Die Spiegelreisende 4 – Im Sturm der Echos - Christelle Dabos - E-Book

Die Spiegelreisende 4 – Im Sturm der Echos E-Book

Christelle Dabos

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Beschreibung

Risse überziehen die Welt der Archen. Einer jagt den nächsten, die Abgründe werden immer größer. Babel, Pol, Anima – keine der Archen bleibt verschont. Die Bewohner müssen ungläubig mitansehen, wie ihre Welt nach und nach auseinanderbricht. Um die unwiederbringliche Zerstörung der Archen zu stoppen, muss so schnell wie möglich der Schuldige gefunden werden. Muss »der Andere« gefunden werden. Aber wie? Wo doch niemand auch nur weiß, wie er aussieht?

Ophelia und Thorn sind so vereint wie nie. Zusammen begeben sie sich auf unbekannte Wege, wo sie die Echos der Vergangenheit und der Gegenwart zum Schlüssel all der Rätsel führen werden. Das ungeheuerliche Finale der Saga der Spiegelreisenden.

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Seitenzahl: 700

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Christelle Dabos

Im Sturm der Echos

Band 4 der Spiegelreisenden-Saga

Roman

Aus dem Französischen von Amelie Thoma

Insel Verlag

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

WAS IM DRITTEN BUCH GESCHAH

Personen

Ophelia

Thorn

Archibald

Roseline

Berenilde und Viktoria

Gwenael und Reineke

Elizabeth und Octavio

Lazarus und Ambrosius

Die Familiengeister

Gott

Der Andere

Im Sturm der Echos

Recto

Hinter den Kulissen

Die Leere

Die Unterschrift

Das Zuhause

Die Botin

Einsamkeit

Das Weiß

Die Auserwählten

Die Fabrik

Hinter den Kulissen

Die Falle

Die Brille

Die Attraktion

Vereinigung

Die Abweichung

Die Verabredung

Der Schatten

Die Assistenten

Der Fehler

(Klammer)

Der Schein

Hinter den Kulissen

Verso

Das Unaussprechliche

Die Schleife

Die Rolle

Der Bahnsteig

Die Abkehr

Hinter den Kulissen

Das Luftschiff

Wirbel

Der Irrflug

Die Arche

Die Fremden

Die Abrechnung

Die Zusammenkunft

Der Überfluss

Der Sturz

Die Kehrseite

(Remmalk)

Der Gegenwert

Hinter den Kulissen

Die Täuschung

Die Identität

Der Platz

Die Spiegelreisenden

Dank

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

WAS IM DRITTEN BUCH GESCHAH

Das Gedächtnis von Babel

Nach beinahe drei Jahren Trübsalblasens findet Ophelia endlich Thorns Spur auf der kosmopolitischen und modernen Arche Babel. Mithilfe von Gwenael, Reineke und Archibald, die seit Monaten in sämtlichen Windrosen einen Übergang nach Erdenbogen suchen, gelangt sie dorthin.

Gleich nach ihrer Ankunft auf der Arche der Zwillingsgeister Pollux und Helene tritt Ophelia unter falschem Namen in die Akademie der Guten Familie ein, um weiter nach der wahren Identität Gottes zu forschen. Dort sieht sie sich nicht nur mit den mächtigen Lords von LUX konfrontiert, sondern auch mit einem ehernen Gesetz des Schweigens, das ausgerechnet an diesem Hort des Wissens und der Information herrscht. Noch dazu werden ihre Recherchen von seltsamen Todesfällen begleitet; die Gesichter der Opfer sind in einem Ausdruck blanken Entsetzens erstarrt …

Dank ihrer Beharrlichkeit trifft Ophelia endlich Thorn im Herzen des Memorials von Babel wieder, einer gigantischen Bibliothek, die den Anspruch erhebt, das »Gedächtnis der Welt« zu sein, und wohin auch er sich zurückgezogen hat, um Gott erneut aufzuspüren. Doch wider alle Erwartungen verbirgt sich dessen Identität hinter einer Reihe von Kinderbüchern: »Gott« ist niemand anders als Eulalia Gort, ihres Zeichens Schriftstellerin. Die falsche Aussprache ihres Namens hat sie nach und nach in den Rang Gottes erhoben.

