Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ohne jede Erinnerung daran, wie er dorthin gelangt ist, erwacht ein Mann in der mächtigen Krone eines Baumes - mitten im Nirgendwo. Auf der Suche nach seinem verlorenen Leben betritt er eine fremdartige Welt tief unter der Erdoberfläche - ein verborgenes Reich voller tierischer und fantastischer Wesen, die ihn scheinbar besser kennen als er sich selbst. Manche von ihnen erinnern ihn seltsam vertraut an Menschen, die er einst kannte. Fast wirkt alles wie ein nie enden wollender Traum, und so beginnt die sonderbare Reise des Mister A. Eine Geschichte über tiefe Freundschaft, das Überwinden innerer und äußerer Hürden - und vor allem über den Mut, dem eigenen Herzen zu folgen. Thema des Buchs: - Eine Reise zu dir selbst - Im Zentrum der Geschichte steht die leise, aber kraftvolle innere Stimme, die in jedem von uns wohnt - eine Stimme, die weiß, wer wir sind, was wir wirklich brauchen und wohin wir eigentlich wollen. Im Roman nimmt sie Gestalt an durch den kleinen Luke, das Symbol unseres inneren Kindes. Mister A steckt fest in einem Leben, das ihn nicht erfüllt: Er geht einer Arbeit nach, die er verabscheut, und lebt an der Seite einer Frau, die er nicht liebt. Getrieben vom Wunsch, es allen recht zu machen, hat er sich selbst aus den Augen verloren. Doch auf seiner fantastischen Reise begegnet er surrealen Wesen, muss sich seinen Ängsten stellen - und findet Schritt für Schritt zurück zu seinem Herzensweg. Ein Hauch von Alice im Wunderland Anspielungen auf Lewis Carrolls Alice im Wunderland sind bewusst gewählt - fein verwoben und niemals aufdringlich. Leser:innen, die das Original lieben, werden sie entdecken und schätzen. Wie bei Carroll wird auch hier das Träumerische mit tiefgründigen Fragen über Identität, Sinn und Selbstannahme verbunden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 175
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für Anna, meine Korrekturelfe mit dem scharfen Blick und dem noch schärferen Humor – dein Witz, dein Rat und deine Geduld haben jedes Kapitel besser gemacht. Ohne dich gäbe es dieses Buch nicht.
Zur Autorin:
Sarah Backes, 1987 geboren, hat Archäologie und alte Sprachen in Tübingen studiert – immer auf der Suche nach Geschichten, die zwischen den Zeilen der Vergangenheit verborgen liegen.
In ihren Romanen verbinden sich Abenteuerlust und Fantasie mit einer tiefen Liebe zur Natur und zu alten Mythen.
Sie lebt mit ihrer Familie auf der Schwäbischen Alb, wo wilde Kräuter am Wegesrand wachsen und alte Legenden durch die Wälder flüstern. Wenn sie nicht schreibt, erforscht sie die Welt – sei es mit dem Wohnwagen, einem Notizbuch oder einem neugierigen Blick in längst vergessene Zeiten.
Bisher erschienen:
Die Türen von Theseus
Elenor – Stimmen
Coming soon: Kyrill (2. Teil von Elenor)
VORWORT
„Ein Buch ist wie eine Reise, die du in deinen Händen hältst.“ Darum lade ich dich ein, mit Mister A auf eine Reise zu gehen. Eine Reise, die Mut erfordert, nicht immer glücklich stimmt, aber so viel bereithält, dass du daran wachsen kannst.
Es ist eine Reise, die zum Teil aus meinen eigenen Meditationsbildern entstanden ist. Das Reich der Schatten und das blaue Volk sind mir in tiefer Trance zugeflogen. Ebenso intuitiv habe ich sie in ein märchenhaftes Abenteuer eingeflochten, voller Wunder und Möglichkeiten. Der spirituelle Kern der Geschichte ist eine Weisheit, die von Mister A gelebt werden möchte. Was wollen wir wirklich vom Leben? Es ist die leise, aber kraftvolle innere Stimme, die in jedem von uns wohnt – eine Stimme, die weiß, wer wir sind, was wir wirklich brauchen und wohin wir eigentlich wollen.
