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Der neue Roman von Bestsellerautorin Christelle Dabos («Die Spiegelreisende») über Individualität und erste Liebe in einem dystopischen Setting, das kein «Ich» erlaubt. Claire und Goliath leben in einer Welt, in der das «Wir» über allem steht. In der jeder Mensch den Instinkt besitzt, dem Allgemeinwohl zu dienen. Individualität existiert nicht. Doch was passiert, wenn sie doch an die Oberfläche kommt? Goliath bleiben nur noch wenige Wochen, um das Leben eines anderen Menschen zu retten und damit ein «Tugendhafter» zu werden. Claire steht vor ihrem Abschluss an der Schule der Vertrauten. Claire weiß, was sie riskiert, wenn sie von diesem Weg abkommt. Doch dann verschwindet ein Schüler und niemand außer Claire scheint es zu bemerken. Wie soll man im Schatten bleiben, während man ermittelt? Claire und Goliath tun sich zusammen, um den Vermisstenfällen in ihrem Sektor auf den Grund zu gehen. Doch der Fall ist viel größer, als sie sich beide vorstellen können. Und dann beschäftigt Claire noch ein ganz anderes Geheimnis - eines, das sie in Lebensgefahr bringen könnte ... - Brillant und vielschichtig geschrieben: Spannung bis zur letzten Seite - Eine bewegende Dystopie und ein wahrer Pageturner für Leser*innen ab 14 Jahren! - Für Fans von «Die Tribute von Panem» und «1984»
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Seitenzahl: 735
Veröffentlichungsjahr: 2025
Christelle Dabos
Claire und Goliath leben in einer Welt, in der das «Wir» über allem steht. In der jeder Mensch den Instinkt besitzt, dem Allgemeinwohl zu dienen. Individualität existiert nicht. Doch was passiert, wenn sie doch an die Oberfläche kommt?
Goliath bleiben nur noch wenige Wochen, um das Leben eines anderen Menschen zu retten und damit ein «Tugendhafter» zu werden. Claire steht vor ihrem Abschluss an der «Schule der Vertrauten». Claire weiß, was sie riskiert, wenn sie von diesem Weg abkommt. Doch dann verschwindet ein Schüler und niemand außer Claire scheint es zu bemerken. Wie soll man im Schatten bleiben, während man ermittelt?
Claire und Goliath tun sich zusammen, um den Vermisstenfällen in ihrem Sektor auf den Grund zu gehen. Doch der Fall ist viel größer, als sich beide vorstellen können. Nicht zuletzt, weil Claire keinen Instinkt besitzt, sondern ein «Ich». Und damit in höchster Gefahr schwebt – denn Individualität ist verboten.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de
Christelle Dabos, geboren 1980 an der Côte d'Azur, wuchs in einem Zuhause mit viel klassischer Musik auf und lebt heute in Belgien. Von ihrer Debütreihe «Die Spiegelreisende» wurden in Frankreich mehr als eine Million Exemplare verkauft und sie wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt.
Die französische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «Nous» bei Gallimard Jeunesse, Paris.
Die Übersetzerinnen danken dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Förderung ihrer Arbeit am vorliegenden Text.
Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book
Copyright für die deutsche Übersetzung © 2025, Fischer Sauerländer GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main «Nous» Copyright © 2024 by Christelle Dabos
Lektorat: Isabelle Erler
Covergestaltung: FAVORITBÜRO, München unter Verwendung einer Illustration von Kristina Gehrmann
Coverabbildung: Kristina Gehrmann
ISBN 978-3-7336-0948-1
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Jeder Mensch hat einen Instinkt.
Vertraue immer deinem Instinkt.
Alle Instinkte sind gleich.
Es gibt nur Edle Instinkte.
Es ist verboten, über seinen Instinkt zu lügen.
Instinktmissbrauch ist ein Verbrechen.
Der Instinkt weiß, wo, wann, wie.
Du brauchst nicht zu wissen, warum.
Alle Autorität liegt bei der Instinktiven Verwaltung.
Ein Tugendhafter hat 11 Leben gerettet.
Ein Engel hat 101 Leben gerettet.
Ein Erzengel hat 1001 Leben gerettet.
Ein Fürst hat 10001 Leben gerettet.
Ein Cherub hat 100001 Leben gerettet.
Ein Seraph hat 1000001 Leben gerettet.
Ein Mächtiger hat 10000001 Leben gerettet.
Ein Erlöser hat 100000001 Leben gerettet.
Ein Allerhöchster hat 1000000001 Leben gerettet.
«Heilig» sind Tugendhafte, Engel, Erzengel und Fürsten.
«Erhaben» sind Cherubim, Seraphim, Mächtige und Erlöser.
Der Status des Allerhöchsten wurde bis heute von niemandem erreicht.
(Auch wenn das nicht wichtig ist)
BLUTSPENDE
EIN KLEINER TROPFEN VON EUCH
EINE GROSSE GESTE FÜR DAS WIR
IHR SPENDET BLUT,
IHR RETTET LEBEN!*
Sie starrt auf die Werbung an der Bushaltestelle. Auf das Kleingedruckte, vor allem. Sie verdreht den Kopf, um die winzige Schrift am rechten Rand des Plakats zu entziffern: *Vier Spenden pro Jahr über einen Zeitraum von drei aufeinanderfolgenden Jahren entspricht einem halben Lebenspunkt bei der Zählstelle Ihres Sektors. Genau was sie erwartet hat: nichts, womit man die Heiligung anstreben könnte.
Es gibt immer ein Kleingedrucktes.
Der Bus kommt. Sie nimmt den Werkzeugkasten, der vor ihren Füßen steht, und steigt ein, wobei sie den anderen Fahrgästen verstohlene Blicke zuwirft. Der Bus ist brechend voll, wie belastend! Sie ignoriert all die zerrissenen Jeans, Vokuhilas, neonfarbenen Bandanas und Kaugummiblasen, um sich auf die Gesichter zu konzentrieren. Die Zeichen. Es gibt zwei Konstrukteure, einen Rechner, eine Informantin, alle Arten von Dienstbaren (darunter eine Frau, die viermal so alt ist wie sie und ihr sofort ihren Platz ganz hinten im Bus überlassen hat), aber vor allem, uff, keine Reparateure.
Um die macht sie einen großen Bogen in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Jedes Mal, wenn einer von ihnen ihr Zeichen checkt und sieht, dass sie auch eine Reparateurin ist, drückt er ihr todsicher ein Gespräch über Bolzen aufs Auge. Während. Der. Gesamten. Fahrt. Und wenn er erst mitbekommt, dass sie noch am Internat für Reparatur ist, meint er, ihr haarklein von seiner eigenen Ausbildung erzählen zu müssen, ach, damals, in meiner Jugend, das war die schönste Zeit, kleines Fräulein, genieß es, solange du noch kannst! Genau wie ihre Großcousins.
Was denn genießen?
Im Unterricht lernt sie nichts, was ihr Instinkt nicht schon wüsste. Und das Praktikum bei der Aufzugwartungsfirma, von dem sie gerade kommt, vermittelt ihr einen eher trostlosen Eindruck davon, wie ihr restliches Dasein aussehen wird. Anschrauben, abschrauben, wieder festschrauben.
Sie heißt übrigens Martha, aber das ist nicht so wichtig.
Sie lehnt den Kopf an die Scheibe und beobachtet das Treiben der Fußgänger. Dieser Straßenreiniger mit seinem Besen, der den Bürgersteig von allem säubert, worüber die Leute stolpern könnten, diese Liebevolle, die auf Rollerskates ihre Runde dreht, um jeden zu umarmen, der sich bedrückt fühlt, dieser kleine Junge, der schon seiner Mutter hilft, die Einkäufe zu tragen – er hat sein Zeichen noch nicht bekommen, aber das kann nicht mehr lange dauern, er dürfte bald elf werden. In all ihren Augen dasselbe Strahlen, derselbe Eifer.
Durchdrungen vom Wir.
Martha hebt den Blick, um die Häuserwürfel vorbeiziehen zu sehen. Roter Beton, Aluminiumfenster, Dachterrassen, Tags an jeder Wand, sie ähneln sich alle. Bis auf eine Ausnahme: der Wolkenkratzer der Erhabenen des Südens, dort in der Ferne. Funkelnd und spektakulär. Martha betrachtet ihn von ihrem mickrigen Sitz hinten im Bus aus, erdrückt von seiner Größe. Die müssen Wahnsinnsaufzüge haben, da drin, aber sie haben ihren eigenen Wartungsdienst. Sie war noch nie dort; sie ist nicht wichtig genug; sie hat kein einziges Leben gerettet; sie schraubt nur an, ab und wieder fest. Wie jedes Mal auf dem Weg zurück vom Praktikum, wo niemand sie aufhält, zur Schule, wo niemand sie erwartet, zählt sie die Etagen. Sie wird nie damit fertig. Trotzdem findet sie es komisch, dass er «der Wolkenkratzer der Erhabenen» heißt, denn abgesehen von den vier Seraphim des Südens, die zwischen der 80. und der 99. Etage wohnen, gibt es darin eigentlich nur Heilige: jede Menge Tugendhafte, ziemlich viele Engel, ein paar Erzengel und ein Dutzend Fürsten.
Was soll’s, Heilige oder Erhabene, das sind am Ende auch nur Namen. Namen und Zahlen. Sie werden mit ihrem Instinkt geboren und sterben mit ihrem Instinkt, und an ihre Stelle treten andere, die mit ihrem Instinkt geboren werden und mit ihrem Instinkt sterben, wie jeder gewöhnliche Mensch, nur dass sie Leben retten. Viele, viele Leben. Nicht mal so wichtige und auch nicht besonders lange Leben.