Aber wenn Gott Eulalia ist, wer ist dann der Andere, dieses zweite Ich, das Ophelia im Spiegel wahrgenommen hat und das angeblich die Archen endgültig zum Einsturz bringen soll? Und was sind die Echos, von denen Lazarus, einer der Verbündeten Gottes, behauptet, sie seien der »Schlüssel zu allem«?

Personen

Von Charlène Lefort

Ophelia

Ophelia stammt von der Arche Anima und hatte bereits zwei Heiratsanträge abgelehnt, ehe sie sich gezwungen sah, ihrer Verlobung mit Thorn von der Arche Pol zuzustimmen. Dank ihrer besonderen Ausprägung der animistischen Familienkraft kann sie die Vergangenheit von Gegenständen lesen und durch Spiegel reisen. Von einem Spiegelunfall in ihrer frühen Jugend hat sie ihre sagenhafte Tollpatschigkeit, eine nuschelige Aussprache und einen beispiellosen Hang zu Katastrophen zurückbehalten. Klein und schüchtern, verkriecht sie sich meist hinter einer rechteckigen Brille, deren Farbe sich ihrer jeweiligen Stimmung anpasst, und hinter einem bunten, durch ihren Animismus beseelten Schal, von dem sie sich niemals trennt. Ophelias schmucklose, altmodische Kleider sind vor allem ihrer koketten Schwester Agathe ein Graus, und die vor Nervosität angeknabberten Nähte ihrer kostbaren Leserinnen-Handschuhe lösen sich langsam auf. Als sie auf der Arche Babel ankommt, stutzt sie, um nicht erkannt zu werden, ihre dicken braunen Locken zu einem absolut unzähmbaren Kurzhaarschnitt und tauscht ihren Mantel und den Schal gegen die nachtblaue Uniform der Vorboten-Fakultät.

Denn hinter ihrem zurückhaltenden Auftreten verbergen sich große Entschlossenheit und Widerstandskraft. Obwohl sie anfangs von der Grausamkeit des Pols entsetzt ist, bewahrt sie sich doch ihren tief verwurzelten Sinn für Gerechtigkeit und ihre Wahrheitsliebe und ist nicht bereit, sich dem Willen der anderen zu unterwerfen, wenn dieser ihrem eigenen zuwiderläuft. Unbeirrbar verbringt sie mehr als zwei Jahre damit, selbst die kleinste Spur ihres verschwundenen Mannes Thorn zu verfolgen, und überquert schließlich die Archen, um ihm endlich ihre Gefühle zu offenbaren und ihn zu ihrem engsten Verbündeten zu machen. Immer unerschrockener und gewiefter sucht sie weiter nach der Identität Gottes und der Ursache der Katastrophe, die die alte Welt in zahlreiche Archen zerschlagen hat.