Während ich diese fantastische Reise schrieb, las ich Alice im Wunderland von Lewis Carroll und war sogleich inspiriert von dem philosophischen Tiefgang. Anspielungen an den Klassiker sind somit bewusst gewählt, aber fein verwoben und niemals zu aufdringlich. So findet sich Mister A – genauso wie Alice – in einem fremden Land unterhalb der Erdoberfläche wieder und kann zuerst nur staunen über deren seltsame Bewohner und ihr feines Gespür für noch seltsamere Dialoge. Wie bei Carroll wird auch hier das Träumerische mit tiefgründigen Fragen über Identität, Sinn und Selbstannahme verbunden.
Es erschien mir geradezu natürlich jedem Kapitel eine Bleistiftzeichnung beizufügen. Obwohl es mir nicht leicht viel und ich seit Jahren nicht mehr wirklich gezeichnet habe, hat es mir dennoch viel Freude gemacht. Die Bilder sind nicht perfekt und das sollen sie auch nicht sein. Kein KI und kein Filter. Sie verleihen der sehr persönlichen Geschichte einen letzten Schliff – eine ganz eigene Note. Denn zu einer märchenhaften Geschichte gehören Bilder dazu. Und was kann es Schöneres geben, wenn diese von der Autorin selbst stammen? (Auch wenn sie keine Künstlerin ist.)
Interessanterweise ist dies nun mein dritter Roman, der sich um das Thema Erinnerungen dreht. Wie wichtig ist es, dass wir uns erinnern? Wie viel unserer Identität setzt sich aus Erinnerungen zusammen? Oder können wir diese getrost vergessen, nie mehr zurückschauen und ein neues Leben beginnen? So viele Fragen und ich kenne nicht alle Antworten. Aber vielleicht kann ich zum Nachdenken anregen.
So, jetzt wünsche ich viel Vergnügen beim Träumen und Hinwegträumen in eine andere Welt, die so friedlich neben unserer existiert!
Sarah Backes
Juli 2025
Inhaltsangabe
Eine Reise beginnt
Dunkelwald
Die Höhle des Maulwurfs
Das Wegekreuz
Die Hexe
Wolkenschlösser
Die Zwillingssteine
Das blaue Volk
Herzensweg
Die Sphinx
Das Reich der Schatten
Felsgesichter
Spiegel der Erkenntnis
Der Baum der Entscheidung
Ende und Neubeginn
Der rötliche Schimmer einer sterbenden Sonne hüllt das Tal in ein letztes, glühendes Licht. Sanfte Strahlen fallen auf einen menschlichen Körper, der in Seilen hängt. Überall umgeben ihn Schnüre, Stoffe und Gurte, weben ein todbringendes Netz mehrere Meter über dem Erdboden in einer mächtigen Baumkrone. Reglos verharrt das Bündel, wie vom giftigen Biss eines hungrigen Schlangengetiers betäubt und somit endgültig verloren scheint.
Doch dann beginnt das menschliche Bündel sich zu bewegen, Lebensgeister fahren in seine vormals müden Glieder. Erstaunlich rasch kann der Mann sich aus dem Wirrwarr befreien und macht sich an der dunklen Rinde des Baumes zu schaffen. Während die Finger nach Halt tasten, setzt er einen Fuß nach dem anderen auf dicke Äste und nähert sich seinem nächsten Ziel – dem Boden.
Während er hinunterklettert, schießen ihm erstmals Zweifel in den Kopf.
Was mache ich hier eigentlich?
Ich bin auf einem Baum, so viel steht schon mal fest.
Grübeln ist nicht seine Art. Aber seltsam ist seine Situation schon. Er kann sich nicht entsinnen, diesen Ort zu kennen. Weder den Baum, noch den Wald, welcher ihn schweigend umgibt. Oder gar an ein Gestern. Gestern liegt ihm so fern wie die verlorenen Münzen am Grund eines metertiefen Wunschbrunnens, deren Funkeln an der Oberfläche nur noch zu erahnen ist. Nicht einmal, wie er hierhergelangt ist.
