Die Spione von Myers Holt - Eine gefährliche Gabe - Monica M. Vaughan - E-Book

Die Spione von Myers Holt - Eine gefährliche Gabe E-Book

Monica M. Vaughan

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Beschreibung

Spannender Agententhriller Der zwölfjährige Chris Lane kann es kaum fassen: Ausgerechnet er verfügt über ein außergewöhnliches Talent und wird von der Myers Holt Academy aufgenommen. Was zunächst nach Eliteinternat klingt, entpuppt sich als Sitz des MI 18, einer Sektion des britischen Geheimdienstes, in dem Kinder als Nachwuchsagenten ausgebildet werden. Dort ist Chris' Hilfe bitter nötig: Ein unbekannter Junge hat kürzlich Anschläge auf wichtige Mitglieder der Regierung ausgeübt. Für Chris und seine Freunde beginnt ein gefährliches Abenteuer. 

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M. M. Vaughan

Die Spione von Myers Holt

Eine gefährliche Gabe

Aus dem Englischenvon Reiner Pfleiderer

Für Emilia

Vor dreißig Jahren

»Mir ist nicht wohl bei der Sache«, sagte Edward und wippte nervös mit dem Fuß. Das Klopfen, das sein Schuh beim Auftreffen auf dem Blechboden verursachte, hallte im Innenraum des Vans wider und übertönte das Tosen der Wellen, die unweit der Stelle, wo sie parkten, gegen die Klippen brandeten.

Tapp. Tapp. Tapp.

Anna warf Edward einen warnenden Blick zu und im nächsten Moment fuhr ihr Lehrer, Cecil Humphries, auf dem Fahrersitz herum, das Gesicht rot vor Zorn.

»Hör sofort damit auf, sonst werfe ich deine Schuhe aus dem Fenster.«

Edward erwiderte nichts, aber das Klopfen hörte auf. Mr Humphries wandte sich an Miss Arabella Magenta, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, und seufzte.

»Also ehrlich, womit habe ich das verdient? Sobald das Jahr rum ist, ziehe ich aufs Land – und möglichst weit weg von irgendwelchen Gören.«

»Wir können Sie hören, Sir.«

»Gut so«, sagte Mr Humphries, ohne nach hinten zu schauen.

Anna schwieg, während die vier anderen Kinder um sie herum tuschelten. Sie spürte ganz deutlich die Angst der anderen und hoffte, dass sie diese Mission schnell hinter sich brachten, damit sie aus dieser trostlosen, düsteren Gegend verschwinden und in ihre Schule zurückkehren konnten.

Genau wie es ihr ausgeklügelter Zeitplan vorsah, trug Mr Bentley Jones genau in diesem Augenblick den Aktenkoffer voller Geld zu dem Cottage auf der Klippe. Der Wall aus Bäumen, hinter dem sie den Van geparkt hatten, verdeckte die Sicht auf das kleine Haus, und dennoch konnte Anna genau sehen, was in diesem Moment geschah. Sie und Clarissa hatten heute Abend die Aufgabe, mithilfe ihrer GABE ihren Lehrer im Auge zu behalten.

»Mr Jones ist fast bei dem Cottage. Das Fenster ist erleuchtet.«

»Gut«, sagte Miss Magenta. »Sobald er drin ist, steigen wir aus und gehen näher ran.«

»Wozu müssen wir denn aussteigen?«, fragte Danny nervös. »Wir können es doch auch von hier aus tun.«

»Du liebe Zeit, das haben wir doch schon hundertmal durchgekaut«, sagte Miss Magenta aufgebracht. »Wenn wir die Gedanken dieser Leute auslöschen wollen, dürfen wir nicht weiter als sieben Meter von ihnen entfernt sein.«

»Können wir ihnen nicht einfach das Geld geben?«, fragte Danny. Anna, Edward, Clarissa und Richard nickten zustimmend.

»Unsinn«, erwiderte Mr Humphries. »Sie würden bald noch mehr verlangen, und wohin würde das führen? Wenn wir nicht wollen, dass jemand von der GABE erfährt – und glaubt mir, das wollen wir nicht –, dann müssen wir INFERNO gegen sie einsetzen. Wir haben keine andere Wahl.«

»Aber wir haben es nie geübt. Was ist, wenn es nicht funktioniert?«, fragte Clarissa.

»Es wird funktionieren«, erwiderte Miss Magenta gereizt. »Man hat es in Italien ausprobiert. Dort sind die Vorschriften nicht so streng und es hat tadellos geklappt. Wo ist er jetzt?«

Anna und Clarissa besannen sich wieder auf ihre Aufgabe und schlossen die Augen.

»Er ist noch nicht dort – schätzungsweise noch eine Minute.«

Anna hielt die Augen geschlossen und beobachtete, wie Bentley Jones mit großen Schritten weiterging, den Kopf gesenkt, als schlage er sich eine Bresche durch die Wand aus Wind und Regen.

»Lass das!«

Anna öffnete die Augen und sah, wie Richard, der allein die doppelte Portion der beiden anderen Jungen war, Papierkügelchen von seinen Knien in Richtung Danny schnipste.

»Was? Mir ist langweilig«, sagte Richard, als er Miss Magentas missbilligende Miene sah.

Anna seufzte und schloss wieder die Augen. Sie waren seit etwas mehr als fünf Monaten Klassenkameraden, aber Richard ging ihr noch fast genauso auf die Nerven wie am ersten Tag, als er sie den ganzen Morgen über an ihrem langen schwarzen Zopf gezogen und dazu wie verrückt gelacht hatte. Laut Clarissa war das ein sicheres Zeichen dafür, dass Richard sie mochte – ein Gedanke, bei dem sich Anna der Magen umdrehte. Doch mit den beiden anderen Jungen, Danny und Edward, hatte sie sich angefreundet. Edward war ernst und ruhig und stets bemüht, zwischen Richard und jedem, den er ärgerte, Frieden zu stiften. Danny war ein Tollpatsch, aber irgendwie süß, und hatte immer die Nase in einem Buch.

»Er nähert sich der Tür«, meldete Clarissa. Alle blickten gespannt zu den beiden Mädchen.

»So, fertig machen zum Aussteigen. Sobald Mr Jones das Zeichen gibt, springt ihr raus und wartet auf weitere Befehle. Verstanden?«

Sie nickten.

»Gut. Was geschieht im Moment?«

»Er klopft an die Tür. Jemand öffnet … Es ist … es ist eine alte Dame im Morgenmantel!«

»Wie merkwürdig. Eine Erpresserin hätte ich mir etwas anders vorgestellt«, sagte Mr Humphries zu Miss Magenta, die ähnlich verdutzt schien wie er.

»Sie fragt ihn, ob etwas passiert ist, und Mr Jones hält den Aktenkoffer hoch«, sagte Anna, die alles so detailliert wie möglich beschrieb. »Sie fragt ihn, ob er nicht eintreten und sich aufwärmen möchte.«

»Und jetzt?«, fragte Miss Magenta.

»Er ist reingegangen, und drin sitzt ein Mann. Ein alter Mann, der eine Pfeife raucht. Der Mann stellt das Radio ab und kommt Mr Jones entgegen. Sie geben sich die Hand.«

»Was macht die alte Dame?«

»Sie setzt einen Wasserkessel auf.«

Die Gruppe beobachtete wie gebannt die beiden Mädchen, die abwechselnd in allen Einzelheiten schilderten, was weiter geschah. Die alte Dame brühte Tee auf. Dann trug sie drei dampfende Becher zu dem Sofa, auf dem Bentley inzwischen Platz genommen hatte.