Martha schluckt. Wenn irgendwer in diesem Bus wüsste, was sie denkt, hätte sie sofort eine Anzeige am Hals. Ist sie denn die Einzige, die profane Gedanken hat? Die Erhabenen und die Heiligen sind gesegnet. Sie selbst ist auch gesegnet. Sie alle sind gesegnet, denn sie alle haben einen Instinkt, und vor dem Wir sind alle Instinkte gleich.
Marthas Finger umklammern ihre Werkzeugkiste. Oh nein. Ein alter Mann ist mit seinem Einkaufswägelchen in den Bus gestiegen. Sie kann von hier aus sehen, dass eines der Räder kurz davor ist abzufallen. Sie hat eine instinktive Reichweite von achtzig Zentimetern. Dass sich der Alte nur nicht hinten in den Bus setzt, in ihre Nähe, wo sie die Panne nicht ignorieren kann!
Von wegen. Er kommt direkt auf sie zu.
Sobald er ihr Instinktfeld erreicht, spürt Martha es: das dringende Bedürfnis, das Rad schnell, schnell, schnell mit dem Schraubenschlüssel festzuziehen. Sie schluckt noch einmal. Streng genommen ist der Wagen noch nicht kaputt, der Instinkt hat noch nicht die Oberhand gewonnen, aber er rumort schon in ihr.
Repariere, repariere, repariere.
Es ist eine genüssliche Qual. Das ist das Schlimmste für Martha: die Vorfreude darauf, gleich ihren Instinkt zu befriedigen, beinahe zu hoffen, ja, beinahe, dass dieses Rädchen endlich abfällt.
Der Alte hat sich auf die Bank gegenüber gesetzt, eine Hand auf seinem Wagen, in Gedanken versunken. Er trägt einen I-Anstecker. Ein Tugendhafter im Ruhestand. Seinem Zeichen nach ist er ein Heilender, und ebenfalls seinem Zeichen zufolge hat er eine sehr geringe instinktive Reichweite. Martha findet das unfair. Sie hat vier Stunden Unterricht und vier Stunden Praktikum hinter sich, sie hat eine Pause verdient! Was würde der alte Arzt sagen, wenn ein Typ mit Magengeschwür sich neben ihn quetschen würde? Wenn sein Instinkt ihn dazu zwingen würde, seine Einkäufe, seine Träumerei, alles, was er gerade tut, hinzuschmeißen, um sich voll und ganz der Gesundheit eines vollkommen Unbekannten zu widmen?
Sie springt von ihrem Sitz auf.
Der Instinkt hat eine geballte Ladung Chemie durch ihren Körper gejagt. Vom Bus durchgeschüttelt, ist das Rad schließlich abgefallen. REPARIERE! Noch ehe der Alte begreift, warum sein Einkaufswägelchen plötzlich das Gleichgewicht verloren hat, ist Martha schon auf den Knien, einen Dreizehner-Schlüssel in der Hand, und zieht die Mutter fest. Jede Umdrehung ist das pure Glück. Sie fühlt sich so erfüllt, so da, so Wir!
«Danke, Fräulein.»
Martha erwidert nichts, nicht einmal das Lächeln des alten Herrn Das Rädchen ist repariert, die Euphorie ist verflogen. Danke wofür? Das war alles nur der Instinkt. Sie wollte ihm nicht helfen.
Sie legt ihr Werkzeug zurück in die Kiste und steigt bei ihrer Haltestelle an der Schulkreuzung aus. Dort bleibt sie einen Moment auf dem Gehweg stehen, mitten im Strom der Passanten, und starrt auf ihre Schuhe.
Sie schämt sich.
Martha erreicht das Portal der Reparatur-Schule. Durchs Gitter betrachtet sie die Flut der Schüler und Lehrer, jeder mit der gleichen Werkzeugkiste wie sie in der Hand, mit dem gleichen Zeichen wie sie im Gesicht – bloß die Reichweiten unterscheiden sich. Sie sehen so zufrieden aus! Froh über die erfüllte Aufgabe und froh über alle, die noch kommen werden.
Vielleicht sollte Martha einfach aufhören, vom Wir etwas anderes zu erwarten als das, was sie schon ist? Ins Internat zurückkehren, anschrauben, den Unterricht besuchen, abschrauben, ihr Praktikum beenden, wieder festschrauben, die Abschlussprüfungen bestehen und die erstbeste Stelle in einer Fabrik annehmen, die ihr angeboten wird? Vielleicht sogar, warum nicht, ein paar Freunde finden und wieder Kontakt zu ihren Großcousins im Ost-Sektor aufnehmen?
Aber Martha wird ihre Großcousins nicht kontaktieren.
Martha wird weder in den Unterricht noch zu ihrem Praktikum zurückkehren.
Martha wird keine Räder von alten Ärzten mehr im Bus festschrauben.
Denn an diesem Tag, im Süd-Sektor, vor dem Portal der Schule für Reparatur, wurden Martha und ihre Werkzeugkiste zum letzten Mal gesehen.
Claire,
du bist so nah, und du fehlst mir.
J.
Ein Tropfen Blut klatscht ins Waschbecken. Mein Blut. Ich wollte einen guten Eindruck machen? Fängt ja super an. Ich fluche, so wenig blasphemisch wie möglich, während ich ein Taschentuch auf den Schnitt presse. Seit drei Jahren habe ich jetzt schon Haare am Kinn, und es ist immer noch eine Tortur, mich zu rasieren. Wenn mein Bruder mich sehen könnte, der hätte seinen Spaß. Immerhin beschädige ich mein Zeichen nicht: Das Wichtigste ist unversehrt.
Ich mustere mich im Spiegel. Seit gestern bin ich volljährig.
Habe ich mich verändert? Mir wird immer gesagt, ich hätte eine Gaunervisage, und das hat sich nicht groß geändert. Ich korrigiere den Druck meiner künstlichen Finger auf die Rasierklinge. Das ist noch schwieriger, als eine Zahnbürste zu halten, aber ich muss tadellos aussehen. Meine Zukunft hängt davon ab.
Er liegt neben dem Waschbecken: ein hübscher, himmelblauer Umschlag mit meinem Namen und der Aureole der Instinktiven Verwaltung darauf. Ich habe ihn heute früh, als ich vom Joggen zurückkam, in meinem Postfach gefunden. Ich habe ihn nicht geöffnet (das ist noch schwieriger, als eine Rasierklinge zu benutzen), aber ich habe ihn vor eine Glühbirne gehalten. Ich weiß, was drin ist.
Ein Countdown.
«Nur noch ein Leben.»
Die Worte rutschen mir unwillkürlich heraus. Ich recke meine Brust und straffe die Schultern. Sie schmerzen von dem intensiven Training, das ich mir jeden Morgen zusätzlich zum vorgeschriebenen Joggen abverlange. Meine Armprothesen schnurren gut geölt. Der Geruch der Seife mischt sich mit dem des mechanischen Schmierfetts, tägliche Pflege muss sein, wenn ich meine Hände richtig benutzen will.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr in den Gemeinschaftsduschen. Gleich wird die Klingel meine Mitschüler wecken, aber jetzt und hier gehören diese Reihen alter Waschbecken, das Gluckern der Rohre, der Chlorgestank, die gesprungenen Kacheln unter meinen Füßen, die Lampen, die einem kein Detail ersparen, und die tausendmal getragenen, tausendmal gewaschenen, wie Gerippe von den Haken hängenden ultrakratzigen Bademäntel, ja, all das gehört in diesem Moment mir.
Angefangen bei meinem Instinkt.
Ich schließe die Augen, ich spüre unter meine Haut, unter mein Zeichen, ins Innerste meines Körpers, ins Mark meiner Knochen, ich spüre, und ich weiß, er ist da, auf der Lauer, er wird da sein bis zu meinem letzten Atemzug, er ist ich oder vielmehr das Beste an mir.
Ich öffne die Augen wieder. Was ist das für eine komische Beule zwischen meinen Rippen? Nicht normal ist die, ganz und gar nicht normal. Schnell, schnell, anziehen, nicht dran denken, vor allem nicht heute Morgen, einen guten Eindruck machen. Ich ziehe den Reißverschluss meines Blazers mit dem Logo der Protektorats-Schule hoch. Ich bin ein beinahe Tugendhafter, ein so gut wie Heiliger, ich werde es denen allen zeigen – vor allem dir, Brüderchen. Und darum: nur noch ein Leben, das ich retten muss.
Die Klingel schrillt durchs ganze Internat. Los geht’s.
Ich schiebe den blauen Umschlag in meine Tasche und laufe im Zickzack zwischen den erwachenden Schülern durch den Flur. In den Schlafsälen wird gegähnt, sich gereckt und aufgewärmt. Wo ich vorbeikomme, weichen die Jüngeren hastig zurück, während sie ihre Trainingsanzüge überstreifen. Nicht vor mir haben sie Angst, sondern vor meinen Armen, davor, was auch sie so alles verlieren könnten. Ich sehe an diesem Schuljahresende so einige, die schon ziemlich übel zugerichtet sind. Bein im Gips, bandagierte Hände, Pflaster auf der Nase. Tja, so ist das, wenn man als Schützer geboren wird.
Auf der Treppe traben die Jahrgangsbesten im Laufschritt an mir vorbei und grölen dabei aus vollem Hals die Hymne Was wir beschützen!, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Sie tun, als wäre ich nie einer von ihnen gewesen, dabei war ich vor gar nicht so langer Zeit die Nummer eins.
Ich lehne mich übers Geländer.
«Schon gelaufen, als Erster geduscht, als Letzter im Bett, zehn Leben auf dem Konto, und ihr sollt die Vorbilder sein?»
Meine Stimme hallt laut durchs ganze Treppenhaus, doch sie antworten mir nicht. Shit.