Momentan erscheinen ihm solche Gedankengänge beinahe unwichtig. Er will nur von dem Baum herunterkommen, solange er noch die Hände vor Augen sehen kann.
Vordrängende Schatten haben sich über die letzten roten Lichtschimmer gelegt und sie in einen schwarzen Mantel gehüllt. Die raue Borke des Baumes hat bereits einen dunklen Grauton angenommen und der Abstieg kommt ihm endlos lang vor. Fast wie in einem alten Märchen, an welches er sich spontan erinnert.
Die Hauptfigur der Erzählung ist ein aufgeweckter Jüngling. Dieser steigt mehrere Jahre an einem gigantischen Baum empor, trifft dort auf verwunschene Gestalten und ganze Häuser, die auf den prächtigen Zweigen Platz finden. Bei diesem Gedanken wird ihm ganz schwindelig. diesem Gedanken wird ihm ganz schwindelig. Und als hätte der Schwindel seine Füße ergriffen, rutschen diese tatsächlich von der Borke ab. Seine Hände verlieren ruckartig ihren Halt und segeln mit den Füßen und dem Rest des Körpers durch die dunkle Nacht.
Im nächsten Augenblick erwartet er mit zugekniffenen Augen und einem Schrei auf den Lippen den harten Aufprall – doch nichts passiert. Er fällt und fällt. Glatt würde er behaupten, alles passiere in Zeitlupe. Den mächtigen, nun schwarzen Stamm zu seiner Seite saust er seltsam leise dem Erdboden entgegen, der nicht mehr zu existieren scheint. Er hat reichlich Zeit, sich im Fall umzusehen, weshalb er ganz vergisst, sich abermals an der Rinde festzuklammern. Ringsum Dunkelheit und der schwarze Baum. Während er weiterhin fällt, betrachtet er dessen rissige Rinde und dicken Äste, an denen er gleich einem surrealen Traum unverletzt vorbeirauscht. Dann weiten sich seine Augen vor Staunen.
Da war doch was? Nein, das kann nicht sein!
Dennoch, er könnte schwören, beim Vorbeifliegen eine Nische im Stamm entdeckt zu haben. Kleine Puppenstühle, ein dazu passender Tisch und weitere winzige Möbelstücke, die sich seiner sonst so bescheidenen Fantasie entziehen, fügen sich zu der Einrichtung eines Miniatur-Hauses zusammen.
Also doch ein Märchen, geistert es durch seinen Kopf, als wäre dies die natürlichste Erklärung der Welt.
Bevor er genauer hinsehen kann, saust er weiter gen Abgrund, einer gähnenden Leere, die sich unter ihm befindet. Etwas betrübt ist er darüber, dass es viel zu dunkel ist, um mit den Augen genauer hinzuschauen. Schon hat er das klitzekleine Eigenheim als Hirngespinst abgetan, als die nächste wunderliche Nische vor ihm auftaucht. Diesmal mit einem Steinkrug und einem großen, geschnitzten Becher. Als wenn jemand dem nächsten Wanderer eine Erfrischung anbieten wollte. Fast hätte er danach gegriffen, aus reiner Neugier und aus einem Verlangen heraus, sich selbst bestätigen zu können, nicht völlig verrückt zu sein. Doch die Fahrt nach unten geht unaufhörlich weiter. Bei der nächsten Gelegenheit will er schneller sein, so nimmt er es sich zumindest vor.
Tatsächlich lässt die nächste, wunderliche Nische nicht lange auf sich warten. Diesmal ordentlich aufgereihte Bücher, die ihm den Rücken zuweisen. Hastig greift er nach einem Exemplar und blättert es auf. Die Seiten zittern nicht einmal im Wind und es liegt seltsam ruhig in seiner Hand. Selbst in der Dunkelheit kann er die schneeweißen, unbedruckten Seiten deutlich erkennen. Mystisch leuchten sie in der Finsternis auf, als wollten sie damit ihre Unschuld beweisen oder ein Geheimnis verbergen. Mürrisch wirft er das nutzlose Buch in einem Bogen fort.
Was hat das alles für einen Sinn?