»Mr Jones sagt, er sei gekommen, um das Geld zu übergeben …«

»Und?«

Eine Pause folgte.

»Die alte Dame hat gesagt, dass sie nicht wisse, wovon er spreche.«

»Da ist was faul. Und zwar oberfaul«, knurrte Mr Humphrey und fuhr sich mit der Hand durch die fettigen, schütteren Haare. »Ich finde, wir sollten aussteigen und …«

Er kam nicht weiter, denn in diesem Moment wurden die Heckklappen aufgerissen. Zwei Männer mit schwarzen Kapuzen standen draußen. Anna, die bis dahin im Geiste die Hütte beobachtet hatte, schrak heftig zusammen und schrie auf, als die Männer in den Wagen fassten, sie packten und nach draußen zerrten.

»Es ist eine Falle!«

Anna drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam, und sah eine Gestalt auf den Van zurennen. Es war Bentley Jones.

Die Männer packten sie an Armen und Beinen, hoben sie mühelos hoch, obwohl sie sich krümmte und zappelte, und liefen mit ihr in Richtung der Klippen.

Danny blickte zu den anderen. Sie waren starr vor Schreck.

»Anna!«

Er sprang aus dem Van, bevor ihn jemand daran hindern konnte, und rannte den Männern hinterher. Lehrer und Schüler folgten ihm.

Anna schrie, als sie sah, dass Danny sie einzuholen versuchte, und auf einmal, ohne ein Wort, blieben die Männer stehen. Einer der beiden machte eine ausholende Bewegung und streckte den rechten Arm über Annas Kopf hinweg. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was sie sah.

»Er hat eine Waffe! Danny, bleib stehen!«

Ihre Stimme ging im Knall eines einzelnen Schusses unter. Sie sah, wie Danny zu Boden stürzte. Die Männer liefen mit ihr weiter Richtung Klippen. Schluchzend versuchte sie, sich ihrem Griff zu entwinden. Erst jetzt fiel ihr wieder ihre GABE ein, und sie schloss die Augen, aber es war zu spät. Die Männer blieben stehen, schwangen sie nach hinten, dann nach vorn und ließen sie los. Sie flog durch die Luft, über den Rand der Klippe hinaus. Das Letzte, was sie sah, bevor sie das Bewusstsein verlor, war das schwarze Meerwasser, das rasend schnell näher kam.

»Rasch, wo ist das Messer?«, fragte eine tiefe Stimme, die Anna einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Anna öffnete die Augen und verzog das Gesicht. Ein heftiger Schmerz pochte in ihrem Kopf. Der Boden, auf dem sie lag, bewegte sich, und sie begriff, dass sie sich auf einem Boot befand. Es war stockdunkel bis auf den Lichtstrahl einer Taschenlampe, die neben ihr auf dem Boden lag. Sie war an Armen und Beinen gefesselt und ihre Kleider waren klatschnass und klebten ihr am Leib. Sie zitterte vor Kälte, und dann fiel ihr auf, dass sie ihre Jacke nicht mehr anhatte. Die Jacke lag jetzt in den Händen einer Frau, die zu ihren Füßen saß. Über Annas Kopf hinweg reichte die Frau das Messer einer behandschuhten Hand.

Anna schrie, als der Mann sie am Arm packte. Sie spürte die Klinge langsam in sie eindringen und dann das Brennen, als der Schmerz sie durchzuckte. Blut tropfte von ihrem Arm. Tränen liefen aus Annas smaragdgrünen Augen. Die Frau beugte sich vor und wischte mit der Jacke das Blut von ihrem Arm.

»Das genügt. Wirf die Jacke ins Meer. Sie werden sie morgen früh finden.«

»Warum tun Sie das?«, fragte Anna.

»Weil du und deine GABE uns sehr reich machen werden, Schätzchen.«

»Sie werden mich suchen«, sagte Anna schluchzend. »Damit kommen Sie nicht durch.«

»Ach, ich glaube nicht, dass sie allzu lange suchen werden. Du bist leicht zu ersetzen.«

»Sie haben doch keine Ahnung, wovon Sie reden. Das sind meine Freunde. Sie werden mich nicht im Stich lassen.«

»Sieh doch.« Anna hörte auf zu weinen und schaute auf. Die Klippen ragten vor ihnen empor und oben war der Lichtschein zu sehen, der aus dem Fenster des Cottage fiel. Neben dem Cottage bewegte sich etwas, und sie kniff die Augen zusammen, um besser zu erkennen, was es war.

»Du siehst schon richtig«, sagte der Mann. »Das ist der Van, mit dem du hergekommen bist. Alle deine angeblichen Freunde sitzen drin, und wie es aussieht, fahren sie jetzt weg. Sie haben dich bereits aufgeben.« Er lachte.

Anna sah hilflos zu, wie der Van davonfuhr und in der dunklen Nacht verschwand. In diesem Moment erkannte sie die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und sie begann zu schreien, doch ihr qualvoller Schrei verlor sich im Heulen des Sturms.

Mittwoch, 17. Oktober

Cecil Humphries, der Erziehungsminister, konnte vieles nicht ausstehen. Darunter:

Radfahrer.

Die Küste.

Mit seinem Vornamen angeredet zu werden.

Hochzeiten.

Die Farbe Gelb.

Singen.

Aber ganz oben auf dieser Liste standen Kinder. Er hasste sie regelrecht, und das war bedauerlich, wenn man bedachte, dass er für das Wohlergehen eines jeden Kindes in Großbritannien zuständig war. Er wusste, dass die meisten Menschen aus für ihn unerfindlichen Gründen Kinder liebten, und so hatte er widerwillig das Amt des Erziehungsministers angenommen, weil er glaubte, er könnte dadurch seine schwindende Beliebtheit wieder steigern. Damit käme er seinem eigentlichen Ziel einen Schritt näher, nämlich dem, seinen ehemaligen Schüler Edward Banks als Premierminister abzulösen. Dumm für ihn, dass sich die Öffentlichkeit nicht so leicht, wie er dachte, etwas vormachen ließ. Als er ein paar Babyköpfe küsste (und sich hinterher den Mund abwischte), hatte ihm das nur niederschmetternde Schlagzeilen eingebracht wie:

Humphries hat Babys zum Fressen gern

(aber er hat kein ganzes geschafft)

Je mehr er sein Image aufzupolieren versuchte, desto weniger klappte es, und das machte seinen Hass auf jeden unter achtzehn nur größer, sofern das überhaupt möglich war.

Insofern war es nur passend, dass ausgerechnet ein zwölfjähriger Junge seine Karriere zerstören und ihn in ein zitterndes Wrack verwandeln sollte, das man für den Rest seines Lebens in eine Gummizelle sperrte.

Der Anfang vom Ende begann für Cecil Humphries an einem ungewöhnlich warmen, sonnigen Sommertag in Liverpool. Vier Tage zuvor war er in einem Krankenhaus von einem Paparazzo heimlich dabei fotografiert worden, wie er vom Nachttisch eines kranken Kindes Schokolade stahl, und erst zwei Tage war es her, dass man ihn mit faulen Eiern beworfen hatte, nachdem das Foto auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen im Land erschienen war. Selbst für jemanden, der schlechte Presse gewohnt war, hätte die Woche kaum schlimmer verlaufen können.