Thorn

Thorn, der Intendant des Pols, ist auf den ersten Blick ein ruppiger und mürrischer Buchhalter, ebenso groß und schroff, wie Ophelia klein und taktvoll ist. Als unehelicher Nachkomme des Drachenklans, Schützling seiner Tante Berenilde, hat er neben den väterlichen Krallen die Kraft der Chronisten geerbt, der verstoßenen Familie seiner Mutter: ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen. Thorns Erscheinung entspricht seinem Charakter: kalt und starr wie das Eis, das seine Heimatarche bedeckt. Sein narbiger und versehrter Körper bildet einen scharfen Gegensatz zu seinem brillanten Geist. Einzelgänger durch und durch, respektiert er nur Zahlen und erträgt keinerlei Unordnung. Der Zeiger seiner Taschenuhr, die er stets bei sich hat, bemisst jede seiner Handlungen, und die Last einer schweren Kindheit scheint seine Mundwinkel andauernd nach unten zu ziehen. Und doch offenbart er nach und nach seine Abscheu gegen jegliche Gewalt, sein unerschütterliches Pflichtbewusstsein und seine bedingungslose Bereitschaft, die Menschen, die ihm wichtig sind, zu beschützen. Besessen von dem Wunsch, die Welt vom Gängelband eines willkürlichen Gottes zu befreien, wollte er sich Ophelias Leserinnen-Gabe zunutze machen, um das Geheimnis des Buches von Faruk, Familiengeist des Pols, zu ergründen, von dem er sich Aufschluss über die Identität jenes Gottes erhofft. Allerdings geraten die Dinge außer Kontrolle: Das Räderwerk, in das er seine Verlobte und seine Tante mit hineinzieht, ist heimtückischer als erwartet, und bringt sie immer wieder in größte Gefahr.

Um Ophelia nicht länger in die Angelegenheit zu verwickeln, verschwindet Thorn und setzt seine Suche nach Gott und dieser unerbittlichen Macht, die das Leben auf den Archen im Verborgenen zu lenken scheint, allein fort. Doch erst als er in Babel mit Ophelia zusammenarbeitet, wachsen beide über sich hinaus, als würden ihre Schwächen und Unsicherheiten durch den Blick des anderen aufgehoben.

Archibald

Der Angehörige des Gespinstklans, dessen Variation der Faruk'schen Familienkräfte zur Gedankenübertragung befähigt, ist Botschafter am Pol, obwohl man sich fragt, was er in diesem Amt eigentlich zu suchen hat. Denn schließlich würde man von einem Botschafter doch ein gewisses … diplomatisches Geschick erwarten. Archibald aber widmet sich mit Leib und Seele dem genauen Gegenteil: schlampig, ungeniert und ein Schürzenjäger, nimmt er kein Blatt vor den Mund und schert sich meist wenig um die Gefühle seines Gegenübers. Paradoxerweise wird er für seine Leichtfertigkeit zugleich geschätzt und verachtet. Vielleicht liegt es an seiner betörenden Schönheit, dass man ihm Fehltritte eher verzeiht, oder an dem Prestige, das ihm seine Position bei Hofe ebenso wie seine ehrfurchtgebietende Familie verleihen, auch wenn er alles daransetzt, sich deren unwürdig zu erweisen. Tatsächlich verbergen sich hinter Archibalds Respektlosigkeit ein scharfer Verstand und tiefe Melancholie. Ungeachtet seines sorglosen Auftretens, ist er ein nicht zu unterschätzender politischer Stratege, der zudem jedermann glauben macht, er verfolge nur seine persönlichen Interessen, während er sich in Wahrheit bemüht, Ophelia, Berenilde und selbst Thorn vor ihren Gegnern zu schützen. Infolge seiner Entführung aus dem Mondscheinpalast, dem bis dahin sichersten Ort der Himmelsburg, hat das Gespinst die Verbindung zu ihm getrennt. Derart aus seinem bisherigen Leben gerissen, ist Archibald seitdem ein Einzelgänger und fähig, Passagen zwischen den Windrosen zu finden, jenen Türen, die es ermöglichen, vom einen Ende der Welt ans andere zu reisen …

Roseline

Tante Roseline hatte nicht darum gebeten, als Anstandsdame mit Ophelia zum Pol geschickt zu werden. Brummig und steif wie eine schlecht geölte Türangel, zeichnet sie sich vor allem durch ihren unerschütterlichen Pragmatismus aus.