Und bevor er darauf eine Antwort hat, landet er jählings in einem riesigen Blätterhaufen. Der sonderbare Fall ist abrupt beendet und der plötzliche Aufprall schmerzt ihn nicht einmal. Als er sich mechanisch schüttelt und verdattert aufblickt, sieht er den Mond geheimnisvoll durch die mächtige Baumkrone schimmern. Ein friedvoller, geradezu magischer Augenblick, der jedoch schlagartig getrübt wird. Denn ein Wesen mit unnatürlich vielen Armen hängt in den Ästen und das Mondlicht will sich intuitiv mit ihm verbünden. Gespenstisch legt sich ein magischer Silberglanz über dessen schlaffe Konturen. Konturen, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen, zumindest sind sie ihm fremd. Sie erinnern an kein Tier und keinen Menschen.
Nun bekommt er es doch mit der Angst zu tun. Er will nur weg von diesem weltfremden und trügerische Leblosigkeit vorgaukelnden Gespenst, bevor es wirklich zum Leben erwacht. Schwerfällig arbeitet er sich durch raschelndes Laub, immer noch auf der Suche nach dem erhofften Erdboden.
Das ist doch wirklich verhext, protestiert sein gesunder Menschenverstand, denn wieder einmal wird es ihm nicht leicht gemacht, seinen Weg zu finden. Wie auf Wolken scharren seine Schuhe nach dem nötigen Halt, um sich aus dem gigantischen Blätterwerk zu befreien. Seine Arme schwimmen suchend durch totes Laub.
Gerade als seine Fußspitzen festen Untergrund ertasten können, bemerkt er zu allem Überdruss, dass er nicht alleine ist. Tatsächlich ist Bewegung in den gesamten Laubhaufen geraten. Der Klang der raschelnden Blätter bauscht sich zu einem ungemütlichen Getöse auf. Kurz hält er erschrocken inne, um dann ganz in Panik zu verfallen und hektisch nach einem Ausweg zu fahnden. Rasch teilen seine erstarkten Beine das endlose Laubmeer. Als etwas Lebhaftes seinen Knöchel streift, japst er laut auf.
Furchtvoll hastet er weiter. Dann öffnet sich die Blätterwand und seine Schuhe laufen auf dem ersehnten Gras. Doch hinter ihm will das rege Rascheln kein Ende finden. Innerlich betet er, Gott möge ein Erbarmen mit ihm haben. Er will bereits zum Spurt ansetzen, als plötzlich eine Gestalt aus dem Laubhaufen herausplumpst. Abermals schreit er nervös auf. Er hat mit allen wilden Tieren und Kreaturen gerechnet. Am ehesten jedoch mit dem mehrarmigen Gespenst aus den Zweigen. Niemals hätte er an ein kleines Kind gedacht, welches nun als Knäuel zu seinen Füßen liegt. Schnell rappelt das Kind sich auf, sieht ihn mit großen, leuchtenden Augen an und flüchtet dann wortlos in den düsteren Wald.
„Warte! Wer bist du? Bleib stehen!“, ruft er dem jungen Ausreißer hinterher.
Schon hat die Dunkelheit das Kind verschluckt und sein Ruf verhallt in der unendlichen Leere. Fast könnte er meinen, sich die Begegnung nur eingebildet zu haben. Ebenso wie die wundersamen Nischen im Stamm des mächtigen Baumes oder seinen endlosen Fall. Ein tierischer Schrei von irgendwoher erinnert ihn an seine vormalige Angst vor dem Gespenst in der Blätterkrone und er folgt dem Kind in die Nacht.
Dunkelheit und allerlei fremdartige Geräusche umgeben ihn. Er horcht immer noch nach den schnellen Füßen des Kindes – obwohl es eine kleine Ewigkeit her sein muss, seitdem er es getroffen hatte.
Zunächst ist er wie ein Wahnsinniger der Richtung des kleinen Unbekannten gefolgt und wäre beinahe mit einem Baum zusammengestoßen. Der Klang der Kinderschritte verlor sich im Dickicht des Waldes und mit ihm seine Zuversicht. All seine Hoffnungen hat er auf das Kind projiziert, das ihm möglicherweise sagen kann, wo er ist und was er eigentlich hier macht.
Nun ist er allein.
