«

»Wenn du mich schon so fragst«, sagte Wimble. »Was ist das denn für ein Geruch?«

Als Pardue Whiskey in eine Blechtasse goss, sagte er: »Schätze mal, das ist Bucky. Hab‘ wohl vor dem Braten nicht das ganze Fell abgekriegt.«

Wimble nahm sich einen Moment, um das zu verdauen, und nutzte die Zeit, um aus seiner Tasse zu nippen. Pardue war dankbar für die Gesellschaft, aber Wimble, oder Deputy Wimble, der diensthabende Polizist und erstes Opfer des Richterin-Vasquez-Fiaskos, wäre nicht seine erste Wahl gewesen. Er schaffte es noch nicht mal in die Top 100, was das anging. Aber ein anderes menschliches Wesen war immer noch besser als nichts und sie hatten zusammen gearbeitet und waren beide im Namen der Political Correctness geopfert worden.

»Du hast mich gefunden«, sagte Pardue nach einer Weile. »Willst du dann jetzt die ganze Nacht nur dasitzen oder hast du mir auch was mitzuteilen?«

In Anbetracht der Mühen, die sich Wimble offensichtlich gemacht hatte, um ihn aufzuspüren, erwartete Pardue mindestens eine Entschuldigung für den dümmlichen Schlamassel, der ihn seinen Job gekostet hatte, das war jedoch nicht das, was er bekam.

»Da gibt’s ‘n paar Leute, die nach dir suchen, Timon.«

Das war unerwartet. Pardue hatte nämlich kaum Freunde. Er war seit neun Jahren geschieden und seine Frau hatte sich so schnell und erfolgreich neu verheiratet, dass es ihn immer noch maßlos ärgerte. Er und seine beiden Kinder sprachen auch nicht mehr miteinander. Er war ein strenger und manchmal sogar grausamer Vater gewesen und heutzutage, da Kinder neu definierten, was als Familie galt, und Blutsverwandtschaft offenbar nicht mehr zu zählen schien, wurde Disziplin nicht mehr geschätzt. Pardue gab verweichlichten TV-Psychologen und überladenen Selbsthilfe-Sektionen in Buchläden die Schuld für den Zerfall seines kleinen Clans.

Pardue sagte: »Geht mich nichts an und du sagst lieber keinem, wo du mich gefunden hast. Absolut niemandem. Ich zieh’ sowieso alle paar Tage weiter, nur, dass du’s weißt.«

»Ein richtiger Gesetzloser, vogelfrei. Also bist du morgen Abend hier oder einen Tagesritt weit entfernt?« Wimble war ein richtiger Klugscheißer, aber leider nicht sehr klug. Er hielt Pardue seine Tasse entgegen.

»Sam, was willst du hier?« Pardue wägte bereits die nachlassende Freude an Wimbles Gesellschaft gegen den beträchtlichen Schwund seines Whiskey-Vorrats ab. Wimble war fett, zweifellos, aber eine vergrößerte Leber machte den Großteil seines Bauches aus.

»Ich bin’s nicht allein, Timon. Du bist irgendwie berühmt geworden, nach allem, was passiert ist.«

Pardue schnaubte. »Ich hab die Abstimmungsergebnisse gesehen. Wer auch immer behauptet hat, es gäbe keine schlechte Publicity, ist ein verdammter Idiot.«

»Schätze schon, meistens jedenfalls. Aber wenn sich eine Tür schließt, geht woanders ein Fenster auf.«

Pardue strafte seinen früheren Hilfssheriff mit einem ungeduldigen, stechenden Blick. »Danke für deinen Besuch, Sam. Ist schon spät, du gehst jetzt besser.«

»Klar, Timon. Daheim schläft sich’s schließlich am besten.« Wimble nahm daraufhin Anlauf und kam endlich zur Sache. »Aber wie gesagt, es gibt Leute, die nach dir suchen. Die sind stinksauer, dass man dich den Löwen zum Fraß vorgeworfen hat. Haben die Nase voll vom CBP, das ständig groß ‘rumtönt, es würde was getan werden, und dann passiert wieder nix. Wie sie Teile der Grenze absichern und wir uns allein mit vier oder fünf Mann durchschlagen müssen, wenn wir fünfzig bräuchten. Wir sind jetzt der Flaschenhals. Cochise ist das weit offene Loch im Zaun und die ganzen Illegalen wissen das ganz genau.«

Wimble hielt ihm wieder seine Tasse hin. Pardue wollte sie nicht auffüllen, tat es aber doch. Die Feldflasche wurde immer leichter. Neugier, in Kombination mit Jack Daniels, machte Wimble nun schon beinahe interessant.