Humphries schaute aus dem Fenster seines Dienstwagens, den sein Chauffeur steuerte, und seufzte beim Anblick der lächelnden Kinder.

»Arbeite nie mit Tieren oder Kindern. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«, knurrte er. James, sein Assistent, schaute von seinen Notizen auf, nickte gehorsam und schwieg, wie er es gelernt hatte.

»Andere Schule, dieselben Gören«, fuhr Humphries fort, als das Auto vor dem Schuleingang hielt. »Es ist, als würde man jedes Mal wieder denselben Albtraum erleben: ungewaschene Hände und Triefnasen, wohin man blickt, und dazu das Geschrei, einfach ekelhaft.«

Er zog einen Kamm aus der Jackentasche und fuhr sich damit durch das schüttere Haar.

»Aber wissen Sie, welche mir am meisten auf die Nerven gehen?«

»Nein, Sir«, antwortete James.

»Die besonders Niedlichen. Die kann ich schon gar nicht ertragen, mit ihren Kulleraugen und ihren lästigen Fragen.« Er erschauderte bei dem Gedanken. »Die müssen Sie mir heute vom Leib halten. Ich bin wirklich nicht in der Stimmung.« Humphries rückte seine dunkelblaue Krawatte zurecht und beugte sich zur Tür hinüber.

»Wie heißt denn der Saftladen?«, fragte er, während er am Türgriff zog.

»Perrington School, Sir. Aber das habe ich Ihnen doch bereits gesagt.«

»Tja, da habe ich wohl nicht zugehört«, erwiderte Humphries gereizt. »Setzten Sie mich jetzt ins Bild.«

»Sie überreichen der Schule einen Preis für herausragende Leistungen«, erklärte James. »Außerdem haben wir die Presse eingeladen, Sie zu begleiten, wenn Sie Ihren Rundgang durch die Schule machen und mit den Kindern sprechen. Das gibt der Öffentlichkeit Gelegenheit, Sie in einem … äh … vorteilhafteren Licht zu sehen. Man hat uns einen sehr herzlichen Empfang zugesichert.«

Humphries verdrehte die Augen.

»Richtig. Nun gut, bringen wir es hinter uns«, sagte er und öffnete die Wagentür. Höflicher Beifall und blitzende Kameras empfingen ihn.

Die Lehrerin kam ins Lehrerzimmer, in dem Humphries und James allein auf zwei braunen Plastikstühlen saßen, die man für sie in einer Ecke aufgestellt hatte.

»Die Sache tut mir schrecklich leid«, sagte die Lehrerin und reichte Humphries ein Papiertaschentuch aus der Schachtel, die sie mitgebracht hatte.

Humphries schenkte ihr ein verkniffenes Lächeln und stand auf. Er nahm das Tuch und versuchte, den großen feuchten Rotzfleck vorn auf seinem Jackett wegzuwischen, allerdings ohne großen Erfolg.

»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen«, sagte er und fügte mit so viel Begeisterung, wie er aufbringen konnte, hinzu: »Ich fand sie alle in höchstem Maße entzückend.«

»Das ist sehr verständnisvoll von Ihnen. Der Junge muss Sie wirklich sehr gernhaben – das war das erste Mal, dass er auf einen wildfremden Menschen zugelaufen ist und ihn umarmt hat!«, sagte die Lehrerin und wechselte rasch das Thema. »Ich hoffe, die älteren Schüler werden sich etwas manierlicher betragen. Wir haben alle in der Aula zusammenkommen lassen. Es werden ungefähr dreihundert Schüler da sein.«

»Und die Presse?«

»Auch die ist vollzählig erschienen. Wir haben auf der einen Seite einen Bereich für die Kameras und Journalisten reserviert.«

»Schön, schön«, sagte Humphries und wirkte ausnahmsweise einmal wirklich zufrieden. »Sollen wir gehen?«

»Ja, natürlich. Wenn Sie mir bitte folgen wollen«, sagte die Lehrerin. Sie führte sie aus dem Raum, dann einen hell erleuchteten Korridor entlang und durch eine Flügeltür.

Humphries ging als Erster hinein. Er blieb stehen, lächelte und winkte bedächtig, während er sich umsah. Die große Aula war vollgepackt mit Kindern, die auf dem Holzboden hockten, alle adrett gekleidet in kastanienbraunen Uniformen, und die Lehrer saßen auf Stühlen, die an den beiden Seitenwänden so aufgereiht waren, dass sie jedem Schüler, der sich danebenbenahm, einen scharfen Blick zuwerfen konnten. Humphries entdeckte den Pressebereich vorne rechts und schritt, ein breites, falsches Lächeln im Gesicht, langsam darauf zu. Unterwegs blieb er mehrmals stehen und schüttelte Schülerhände, ohne auch nur einmal den Blick von den Kameras zu wenden. Er erklomm eine kleine Treppe und setzte sich auf einen Stuhl, der seitlich auf der Bühne stand. Die Direktorin nahm das als Aufforderung und trat ans Rednerpult.

»Meine Damen und Herren, liebe Mädchen und Jungen, es ist mir eine große Freude, Erziehungsminister Cecil Humphries an unserer Schule willkommen zu heißen. Dass wir heute diese Auszeichnung entgegennehmen dürfen, ist ohne Zweifel die größte Ehre, die unserer Schule in ihrer 124-jährigen Geschichte zuteilgeworden ist. Von Lord Harold einst als Waisenhaus ins Leben gerufen, hat sie …«

Humphries unterdrückte ein Gähnen und gab sich alle Mühe, interessiert zu schauen, als die Direktorin zu einer zwanzigminütigen Rede über die Geschichte der Schule und ihre Errungenschaften anhob. Er spürte, wie ihm die Lider schwer wurden, und gerade als er meinte, er könnte sie keine Sekunde länger offen halten, wandte ihm die Direktorin das Gesicht zu. Er setzte sich sofort auf und rückte seine Krawatte zurecht.

»… und so bitte ich um Applaus für unseren hochverehrten Gast, Mr Cecil Humphries.«

Wieder brandete kurzer Beifall auf und Humphries trat ans Rednerpult. Er schenkte der Direktorin sein wärmstes Lächeln, das freilich eher einer Grimasse glich, dann blickte er ins Publikum und räusperte sich.

»Ich danke Ihnen herzlich für diese wunderbare Einführung. Es gehört zu den angenehmsten Seiten meines Amtes als Erziehungsminister, dass es mir immer wieder Gelegenheit gibt, Schulen zu besuchen und mir ein Bild von den großartigen Leistungen der Schüler und Lehrer zu machen. Der heutige Tag bildet da keine Ausnahme, und ich möchte allen Anwesenden für den herzlichen Empfang danken, der mir hier bereitet wurde. Es ist …«

Humphries wurde durch ein lautes Klingeln in seinen Ohren unterbrochen. Er schüttelte den Kopf und hustete, aber das Klingeln hörte nicht auf. Er schaute auf. Die Zuhörer sahen ihn erwartungsvoll an. Er versuchte, den Lärm zu ignorieren, und beugte sich näher zum Mikrofon.

»Entschuldigen Sie«, sagte er lauter als nötig. »Wie ich soeben sagen wollte, ist es mir …« Erneut hielt er inne. Das Klingeln wurde so laut und schrill, dass er kaum noch die eigene Stimme hörte.