Es gießt in Strömen, durch die undichten Fenster regnet es herein. Zwischen den unzähligen Leuchtstickern hindurch, die irgendwelche kleinen Witzbolde nur so zum Spaß überall hinpappen, sehe ich das Blaulicht einer Patrouille von Tugendhaften vorbeiziehen. An der Schulkreuzung ist schon ordentlich was los. Auf der anderen Straßenseite blinkt die Neonschrift des Allerseelen, des meist belagerten Cafés im Viertel. Ich lasse meinen Blick über die roten Betonfassaden der anderen Schulen schweifen, die weniger zugetaggt und etwas schnieker sind als unsere. Angeblich haben sie dort elektrische Rasierapparate und Toiletten, die man abschließen kann. Ich würde trotzdem mit niemandem tauschen wollen, schon gar nicht mit unseren Nachbarn aus der Vertrauten-Schule. Sollen sie sich doch in ihrer Bude verkriechen, hinter ihren schicken, doppelt verglasten Fenstern.
Ein Vertrauter rettet niemanden.
Ich hebe den Blick vom roten Beton, der verstopften Schulkreuzung, der Leuchtschrift des Allerseelen und suche in der Ferne, von Wolken verschleiert, den Turm der Erhabenen des Südens. Ich bekreuzige mich, wie jedes Mal. Wer den Weg der Heiligung beschreitet, der wird dort einquartiert, versorgt, respektiert und braucht sich um nichts mehr zu kümmern.
Viel zu früh stehe ich vor dem Büro der Direktorin. Es ist, neben den Klassenräumen und dem Besucherzimmer, der einzige Ort in der Protektorats-Schule mit einer Tür. Wir leben alle zusammen, Jungen wie Mädchen, entleeren unsere Blasen zusammen, ohne jegliche Privatsphäre, auch eine Art, uns beizubringen, wie man eins wird mit dem Wir. Besser ich höre jetzt auf, an all das zu denken, was wirklich zwischen diesen nicht vorhandenen Türen passiert, und bereite mich darauf vor, der Chefin gegenüberzutreten.
Was soll’s, ich hab nicht die Geduld zu warten, jede Minute zählt. Meine Prothese scheppert, als ich anklopfe.
«Herein.»
Schon in der Defensive, die Stimme der Direktorin. Ich öffne.
«Setzen Sie mich wieder bei der Feuerwehr ein!»
Die Direktorin hebt die Nase von ihrer Schreibmaschine, um mich hinter ihrem Resopal-Tisch von Kopf bis Fuß zu mustern. Als ich klein war, hatte ich eine Heidenangst vor ihr. Diesen Stock, der an ihrem Stuhl lehnt, habe ich schon auf jeder Stelle meines Körpers zu spüren bekommen. Amputiert bis zum Oberschenkel, unsere Chefin, seit sie ihr siebtes Leben gerettet hat.
«Drei Dinge, Goliath. Erstens: Hören Sie auf zu lächeln, das passt nicht zu Ihrer Visage. Zweitens: Wenn Sie mit mir reden, brüllen Sie nicht so, bitte. Drittens: Setzen Sie sich.»
Ich setze mich also.
Der Schädel der Direktorin ist glatt und glänzend wie eine Discokugel. So kurz rasiere ich meine Haare nie. All die nackte Haut hebt das Schützer-Zeichen in ihrem Gesicht hervor. Das gleiche wie meins, nur dass ihres eine größere instinktive Reichweite anzeigt.
Im Büro wie überall in der Schule hängen Poster mit dem Aureolen-Logo der Instinktiven Verwaltung:
NOCH NICHT VOLLJÄHRIG?
SCHLAGE DEN WEG DER HEILIGUNG EIN
DIE ERHABENEN SIND FÜR UNS DA, RUND UM DIE UHR
VERDÄCHTIGES VERHALTEN?
KONTAKTIEREN SIE UNSERE AUFKLÄRER!
ES GIBT KEINE KLEINEN INSTINKTE,
ABER GROSSE BERUFUNGEN
Meine Jugendträume wurden von diesen schreienden Plakaten genährt. Ich lege den blauen Umschlag neben die Schreibmaschine, dann sage ich, etwas leiser:
«Ich habe sie bekommen.»
Die Direktorin reißt den Umschlag auf, faltet den Brief auseinander und stößt einen Seufzer aus.
«Ernsthaft, Goliath? Eine Fristverlängerung?»
«Man hat mir 30 Tage ab meinem Geburtstag bewilligt. Jetzt noch 29. Versetzen Sie mich wieder zur Feuerwehr.»
Ich muss einfach mit breiter Brust auftreten, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich will, dass die Direktorin selbst sieht, was ich seit gestern offiziell bin: erwachsen. Ich habe nichts mehr von dem Rotzlümmel, der ihr seit seinem Eintritt in die Protektorats-Schule so viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Ich habe Muskeln, Disziplin und Köpfchen entwickelt (und eine Beule zwischen meinen Rippen, die ich bei jedem Atemzug spüre), (eine ganz und gar nicht normale Beule), (stopp!).
«Ich will mein Abschlusspraktikum bei der Feuerwehr beenden. Zusammen mit den anderen Jahrgangsbesten.»
Als die Direktorin mir ihre Rechenmaschine zudreht, unterdrücke ich den Impuls, mich wegzuducken. Sie wirkt zwar eher ruhig, so, aber sie hat schon mal ihr Telefon nach mir geworfen, und ich hatte tagelang den Abdruck der Wählscheibe auf der Stirn.
«Die Zahl, die Sie auf der Anzeige sehen, Goliath, ist unser Budget. Das, was nach Abzug aller Fixkosten davon übrig ist. Null Komma nichts. Und mit diesem Nullkommanichts muss ich eure Bäuche füllen, eure Hintern bekleiden und eure Wehwehchen verarzten.»
Ich vergrabe meine künstlichen Hände in den Jackentaschen. Diese Wehwehchen waren ganz besonders teuer. Die Baustelle für eine Industrieanlage, der Kittel eines Arbeiters, der sich im Metallschredder verfängt, und zack: Ich bekomme mein zehntes Leben im Tausch gegen zwei Arme. Das Lustigste daran? Die Direktorin hatte mich zur Arbeitssicherung abgestellt, weil ich bei der Feuerwehr zu viel Eifer an den Tag gelegt hatte.
«Sie haben mich für ein ganzes Jahr zur Verkehrsüberwachung degradiert, Chefin. Ich habe es akzeptiert. Ich war nicht vorsichtig genug, Lektion gelernt. Aber Sie können mich nicht ewig bestrafen. Nicht mit dieser Verlängerung. Nicht so kurz vorm Ziel. Nur noch ein Leben!»
Durch die offen gebliebene Tür deute ich auf die Galerie der Schande im Flur. Dort hängen Fotos von all denen, die die Schule verlassen haben, aus Schwäche oder wegen eines Unfalls. Eine hübsche Reihe Loser, und mittendrin eine alte Freundin von mir, verduftet von einem Tag auf den anderen, zurück in ihr Provinzkaff im West-Nord-West-Sektor, ohne Rechtfertigung, ohne Stolz.
«Wenn es irgendjemanden an dieser Schule gibt, der es weit bringen und hoch aufsteigen kann, dann bin ich es. Versetzen Sie mich wieder zur Feuerwehr, dahin, wo ich uns allen Ehre machen kann.»
Diesmal bekomme ich die Rechenmaschine ab. Neuestes Modell mit integriertem Drucker, das tut selbst einem solchen Dickschädel wie mir weh.
Noch immer ganz ruhig, sagt die Direktorin:
«Frage, Goliath: Warum hat die Instinktive Verwaltung die Volljährigkeit als Grenze festgesetzt, nach der man den Weg der Heiligung nicht mehr einschlagen kann? Antwort: Weil es für diejenigen, die wirklich dazu bestimmt sind, Leben zu retten, eine vollkommene Selbstverständlichkeit ist, und zwar von klein auf. Diese Personen brauchen keinerlei Fristverlängerung. Eine Fristverlängerung, die, nebenbei gesagt, nur das Trostpflaster für den Verlust Ihrer Arme ist. Eine Fristverlängerung, die Ihnen gewährt wurde, Goliath, weil Sie sie ausdrücklich beantragt haben. Eine Fristverlängerung, die am Tag Ihrer Prüfungen endet und Sie nur vom Lernen abhalten wird. Was Ihnen blüht, das ist der eine Unfall zu viel, den keiner mehr richten kann, und dann ist die einzige Karriereaussicht, die Ihnen bleibt, sich um solche Rotzbengel wie Sie zu kümmern.»
Ich höre ihn in ihrer Stimme: den Entzug. Die Direktorin geht niemals raus, zum Einsatz, und hier, unter dem Dach der Protektorats-Schule, sind Unfälle selten. In ein paar Wochen, nach den Prüfungen, wenn ich mein Diplom in der Tasche habe, werde ich zusammen mit den anderen aus meinem Jahrgang fortgehen. Ich erinnere sie an das, was sie dann vielleicht nicht mehr haben wird: einen Hitzkopf, den sie beschützen kann, und jeder weiß, was passiert, wenn man seinen Instinkt nicht regelmäßig ausübt. Die Direktorin hat schon zu viele Falten für ihr Alter.
Plötzlich habe ich Angst, dass mir das auch passiert. Die Beule zwischen meinen Rippen schnürt mir die Luft ab.
«Die Feuerwehr, Chefin.»