Nach einem weiteren großen Schluck sagte Wimble: »Diese Leute, von denen ich rede, die sind sauer, aber die gehören nicht zu denen, die ums Gurkenfass sitzen und rummeckern. Die wollen aktiv werden.« Wimble hatte aktiv besonders betont, auf die gleiche Weise, wie Personalverantwortliche Bewerber mit gepflegter Ausdrucksweise bevorzugten und damit eigentlich keine Ausländer meinten. »Timon, du bist schon so lange hier draußen, dass du gar nicht weißt, dass man dich inzwischen für einen richtigen Helden hält.«

»Ich werde mich ganz bestimmt nicht noch einmal zur Wahl aufstellen lassen.«

Wimble sah für einen Augenblick verwirrt aus, dann setzte er wieder diesen verschwörerischen Blick auf. »Niemand hat gesagt, dass du wieder für das Sheriff-Amt kandidieren sollst. Diese Leute, von denen ich rede, die haben keine Zeit für diesen Quatsch, genauso wenig wie du. Himmel, die Hälfte von denen glaubt, dass es überhaupt kein politisches Amt mehr gibt, das noch einen Pfifferling wert ist. Die glauben noch nicht einmal an Politik. Die sind eher proaktiv. Die handeln selbstbestimmt.«

Pardue konnte sich nun nicht mehr zurückhalten, deshalb fragte er: »Wer sind die?«

»Rancher, Viehzüchter hauptsächlich. Sogar welche, deren Farmen nicht an die Grenze stoßen.«

Pardue verstand das Ganze jetzt langsam besser. »Ach du Scheiße, Wimble. Die Kerle haben ‘nen Hass auf die Illegalen, aber die wollen genauso sehr Rabatz machen, weil sie ihre Weidegebühren nicht zahlen wollen. Die hören den ganzen Tag America, Why I Love Her, als wär’s die Gettysburg-Ansprache.«

Wimble plusterte sich empört auf. »Mach‘ dich bitte nicht über den Duke lustig, Timon. Nicht vor diesen Jungs. Ich meine, John Wayne ist für die ein Held. Aber er ist nicht hier, um jemanden anzuführen, Gott hab ihn selig. Und es sind nicht nur Kerle. Es gibt auch ‘ne Frau im Komitee.«

»Adele Congreve.« Pardue spuckte ins Feuer.

Wimble schaute ihn überrascht an. »Das stimmt.«

Pardue kannte Miss Adele, wie sie sich gern nennen ließ, ziemlich gut. Eine dynamische, wohlhabende, ordinäre Frau, die von ihrem Ehemann, dem Viehzüchter und Ölmagnaten Ricky-Ray Congreve, beerbt worden war. Sie war irgendwo in den Fünfzigern, wahrscheinlich für immer, und gehörte zur festen Einrichtung des Stadtrats. Davor hatte sie bei allen Meetings in der ersten Reihe gesessen und ihre diversen preisermäßigten Schönheitsreparaturen und -operationen, Einspritzungen und Absaugungen zur Schau gestellt. Die Frauen der Rancher hatten ihrer Double-R-Ranch die Bezeichnung Doppel-D gegeben. Sie wusste das und es war ihr herzlich egal. Die Frau kontrollierte ihre Zäune immer noch selbst und packte mit an, soviel war sicher.

Congreve reiste immer von ihrer Ranch zu den Ratstreffen in Bisbee in einem Konvoi aus nicht weniger als drei geschwärzten, gepanzerten Chevy Suburban. Die Einheimischen tauchten immer bei den Meetings auf, um darauf zu wetten, welcher der drei Wagen sie letzten Endes ausspucken würde, da sie aus Angst vor Kidnappern jedes Mal in einem anderen Wagen fuhr.