»Verzeihung, aber mir scheint …«

Er spürte ein schmerzhaftes Pochen in den Ohren. Er fasste sich an die Schläfen und massierte sie, aber der Lärm wurde immer stärker, breitete sich aus und drückte von innen gegen seinen Schädel, sodass er meinte, sein Kopf würde gleich platzen. Er taumelte nach hinten, hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Aus dem Augenwinkel sah er James mit besorgtem Gesicht im Laufschritt zur Bühne kommen. Der Schmerz verstärkte sich, und er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er dachte an die laufenden Kameras und versuchte, Ruhe zu bewahren, aber der Druck auf seine Augen nahm weiter zu. Er hob den Arm, tastete nach dem Rednerpult, um sich daran festzuhalten, doch der stechende Schmerz griff auf seinen ganzen Körper über, als würde ein Messer in ihn hineingestoßen und dann langsam herumgedreht. Er sank zu Boden.

Und dann verstummte das Klingeln so plötzlich, wie es begonnen hatte. Humphries sah sich benommen um, richtete sich langsam auf und versuchte, seine Fassung wiederzufinden. Da hörte er ein Kinderlachen und die Verwirrung in seinem Gesicht wich einem Ausdruck der Wut.

»Wer ist das?«, rief er. »Wer lacht da?«

Das Lachen wurde lauter. Er sah wieder ins Publikum, aber er blickte nur in betroffene Gesichter.

Er drehte sich zur Seite. James stand neben ihm.

»Niemand lacht, Sir«, flüsterte James. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.« Aber Humphries hörte ihn nicht, denn in das eine Kinderlachen stimmten Hunderte weitere ein.

»Sie lachen alle. Hört auf zu lachen!«, schrie Humphries in die bestürzte Menge, doch das Gelächter wurde immer lauter und schließlich unerträglich. Er sank wieder zu Boden und presste die Hände so fest an die Schläfen, dass die Adern an seiner Stirn anschwollen.

»HILFE!«, schrie er. Die Angst zu sterben war auf einmal größer als die Angst vor der Blamage, in aller Öffentlichkeit die Selbstbeherrschung zu verlieren.

Er schaute nach rechts. Drüben im Pressebereich blitzten die Kameras der Fotografen. Unter größter Anstrengung und mit schmerzverzerrtem Gesicht drehte er den Kopf wieder weg und blickte Hilfe suchend in die Menge. Ganz vorn war eine Lehrerin aufgestanden und rief nach Hilfe. Um sie herum wimmerten Kinder vor Angst, als sie beobachteten, wie er sich unter Schmerzen am Boden wälzte, aber das unerträgliche Lachen in seinem Kopf überdröhnte ihr Weinen. Dann wurde ihm plötzlich heiß, und er musste hilflos zusehen, wie seine Hände blaurot anliefen. Verzweifelt blickte er wieder in die Menge, und da stach ihm ein blasser Junge ins Auge, der mit übergeschlagenen Beinen in der ersten Reihe saß und ihn völlig ungerührt ansah.

Humphries erstarrte. In diesem Augenblick wurde ihm mit einem Schlag klar, was mit ihm vorging, und Panik ergriff ihn. Mit letzter Kraft kam er wieder hoch und sprang, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen und das Gesicht voller blauroter Flecken, von der Bühne – und brach unten zusammen. Die Kinder in der ersten Reihe wichen erschrocken zurück. Nur der blasse Junge in der schmucken neuen Uniform blieb sitzen. Er rührte sich nicht und hielt den Blick fest auf Humphries gerichtet, der, unverständliche Worte brüllend, in seine Richtung kroch und dann langsam die Hände nach ihm ausstreckte. Die Betroffenheit der Menge schlug in Panik um, als sie begriff, dass Humphries den Jungen an der Gurgel packen wollte. Die Direktorin erwachte aus ihrer Erstarrung. Sie raffte ihren Rock, sprang von der Bühne, schnappte den Jungen am Kragen und zog ihn aus der Gefahrenzone. Humphries hob langsam den Kopf und drehte das Gesicht in die Kameras. Er öffnete den Mund und schrie.

»INFERNO!«

Kaum war ihm das Wort über die Lippen gekommen, sackte er zusammen, die Augen offen, aber ausdruckslos, am ganzen Leib zitternd vor Angst, so wie er den Rest seines Lebens bleiben sollte.

Später an diesem Tag

Im knapp dreihundert Kilometer entfernten London wandte sich Sir Bentley Jones, der Generaldirektor des MI5, vom Fernsehbildschirm ab, auf dem gerade zu sehen war, wie Cecil Humphries auf einer Bahre aus der Schule getragen wurde. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, trat an das große Fenster, das auf den Fluss hinausging, und blickte zu dem sich verdunkelnden Himmel, der ein Spiegelbild seines inneren Unbehagens war. Minutenlang blieb er reglos stehen und beobachtete, wie über ihm graue Wolkenwirbel aufzogen, bis ihn ein Klopfen an der Tür aus den Gedanken riss. Er drehte sich um. Seine Sekretärin kam herein.

»Sir …«, sagte sie und hielt ihm einen dicken Ordner hin.

Sir Bentley nickte, murmelte ein leises »Danke« und nahm ihr den Ordner ab. Schweigend sah er ihr nach, wie sie den Raum wieder verließ und die Tür schloss. Erst dann blickte er auf den Ordner in seinen Händen, von dem er gehofft hatte, er würde ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Er las das Wort auf dem verblassten Schild, das er vor dreißig Jahre eigenhändig in dicken, schwarzen Buchstaben geschrieben hatte: INFERNO.

Mittwoch, 31. Oktober

Christopher Lane saß auf seinem üblichen Stuhl im Schulsekretariat und wartete nervös. Seine Klassenlehrerin hatte sich ihm gegenübergesetzt und behielt ihn scharf im Auge, als könnte er jeden Augenblick Reißaus nehmen – was ihm tatsächlich auch durch den Kopf gegangen war. Heute war erst Mittwoch, und trotzdem saß er schon das dritte Mal diese Woche hier und wartete darauf, dass der Direktor ihn hineinrief. Und ihm war klar, dass er diesmal nicht so glimpflich davonkommen würde.

Am anderen Ende des kurzen Flurs freute sich Mr Tuckdown, seit vierzehn Jahren Direktor der Black Mash Secondary School, darauf, in seinem Büro in aller Ruhe eine Tasse Tee zu trinken, das Kreuzworträtsel in der Tageszeitung zu lösen und dazu ein oder zwei Ingwerkekse zu naschen – oder auch drei. Die Nähe des ihm verhasstesten Schülers nicht ahnend, stieß er einen wohligen Seufzer aus, strich die fettigen Haarsträhnen glatt, die er quer über seinen kahlen Schädel gelegt hatte, und ließ sich in seinen ausgeleierten schwarzen Ledersessel sinken. Gemächlich breitete er die Zeitung auf seinem leeren Mahagoni-Schreibtisch aus, zog die oberste Schublade auf und entnahm ihr einen Kuli.

Es klopfte an die Tür und Margaret, die Schulsekretärin, kam herein.

»Ihren Tee, Sir?«

Mr Tuckdown winkte sie mit dem Finger herein, ohne sich die Mühe zu machen aufzuschauen.