«Sie werden Ihr Praktikum im Straßenverkehr beenden, bis zur Diplomvergabe. Sie haben zehn Leben gerettet, Goliath. Das letzte wäre beinahe das eine zu viel für Sie gewesen. Aufgabe der Schulen ist es, alle Schülerinnen und Schüler gemäß ihrem Instinkt auszubilden, geistig und körperlich, damit sie das ideale Gefäß dafür werden. Wir bilden hier Schützer aus, keine Märtyrer. Zehn Leben, das ist schon ganz anständig für Ihr Alter. Sie haben eine ordentliche Akte mit mehreren Belobigungen. Verderben Sie nicht alles, konzentrieren Sie sich auf Ihre Examensvorbereitung und holen Sie sich Ihr Diplom. Sie werden eine hervorragende Anstellung in einer hervorragenden Firma mit einem hervorragenden Gehalt bekommen. Sie dürfen jetzt gehen.»
Ich sehe mich wie ein Bekloppter durch die Nacht rennen. Ich denke an die Wadenkrämpfe, die Schmerzmittel, den heruntergeschluckten Stolz, an diesen Haufen Blech anstelle meiner Arme, an diese Beule, die sich, da bin ich mir inzwischen sicher, wie ein Tumor aufbläht. Wofür das alles? Eine hervorragende Anstellung? Das genügt nicht. Niemals genügt das, wenn ich eine Chance haben will, mich mit meinem Bruder zu messen.
29 Tage. Mehr habe ich nicht, um es zu retten, dieses elfte, dieses letzte Leben, um rechtzeitig ein Tugendhafter zu werden.
«Ich möchte lieber ein Märtyrer sein als ein Drückeberger.»
Ich habe zwar nicht viel Erfahrung im Umgang mit Türen, aber die der Direktorin schmeiße ich mit einem saftigen Knall zu.
Mein erstes Mal.
Ich erinnere mich daran, natürlich. Ein Mensch kann seine ersten Worte vergessen, seine ersten Schritte, seinen ersten Sturz, aber nicht das Erwachen seines Instinkts.
Mein erstes Mal, das war bei Opas Tod. Zwei Minuten vor seinem Tod, genauer gesagt. Wir saßen alle am Tisch, Familienessen, Sonntagsgeschirr, Blümchendecke, wehende Vorhänge, Duft nach Steak mit Pommes, der Fernseher auf volle Lautstärke gedreht, und ich, na ja, ich hab meinem großen Bruder Brei auf die Wange gespuckt. Plötzlich wusste ich es. Nicht, als Opa sich an den Hals gefasst hat, nicht, als meine Eltern zu ihm stürzten und dabei ihre Stühle umgeworfen haben. Nein, ich wusste es in dem Moment, als er die Gabel in sein Stück Fleisch gebohrt hat, achtlos, die Augen auf den Fernseher gerichtet. Es war ein Stromstoß, der durch meine Wirbelsäule fuhr, ein so heftiges Verlangen, ihm diese Gabel aus der Hand zu reißen, dass mir die Luft wegblieb. Als ich endlich losplärrte, vor Schreck, Wut, Überraschung und Freude, alles auf einmal, war es schon zu spät.
Das war das erste Mal, dass mein Instinkt sich meldete. Der erste Tod, den ich nicht verhindern konnte. Danach gab es weitere, für die ich nicht groß, nicht stark, nicht schnell genug war, und es gab den einen zu viel, aber … aber warum denke ich ausgerechnet jetzt daran?
Im Regen wedele ich mit meiner weißen Kelle, gebe den Autos Zeichen, dass sie anhalten sollen, dann den Schülern, dass sie die Straße überqueren können. Mein Ausbilder im Praktikum hat mich wieder an der Schulkreuzung postiert, das bedeutet vier Spuren, vier Buslinien und viel zu viele junge Leute, die gerade ihren Führerschein machen.
Shit, wenn mein Bruder mich sehen könnte …
Sobald ich in der Ferne eine Feuerwehrsirene höre, sage ich mir, dass ich eigentlich dort sein müsste, an vorderster Front mit den anderen. Ich bin der Beste meiner Schule. Nur noch ein Leben. Shit! Wenn es für mich kein Problem ist, meine Haut zu riskieren, warum sollte die Chefin dann eins damit haben?
Pech für sie: Ich habe eine Fristverlängerung. Und einen Notfallplan.
Ich werfe einen Blick auf die Neonschrift des Allerseelen auf der anderen Straßenseite, zwischen den Tags vom Sandwich-Laden und denen der Mediathek. Ich versuche vergeblich, Flo hinter den verregneten Scheiben zu erkennen. Hoffentlich ist sie bereit, wenn ich mit dem Praktikum fertig bin. Mein Plan hängt von ihr ab. Das gefällt mir zwar nicht, ich würde das System lieber nicht umgehen, aber man lässt mir ja keine Wahl.
«Woran denkst du, Dickerchen?»
Wassnlos hockt auf dem Boden, den Abfallgreifer unter dem Arm, den Müllsack neben sich, und zieht im Schutz seiner Regenkapuze die x-te Kippe durch. Jedes Mal, wenn eine Streife Tugendhafter vorbeikommt, lässt er sie in seinem Mund verschwinden und spuckt sie aus, sobald der Einsatzwagen vorbeigefahren ist, sein Gaumen muss voller Brandblasen sein. Er ist genauso alt wie ich, aber das war’s dann auch schon mit unseren Gemeinsamkeiten.
«Woran denkst du, sag, woran denkst du?»
Ich ignoriere ihn, so gut es geht. Seit ich mein Praktikum an der Kreuzung begonnen habe, hält Wassnlos es für nötig, seins genau neben mir auszuüben. Dabei ist «ausüben» zu viel gesagt. Wassnlos soll die Bürgersteige der Kreuzung sauber halten, aber er bewegt seinen Hintern nur, wenn sein Instinkt es ihm ausdrücklich befiehlt. Eine aus dem Autofenster geschmissene Dose, Hundekot, ein Flyer, der sich von einem Pfosten gelöst hat, seine eigenen Kippen, wenn sie ihm aus dem Schnabel fallen, und selbst das, selbst das Vergnügen, sich mit Leib und Seele der Allmacht des Wir hinzugeben, sich einfach nur mitreißen, nur führen zu lassen, ja, selbst das kostet ihn anscheinend Überwindung. Er hat in seiner Akte beinahe genauso viele Tadel wie ich Belobigungen. Seine instinktive Reichweite ist kleiner als meine, und jegliche Form von Eifer ist ihm fremd, er sammelt nur auf, was direkt vor seinen Füßen landet.
«Woran denkst du, woran denkst du, woran denkst du?»
Es ist allgemein bekannt, dass sich in der Schule für Dienstbarkeit, einem Gebäude, das dreimal so groß ist wie unseres, so ziemlich alles findet. Der Instinkt der Dienstbaren umfasst drei instinktive Unterkategorien: Gemeinwohl, Vorbeugung, Wohlbefinden und jede von ihnen wieder einen Haufen Unterunterkategorien: Ernährer, Gastgeber, Türhüter, Reiniger, Fahrer, Liebevolle, Prüfer und so weiter. Ich weiß, dass sie gewisse Quoten einhalten müssen, aber trotzdem: Wie konnten sie hier, in der renommiertesten Ausbildungsstätte des Süd-Sektors, so einen stinkfaulen Sack aufnehmen? Bestimmt haben seine Eltern ordentlich was springen lassen. Wassnlos ist eine Schande für seinen Instinkt und für meinen und für die Instinkte der gesamten Menschheit und, was am allerschlimmsten ist: für den meines Bruders.
«Woran denkst du, woran d…»
«Im öffentlichen Raum ist Rauchen verboten!», platze ich heraus. «Und zieh deine Kapuze aus dem Gesicht. Sein Zeichen zu verbergen ist nämlich auch verboten. Wenn du das Wir beleidigen willst, dann tu’s wenigstens nicht direkt neben mir.»
Pech gehabt. Wassnlos rührt sich nicht vom Fleck.
Ich beiße in meine Trillerpfeife. Gleich 17 Uhr, mehr Verkehr geht nicht, es wird langsam dunkel, und es schüttet wie aus Kübeln. Wütend oder nicht, ich muss aufpassen. Meine instinktive Reichweite ist auch nicht gerade gigantisch, zwei Meter vierzig, aber anders als Wassnlos begnüge ich mich nicht mit dem Minimum. Ich kompensiere, so gut ich kann, mit meinen anderen Sinnen.
Ich suche den Unfall.
Ich finde ihn.
Auf dem Bürgersteig gegenüber: Schüler mit Regenschirmen strömen neben dem Fußgängerüberweg auf die Straße. Sie sehen das Auto nicht, dessen Fahrer sie auch nicht sieht. Ich pfeife, um ihn zu warnen. Er bremst, doch seine Reifen schlittern weiter über den nassen Asphalt.
Ich lasse meine Kelle fallen und sprinte los.
Sobald die Gefahr in mein Instinktfeld eintritt, durchzuckt mich ein Stromstoß. Eine unwiderstehliche Macht schleudert mich vor das Auto. Ich stemme meine beiden Prothesen gegen die Stoßstange, biete all mein Metall und meine Muskelkraft auf, um das Auto zu stoppen. Schmerz und Euphorie explodieren in meinem Magen, wie jedes Mal, wenn mich der Instinkt überwältigt. Endlich bleibt das Auto stehen. Hinter dem Hin und Her der Scheibenwischer wirkt der Fahrer geschockt von dem, was gerade beinahe passiert wäre.
Die Schüler dagegen traben seelenruhig weiter, behütet unter ihren Regenschirmen, ohne irgendwas bemerkt zu haben. Ernüchtert hebe ich meine Kelle wieder auf.
«Schon gut, nichts zu danken!»
Sie hören mich nicht. Sie alle tragen Walkman-Kopfhörer: nicht nötig, ihre Zeichen zu sehen, um zu wissen, dass sie Vertraute sind. Vielleicht gibt es keine kleinen Instinkte, wie man uns beim Theologieunterricht unermüdlich eintrichtert, aber egal, was die sagen, ein Vertrauter ist wirklich zu gar nichts nütze.