An heiteren Tagen, wenn Adele Congreve nicht so sehr nach einer Parade war, flog sie mit dem Hughes OH-6 Cayuse ihres verstorbenen Mannes zum Helikopterlandeplatz des Copper Queen Hospitals. Es war eine ausrangierte Version des AH-6 Kampfhubschraubers, den Ricky-Ray in Vietnam geflogen hatte, und er hatte seiner Frau beigebracht, ihn ebenfalls zu fliegen. Mit Adeles bewaffnetem Bodyguard auf dem linken Sitz erinnerte es noch mehr an das Killer-Ei, das ihr Mann auf seinen Missionen geflogen hatte. Sie landete normalerweise auf dem Dachlandeplatz der neuen Notaufnahme, für den sie bezahlt hatte, um ihr Oxycodon-Rezept abzuholen, was sie nur in ihrer Freizeit nutzte oder wenn Ricky-Rays Abwesenheit ihr besonders zusetzte.

Mit dem Rezept in der Hand verließ sie die Notaufnahme immer in einem der drei Suburban, die vor der Tür auf sie warteten. Adele verabscheute die illegalen Einwanderer, die von der Grenze aus über ihr Grundstück wanderten. Dies kam einigen Leute reichlich verlogen vor, da die Mutter ihres geliebten Ricky-Rays selbst aus Chiapas stammte.

Auf die Erwähnung ihres Namens hin dachte Timon Pardue nicht zum ersten Mal darüber nach, dass Adele Congreve eine komplexe und vielleicht missverstandene Frau war.

»Und was will sie von mir?«, fragte Pardue nun.

»Sie will sich nur mal mit dir treffen. Sie und ein paar andere«, erklärte Wimble.

»Mir gefällt’s hier aber ganz gut.«

»Dann trefft euch doch hier. Timon, die meinen’s ernst. Du bist ihr Mann. Lass sie doch einfach mal reden.«

Timon war inzwischen gelangweilt und einsam genug, um intelligente, verständnisvolle und bemitleidende Gesellschaft nicht einfach abzulehnen. Jetzt den Schüchternen zu spielen, würde nur bedeuten, den durstigen Wimble noch länger hierzuhaben, als Pardue lieb war.

»Sam, mir ist wirklich egal, was diese Leute vorhaben. Wenn sie sich hier rausschleppen wollen, um mit mir zu reden, kann ich sie nicht davon abhalten. Das ist schließlich ein freies Land.«

»Damit hast du verdammt recht, Timon. Und wir wollen sicherstellen, dass es das auch bleibt.«

KAPITEL 5

Blackshaw hatte seinen Platz im Bus mit Bedacht auswählen wollen, aber vergebens. Alle Fensterplätze waren bereits besetzt und er schloss auch die hinteren Plätze nahe der stinkenden Toilette aus. Außerdem sah er davon ab, dort zu sitzen, wo schwergewichtigere Passagiere vermutlich wegnicken würde und Ellbogen und Schultern über die Armlehne in sein Territorium überquellen würden. Man konnte sich schließlich nicht ewig in den Gang lehnen.

Nach einer kurzen Beurteilung setzte sich Blackshaw schließlich leise neben einen weißen Burschen, der auf linker Seite in der Mitte des Busses gegen ein Fenster gelehnt döste. Der Typ war Anfang zwanzig, mit geschorenem Kopf und einem kleinen Verband an seiner rechten Schulter. Der Verbandsmull sah einigermaßen frisch aus und die Jeans und das Unterhemd des Jungen wirkten sauber. Er war spindeldürr und seine Füße hatten sich gemeinsam mit seinen kantigen Knien und Ellbogen in all den richtigen Stellen der Armlehne und des Kanals der Klimaanlage an der Seitenwand verklemmt, um ihn in aufrechter Position zu halten, obwohl er tief und fest schlief. Ja, Blackshaw hatte das schwarze Klappmesser in seiner rechten Hosentasche durchaus bemerkt, aber das war für Jungs heutzutage normal. Zu guter Letzt und vielleicht am allerwichtigsten, war es, dass der Junge nicht schnarchte.