»Das wäre dann alles für heute Nachmittag«, sagte er, als Margaret die Tasse Tee (mit Milch und sechs Würfeln Zucker) neben den Teller mit den Keksen stellte. »Bitte stellen Sie heute keine Anrufe mehr durch. Ich bin beschäftigt.«

»Ja, Sir, selbstverständlich. Da wäre nur noch eine Kleinigkeit …«

»Ja?«, fragte er und zog eine Augenbraue hoch.

»Nun, Mrs Tanner würde Sie gern sprechen. Sie wartet draußen mit Chri…«

»Christopher Lane?«, unterbrach Mr Tuckdown und setzte sich ruckartig auf.

Margaret öffnete den Mund, um etwas zu sagen, klappte ihn aber gleich wieder zu, als sie sah, dass Mr Tuckdown kurz vorm Explodieren stand. Nervös beobachtete sie, wie er aus seinem Sessel hochfuhr und ärgerlich grummelnd ans Fenster trat.

»Dieser Junge … dieser Junge … Also wirklich, Margaret, ich verfluche den Tag, an dem er seinen Fuß in diese Schule gesetzt hat. Ich habe die Nase voll von ihm!«, brüllte er und sein Gesicht bekam dunkelrote Flecken.

»Sir«, flüsterte Margaret, »der Junge steht draußen.«

»Das ist mir egal. Ich habe die Nase voll von dir. Hörst du mich, Christopher Lane? Gestrichen voll!«

Mr Tuckdown holte tief Luft und sah Margaret an.

»Der Junge ist noch keine zwei Monate hier und schon treibt er mich langsam, aber sicher in den Herzinfarkt. Meine Gesundheit leidet und schuld daran ist nur er.« Er schnappte sich einen Keks und verschlang ihn mit zwei großen Bissen.

Margaret, die langsam zur Tür zurückgewichen war, stand schweigend da und sah zu, wie Mr Tuckdown im Zimmer auf und ab tigerte. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und im Gehen schimpfte er leise vor sich hin.

»Meine Teepause wird wohl warten müssen«, sagte er schließlich. »Wieder einmal. Geben Sie uns fünf Minuten, dann kommen Sie herein und sagen, ich hätte einen dringenden Anruf.« Margaret nickte, ging rückwärts hinaus und ließ die Tür offen. Von Margaret im Flüsterton vor der schlechten Laune des Direktors gewarnt, trat Mrs Tanner, die Klassenlehrerin der 7c, einen Augenblick später in das Büro. Ihr folgte ein Junge, fast ebenso groß wie sie, der die Hände in den Taschen vergraben hatte und trotzig den Kopf gesenkt hielt.

»Verzeihen Sie die Störung«, sagte Mrs Tanner, den Mund zu einem Dauerflunsch verzogen, und steuerte auf den Schreibtisch des Direktors zu, wobei ihre hochhackigen, auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe über den Holzboden klapperten.

»Wird’s bald, Christopher?«, rief sie mit strenger, schriller Stimme. Nach kurzem Zögern durchquerte dieser den Raum und blieb neben seiner Lehrerin stehen.

»Ihre Besuche werden langsam lästig, Mrs Tanner«, sagte der Direktor.

»Es tut mir leid, Mr Tuckdown«, erwiderte sie, obwohl Chris den Eindruck hatte, dass es ihr nicht im Geringsten leidtat, »aber bedauerlicherweise ist es diesmal etwas Ernsteres. Die Sache ist nämlich die: Ich habe heute Morgen meine Handtasche unter meinen Stuhl im Klassenzimmer gestellt. Und als ich sie in der Mittagspause holte, musste ich feststellen, dass jemand …«, sie warf einen Seitenblick auf Chris, »… an meiner Brieftasche gewesen war und das Geld herausgenommen hatte.«

Sie und der Direktor sahen Chris auffordernd an, doch der machte keine Anstalten, etwas zu sagen. Er schaute nur auf seine abgetragenen, schmutzigen Schuhe und wartete ab.

Schließlich verlor Mr Tuckdown die Geduld.

»Nun, Junge? Was hast du dazu zu sagen?«

»Nichts, Sir.«

»Nichts! Wie viel hat er denn gestohlen?«

»Zwanzig Pfund«, antwortete Mrs Tanner.

Chris rührte sich nicht. Sein Kopf blieb gesenkt.

»Zwanzig Pfund, Chris. Wo sind sie?«, fragte Mr Tuckdown.

»Ich habe sie nicht gestohlen.«

»Natürlich hast du sie gestohlen. Wo sollen sie denn sonst hingekommen sein?«

»Woher soll ich das wissen?«, brauste Chris auf. »Ich habe sie nicht gestohlen.«

»Ich verbitte mir diesen Ton«, warnte Mr Tuckdown. »Zeige mir deine Taschen.«

Chris schob wortlos die Hände in die Hosentaschen und stülpte sie nach außen. Sie waren völlig leer.

»Nun ja«, sagte Mr Tuckdown, »das wäre wohl auch zu naheliegend, selbst für dich. Das Geld muss woanders sein.«

»Ich sage doch, dass ich es nicht habe«, entgegnete Chris trotzig.

»Wenn du es nicht gewesen bist, wer dann?«, fragte Mrs Tanner.

»Keine Ahnung«, erwiderte Chris und hob den Kopf. Er sah ihr an, dass sie ihm nicht glaubte, und es überraschte ihn nicht.

»Wie praktisch«, bemerkte Mr Tuckdown spöttisch. »Gut, dann gehen wir doch mal die möglichen Verdächtigen durch, Christopher. Könnte es Emma Becksdale gewesen sein, unsere Schulsprecherin? Oder Ibrahim Lamos, der in seinen sechs Jahren hier noch kein einziges Mal Arrest bekommen hat? Oder Jack Riggs, der sich mehr Verdienste erworben hat als jeder andere Schüler in der Geschichte der Black Marsh Secondary? Was meinst du?«

Chris schwieg.

»Oder«, fuhr Mr Tuckdown fort, »könnte es vielleicht doch der Junge gewesen sein, der hier vor mir steht? Dieser kleine Dreckskerl mit Löchern in der Hose, der glaubt, dass unsere Kleiderordnung für ihn nicht gilt? Der Dreckskerl, der schon häufiger, als ich mich erinnern möchte, Lebensmittel aus der Kantine gestohlen hat und gegenüber Lehrern und Mitschülern schnell pampig wird, weil er kein bisschen Spaß verträgt? Der Schüler der ersten Jahrgangsstufe, der nie sein Essensgeld mitbringt und jeden Tag zu spät kommt? Das alles spricht eine deutliche Sprache, und man braucht kein Sherlock Holmes zu sein, um daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.«

Er machte eine theatralische Pause.

»Der Schuldige bist du, Christopher Lane. Du bist für drei Tage vom Unterricht suspendiert«, schloss er abrupt, nahm einen Keks vom Teller und tunkte ihn in den Tee.

Mrs Tanner zeigte ein seltenes Lächeln, das, wie es Chris schien, immer nur dann bei ihr zu sehen war, wenn er bestraft wurde.

»Ich danke Ihnen, Mr Tuckdown, Sie haben mir soeben den Tag gerettet. An dem Sprichwort ›Wo Schatten ist, ist auch Licht‹ scheint etwas Wahres dran zu sein. So, und jetzt gib mir das Geld zurück.«

»Ich habe es nicht gestohlen!«, schrie Chris wutentbrannt.