«Das sah cool aus», kommentiert Wassnlos, als ich wieder neben ihm auf dem Gehweg stehe. «Wirklich ergreifend.»
Ich betrachte die Undankbaren, die bereits das Tor zur Schule für Vertrauen durchqueren. Sie gehen im Gleichschritt, Schulter an Schulter, wie aus dem Ei gepellt. Ich weiß, ich habe sie nicht wirklich gerettet, sondern ihnen bestenfalls einen Schreck, schlimmstenfalls einen Knochenbruch erspart. Hier, beim Verkehr, geht es nie um Leben und Tod.
Trotzdem habe ich mal eben eine Stoßstange in den Bauch bekommen, und die nicht normale Beule zwischen meinen Rippen bringt sich mir wieder in Erinnerung. Doch dieses kleine Unbehagen ist nichts im Vergleich zu dem Entzug, der mir bereits die Kehle zuschnürt. Ich hätte mehr gewollt. Denn ein Leben zu retten, so richtig, nicht nur ein paar kleine Vertrauten-Hintern vor einer Stoßstange, ein Leben zu retten, das ist wie eine Glücksexplosion, als hätte man das Universum in den Adern, als stünde man in Flammen, und ich weiß, wovon ich rede, denn Brände habe ich so einige erlebt, bevor ich von der Feuerwehr abgezogen wurde.
«Darf ich dich daran erinnern, dass wir nicht bezahlt werden», hustet Wassnlos in einer Rauchwolke. «Zwanzig Stunden erzwungener Freiwilligendienst pro Woche, das ist Ausbeutung. Und du, Dickerchen, du machst dich viel zu sehr verrückt. ‹Schlagt den Weg der Heiligung ein!›, wie es so schön heißt. In Wahrheit tun sie alles, damit es ein Elite-Ding bleibt. Damit sie unter sich bleiben, verstehst du? Nicht genug, dass man für so einen blöden Tugend-Anstecker elf Typen retten muss, nee, nee, nee, man muss sie retten, bevor man volljährig wird. Und wenn du dann ein Tugendhafter bist, Dickerchen, was ändert das für dich? Du wirst dir sagen, das ist noch nicht genug, also musst du als Nächstes ein Engel werden. Und das wird dir immer noch nicht reichen, also willst du ein Erzengel werden. Dann ein Fürst. Und so weiter und so fort. Aber selbst wenn du mehr als ein Heiliger wärst, selbst wenn du ein Erhabener wärst, Dickerchen, selbst wenn du eine Million Ärsche gerettet hättest, es wäre nie genug. Diese ganze Jagd auf die Anstecker, diese Rechnerei bei der Zählstelle, diese popeligen Titel, das ist doch alles nur ein Riesenbeschiss, den die Instinktive Verwaltung da abzieht.»
Meine Faust bleibt einen Zentimeter vor seiner Nase stehen.
Das Problem, wenn man dafür geboren wurde, seine Mitmenschen zu beschützen, ist, dass man niemanden schlagen kann. Na ja, rein theoretisch könnte ich es schon, die Chefin selbst hat es sich ja auch nicht verkniffen, aber es würde mir keinerlei Befriedigung bringen. Und vor allem könnte ich nie etwas tun, was jemand anderen als mich in Gefahr brächte, selbst wenn mein Leben davon abhinge.
Also bohre ich Wassnlos nur meinen Zeigefinger zwischen die Augen. Einen Finger aus Metall, Scharnieren und Drähten, immerhin.
«Noch eine Lästerung, und ich verpfeif dich, das schwör ich dir.»
«Was’n los? Was hab ich getan?»
Die Klingeln aller Schulen schrillen auf einmal. Endlich 17 Uhr. Mein Ausbilder kommt genau richtig.
«Nichts zu melden, Goliath?»
«Nichts und wieder nichts, Meister.»
«Mach nicht so ein langes Gesicht, Junge. Ich lös dich ab, wir sehen uns morgen. Und du da», faucht mein Ausbilder, wobei er Wassnlos vom Gehweg pflückt, «hast du nichts Besseres zu tun? Was versteckst du da in deinem Mund? Sag mir nicht, es ist schon wieder irgendein verbotenes Zeug! Hast du nicht schon genug Tadel?»
Ich überlasse Wassnlos seinem Schicksal und überquere die vier Fahrbahnen, die mich vom Allerseelen trennen.
Ich drücke die mit Kaugummis vollgepappte Tür auf.
Die Mantel- und Schirmständer quellen über, also verzichte ich darauf, meinen Dienstregenmantel irgendwo aufzuhängen. Der Boden starrt vor Schmutz, aber um mein Gewissen zu beruhigen, trete ich meine Stiefel an der Fußmatte ab. Der Flipperlärm mischt sich mit der Musik aus der Jukebox. Irgendwer gönnt uns mal wieder den neusten Song von Coco-Rudy. Um zum Tresen zu gelangen, muss ich über Schüler und Kartenpartien steigen. Schnüffel. Hier wird nicht einfach nur Tee getrunken, jedenfalls nichts, was die Instinktive Verwaltung zugelassen hätte, und das trotz all der gerahmten Zertifikate an den Wänden. Aber in Anbetracht dessen, was ich vorhabe, vergessen wir mal lieber die Anzeige.
«Dienen?»
Das ist der Pächter des Allerseelen. Sobald ich durch die Tür getreten bin, ist er mit einem Satz die Treppe hinter dem Tresen heruntergekommen. Fix und fertig unter seinem Zeichen. Wirklich fertig. Immer unkorrektere Schüler hängen Tag und Nacht bei ihm rum, versiffen alles und zahlen ihre Deckel nicht. Der Gastgeber-Instinkt ist echt mal einer, um den ich niemanden beneide.
«Zwei Toasts», sage ich. «Tomate, Gurke. Ich zahle vorab.»
«Recht.»
Zu erschöpft, um ganze Sätze zu formulieren, der Pächter. Seine Kraft reicht gerade noch, um die Toastscheiben zwischen den Grill zu quetschen. Geruch nach verbranntem Käse. Ich kann Idioten nicht verprügeln, er kann sie nicht rausschmeißen. Seinen Instinkt nur selten auszuüben, ist schlecht für die Gesundheit, aber eine Instinktüberdosis tut auch nicht gerade gut.
«Sie sollten bei der Antimissbrauchsstelle anrufen», sage ich.
Sobald ich die Sandwiches habe, stürze ich zu den Terminals ganz hinten im Saal. Meinen Toast habe ich mit einem Happs verschlungen – kurzer Gedanke an Opa. Ich bücke mich, um mir den Kopf nicht an dem alten Globus zu stoßen, auf dem unser Superkontinent mit all seinen Sektoren, aus denen er besteht, vollständig unter Dartpfeilen verschwunden ist.
Flo ist da, kauert wie ein Vogel auf einem Barhocker, ihr Gesicht schimmert grün im Licht des Minitels. Sie rührt keinen Zopf, als ich mich zu ihr setze und ihren Toast neben die Tastatur lege.
«Pissnelke.»
«Hosenscheißer.»
Nachdem die Höflichkeiten ausgetauscht sind, können wir direkt zur Sache kommen. Ich versichere mich mit einem raschen Blick, dass sich niemand für uns interessiert.
«Hast du das, worum ich dich gebeten habe?»
Flo blinzelt. Sie blinzelt ständig, weil sie andauernd auf Bildschirme starrt. Ihre Finger tippen einen Befehl in die Tastatur. Wir warten. Zeile um Zeile erscheint der Videotext auf der Mattscheibe, eilig darf man’s nicht haben bei einem Minitel. Unsere Nachbarn schielen auf Mosaike nackter Körper. Verpixelt oder nicht, es ist mir unangenehm, dass Flo das sehen kann, sie ist erst dreizehn. Auch wenn ich in ihrem Alter schon Schlimmeres gesehen hatte.
«In der Mediathek nebenan gibt es auch Minitels», sage ich.
Flo reißt ein Häutchen neben ihrem Daumennagel ab.
«Nicht für das, was ich damit mache. Versuch nicht wieder, mich zu beschützen, mir reicht’s.»
Noch undankbarer als die Vertrauten.
Flo wäre beinahe mein elftes Leben gewesen. Es war an einem Sommerabend mitten im Schuljahr, auf einer Brücke. Ich habe sie nie gefragt, warum sie springen wollte. Ich hätte sie zum Büro der Zählstelle schleifen können, sie verpfeifen, meinen letzten Punkt einsammeln und, wie vorgesehen, vor der Volljährigkeit ein Tugendhafter werden können. Aber ich hab’s bleiben lassen. In einer ganz auf den Wert des menschlichen Lebens aufgebauten Gesellschaft ist man mit dem Vermerk «selbstmordgefährdet» in seiner Akte das Allerletzte.
«Schau.»
Flo zeigt mir den Bildschirm. *3516# Aus den Augen verloren. Ein Portal für Kleinanzeigen? Ich beuge mich über die, auf die Flo deutet.
An Martha, Reparatur-Schule, Süd-Sektor. Lange nichts von dir gehört, nicht erreichbar, melde dich. – Deine Großcousins aus dem Ost-Sektor.
Ich bin entsetzt.
«Da zahle ich dich, und zwar nicht zu knapp, damit du mir einen guten Hinweis lieferst, und alles, was du anbringst, ist … ich weiß nicht mal, was … eine Familienangelegenheit? Wen soll ich denn da retten?»