Eine Situation, die ihm durchaus nicht ungewohnt ist. Und dennoch stimmt es nicht ganz. Wirklich allein ist er nicht. Aus jeder Ecke zirpt, summt, raschelt, piepst oder tönt es in einer Sprache, die er nicht versteht. Ein wildes Naturorchester der besonderen Art, allein für ihn zusammengestellt. Zu gerne würde er nun an einem Lagerfeuer sitzen, daneben ein schutzbietendes Zelt und mit einem guten Whiskey in der Hand. Er liebt zuweilen die Einsamkeit und weiß, sich dorthin zurückzuziehen, wenn ihm die Frauen in seinem Leben zu sehr auf die Nerven gehen. Er denkt an seine Mutter Dorothea. Eine kleine runde Person. Doch täuschen ihre geringe Größe und ihre weichen Rundungen über ihr wahres Naturell hinweg. In ihr brodelt ein Vulkan und sie hat zu allem eine Meinung. Meist ist diese entgegen der ihres Sohnes. Niemals kann er es ihr recht machen.
Und dann gibt es noch Melandra, seine Ehefrau. Er seufzt bei dem Gedanken an sie. Außer dem Ehebett teilen sie kaum etwas miteinander. Melandra liebt den Luxus und das Geld, was er ihr durchaus bieten kann. Jedoch hat er sich schon lange von der Vorstellung verabschiedet, die Liebe zwischen ihnen zu suchen. Es stört ihn nicht einmal groß, dass seine Ehe zu einer reinen Zweckgemeinschaft verkommen ist. Sie ist die strahlende Ehefrau, ein Zwilling von Heidi Klum, um die ihn jeder Mann beneidet und zugleich hat er seine Ruhe vor den ständigen Nörgeleien seiner Mutter, die ihren Sohn in perfekter Ehe und Job wissen will. Er schüttelt den Kopf, als könne es helfen, Ehefrau und Mutter aus seiner Gedankenwelt zu verbannen.
Es will ihm sogar gelingen, denn sein Geist schweift zu etwas weitaus Verlockenderem ab. Zu Maja. Ein Name wie goldener Honig, der süß auf der Zunge zergeht. Ganz zu schweigen von Majas kurzen Röcken und den schwindelerregenden langen Beinen, die darunter zum Vorschein kommen und gar kein Ende nehmen wollen. Zuweilen bildet er sich ein, sie zu lieben. Zumindest tut er das gelegentlich auf seinem Bürotisch.
Zu gern wäre er jetzt dort. Nicht um zu arbeiten, sondern um Majas lange Beine zu spüren, die sich um seinen Körper schlingen. Mit der täglichen Arbeit ist es ähnlich wie mit seiner Ehe. Es muss erledigt werden und zwar auf höchstem Niveau. Sehr akribisch in seinem Handeln scheut er keine Überstunden, scheffelt eine Menge Geld und lässt sich an den Wochenenden auf exklusiven Dinnerpartys als liebevoller Ehemann von seiner Gattin vorführen – dabei stets ein aufgesetztes Grinsen im Gesicht. Eine perfekt einstudierte Maskerade, die jahrelanger Übung bedurfte.
Bereits in jungen Jahren war er ein strebsamer Schüler, immer den vielversprechenden Erfolg im Blick. Aber wenn sein Bruder die Note Eins nach Hause brachte und er nur eine Zwei plus fabrizierte, spiegelte sich Verachtung in den Brillengläsern seiner Mutter wider.
Nun ist sein Bruder tot, gestorben nach einem unglücklichen Motorradunfall. So tragisch dieses Ereignis auch war, so hatte er zumindest gehofft, jetzt endlich die Nummer eins im Elternhaus zu sein. Doch herrscht ewig die alte Leier. „Leopold war ein guter Junge, er wusste mit Geld umzugehen – anders als du! Du kannst es nur zum Fenster herauswerfen.“ Und wenn es dieses Thema nicht ist, dann ein anderes, worin er zweifellos gegenüber seinem toten Bruder den Kürzeren zieht. In diesem Leben wird er den Wettstreit nicht mehr gewinnen können, da ist er sich fast sicher.