»Ein Dieb und ein Lügner. Na schön. Dann werden wir deiner Mutter eben einen Brief schicken.« Mrs Tanner lächelte.

Chris spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, und wandte sich zur Tür, bevor es jemand sah.

»Drei Tage des Friedens und der Ruhe könnten die zwanzig Pfund glatt wert sein«, hörte er Mrs Tanner noch zum Direktor sagen, dann war er draußen und rannte den Korridor entlang.

Er rannte an der langen Reihe von Klassenzimmern vorbei, ohne sich darum zu kümmern, ob ihn jemand sah oder was derjenige dachte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppen hinunter, rempelte Schüler an, die auf dem Weg zum Unterricht waren, und stürzte dann zum Haupteingang hinaus. Es regnete in Strömen, aber er nahm es kaum wahr. Er rannte über den Schulhof, durch das Tor und die leere Straße entlang. Er nahm seine gewohnte Abkürzung und bog nach links in die schmale Gasse ab, die zur Hauptstraße führte. In einiger Entfernung sah er verschwommen im heftigen Regen den Verkehr vorbeibrausen. Er lehnte sich gegen eine nasse Backsteinwand und verschnaufte. Um sich zu beruhigen, begann er, langsam zu zählen, und nach einer Weile ging sein Atem gleichmäßiger. Er stieß sich von der Wand ab, fuhr sich mit den Fingern durchs nasse Haar und trocknete sich mit dem Saum seines Hemds das Gesicht. Dann bückte er sich, knüpfte den abgewetzten Schnürsenkel seines linken Schuhs auf und rollte die nasse Socke herunter. Ein zerknüllter Zwanzigpfundschein fiel zu Boden. Er hob ihn auf, wischte ihn am Ärmel ab und steckte ihn in die Tasche.

Donnerstag, 1. November

Am nächsten Morgen erwachte Chris, noch bevor sein Wecker klingelte. Er blieb im Bett liegen, und als der Nebel des Schlafes sich lichtete, fiel ihm wieder alles ein, was tags zuvor geschehen war: wie er beschlossen hatte, seine Lehrerin zu bestehlen, seine Suspendierung, die Gewissenbisse, die ihn geplagt hatten, als er mit dem Geld im Supermarkt einkaufte, und die Lügen, die er seiner Mutter aufgetischt hatte, als er nach Hause kam. Er dachte über den Plan nach, der ihm irgendwann in der Nacht eingefallen war, und obwohl er überzeugt war, dass er ihn ausführen musste, war ihm kein bisschen wohler bei dem Gedanken. Schon komisch, dachte er, heute war immer noch ein besonderer Tag. Nur leider aus den falschen Gründen.

Er fröstelte und zog sich die Bettdecke über die Schultern. Er konnte hören, wie der kalte Wind durch die Ritzen der morschen Fensterrahmen pfiff, und als er ausatmete, stieg eine Wolke warmer Luft in Richtung Zimmerdecke, ehe sie sich verflüchtigte. Er atmete erneut ein und öffnete den Mund, doch als er ausatmete, stach ihm etwas ins Auge, und er machte den Mund wieder zu. Er setzte sich auf. Zwischen dem Regal in der Ecke und dem oberen Türrahmen spannte sich ein großes Spinnennetz, das offenbar über Nacht entstanden war, ein kompliziertes Gespinst aus feinen, silbernen Fäden, die im Morgenlicht glitzerten. Er schlug die Decke zurück und ging hin. Eine kleine braune Spinne, nicht größer als ein Zwanzig-Penny-Stück, wob fleißig am Rand des Netzes, und Chris sah fasziniert zu, wie sie sich langsam voranarbeitete.

»Ein tolles Netz baust du da«, sagte Chris und tippte mit dem Finger sachte dagegen. Das Netz wackelte und die Spinne erstarrte.

»Tut mir leid«, sagte Chris. »Mach ruhig weiter.«

Als hätte die Spinne ihn verstanden, nahm sie sofort wieder die Arbeit auf.

Chris lachte. Er sah die Spinne an.

»Halt!«

Die Spinne hörte auf. Diesmal lachte Chris nicht. Er betrachtete die Spinne verwirrt.

»Los, spinne weiter dein Netz«, sagte er noch einmal leise und sah mit großen Augen zu, wie augenblicklich wieder Bewegung in die Spinne kam.

»Eigenartig«, dachte er und kratzte sich im Weggehen am Kopf. Er zog sich langsam an und beobachtete dabei die Spinne bei der Arbeit, bis er zum Wecker blickte und bemerkte, dass es gleich acht war. Er band sich rasch die Schuhe zu, schnappte seine Tasche und nahm das kleine blaue Samtetui vom Nachttisch, wobei er kurz verharrte und das Foto daneben ansah. Es war ein Foto seines Vaters in Uniform, aufgenommen zwei Wochen vor seinem Tod. Chris war damals erst fünf Jahre alt gewesen.

»Tut mir leid, Dad, ich hoffe, du verstehst es«, sagte Chris, steckte das Etui in seine Tasche und zog den Reißverschluss zu.

So leise wie möglich schlich er die Treppe hinunter. Im Flur war es dunkel, obwohl es draußen schon hell war. Er spähte um die Ecke ins Wohnzimmer. Seine Mutter schlief in ihrem Sessel, gut zugedeckt, so wie er sie am Abend verlassen hatte. An den meisten Tagen ging er geradewegs zum Fenster und zog die Vorhänge auf, aber heute wollte er, dass seine Mutter weiterschlief. Auf Zehenspitzen trippelte er zum Couchtisch und nahm die Schlüssel.

»Bis später, Mom«, flüsterte er, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging zurück zur Tür.

Seine Mutter schlug mit einem sanften Lächeln im Gesicht die Augen auf und einen Augenblick lang sah sie genauso aus wie früher.

»Wohin gehst du?«, fragte sie schläfrig.

»In die Schule«, log er mit schlechtem Gewissen. »In der Küche stehen Cornflakes und Milch – bitte iss etwas, wenn du aufstehst. Ich war gestern einkaufen, es ist genug da.«

Seine Mutter holte tief Luft und schlug die Decke zur Seite. Sie trug dieselben Sachen wie an den meisten Tagen: eine Jogginghose und ein altes Hemd ihres Vaters, in dem ihre zierliche Gestalt versank. Sie sah ihn an. Das Lächeln war verschwunden.

»Bist du immer noch da?«, fragte sie und rieb sich die Stirn, vermutlich um die aufkommenden Kopfschmerzen zu vertreiben.

»Bin schon weg.«

Sie nickte ausdruckslos, lehnte sich in den Sessel zurück und schloss die Augen, als hätte dieses kurze Gespräch ihre ganze Kraft aufgezehrt.

»Ich komme nach der Schule gleich nach Hause. Soll ich dir etwas mitbringen?«, fragte er, aber er bekam keine Antwort. Seine Mutter war schon wieder eingeschlafen.

Er beugte sich vor und zog ihr die Decke wieder über die Schultern. Er steckte die Schlüssel ein, schwang die Schultasche über die Schulter, trat aus der Haustür und schloss sie leise hinter sich. Am Ende der Straße bog er links ab. Nieselregen setzte ein. Er beschleunigte seine Schritte. Zu dumm, dass er den Schirm nicht mitgenommen hatte. Aber umkehren kam nicht infrage. Seine Mutter könnte aufwachen und Fragen stellen. Und er hasste es, sie anzulügen. Obwohl sie an ihm oder seinen Leistungen in der Schule seit Jahren nicht das geringste Interesse zeigte, wollte er sie auf keinen Fall enttäuschen. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und eilte weiter in Richtung Hauptstraße.