Der Bus fuhr pünktlich von der Haltestelle in Washington, D.C. los in Richtung Los Angeles. Blackshaw musste in Richmond und Oklahoma City noch einmal umsteigen, aber der dritte Bus würde ihn den Rest des Weges bis zur Stadt der Engel bringen. Blackshaw hatte erst kürzlich eine ziemliche Menge Ärger bei der Jagd auf einen Sniper namens Nitro Express in Los Angeles gehabt, aber er verspürte dennoch den Drang, den Ort des Geschehens noch einmal zu besuchen. Er hielt LA für das absolute Gegenteil von Smith Island, sogar noch fremder als das New York seiner Erinnerung, von wo aus er in die Nitro Express-Geschichte verwickelt worden war. Der Big Apple war immerhin noch eine Insel, wenn auch knapp sechshundert Meter mit Glas und Stahl in die Höhe gebaut, und Blackshaw hatte Inseln definitiv satt.

Er sah aus dem Fenster, als der Bus den Potomac überquerte. Er erinnerte sich an ein Linienflugzeug, das in den frühen Achtzigern auf dem Weg nach Tampa auf die Brücke und danach in den eisigen Fluss gestürzt war. Nur fünf Passagiere hatten überlebt. Vier Autofahrer waren ebenfalls auf der Brücke ums Leben gekommen. Als Inselbewohner sah Blackshaw Brücken nicht nur als Straßen über Wasser an, sondern auch als Überführungen in eine größere Welt. Was die Opfer des Air-Florida-Flugs anging, hatten diese ihre Überführung zwar bekommen, aber Särge und Urnen waren gewiss nicht die erhofften Bestimmungsorte gewesen. Vielleicht waren sie am Ende ja doch besser weggekommen. Es kam ganz darauf an, was man von Tampa hielt.

Als der Bus von der Brücke nach Virginia rollte, unversehrt und ohne Zwischenfälle, rührte sich der Bursche neben ihm, grummelte und wachte auf. Für einen Augenblick hatten seine Augen eine schläfrige, jungenhafte Unschuld. Dann, als er vollends wach wurde, rückten gewisse Defizite seiner Persönlichkeit in sein Gesicht und verliehen ihm etwas Rattiges.

»Was guckst du denn so dumm?«

»Schaue nur aus’m Fenster. Nichts für ungut«, sagte Blackshaw monoton.

Der Junge warf noch einen langen Blick auf Blackshaw, registrierte dessen Größe und den Ausdruck vollkommener Furchtlosigkeit in seinen Augen und nickte dann kurz. Zufrieden, dass der gebührende Respekt, der ihm zustand, gezollt worden war.

Blackshaws Mission erwachte nun wieder in seiner Seele. Er betrachtete den Jungen seinerseits und glaubte, dass eine physische Konfrontation unwahrscheinlich war. Sein Reisegefährte war vermutlich den Großteil seines Lebens gemobbt worden. Er fragte sich, wie tief diese Aufsässigkeit ging, und dachte sich, dass dieser Junge deshalb mit Gemeinheit statt mit Freundlichkeit gegenüber Leuten wie ihm auf das Leid seiner Kindheit reagierte. Da es nur wenige Zielscheiben in der Welt gab, die vor so einem kleinen Scheißer klein beigaben, vermutete Blackshaw, dass er bei der Verübung von Rache Hilfe hatte. Manche, aber zum Glück nur wenige, gingen daraufhin zum Militär. Er war schon Typen wie ihm begegnet. Aber für diesen Kollegen hatte vielleicht auch eine Gang den Zweck erfüllt. Nun war Blackshaw doch neugierig, was sich unter dem Verband verbarg.

»Neues Tattoo?«, fragte er deshalb.

»Farbe auf ‘nem alten.« Der Junge konnte es offensichtlich kaum erwarten, mit seinem Kunstwerk anzugeben, aber aus irgendeinem Grund zögerte er nun.

»Hab‘ auch drüber nachgedacht, mir eins zuzulegen«, sagte Blackshaw. »Zuerst fiel mir nichts ein, womit ich lange glücklich wäre.«

»So jung biste nicht mehr. Brauchst dich damit nicht mehr lange rumschleppen.« Relativ gesehen hatte der Junge vielleicht recht. Er lotete offenbar gerade Blackshaws Frustrationsgrenze aus. Solche Kerle profitierten häufig von der Höflichkeit der restlichen Welt und nutzten diese tief verwurzelten, ungeschriebenen Spielregeln einer zwischenmenschlichen Gesellschaft, um ernsthaftem Ärger aus dem Weg gehen zu können.