Flo wendet den Blick von der Mattscheibe ab, um mich durch ihre Rastazöpfe hindurch anzusehen. Ihr Zeichen schockt mich jedes Mal wieder. Ein verwaister Instinkt. Es gibt sie, selten, einzigartig, außergewöhnlich: Instinkte, die keinen Namen haben. Flo hat mir nie gesagt, was ihrer für einer ist, ich habe auch nie danach gefragt. Ist mir ein bisschen peinlich, genau wie bei der Brücke. Ich habe keine Ahnung, ob sie auf einer der Schulen hier in der Gegend war, vielleicht wurde sie auch nie eingeschult, jedenfalls verbringt sie ihre Tage im Allerseelen. Ganz allein.
«Es gibt noch andere», sagt sie.
«Andere was?»
«Anzeigen.»
Ihre Finger fliegen über die Tastatur. Sie hat sehr hübsche, die sie mit der Nägelkauerei ruiniert. Wenn ich noch meine alten Finger hätte, würde ich mich überall anfassen, nur so, um meine Haut richtig zu spüren, meine Konturen, eine Berührung, und ich würde hundertmal diese Beule zwischen meinen Rippen befummeln, um zu überprüfen, ob sie weiter gewachsen ist.
Der Bildschirm hat endlich fertig geladen:
An Vincent, Schule für Rechnungswesen, Süd-Sektor. Wo bist du? Schmollst du noch? Ich mache mir schon fast Sorgen. – Baptist.
Dann, eine Suchanfrage später:
An Paul, Schule für Dienstbarkeit, Süd-Sektor. Hör auf, dich zu verstecken, und zahl endlich deine Schulden. – Du weißt schon, wer.
«Es sind lauter Suchmeldungen, und immer sind es Schüler aus dem Süd-Sektor», sagt Flo, ehe sie in ihren Toast beißt. «Bei Bedarf gibt es noch mehr davon. Die verstecken sich doch nicht alle bloß, oder?»
Ich erschauere vor Aufregung und vergesse darüber beinahe meine Beule. Der Ruf des Schicksals, endlich! Wenn Flo recht hat, dann werde ich nicht nur ein Leben retten.
Sondern gleich einen ganzen Haufen.
Die Schule für Inspiration hält sich von den anderen fern. Jedenfalls so fern, dass ich den Bus nehmen muss. Mein Zeitplan ist ziemlich knirsch. Das Training, der Unterricht am Morgen, das Praktikum nachmittags und die Prüfungen in drei Wochen lassen mir nicht viel Spielraum. Ich habe meinen Ausbilder gefragt, ob ich heute etwas früher gehen kann, um zu lernen.
Stattdessen stehe ich jetzt in diesem Bus.
Ich habe meinen Sitzplatz den Omis überlassen, die meinen, halb fünf wäre der perfekte Moment, um im Schulenviertel Einkäufe zu erledigen. Die tief am Himmel stehende Sonne scheint durch die Tags auf den Bustüren. Ich schimmere überall rot, grün und gelb.
Meine Haltestelle, ich steige aus.
Wirklich beeindruckend, die Schule für Inspiration. Nicht so protzig wie unsere Nachbarn drüben an der Kreuzung, mit ihren elektrischen Rasierapparaten und den Toiletten, die man abschließen kann. Nein, das hier ist eins drüber. Überall Fenster, überall Scheiben, Gebäude ganz aus Glas, könnte man meinen, und keine einzige Schmiererei, bitte schön. Eine Art Vorgeschmack auf den Wolkenkratzer der Erhabenen.
Ich versuche, jetzt und hier vor allem nicht an meinen Bruder zu denken.
Zweimal werde ich von Tugendhaften kontrolliert, bevor ich hineingehen kann. Sogar ein Formular muss ich ausfüllen.
«Nicht länger als eine Stunde», teilt man mir mit.
Zu viel Glas in der Halle, zu viel Licht, zu viel Aktionismus. Alle tragen Krawatten, die Schüler sind herausgeputzt wie Professoren. Sie arbeiten zu mehreren an großen, durchsichtigen Tischen. Ein eigener Minitel für jeden, aber Achtung: Hier wird debattiert, einander geholfen, sich abgesprochen und ausgetauscht, es herrscht ein WIR in Großbuchstaben, das mein winzig kleines ich zur Schnecke macht.
Viele Augen glänzen im Fieber eines Instinkts, der ihnen Geheimnisse offenbart, von denen ich niemals auch nur die geringste Ahnung haben werde. Seit Generationen entstehen hier, zwischen diesen Scheiben, Kunstdünger, Computerterminals, Biokraftstoffe, Antikontaminationsgriffe und Senfgläser mit Heiligenbildchen. Hier gibt’s keine Galerie der Schande, kein Scheitern, niemand haut von hier ab. Und all die I- und II-Anstecker an den piekfeinen Jacketts! Ohne ihre gläserne Festung je zu verlassen, heimsen diese kleinen Schlauberger mit einer einzigen Innovation mehr Punkte ein, als ich es mit all meinen Muskeln je könnte. Für diejenigen, die wirklich dazu bestimmt sind, Leben zu retten, hat die Chefin gesagt, ist es eine vollkommene Selbstverständlichkeit, und zwar von klein auf. Die Erhabenen, von heute wie von früher, waren immer – absolut immer – Inspirierte. Und da heißt es, alle Instinkte wären gleich.
Gut.
Mit dem Aufzug, auch der aus Glas, natürlich, wenn wir schon dabei sind, fahre ich hinauf zu den Zimmern. Zimmer, ja, genau, eines für jeden, auch das ist die Schule für Inspiration. 4. Etage. Linker Flur. All die Türen, als wäre man im Hotel. Drei Inspirierte, die in einem Arbeitsraum sitzen, runzeln die Brauen, als sie das Schützer-Zeichen in meinem Gesicht sehen. Wider Willen bin ich von ihren beeindruckt. Ich fühle mich bewertet. Nicht an meinen Bruder denken, nicht an meinen Bruder denken, nicht an meinen Bruder denken …
Während ich an Zimmer Nr. 42 klopfe, hoffe ich, dass sich der Weg gelohnt hat.
«Komm rein.»
Eine sanfte Stimme. Dieselbe wie gestern am Telefon.
Teppich, Lampenschirm und Blumentapete: schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Durchs Fenster hat man eine atemberaubende Aussicht auf das Meer und den Wolkenkratzer der Erhabenen (ich bekreuzige mich), die beide im Sonnenuntergang lodern.
Vorausgesetzt, man erreicht es, das Fenster. Ein monströses Gebilde aus Platten und Bolzen verschlingt allen Raum bis zur Decke. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was das Ding darstellen soll – ein gigantisches Molekül? Den Prototyp einer Rakete? –, aber es lädt nicht zum Kuscheln ein. Meine Kontaktperson hockt auf einer Bockleiter und befestigt zwei Was-auch-Immer mit einem Schraubenschlüssel.
«Ah, Goliath, stimmt’s? Baptist. Du bist pünktlicher als ich. Einen Moment, ich bin gleich bei dir. Nimm dir was zu trinken, fühl dich wie zu Hause.»
Könnte schwierig werden, da ich nie ein solches Zuhause hatte. Ich nehme mir eine Limo und tu so, als fänd ich es völlig normal, einen Minikühlschrank in einem Zimmer zu sehen. Auf der Dose die Aureole mit dem üblichen Blabla: Dieses Produkt wurde von der Instinktiven Verwaltung zugelassen. In Maßen verzehren. Esst gesund und treibt Sport. Euer Leben ist gesegnet.
Ich setze mich auf einen Stuhl, der auch ziemlich selbst gebastelt aussieht, und frage mich, ob er einen Koloss wie mich aushält.
«Woran arbeitest du?»
Baptist zwinkert mir von seiner Bockleiter herab zu.
«Keine Ahnung. Ich hatte eine Vision, der verleihe ich Gestalt, so gut ich kann. Ich habe keinen Heimwerker-Instinkt. Aber wenn das hier fertig ist, wird man schon wissen, wozu es gut ist.»
So ist das mit dem Wir. Die Inspirierten konzipieren, die Konstrukteure bauen, die Reparateure flicken.
Ich bemerke die Skizzen auf dem Couchtisch: von Baptists allererster Vision, die ihm sein Instinkt eingegeben hat. Ich weiß genau, wie’s läuft. Schließlich habe ich jede Menge solcher Entwürfe unter dem Bleistift meines Bruders entstehen sehen … stopp, nicht an ihn denken. Konzentriert bleiben.
Ungeduldig sage ich: «Hör mal, ich hab nicht den ganzen Abend Zeit.»
«Ich komme schon.»
Baptist lässt endlich von seinem Modell ab. Er will mir die Hand geben, überlegt es sich dann aber anders, als er den Haufen Blech sieht, der mir als Arme dient. Seine Locken und sein Anzug mit extrabreiten Schulterpolstern flattern um ihn herum, während er sich aufs Bett setzt. Soweit ich weiß, ist er schon länger volljährig als ich. Er ist eher klein, aber laut seinem Zeichen hat er eine enorme instinktive Reichweite. Alle Inspirierten denken weit und groß.
Fachmännisch mustert er meine Prothesen.
«Hübsch.»
«Okay.»
Etwas anderes fällt mir dazu nicht ein. Glaubt er etwa, ich hätte sie selbst gebaut? Ich habe das Gefühl, er erwartet, dass ich auf sein Modell zeige und ebenfalls «hübsch» sage, dabei hoffe ich vor allem, dass er alle Bolzen gut festgezogen hat. Bin nicht sicher, ob wir es überleben, wenn uns das auf den Kopf fällt.
«Reden wir über deine Anzeige», schlage ich vor.
«Ja, tun wir das.»
«Der Kontakt zu deinem Kumpel Vincent ist also vor sechs Wochen abgebrochen.»
«Sieben, mittlerweile.»