Der Regen war stärker geworden, als er die King Street erreichte. Die meisten Geschäfte hatten noch zu, aber die Straße wimmelte bereits von Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule waren. Er ging wieder langsamer, ohne auf das Glucksen seiner nassen Schuhe zu achten, und dachte noch einmal über gestern nach. Er konnte seine Klassenlehrerin nicht besonders leiden, und trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sie bestohlen hatte. Die halbe Nacht hatte er überlegt, wie er die Sache wieder geradebiegen konnte. Irgendwann in den frühen Morgenstunden war ihm eine Idee gekommen und erst dann war er eingeschlafen.

Er marschierte wie von einem Autopiloten gesteuert und so in Gedanken versunken, dass er beinahe an der Pfandleihe vorbeigegangen wäre. Er blieb stehen und sah sich die Ladenfront an. Schaufenster und Glastür waren schwarz gestrichen, damit Passanten nicht sehen konnten, wer in einer so verzweifelten Lage war, dass er seine Wertsachen versetzen musste. Ein Schild an der Tür verriet, dass geöffnet war, doch erneut kamen ihm Zweifel. Gab es denn wirklich keine bessere Lösung? Da ihm auch keine einfiel, nachdem er noch eine Weile nachgedacht und der Regen allmählich seine Kleider durchnässt hatte, holte er tief Luft, stieß die Tür auf und trat in einen dunklen, feucht riechenden Raum. Eine Türglocke schlug an und meldete Kundschaft.

In der Mitte des Ladens blieb er stehen und sah sich um, verlegen und unschlüssig, was er tun sollte. Eine Glasvitrine bildete eine Grenze zwischen Kunden und Personal. An den Wänden dahinter reihten sich Regale, die sich unter dem Gewicht der Fernseher, Stereoanlagen und sonstigen größeren Elektrogeräten bogen, mit denen sie vollgestopft waren. In der Vitrine selbst lagen unter verschmierten Scheiben Schmuckstücke, Kameras, Uhren und andere kleine Artikel. Jeder einzelne Gegenstand, so dachte er, stand für einen Menschen, der in einer ähnlich verzweifelten Lage war wie er.

»Kann ich dir helfen, mein Sohn?«, fragte eine barsche Stimme zu seiner Rechten.

Chris fuhr herum. Hinter der Ladentheke stand ein mürrisch dreinblickender, hagerer alter Mann in einem tristen, dunkelgrauen Anzug.

Der Mann musterte ihn argwöhnisch, während er näher kam.

»Ich möchte etwas … äh …«

»Versetzen?«

»Ja«, sagte Chris.

»Nur zu. Was ist es denn?«

Chris griff in die Jackentasche, zog das Samtetui heraus und legte es behutsam auf den Tisch.

Der Mann ergriff das Etui, klappte es langsam auf und nahm den Inhalt in Augenschein. Im Laden herrschte völlige Stille. Nach einer Weile hob er den Kopf und sah Chris an.

»Mein Sohn, weißt du, was das ist?«

»Ja. Ein Orden.«

»Das ist nicht einfach nur ein Orden. Das ist ein sehr seltener Militärorden, den ein Junge deines Alters nicht in der Tasche mit sich herumtragen sollte. Wem gehört er?«

»Mir.«

»Dann bist du entweder der jüngste Soldat der britischen Armee oder ein Lügner. So oder so, ich bin nicht interessiert.« Er klappte den Deckel wieder zu, legte das Etui auf die Theke und schob es zu Chris hinüber. »Bring ihn zurück, bevor der Besitzer sein Verschwinden bemerkt.« Der alte Mann wandte sich zum Gehen.

»Er gehört mir«, protestierte Chris verzweifelt. »Nach dem Tod meines Vaters habe ich ihn bekommen, also gehört er jetzt mir.«

Der Mann blieb stehen, drehte sich wieder um und sah Chris an.

»Er ist gestorben, als ich fünf war.«

»Und deine Mutter? Weiß sie, dass du hier bist?«

»Nein. Meiner Mom ist es egal. Seit er tot ist, geht es ihr nicht gut.«

Der Mann bemerkte das Stocken in Chris’ Stimme und sah, dass er mühsam um Fassung rang. Er schaute zum Etui und dann wieder zu Chris. Sein Blick wurde milder.

»Warum willst du ihn dann loswerden?«, fragte er.

»Ich will ihn nicht loswerden«, erwiderte Chris entrüsteter, als er beabsichtigt hatte. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Ich will ihn ja zurückkaufen. Es ist nur so …«

Er zögerte. In diesem Augenblick hätte er den Laden am liebsten wieder verlassen und wäre nach Hause gegangen, aber er wusste, dass er keine Wahl hatte. Es fiel ihm schwer, um Hilfe zu bitten, aber er sah keinen anderen Ausweg, als dem Mann die Wahrheit zu sagen.

»Ich bin in Schwierigkeiten und brauche das Geld.«

Der Mann überlegte einen Moment. Dann sagte er:

»Hast du denn nichts anderes, was du versetzen könntest?«

»Nein, gar nichts«, antwortete Chris.

»Tja, mein Sohn, tut mir leid, aber ich kann den Orden nicht nehmen. Er ist mehr Geld wert, als ich hier habe. Und ich wüsste auch gar nicht, was ich damit anfangen sollte. Außerdem darf ich mit Minderjährigen keine Geschäfte machen.« Er deutete auf das Schild an der Tür.

Chris machte ein langes Gesicht. Die Entscheidung, hierherzukommen, war die schwierigste seines Lebens gewesen, und wie sich nun herausstellte, hatte er sich ganz umsonst damit gequält. Er nahm das Etui und steckte es wieder in die Tasche.

»Trotzdem danke«, sagte er ausdruckslos und sah den Mann an, in der Hoffnung, er könnte vielleicht doch noch seine Meinung ändern. Aber der Mann blickte ihn nur stumm an, mit einem unergründlichen Ausdruck im Gesicht. Schließlich wandte sich Chris ab und ging zur Tür.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte der Mann, als Chris gerade die Klinke drücken wollte. Überrascht drehte er sich um.

»Chris. Chris Lane.«

»Aha. Komm doch mal her, Chris.«

Er wartete, bis Chris bei ihm war.

»Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Ob ich jetzt sentimentale Anwandlungen bekomme oder was, aber ich werde dir etwas Geld geben.«

»Dann wollen Sie den Orden also doch nehmen?«, fragte Chris.

»Nein, mein Sohn, den Orden nehme ich nicht. Der gehört zu dir. Ich werde dich dafür bezahlen, dass du für mich arbeitest.«

»Ach«, sagte Chris erstaunt. »Es ist nur so, dass ich …«

»Dass du das Geld sofort brauchst?«, fragte der alte Mann.

»Ja.«

»Kein Problem. Ich gebe dir einen Vertrauensvorschuss – und das tue ich nicht oft, aber irgendwas überkommt mich gerade. Ich gebe dir fünfzig Pfund, und dafür hilfst du mir, Ordnung in das Durcheinander hier zu bringen. Mein Rücken ist nicht mehr das, was er mal war, deshalb kann ich keine schweren Sachen mehr heben.« Er deutete mit dem Kopf auf die überquellenden Regale und die Kartons, die sich um ihn herum auf dem Fußboden stapelten.