Blackshaw würde allerdings nur eine sehr begrenzte Menge an Unsinn von diesem Bengel tolerieren. Mit ruhiger Stimme gab er zu: »Auch wieder wahr. Aber bis ich was finden konnte, was ich mir für den Rest meines Lebens anschauen wollte, war meine Pelle schon zu lädiert, um noch ‘ne gute Stelle zu finden. Hab inzwischen aber trotzdem eins.«

Der Junge setzte sich nun gerader hin und schenkte Blackshaw mehr Aufmerksamkeit. »Lädiert?«

»Narben. Verbrennungen. ‘N paar Kugeln. Ben Blackshaw mein Name.«

Seine Prahlerei hatte offensichtlich den gewünschten Effekt auf den Jungen. »Rufus Colquette. Kugeln, hm? Wie von ‘ner Schießerei?«

»So ungefähr. Mit der Taliban.«

Colquette verzog das Gesicht. Nicht das, was Blackshaw erwartet hatte.

»Du warst bei der Army?«

Blackshaw schob die Konversation langsam voran, von seiner Vergangenheit mehr geschädigt als beschämt. »Navy.«

Colquette guckte selbstgefällig, als hätte er Blackshaws Lüge enttarnt. »Die Taliban hat neuerdings Schiffe?«

»Die Navy hat die SEALs.« Entgegen seiner eher verhaltenen Natur entblößte Blackshaw kurz sein eigenes Schultertattoo eines Adlers, der einen Dreizack, einen Anker und eine Steinschlosspistole in den Fängen hielt. Blackshaw spürte instinktiv, dass an diesem Jungen mehr dran war, als Elend und Angeberei … etwas so Bedürftiges, dass es ihn gefährlich machte.

Inzwischen wirkte Colquette wütend und seine nächsten Worte bestätigten Blackshaws Ahnung. »Oh. Also setzt die Navy sich jetzt für Übersee-Sandnigger ein, Big Ben?«

Blackshaw fragte sich, ob sich der Knoten in seinem Magen auch auf seinem Gesicht abzeichnete. »Ich glaube, dass es an dem Tag eher um Demokratie ging.«

Rufus Colquette schnaubte. Blackshaw vermutete, dass er zu viele Silben verwendet und den Jungen damit verwirrt hatte.

Einen Augenblick später lehnte sich Colquette weit nach links und griff in seine rechte vordere Hosentasche. Nachdem er mit seinen Fingern darin herumgewühlt hatte, als ob er einen Ausschlag kratzte, zog er schließlich etwas hervor, behielt es aber in seiner Hand verborgen.

»Ich zeig’ dir was, großer, böser Ben. Ich zeig’ dir, was ich denke, was den Einsatz eines guten Mannes wert ist.«

Nach einem verstohlenen Blick nach links und rechts, der so deutlich und auffällig war wie der eines Stummfilm-Bösewichts, öffnete er langsam seine Hand.

Blackshaw war sich einen Augenblick lang nicht sicher, was er da ansah. Colquettes Augen brannten, gespannt auf seine Reaktion. Der Gegenstand, ein Knäuel schwarzer, gekräuselter Fäden war mit Fusseln und anderen Staubpartikeln bedeckt. Blackshaw versuchte zu verstehen, was er Colquettes Meinung nach sofort erkennen müsste. Es schien so, als hatte Colquette einen Friseurladen mit mindestens einem schwarzen Kunden besucht und aus Gründen, die einzig und allein ihm bekannt waren, eine Handvoll Haarbüschel vom Boden aufgelesen.

Colquette knetete das Haarknäuel und schob es in seiner Hand hin und her, dann drehte sich Ben der Magen um. Doch er blieb ruhig. Als Colquette das Haar wie einen Massageball drückte, sah Blackshaw, dass dies gar keine losen Haare waren. Ein großes Stück Kopfhaut hielt sie alle zusammen.