«Er besucht die Schule für Rechnungswesen.»
«Besuchte. Zum Unterricht ist er auch nicht mehr gekommen, sie haben ihn wegen andauernden Fehlens suspendiert.»
«Und vorher, hat er da oft geschwänzt?»
Baptist verschränkt seine langen weichen Arme. Ist der ganz aus Sahne, oder was? Ich versuche, mir dieses Gesicht mit elf Jahren vorzustellen, am Tag seiner Kennzeichnung. Wetten, er hat nach seiner Mami geheult, der kleine Inspirierte. Ich dagegen habe nicht eine Träne vergossen.
«Anfangs hat Vincent keine einzige Stunde versäumt. Er war ein Kontrollfreak. Wie alle Rechner, wirst du sagen.»
«Anfangs», bemerke ich. «Und dann?»
«Dann hat er hingeschmissen.»
Ich unterdrücke ein verächtliches Grinsen. Ich habe schon nicht besonders viel Respekt vor unseren Jammerlappen von der Galerie der Schande, die die Schule schmeißen, sobald sie ein paar Kratzer abbekommen. Erst recht bei einem zukünftigen Beamten …
«Findest du das komisch, Goliath? Das liegt daran, dass du zu schnell urteilst. Der psychische Druck und der Konkurrenzkampf in ihrer Schule sind immens, sie können sich nicht den geringsten Fehler erlauben. Ganz zu schweigen davon, wie mies sie sich untereinander verhalten, das ist einer Gemeinschaft unwürdig. Vincent hat eine Stunde geschwänzt, dann noch eine und noch eine. Er begann, an bestimmten Orten zu verkehren, die … na ja, die man besser meiden sollte. Ich war sein einziger Freund. Ich habe versucht, ihm aus dieser Krise herauszuhelfen, ich dachte sogar, er würde sich wieder fangen. Und dann, von einem Tag auf den anderen, nichts mehr. Totale Funkstille.»
Baptist erzählt mir das alles mit seiner sanften Stimme, in wohlformulierten Sätzen. Aus dem Augenwinkel schielt er verliebt zu seinem Modell, als müsste er gegen das Verlangen ankämpfen, es noch größer zu bauen. Für jemanden, der seinen besten Freund verloren hat, wirkt er auf mich nicht besonders traurig.
Urteile ich wirklich zu schnell?
Zugegeben, ich habe über Flo geurteilt, wie sie da auf dem Hocker kauert, mit ihren ungewaschenen Zöpfen, und ständig am Minitel hängt, und frage mich jetzt, ob sie vielleicht auch zu sehr unter Druck stand und deswegen auf einer Brücke gelandet ist. Ich habe über meine alte Schulfreundin geurteilt, auch wahr, nachdem sie in ihr Kaff im West-Nord-West-Sektor zurückgekehrt ist, ohne ein Wort zu sagen. Wassnlos, meine Chefin, die Vertrauten, es stimmt schon, dass ich über sie alle urteile, sie bewerte.
Und ich bewerte meinen Bruder. Jeden Tag bewerte ich ihn. Und mich durch ihn.
Baptist nimmt meine Dose mit seinen zarten Händen.
«Warte, ich öffne sie dir.»
Er hat gesehen, dass meine dicken Roboterfinger nicht damit klarkamen. Unter seiner Liebenswürdigkeit wittere ich etwas, das ich gut kenne, da ich selbst nicht frei davon bin. Ein Gefühl der Überlegenheit.
«Und hast du versucht, Vincents Eltern zu kontaktieren?», frage ich.
«Gestorben. Sein Vater an einem Hirnschlag, seine Mutter an Leukämie. Kein Bruder, keine Schwester, vielleicht ein entfernter Onkel irgendwo. Nicht gerade ein Glückspilz.»
«Okay.»
Natürlich denke ich sofort wieder an die Beule zwischen meinen Rippen. Da hatte ich sie mal für einen Moment vergessen, aber schon die Erwähnung einer Krankheit genügt, damit ich das Gefühl habe, sie wächst wieder. Ich leere meine Limo. Fad, wie alle von der Instinktiven Verwaltung zugelassenen Pseudosüßigkeiten. Wenigstens bekommt man davon keinen Diabetes. Amen.
Ich grübele. Ich habe all meine Pausen dafür genutzt, die Pressearchive der Mediathek zu durchforsten. Hätte Vincent die Nummer mit der Brücke abgezogen, dann gäbe es eine Leiche, und die Sache wäre geklärt. Nein, nein, das ist kein Selbstmord. Und es sieht auch nicht so aus, als wäre er abgehauen.
Also was ist mit ihm passiert?
Und was ist mit Martha passiert? Was ist mit Paul passiert?
In einer Woche habe ich eine Menge Telefonkarten in der Kabine meiner Schule versenkt, um etwas über die drei herauszubekommen. Die Unauffindbaren. Sie alle sind Schüler von hier, auf dem absteigenden Ast, isoliert, weit weg von zu Hause, noch nicht lange volljährig, kaum Familie, kaum Geld. Leichte Beute.
Nur für welchen Räuber?
«Das ist Vincent.»
Baptist zeigt mir Streifen aus einem Passbildautomaten. Achtmal er selbst zusammen mit einem Typen, der nie ins Objektiv schaut. Baptist verstrubbelt ihm die Haare, zwickt ihn in die Wange, beißt ihm ins Ohr. Das bestätigt, was ich schon längst weiß. Im Leben gibt es zwei Sorten von Menschen: diejenigen, die dominiert werden, und diejenigen, die dominieren. Baptist ist einer, der dominiert.
«Vielleicht hast du ihn mal gesehen», sagt er, indem er auf die Bilder zeigt. «Die Protektorats-Schule und die für Rechnungswesen liegen fast direkt nebeneinander. Vincent und du wart praktisch Nachbarn.»
Er schenkt mir ein mitfühlendes Lächeln, das mir nicht gefällt. Ich bin nicht Vincent, und ich habe nicht die geringste Lust, dominiert zu werden.
«Nie gesehen. Zumindest erinnere ich mich nicht. Hatte sein Instinkt eine besondere Spezialisierung?»
Während ich das frage, mustere ich Vincents Gesicht auf den Fotos. Das Zeichen seines Instinkts gibt, wie alle Zeichen, Auskunft über dessen Kategorie (Rechnen) und Unterkategorie (industrielle Anwendung), mehr nicht. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang zu seinem Verschwinden.
«Algorithmen», antwortet Baptist eine Spur herablassend, was mir nicht entgeht. «Für Computerprogrammierung oder irgend so was.»
Ich gebe ihm seine Aufnahmen zurück.
«Bevor er verschwunden ist, hatte er da zufällig was mit einer gewissen Martha zu tun? Oder vielleicht mit einem Paul?»
«Er hatte eigentlich mit niemandem was zu tun, wie schon gesagt. Und ich persönlich kenne weder eine Martha noch einen Paul.»
Gut, gut. Eine direkte Verbindung zwischen meinen drei Unauffindbaren aufzudecken, wäre wohl etwas zu einfach gewesen. Ich muss weitergraben.
«Ich habe diese Anzeige aufgegeben, um Vincent wiederzufinden, und ich steh dir Rede und Antwort, aber ich hätte auch eine Frage. Ja, ja, ich weiß, du kanntest ihn nicht», kommt Baptist meinem Einwand zuvor, «das hast du mir ja schon am Telefon klargemacht. Trotzdem wüsste ich gern, warum ihr euch alle für ihn interessiert.»
«Alle? Wer alle?»
«Du und die andere.»
Ich bin baff.
«Welche andere?»
Baptist schüttelt den Kopf mit diesem Lächeln, das mir immer weniger gefällt.
«Antworte mir zuerst. Warum suchst du Vincent?»
«Weil ich glaube, dass dein Kumpel mächtig in Schwierigkeiten steckt.»
Baptist, der immer noch mit seinem Dominiererlächeln auf dem Bett sitzt, bleibt ungerührt. Lächelt der Räuber der Unauffindbaren auch so?
Ich füge hinzu: «Und weil ich ihn retten werde.»
Ich verkneife mir das «bevor meine Fristverlängerung endet», das doch etwas geschmacklos wäre. Trotzdem läuft für mich der Countdown. Wenn ich dieses Leben nicht rechtzeitig rette, wird mir die Zählstelle zwar herzlich gratulieren, doch meine Chance auf Heiligung habe ich dann für immer verpasst. Und das, Brüderchen, darf nicht passieren.
«Also», beharre ich. «Wer ist diese andere, die Vincent sucht?»
«Eine Schülerin, wie du und ich. Nicht sehr auffällig. Ganz nett.»
«Ihr Name? Ihre Schule?»
«Du sprichst zu laut, hat man dir das noch nie gesagt?»
Den Schraubenschlüssel in der Hand, klettert Baptist schon wieder seine Leiter hoch. Ich merke, dass er enttäuscht ist. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich empfinde. Der Gedanke, eine Konkurrentin zu haben, macht mich rasend. Noch dazu eine, die mir einen Schritt voraus ist.
«Ihr Name!»
Ich weiß, dass ich mit meiner Apparatur unkontrollierte Bewegungen vermeiden sollte, vor allem in der Nähe eines wackeligen Konstrukts, das wiederum in der Nähe eines Fensters steht. Mein Instinkt erwacht in dem Moment, in dem ich von meinem Stuhl aufspringe. War ja klar: Ich ramme das Modell. Aufprall, Aufschrei, Absturz. Ich kann mich gerade noch schützend über Baptist werfen.
Dann rauscht eine Lawine aus Bolzen und Glas nieder.
«Goliath, mein Bester, du bist ein Kunstwerk.»