Jetzt lehnt er weit entfernt in irgendeinem Wald am Stamm irgendeines Baumes. Er kann sich immer noch nicht entsinnen, wie er hier gelandet ist. Müde reibt er sich die Augen. Vielleicht war er kurz eingenickt. Was kein Wunder wäre, bei der Dunkelheit, die ihn wie ein unliebsamer Begleiter umgibt. Schemenhaft zeichnen sich struppige Bodengewächse und Bäume wie dicke Pfähle vor ihm ab. Alles andere ist in ein schwarzes Tuch gehüllt.
Plötzlich ist da ein Glühen. Zuerst glaubt er, ein Lagerfeuer zu erblicken – möglicherweise sogar eines von dem geflüchteten Kind. Doch erkennt er rasch, wie sonderbar anmutend die Farbe dieses Glühens ist. Sie ist nicht etwa rot oder gelb. Es leuchtet in einem zarten Rosa und schwebt scheinbar geräuschlos in der Luft. Sofort ist er fasziniert und schleicht sich auf leisen Sohlen an das Mysterium heran. Währenddessen tauchen immer mehr solcherlei ominöser Lichtquellen auf. Manche sind rosa, andere schimmern in hellem Blau. Wie magische Kugeln öffnen sie sich an der Oberseite und entblättern wunderschöne, schimmernde Blüten. Ein Meer von strahlenden Leuchtblumen öffnet sich ringsum und beschert der Nacht ein unvergessliches Lichtspektakel.
„Wow“, entfährt es ihm voll ehrlicher Bewunderung. Staunend läuft er über weiches Moos hinweg an eine der Leuchtblumen heran. Ihre Blütenblätter bewegen sich sachte, schwingen nach unten und oben, ähnlich einer fluoreszierenden Qualle im dunklen, weiten Meer. Ihr magisches Licht und ihre Bewegungen hypnotisieren ihn zunehmend. Andächtig betrachtet er die zierlichen Staubfäden, welche gleich einem eleganten Krönchen aus der leuchtenden Mitte herauswachsen. Fast könnte er sich einbilden, eine kleine Frau am Grund der Blüte mit eben dieser Krone auf dem Kopf sitzen zu sehen.
Gerade nähert sich sein Finger diesem hübschen Ensemble – er kann nicht anders, er muss sie einfach berühren –, als ein Schmetterling an seinem Ohr vorbeiflattert. Wie ein Engel umkreist er federleicht die rosa Blüte, um schließlich zur Landung anzusetzen. Weil auch er ja nichts verpassen will, beugt er sich vor und mustert interessiert den kleinen Nachtfalter, während dieser den langen Rüssel ausfährt, um den süßen Nektar zu trinken.
Zack! Die Blütenblätter schließen sich mit ungeahnter Schnelligkeit, lassen das hilflose Todeszappeln des hübschen Insekts darin nur erahnen. Erschrocken weicht er zurück. Überaus erleichtert darüber, die Leuchtblume nicht berührt zu haben.
Wer hätte gedacht, dass das fleischfressende Pflanzen sind?
Er schüttelt sich und reibt über seinen heilen Finger, froh darüber, diesen nicht im Pflanzenmagen verloren zu haben. Das Leuchten der geschlossenen Blüte hingegen erlischt. Ihre Magie ist vertan. Nun wirkt sie schwarz wie das Federkleid einer Krähe.
Sie ist wohl mit der Verdauung beschäftigt. Das Leuchten soll nur die Insekten anziehen, überlegt er.
Und tatsächlich füllt die Nacht sich mit heran schwirrendem, kleinem Getier. Überall um ihn herum summt, brummt und flattert es. Je mehr der sonderbaren Blüten sich öffnen, desto größer die Verlockung für jegliches Krabbelgetier. Beeindruckt steht er mittendrin und beobachtet das Naturschauspiel. Der Wald, ein Lichtermeer. Wie Laternen erhellen die Leuchtblumen mit ihrem unwiderstehlichen Schein die Umgebung. Gerade hell genug, um in einem geringen Radius von ein paar Metern deutlich sehen zu können.