Unter ihrem strengen Dutt verbergen sich ein ausgeprägter Beschützerinstinkt und eine unbestechliche Moral, selbst in feindlicher Umgebung. Ihrer Variante der Familienkraft verdankt sie ihr besonderes Geschick im Umgang mit Papier, daher vertreibt sie sich gerne die Zeit oder die Nervosität mit Reparaturen sämtlicher Bücher und Tapeten, die ihr zwischen die Finger kommen. Sie hasst die Eiseskälte am Pol, liebt aber ihre Patentochter Ophelia von Herzen und verehrt Berenilde, mit der sie bald eine enge und aufrichtige Freundschaft verbindet. Als sie nach Beendigung ihrer Aufgabe als Anstandsdame auf ihre Heimatarche Anima zurückkehren muss, fehlen ihr der Pol und Berenilde schrecklich, auch wenn sie eher ihre kostbarsten Papiere fressen würde, als dies zuzugeben. Und so springt Tante Roseline, kaum dass sich die Gelegenheit bietet, ohne zu zögern, in die nächste Windrose, um ihre Wahlfamilie wiederzutreffen und ihr beizustehen.

Berenilde und Viktoria

Schön und unerbittlich, das sind die ersten Worte, die einem in den Sinn kommen, um die strahlende Berenilde zu beschreiben, Tante von Thorn und einzige Überlebende des Drachenklans. Als Favoritin Faruks wird sie für ihre Anmut bewundert und wegen ihrer Machenschaften innerhalb der Himmelsburg gefürchtet. Die Hofintrigen und Zwistigkeiten der Klans haben ihr ihren Mann und ihre drei Kinder entrissen. Angetrieben von Zorn, Schmerz und dem brennenden Wunsch, noch einmal Mutter zu werden, schreckt sie vor nichts zurück, um ihre Position bei Hofe zu festigen. Dass sie von Faruk schwanger ist, macht die Sache noch pikanter, denn sie wird den ersten direkten Nachkommen eines Familiengeistes seit Jahrhunderten zur Welt bringen.

Obwohl Berenilde Ophelia oft vor den Kopf stößt und sie mit ihren Launen in manch heikle Situation bringt, hat sie sie in Wahrheit längst ins Herz geschlossen. Sie scheint Archibald nicht besonders zu schätzen, trotzdem vertraut sie immer wieder auf seine Loyalität und macht ihn schließlich sogar zum Paten ihrer Tochter Viktoria. Es heißt, Berenilde und Viktoria seien die einzigen Menschen, um die Faruk wirklich besorgt ist. Glücklicherweise, denn Viktorias neue Ausprägung der Familiengabe verleiht ihr die Fähigkeit, aus sich herauszutreten und einen astralen Doppelgänger von sich auf Reisen zu schicken, den nur Gott und Faruk wahrnehmen können …

Gwenael und Reineke

Reineke, der eigentlich Reinhold heißt, war Page von Archibalds Großmutter Dame Klothilde im Mondscheinpalast. Das Temperament des rothaarigen Riesen ist ebenso feurig wie sein Haar. Als Ophelia unter falscher Identität, verkleidet als Berenildes Diener Mimo, in den Palast kommt, nimmt Reineke sie unter seine Fittiche und erklärt sich bereit, sie im Tausch gegen ihre ersten zehn grünen Sanduhren in die Geheimnisse des Hofes einzuweihen. Nach dem Tod seiner Herrin landet er aufgrund eines Verwaltungsfehlers im Verlies. Diesmal hilft Ophelia ihm aus der Patsche, indem sie ihn als ihren Berater einstellt. Reineke ist ein treuer Freund, loyaler Ratgeber und eine starke Schulter, auf die man sich stützen kann. Seit Jahren himmelt er Gwenael an, die Mechanikerin des Mondscheinpalastes.

Gwenael ist Schützling Mutter Hildegards und die letzte Überlebende des Nihilistenklans, dessen Kraft darin besteht, die der anderen aufzuheben. Um ihre Herkunft zu verschleiern, färbt sie ihre kurzen blonden Haare schwarz wie die Nacht und trägt ein dunkles Monokel vor ihrem »bösen Auge«, wie sie selbst es nennt. Zwar erwidert sie Reinekes Gefühle, allerdings ohne ihm dies jemals wirklich zu gestehen, ist sie doch sehr viel reservierter als er. Durch und durch aufrichtig, verabscheut sie die Intrigen des Hofes und unterstützt Ophelia rückhaltlos.