»Ich bin auch ein Soldat, Big Ben.« Rufus Colquette betrachtete seine Trophäe mit Stolz.

Angewidert reagierte Ben auf seine Entscheidung, bevor ihm klar wurde, dass er eine getroffen hatte. Er lehnte sich nach vorn und blockierte auf diese Weise die Sicht der anderen Passagiere. »Sei vorsichtig damit, Rufus. Wenn das jemand sieht …« Er überließ den Rest des Satzes Colquettes Vorstellungsvermögen.

»Ich hab aber keine Angst.« Doch Colquette knüllte den grauenvollen Gegenstand trotzdem zusammen, bis er wieder in seiner Hand verschwand.

»Schätze nicht. Wo hast du das denn gekauft?«, fragte Ben in der Hoffnung, dass es zu mehr Informationen führte.

»Gekauft?« Colquette nahm offenbar Anstoß an dieser Anschuldigung. »So etwas kann man doch nicht kaufen. Das verdient man sich. Man nimmt es sich!«

»Oh. Okay, Rufus.«

»Und das hab ich getan! Hier, sieh mal!« Colquette schob den langen, schmutzigen Daumennagel seiner linken Hand unter das Klebeband des Verbands an seiner rechten Schulter. Blackshaw lehnte sich nach hinten, um besser sehen zu können. Colquette schälte nun den Verband ab und da war es. Ein Eisernes Kreuz, wund und frisch ausgefüllt mit roter Tinte und mit dunkelblauen oder vielleicht auch schwarzen Streifen, die die roten Felder nach dem Muster der Konföderiertenflagge kreuzten. Darunter stand die Nummer 88.

»Hab‘ ja gesagt, ich bin ein Ritter. Weißte, was ich meine?«

»Glaube schon.« Rufus Colquette gehörte also dem Klan oder etwas in der Richtung an. Oder vielleicht war er auch einfach nur ein Möchtegern-Skinhead, der Hass-Symbole sammelte. Angesichts der Trophäe vermutete Blackshaw, dass dieses Tattoo das Zeichen einer bestimmten Gang war. Die 88 bezeichnete zweimal den achten Buchstaben des Alphabets, also HH oder Heil Hitler.

»Mensch, Rufus. Ich mein’, das is’ ‘n nettes Tat’ und so und die Haare sind auch cool, aber ich mein’, echt jetzt?«

Colquettes Bedürfnis, Blackshaw zu beeindrucken und ihn zu überzeugen, wurde nun immer stärker und verzweifelter. Er deckte das Tattoo wieder ab und griff in seine linke hintere Hosentasche. Nach ein paar Momenten des Wühlens oder des Kratzens, Blackshaw war sich da nicht ganz sicher, zog er ein Handy hervor. Das Smartphone war ramponiert, zerkratzt und ungepflegt. Es war auf jeden Fall ein privates Telefon und kein Wegwerfgerät.

»Guck dir das mal an, Mann.« Colquette öffnete jetzt die Bildergalerie. Er blätterte rückwärts, vorbei an den drei neuesten Fotos. Sie huschten extrem schnell über den Schirm, aber Blackshaw konnte trotzdem erkennen, dass es Aufnahmen von Colquette zusammen mit zwei weißen Männern, die Gewehre hielten, waren. Umgebaute AR-15er. Der Junge hörte nun auf zu blättern.

Wieder einmal sah sich Rufus Colquette auffällig um, um sicherzugehen, dass nur Blackshaw zuschaute. Dann hielt er ihm das Telefon entgegen.

Als Veteran und manchmal nicht ganz ungefährlicher Zivilist hatte Blackshaw schon furchtbare Gemetzel mit eigenen Augen sehen müssen. Leichen, häufig frische, und manchmal auch in einem gewissen Alter. Einmal hatte er auf Patrouille mal einen Arm gefunden. Nur einen Arm, abgefetzt vom Körper bei irgendeiner Explosion. Aber rund um den Arm herum hatte es keine Leiche gegeben. Ein simples Gruppenfoto hätte ihn deshalb nicht so schocken sollen, wie das Bild, das Colquette ihm jetzt preisgab.