Chris wollte schon Ja sagen, zögerte dann aber.

»Geben Sie mir hundert Pfund, und ich mache alles allein.«

Der Mann lachte.

»Hm. Du hast vielleicht Nerven, mein Sohn. Also, ich weiß nicht – das ist ein bisschen happig.«

»Hundert Pfund, und Sie werden Ihren Laden nicht wiedererkennen«, sagte Chris mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte.

Der Mann sah ihn an und nach einigem Überlegen lächelte er.

»Abgemacht. Aber dass du mir auch Wort hältst.«

»Vielen Dank. Ich werde hart arbeiten«, sagte Chris leise.

Der Mann sah ihm in die Augen und lächelte.

»Ich weiß sofort, ob ich jemandem vertrauen kann. Du wirst mich nicht enttäuschen.« Damit zückte er eine Brieftasche, entnahm ihr fünf Zwanzigpfundscheine und blätterte sie auf den Ladentisch.

»Und jetzt raus mit dir. Komm am Sonntag, den 16. Dezember, wieder. An dem Wochenende haben wir geschlossen. Das ist eine günstige Gelegenheit, um vor dem großen Weihnachtsandrang klar Schiff zu machen.«

»Ich werde hier sein. Danke … Sir.«

»Frank.«

»Danke, Frank.«

Chris nahm die Geldscheine, faltete sie sorgfältig zusammen und steckte sie in die Jackentasche. Er lächelte dankbar und zögerte, unschlüssig, was er sagen sollte.

»Nun verschwinde schon«, sagte der Mann streng und deutete zur Tür. »Wir sehen uns dann im Dezember.«

Chris nickte, drehte sich um und ging hinaus auf die Straße. Der Regen hatte aufgehört und die Sonne blinzelte durch die Wolken. Er klopfte an seine Tasche und schlug grinsend den Weg zur Bushaltestelle ein.

Es war noch früh, als Chris an der Schule ankam. Er hatte zwanzig Minuten – Zeit genug, um zu tun, was getan werden musste, und um rechtzeitig vor Unterrichtsbeginn wieder zu verschwinden. Ein paar Schüler liefen schon herum, aber sie schenkten ihm nicht die geringste Beachtung. Er war erst seit zwei Monaten an der Schule und abgesehen von den Zusammenstößen mit Lehrern und Kevin Blunt, dem Obermobber der Schule, war er für sich allein geblieben. Es war nicht so, dass er keine Freundschaften schließen wollte. Er wollte nur nicht ständig erklären müssen, warum er nach der Schule immer gleich nach Hause ging oder warum er nie Geld fürs Kino oder andere Dinge hatte, die Kinder seines Alters gern taten. Diesmal jedoch kam ihm seine Fähigkeit, unbemerkt in der Menge unterzugehen, sehr gelegen. Er überquerte den Schulhof, betrat den Haupteingang und stieg die Treppe hinauf. Er wollte gerade den Korridor betreten, als vor ihm eine Tür aufschwang. Er erstarrte. Eine Teetasse in der Hand, kam Mrs Tanner aus dem Klassenzimmer und bog in die entgegengesetzte Richtung ab. Er drückte sich an die Wand und hielt den Atem an, bis sie durch die Tür am anderen Ende verschwunden war.

Mit doppelter Vorsicht schlich er zur Tür des Klassenzimmers und spähte hinein. Das Zimmer war leer. Da er nicht wusste, wann Mrs Tanner zurückkommen würde, schlüpfte er schnell hinein und steuerte geradewegs auf das Lehrerpult zu. Ihre Handtasche stand nicht am gewohnten Platz. Wahrscheinlich war das, was er getan hatte, dafür der Grund, aber er schob den Gedanken beiseite – er musste sich auf die anstehende Aufgabe konzentrieren. Er schaute sich noch einmal um, dann griff er in seine Tasche, zog die oberste Schublade auf und legte den Zwanzigpfundschein hinein. Er wollte die Schublade gerade wieder schließen, da ertönte hinter ihm ein Quietschen.

Er zuckte zusammen und fuhr herum. In der Tür stand eine blonde Frau, die er nicht kannte. Ihr tailliertes graues Kostüm, ihre manikürten Fingernägel und ihre perfekte Frisur ließen vermuten, dass sie keine Lehrerin war.

»Hi. Ich suche die Kantine, kann sie aber nicht finden. Anscheinend bin ich im Kreis gelaufen.«

»Oh«, sagte Chris mit rotem Kopf, »die ist auf der anderen Seite. Über den Hof und die Treppe rauf.«

»Ach ja, natürlich. Bis du gerade beschäftigt? Könntest du mir zeigen, wo sie ist, und mir behilflich sein? Ich muss ein paar Stühle in die Kantine bringen.«

Chris zögerte, da ihm aber auf Anhieb keine Ausrede einfiel, willigte er ein.

»Okay«, sagte er und schob hinter sich die Schublade zu. Eilends folgte er der Frau hinaus auf den Korridor.

»Danke für deine Hilfe«, sagte die Frau hinter dem Stapel Stühle hervor, den sie trug.

»Keine Ursache«, sagte Chris. »Wofür sind die denn?«

»Ich bin vom Erziehungsministerium. Wir führen heute ein paar Befragungen durch. Wie alt bist du denn?«

»Elf … ich meine, zwölf.«

»Na wunderbar. Das bedeutet, dass wir uns später wiedersehen – wir werden dann erklären, worum es geht. Wie heißt du?«

»Chris. Christopher Lane.«

»Freut mich, Christopher«, sagte sie, »ich bin Allegra Sonata – Miss Sonata.« Sie sah zu ihm herüber und lächelte, während sie die Stühle absetzte. Sie öffnete die Kantinentür und sicherte sie mit dem Feststeller, damit sie nicht zufiel.

»Ich brauche sie da drüben«, sagte sie und deutete zum anderen Ende des Raums.

Sie trugen die Stühle hin und setzten sie ab.

Jetzt könnte ich eine Tasse Kaffee gebrauchen, dachte Miss Sonata bei sich.

»Oben im Lehrerzimmer können Sie eine bekommen. Das ist eine Treppe höher, am Ende des Flurs.«

»Wie bitte?«, fragte Miss Sonata und sah ihn verwirrt an.

»Im Lehrerzimmer können Sie Kaffee bekommen. Das ist oben …«

»Nein, nein, ich habe schon verstanden, was du gesagt hast, aber woher weißt du, dass ich einen Kaffee möchte?«

Jetzt war es an Chris, verwirrt zu schauen.

»Sie haben es doch gerade gesagt.«

Miss Sonata öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, hielt dann aber inne und schloss ihn wieder. Sie überlegte kurz.

»Wie, sagtest du, heißt du mit Nachnamen?«, fragte sie und nahm einen Ordner von dem Tisch neben ihr.

»Lane.«

»Lane. Hm«, sagte sie und blätterte in dem Ordner. Sie fand, was sie suchte, und fuhr mit dem Finger die Seite ab.

»Ah, da haben wir dich ja. Du gehst in die 7c, richtig?«

Chris nickte.

»Ausgezeichnet. Deine Befragung ist um Viertel vor zwölf. Ich freue mich darauf.«

Chris zögerte und beschloss dann, die Wahrheit zu sagen.