Elizabeth und Octavio

Die Virtuosenanwärterin Elizabeth ist verantwortlich für die Division der Vorboten, der Ophelia in Babel angehört. Groß, dünn, sommersprossig, versteht sie nichts von Humor, dafür umso mehr von Informationsverarbeitung. Schließlich ist sie auf Datenbanken spezialisiert. Als Gabenlose ist sie eine Patentochter Helenes und dieser ebenso blind ergeben wie den Lords von LUX.

Octavio hingegen ist ein Nachkomme Pollux' und gehört dem Familienzweig der Visionäre an. Wie seine Mutter Lady Septima, Professorin am Konservatorium der Guten Familie, verfügt er über eine außerordentliche Sehkraft. Auch er arbeitet hart, um Virtuosenanwärter an der Fakultät der Vorboten zu werden. Während seine Mutter beabsichtigt, ihn zum Besten seiner Division zu machen, will Octavio sich diesen Platz selbst verdienen. Nichts ahnend von Lady Septimas Machenschaften, beginnt er Ophelia zu mögen und will ihr unbedingt beweisen, dass er »ein anständiger Mensch« ist, ganz gleich ob er dadurch in gefährliche Situationen gerät, die seine Illusion der perfekten Metropole Babel ins Wanken bringen.

Lazarus und Ambrosius

Als berühmter Forscher reist Lazarus von Arche zu Arche. Laut einer seiner Anekdoten sprang er einmal in einer Art Taucheranzug in die Leere zwischen den Archen, in die sich noch nie ein Lebewesen vorgewagt hatte, doch man musste ihn wieder hochziehen, ehe er etwas anderes als Wolken sehen konnte. Wenn er nicht gerade um die Welt tingelt, widmet er sich seinen Erfindungen: Ihm verdankt Babel seine zahlreichen Automaten, die der »Unterjochung des Menschen durch den Menschen« ein Ende bereiten sollen. Leider hindert ihn sein heiteres und freundliches Auftreten nicht daran, Gottes treuer Gefolgsmann zu sein. Seine Absichten sind womöglich nicht immer so rein, wie er vorgibt.

Sein Sohn Ambrosius dagegen ist die Unschuld und Güte in Person. Von Geburt an hat dieser einen linken Arm anstelle des rechten, einen rechten anstelle des linken und ebenso vertauschte Beine. Daher sitzt er in einem Rollstuhl und möchte Rad-schi-Fahrer werden, um die Menschen quer durch Babel zu befördern. Er ist der Erste, der Ophelia nach ihrer Ankunft auf der fremden Arche bei sich aufnimmt und ihr hilft. Dabei weiß er von der Existenz Gottes und auch, dass sein Vater irgendwie in jene große Verschwörung verstrickt ist, die die Weltordnung zu bestimmen scheint. Eine Zeit lang hält er Ophelia sogar für den »Anderen«, jenes geheimnisvolle Wesen, das den Einsturz der Archen verursacht.

Die Familiengeister

Man weiß nicht genau, wie die Familiengeister entstanden sind noch durch welches Unglück sie ihr Gedächtnis verloren haben. Sie sind seit Jahrhunderten da, unsterblich und allmächtig, mit ihren uralten Büchern aus einem hautähnlichen Material, verfasst in einer Sprache, die niemand versteht, als einzigem Anhaltspunkt. Doch nicht einmal die fähigsten Leser Animas waren in der Lage, das Rätsel dieser unheimlichen Werke zu entschlüsseln. Ihren menschlichen Nachkommen haben die Familiengeister besondere Kräfte vererbt, und sie herrschen, jeder auf seine Weise, über ihre jeweiligen Archen, die sie nie verlassen.