Nicht nötig, das Gesicht des Heilers zu sehen, um zu wissen, dass er sich über mich lustig macht. Seine Pinzette entlockt mir Flüche, für die ich mich schäme. Schält er mir die Haut vom Rücken, oder was? Ich vermeide es, das Tablett anzusehen, auf dem alles landet, was er aus meinem Körper herauspult. Ein Mischmasch aus Splittern, Scherben und Blut. Vor allem das Blut widert mich an. Mein reinster Lebenssaft, kein einziger Tropfen von Baptist ist da drin.
Mein Blazer ist reif für den Müll.
«Gestehe, dass du mich vermisst hast.»
«Erbarmen, Doc, beenden Sie das Massaker.»
«Oh nein, lass es mich noch ein bisschen auskosten. Du, mein Bester, hast mir nämlich gefehlt. Achtung, gleich brennt es.»
Ich schreie, als er die Wunden desinfiziert. Er hat seinen Spaß mit mir, unser Heiler. Der Instinkt führt seine Pinzette und seinen Wattebausch, und ich weiß, wie glücklich er in genau diesem Moment ist. Das Absolute in Aktion. Ich habe mich genauso gefühlt, während das Modell auf mich draufhagelte. Erst als Baptist außer Gefahr war, trat der Schmerz in den Vordergrund. Ich bin abgehauen wie ein Vollpfosten, hab nicht mal auf meinen Bus gewartet, ich bin gerannt, mir tat alles weh, und ich bin gerannt, zur Protektorats-Schule bin ich gerannt, zur Liege im Krankenzimmer, auf der ich mich zusammengerollt habe.
Shit. Ich hab mir eingebildet, dass ich endlich erwachsen bin.
Das Krankenzimmer hat keine Tür. Fischgeruch, dröhnende Rülpser und Furzwettbewerbe: Die Kantine nebenan drängt sich uns auf. Nee, mit der Schule für Inspiration hat das hier wirklich nichts zu tun. Mädchen mit knallbunten Bandanas, die gerade aus der Mensa kommen, stoßen Pfiffe aus, während sie an der Krankenstube vorbeigehen. Der Anblick meines Bluts beeindruckt sie nicht die Bohne.
«Hat der Kleine ein Wehwehchen?»
«Sollen wir eia machen?»
Ich bin nackt und bedecke mich, so gut ich kann. Im Schlafsaal haben sie schon andere gesehen, aber trotzdem.
«Verpisst euch!»
Sie antworten mit ihrem Mittelfinger.
Ich sehe mich im rissigen Spiegel der Krankenstation. Ich habe wirklich eine Gaunervisage, wie diese Typen, die ihr Zeichen unter drei Schichten Schminke verbergen. Dabei habe ich mein Zeichen nie versteckt. Aber egal, wie gründlich ich mich rasiere, egal, wie gut ich in jeder Hinsicht erscheinen will, irgendetwas Übles, eine Art unterdrückter Wut, sickert durch. Ein Wunsch nach Vergeltung, dessen Ursache ich selbst nicht begreife. Vergeltung wofür? Für meinen Bruder?
«So, mein Bester. Fertig.»
Mein Rücken ist voller Pflaster. Der Heiler sucht meinen Blick. Jetzt, wo sein Instinkt abebbt und auch wenn noch ein Rest Freude in seinem Mundwinkel sitzt, macht er ein betrübtes Gesicht.
«Ich meinte es ernst. Versuch bitte, nicht zu sterben.»
«Es war ein Unfa…»
«Es ist immer ein Unfall. Mir gegenüber brauchst du dich nicht zu rechtfertigen, aber pass auf dich auf. Im Namen des Wir.»
Ich halte die Klappe. Denn, ja, auch wenn er kein Schützer ist wie ich, auch wenn mir kein Instinkt je so ehrbar erscheinen wird wie meiner, respektiere ich ihn und sein Zeichen. Er rettet auf andere Weise Leben.
Und nicht nur er, sage ich mir, während ich meine künstlichen Finger schließe und wieder öffne. Wenn es nicht irgendwo außergewöhnliche Instinkte gäbe, die in der Lage sind, derart perfektionierte Prothesen wie meine zu konstruieren und zu reparieren, könnte ich gar niemanden retten.
Ich könnte weder Vincent noch Martha noch Paul retten.
«Doc?»
«Goliath?»
«Wenn ich … was hätte. Was nicht normal ist. Würden Sie es mir dann sagen?»
Der Heiler sieht überhaupt nicht mehr fröhlich aus.
«Wo?»
Ich zeige ihm die Beule zwischen meinen Rippen. Ohne mein T-Shirt und im Licht der Deckenlampe kommt sie mir unförmiger denn je vor.
«Du bist vollkommen gesund, Goliath.»
«Könnten Sie sie nicht wenigstens abtasten, nur so zur Kontrolle?»
Er seufzt. Ich sehe schon, dass er ein bisschen genervt von mir ist, und ich verstehe ihn, denn ich bin auch genervt von mir. Ich hatte mich für stärker gehalten.
«Du weißt doch, wie es funktioniert, Goliath. Wenn es in diesem Moment an deinem Körper, in deinen Zellen irgendetwas gäbe, was sich in die falsche Richtung entwickelt, dann könnte ich gar nicht anders, als es umgehend zu beheben. Ein bösartiger Leberfleck, und ich würde ihn dir notfalls mit einem Löffel rauskratzen. Also, mein Bester, wenn ich dir sage, dass dein Körper gesund ist, dann ist er auch gesund.»
Die Beule zwischen meinen Rippen scheint sich plötzlich verzogen zu haben. Sie zwickt mich nicht mehr, ich sehe sie nicht mehr. Wie erbärmlich, dass ich wieder einmal diese Worte gebraucht habe, um endlich beruhigt zu sein.
Ich bin es nicht lange. Die Kantine nebenan ist verstummt und das aus gutem Grund: Das gefürchtete Tock-Tock der Direktorin hallt durch den gesamten Korridor. Noch ein paar Stockschläge, und sie fällt in die Krankenstube ein.
«Ich habe einen äußerst aufschlussreichen Anruf erhalten.»
Wie zum Beweis reckt mir die Chefin den Hörer entgegen, den sie noch in der Hand hält. Die gekringelte Schnur, die sie vom Telefon auf ihrem Schreibtisch abgerissen hat, baumelt herab wie ein Schweineschwänzchen. Ihr Schützer-Instinkt erstreckt sich nicht auf Objekte.
«Anscheinend hat ein Mitglied unserer Schule dem Mitglied einer anderen Schule einen Besuch abgestattet. Einen Besuch, der übel ausging.»
Ich bekomme Panik. Nur keinen Schulverweis, nicht jetzt!
«Es war keine Absicht, Chefin.»
«Ach so, na dann ist ja gut, alles in Ordnung, die Sache ist geregelt.»
Sie ist zu ruhig. Wenn ich jetzt alles auspacke, die Suchanzeigen, die drei Unauffindbaren, meine Vermutungen, wird die Ermittlung an Profis übergeben, so richtig echte Profis, und ich werde kein einziges Leben gutmachen. Ich sage mir, dass es zu früh ist, um darüber zu reden, dass es mehr Beweise braucht, dabei versuche ich nur, mein schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen.
«Es tut mir leid, Chefin.»
«Ist mir schnuppe. Sie erstatten keine Anzeige, sondern schlagen vor, dass wir die Sache gütlich regeln. Für mich stellt sich daher nur eine Frage, Goliath: Wer kommt für die Scherben auf? Denn so ein zerbrochenes Fenster und ein ruiniertes Abschlussprojekt zusammen, das kann ganz schön teuer werden.»
«Ich werde alles bezahlen.»
«Natürlich zahlen Sie es. Und zwar nicht nur mit Ihrem Geld. Ich will einen Bericht in Ihrer Akte. Man stellt uns einen Vertrauten zur Verfügung. Er sollte …», die Direktorin schielt auf die Uhr an ihrem Handgelenk, «vor zehn Minuten hier sein. Bestimmt wartet er schon auf Sie. Er wird sich Ihre Version der Ereignisse anhören, versuchen Sie, es nicht noch schlimmer zu machen.»
Die Chefin kommt näher. Ihre Beinprothese bohrt sich ins Linoleum der Krankenstation, und ich fühle mich plötzlich schutzlos auf dieser Liege, ohne Kleider und mit meinem zerschundenen Rücken. Ich frage mich, ob ich gleich ihren Stock oder den Hörer ins Gesicht bekomme. Hinter ihr haben sich alle Mitschüler aus der Kantine zusammengerottet und recken die Hälse. Der Heiler reinigt seelenruhig sein Besteck.
«Ein Bericht, Goliath, wissen Sie, was das bedeutet? Einen Tadel. Die Aufhebung all Ihrer Belobigungen. Und infolgedessen die Rücknahme Ihrer dämlichen Fristverlängerung. Sie brauchten sich nur ruhig zu verhalten bis zu den Prüfungen. Zehn Leben auf ihrem Punktekonto, dazu ein Diplom, das war eine schöne, gesicherte Zukunft. Nichts Heroisches, zugegeben, aber durchaus achtbar. Nur haben Sie, wie üblich, die schlechteste Wahl getroffen und den Einzelkämpfer gespielt. Also hören Sie jetzt auf, das Wir zu beleidigen, und tragen Sie die Verantwortung allein. Ihr Termin wartet im Besucherzimmer.»
Die Direktorin dreht mir den Rücken zu, und dieser Rücken schmerzt mich mehr als meiner. Eine ordentliche Schelle wäre mir lieber gewesen.
Während ich eine Hose und einen frischen Pulli anziehe, verbiete ich mir jegliche Selbstzweifel. Ich zweifle dennoch. Ein Tadel in der Akte! Die Chefin hat recht. Shit, ich hab alles verbockt.