Auf dem Foto stand Rufus Colquette neben den beiden Männern von den anderen Fotos. Einer war ein kleinerer, muskulöser Mann, vielleicht Mitte fünfzig, mit kurzgeschorenen grauen Haaren. Er strahlte durch seine gerade Haltung Autorität aus, aber der Ausdruck seiner Augen war der eines Untergebenen und Lakaien. Der andere war nicht viel größer, etwa Mitte vierzig, mit längerem, angegrautem Haar und Muskeln, die langsam Fett wichen. In den Augen des größeren Mannes herrschte eine düstere Leere. Beide Männer trugen khakifarbene Kampfhosen und olivfarbene Hemden, mit akkurat bis zum Bizeps hochgerollten Ärmeln. Sie hatten ihre AR-15er in einer Hand und hielten mit der anderen große Kampfmesser gegen ihre Herzen als eine Art Ehrenbezeugung.

Rechts hielt Colquette ein Messer, vermutlich das, was in seiner Tasche steckte. Die Klinge auf dem Foto war ausgeklappt und voller Blut. Außerdem gab es noch eine vierte Person auf dem Bild. Es war ein Junge, der zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein mochte, aber in Anbetracht seines Zustands war sein richtiges Alter nur noch schwer schätzbar. Der Junge war schwarz, nackt und an einem Baumstamm in einem dichten Wald festgebunden. Es musste ein sehr abgeschiedener Fleck sein, denn angesichts der Wunden des Jungen musste er sehr laut geschrien haben, und trotzdem war er nicht geknebelt.

Blackshaw konnte seine Augen einfach nicht von dem Kopf des Jungen abwenden. An den Seiten waren nur noch ein paar Haare übrig; kleine Büschel über den Ohren. Der Rest des Schädels war eine rohe Glatze aus Knochen und Blut, das in seine Augen troff. Entsetzte Augen starrten Blackshaw an. Unfassbar angewidert begriff Blackshaw, dass der Junge noch gelebt hatte, als das Foto gemacht worden war, doch das Kind hatte die darauffolgende Stunde wahrscheinlich nicht mehr erlebt.

Im krassen Kontrast zu den äußersten Qualen auf dem Gesicht des Opfers stand hingegen das überhebliche, breite Grinsen, das in den Visagen seiner Peiniger zu sehen war. Als sein Blick ein letztes Mal über das Bild wanderte, bemerkte Blackshaw Colquettes andere Hand auf dem Foto – mit der er den Skalp umklammerte.

KAPITEL 6

Timon Pardue brach am nächsten Morgen, trotz des Katers, der in seinem Schädel wütete, sein Camp ab. Gemächlich belud er Popper mit seinen Sachen und führte das Tier dann den steinigen Abhang hinunter in das Gebüsch, das rund um den kleinen Bachlauf am Boden der Schlucht wuchs. Ihm war bewusst, dass Wimble und sein komischer Kader vielleicht nach ihm suchten, aber wenn er hier verharrte und zu leicht zu finden war, konnte es seiner Meinung nach den Eindruck erwecken, er wäre berechenbar, oder schlimmer noch, willens, auf ihre Seite zu wechseln.

Nach einem zweistündigen Spaziergang blieb Popper stehen, fing an zu wiehern, zerrte kräftig an seinen Zügeln und riss sie Pardue dann fast aus den Händen. Pardue war kurz davor, wütend auf sein Pferd zu werden, als er die eng gewundene Klapperschlange zwei Meter vor sich erblickte und ihre unverkennbare Rassel hörte. Es war schwer zu sagen, wie lang sie tatsächlich war, so eng zusammengerollt, wie sie war, aber sie war zweifellos riesig. Bevor er sich rührte, betrachtete er die Umgebung um sich und Popper herum, um sicherzugehen, dass er sich am Rande des Schlangenterritoriums befand und nicht genau in dessen Nest gestolpert war. Der Weg zurück den Pfad entlang war zum Glück frei. Pardue führte Popper gute drei Meter rückwärts, bevor er das Pferd wendete, noch fünfzig weitere Meter wegbrachte und an einer einsamen Kalifornischen Washington-Palme festband. Die Pflanze war womöglich ein vertriebener Flüchtling des Kofa Naturschutzgebiets hundert Meilen nordwestlich von hier. Oder vielleicht war es auch ein Überbleibsel aus der Zeit der Postkutschen, in der man schattenspendende Zwischenstationen angelegt hatte. Ein Indianer oder ein Vogel hatte womöglich einen Samen fallenlassen. Pardue staunte noch eine Weile über das kleine Wunder der Natur, bis er sein Henry-Gewehr aus dessen Holster zog und den Pfad hinunterlief.