Hier und da huschen grobe Schatten durch das Geäst der Bäume und plötzlich beschleicht ihn das stechende Gefühl, beobachtet zu werden. Aus allen Ecken glotzen Augenpaare, fixieren ihn, lauern. In den hellen Glanz der Leuchtblumen gehüllt, wird er wie auf einem Präsentierteller dargeboten. Augenblicklich realisiert er, wie genial der Schachzug für Beutetiere sein muss, ihr Opfer im Licht anvisieren zu können, während sie selbst in der Dunkelheit verharren. Nicht nur das. Die unzähligen Insekten locken abermals kleine Raubtiere an, die wiederum von den nächst größeren gejagt werden.
Der vormals zauberhafte Ort ängstigt ihn zunehmend und dennoch versucht er konzentriert bei der Sache zu bleiben. Er hat sich ausreichend mit der Survival-Thematik beschäftigt und weiß genau, wie sensibel Tiere auf menschliches Verhalten reagieren. Nicht nur den Angstschweiß riechen sie, sondern jedes bisschen Unsicherheit auch. Er will sich nicht freiwillig zum Opfer machen. Stattdessen wendet er sich langsam zu allen Seiten um, doch erscheint ihm kein Fluchtweg als geeignet. Dort ein Schatten im Baum, der an einen riesigen, langhaarigen Affen erinnert. Da ein glühendes gelbes Augenpaar wie von einer großen Katze, mit gefährlich spitzen Krallen und Zähnen. Eine Horde übler Jäger, die ihn still und heimlich umzingelt haben. Bis einer den Angriff wagt und er chancenlos in dem Getümmel untergehen wird. Das unvermeidliche Gemetzel zeichnet sich längst in grässlichen Farben in seinem Kopf nach. Dennoch ist er ein wahrer Meister darin, jegliches Unliebsames von sich zu schieben.
Reiß dich zusammen! Vielleicht hast du irgendetwas nicht bedacht, ermahnt er sich selbst.
Er blickt suchend zu Boden und wie durch ein Wunder entdeckt er ein weiteres Augenpaar, das ihn durch einen aufgebrochenen Schlitz in der Erde anfunkelt. Erleichtert erkennt er das Kind, welches direkt vor seinen Füßen kauert. Bevor er einen vernünftigen Gedanken daran verschwenden kann, wie lange es bereits dort unten verweilt und ihn beobachtet, geht er langsam in die Hocke. Das Kind weicht zurück und er erblickt eine schwarze Erdspalte, möglicherweise gerade breit genug für ihn. Bevor er zögern kann, ertönt ein Knurren und eins der wilden Tiere setzt zum tödlichen Sprung an. Er beißt die Zähne zusammen und rutscht eiligst in den dunklen Schoß der Erde hinein. Keine Sekunde zu früh. Über ihm wütendes Fauchen, wildes Scharren und ein affenähnliches Geschrei. Gerade rechtzeitig ist er dem Massaker entgangen.
Das Kind ist noch da. Er kann es neben sich spüren. Eine kleine Hand tastet sich in seine. Erst glaubt er, es suche Trost, doch dann beginnt die Hand energisch an seiner zu zerren.
„Komm schon“, spricht eine leise, kindliche Stimme.
„Aber wohin?“
„Weg von hier.“
Spätestens als sich bellende und knurrende Tierkörper an dem Rand der Erdspalte entlang rollen, sieht er ein, wie recht das Kind hat. Sie sollten schleunigst von hier verschwinden. Er rappelt sich auf. Vor ihm Schwärze. Völlige Dunkelheit. Die kleine Hand drängt ihn.
„Ist ja schon gut, ich komme ja. Ich kann nur nichts sehen“, versucht er sich zu erklären.
Langsam tastet er sich an den feuchten Wänden entlang.
„Wo sind wir hier überhaupt? Ich hoffe, das ist nicht der Bau von irgendeinem Tier.“
Von einem großen, wenn ich so darüber nachdenke.
Doch das Kind gibt keine Antwort. Aber weil er Geschmack am Reden gefunden hat, redet er einfach weiter: „Wer bist du eigentlich und was machst du allein hier in dem Wald? Das ist doch kein Ort für dich!“