Pardue war nur ein paar Minuten weg gewesen, aber als er an die Stelle zurückkehrte, an der Popper gescheut hatte, hatte die Klapperschlange den Weg bereits wieder freigegeben. Pardue folgte einem von der Sonne erwärmten Streifen den Hang hinauf, aber da Popper nicht da war, um ihn zu warnen, bewegte er sich dieses Mal mit größerer Vorsicht. Und da war sie auch schon, dick wie ein Männerarm schlängelte sie sich immer höher, bis zu einer Stelle, an der sie für den Rest des Nachmittags in der Sonne baden konnte. Dieses Vieh war ein Monster, knapp zwei Meter lang und mit einem Kopf so groß wie ein Spaten … so kam es Pardue zumindest vor.

Der frühere Sheriff kniete sich hin und nahm die Schlange sorgfältig ins Visier. Einen Augenblick später hallte der Knall seines Gewehrs zwischen den Hängen und das Tier krümmte sich kopflos in Pardues Griff.

Als er seine Beute zusammenrollte und in die Satteltasche stopfte, fiel sein Auge auf ein Knäuel aus Gestrüpp, etwas weiter den Hang hinauf. Irgendetwas war eigenartig daran. Normalerweise konnte Pardue das Hindernis, das die Sträucher und Zweige eingefangen hatten immer gut erkennen. In einem trockenen Flussbett war es häufig ein Baumstamm oder Unrat, der das Zentrum des Wirrwarrs bildete. Bei einem Bachlauf war es manchmal ein alter Biberdamm, um den sich Gestrüpp gesammelt hatte, zumindest drüben im Osten. Diese Ansammlung hier schien allerdings eher aus Ranken und Wurzeln zu bestehen. Pardue trat näher. Nein, dies war Müll aus Menschenhand.

Eine Reihe wurzelartiger Fäden wand sich den Hügel hinauf; niedergedrückt vom Lauf der Zeit und vielleicht dem gelegentlichen Niederschlag hatten sie die Konturen und die Farbe des Bodens und der Felsen angenommen. Die Ranken endeten an einer glatten, ausgewaschenen Fläche. Wäre die Schlange nicht gewesen, hätte er es niemals bemerkt, aber jetzt wusste er, was es war.

Ein alter Fallschirm lag dort ausgebreitet vor ihm, quer über den Hang drapiert, aber bedeckt von Sand und Geröll und halb verrottet, was den Boden so glatt wie getrockneten Schlamm aussehen ließ.

An den Stellen, an denen der Stoff die Sandtöne der Wüste nicht angenommen hatte, schimmerte das blasse, sonnengebleichte Armeegrün hervor.

Pardues Blick folgte den Fangleinen des Fallschirms, bis zu dem Buschknäuel. Die Zweige und Gräser hatten sich zusammen mit Disteln und Flockenblumen um etwas Großes gewickelt. Er näherte sich weiter und spähte auf der Suche nach Kleidung, Knochen oder noch mehr Schlangen in die Schatten hinein. Er konnte sich nicht entsinnen, eine Meldung über fehlgeschlagene Fallschirm-Missionen oder vermisste Springer bekommen zu haben. Vielleicht war dieser Kerl ja Teil einer lang vergessenen Trainingsmission von Fort Huachaca gewesen. Womöglich hatte es diese arme Sau niemals in die Zeitung geschafft, weil die Mission streng geheim gewesen war oder weil er Teil eines ausländischen Militäraustauschs gewesen war.

Er hob einen Stein auf und warf ihn ins Gebüsch, um mögliche Schlangen zu verscheuchen. Anstelle von Rasseln vernahm er allerdings einen dumpfen Aufschlag. Ein weiterer Stein landete mit dem gleichen Ergebnis dort.