Artemis, die rothaarige, über Anima wachende Riesin, flüchtet sich in die Beobachtung der Sterne, ihre einzige wahre Leidenschaft. Sie hat kaum Kontakt zu ihren Nachkommen, die sie als guten Geist verehren. Alles, was mit der Vergangenheit zu tun hat, scheint ihr vollkommen gleichgültig zu sein.

Faruk, der Familiengeist des Pols, ist launisch und unbeherrscht wie ein Kind. Er hat ein derart schlechtes Gedächtnis, dass er all seine Gedanken und Beschlüsse in ein Heft notiert, das sein Gedächtnishelfer stets für ihn bereithält; seine mentale Kraft dagegen ist gewaltig. Er hat sich nie wirklich darum bemüht, sie zu beherrschen, und die Energie, die ihn umgibt, kann den Menschen in seinem Umfeld heftige Kopfschmerzen bereiten. Wie die meisten Familiengeister ist Faruk wunderschön, doch von einer so kalten Schönheit, dass sie wie in Marmor gemeißelt wirkt. Er sitzt oft in sich zusammengesunken da, in einer Pose völliger Gleichgültigkeit. Ihn interessiert nur eines: das Geheimnis seines Buches und seiner Vergangenheit zu ergründen.

Auf Babel ergänzen sich die Zwillinge Pollux und Helene: Pollux repräsentiert die Anmut, Helene die Intelligenz. Im Gegensatz zu allen anderen Familiengeistern hat Helene ein missgestaltetes, unproportioniertes Äußeres und bewegt sich nur mithilfe eines Reifrocks auf Rollen und automatischer Gliedmaßen. Da sie keine eigenen Nachfahren haben kann, nimmt sie sich der Gabenlosen an, genannt die Patenkinder Helenes. Auch Pollux bringt seinen Nachkommen, den sogenannten Kindern des Pollux, ein beinahe väterliches Wohlwollen entgegen. Da beide die Gelehrsamkeit lieben, leiten sie gemeinsam das Konservatorium der Guten Familie, an dem die Elite des Landes ausgebildet wird, und stehen der Verwaltung des Memorials vor, einer gigantischen Bibliothek, die alles seit dem Riss entstandene Wissen enthält. Sie herrschen über die zugleich weltoffenste und militaristischste unter den Ophelia bekannten Archen.

Wenn das Leben auf Anima unkompliziert ist, das des Pols ausschweifend und intrigant, so ist es auf Babel geprägt von strengen Regeln und dem Streben nach Wissen. Insgeheim jedoch scheinen die Lords von LUX die Fäden in der Hand zu halten, und wehe dem, der sich etwas zu sehr in ihre Angelegenheiten einmischt!

Gott

Er kann das Aussehen und die Kräfte jedes Menschen annehmen, dem er sich nähert.

Er will sich die letzte Gabe aneignen, die ihm noch fehlt: die Fähigkeit der Bogianer, den Raum zu beherrschen.

Er war ursprünglich einmal eine kleine babelische Schriftstellerin.

Sein wahrer Name ist Eulalia Gort.

Er hat kein Spiegelbild.

Er sucht den Anderen.

Der Andere

Niemand außer Gott weiß, wer er wirklich ist und wie er aussieht.

Ophelia hat ihn befreit, als sie das erste Mal durch einen Spiegel ging.

Er hat die alte Welt beinahe vollkommen zerstört.

Und jetzt fängt er wieder damit an.

Im Sturm der Echos

Für dich, Mama.

Dein Mut macht mir Mut.

C. ‌D.

»Du bist unmöglich.«

»Unmöglich?«

»Unwahrscheinlich, wenn dir das lieber ist.«

»…«

»Bist du noch da?«

»Noch da.«

»Zum Glück. Ich fühle mich ein bisschen einsam.«

»Ein bisschen?«

»Eigentlich sehr. Meine Vorgestrigen … Vorgesetzten … sie kommen nicht oft hier herunter. Ich habe ihnen noch nicht von dir erzählt.«

»Von dir?«

»Nein, nicht von mir. Von dir.«

»Von mir.«

»Genau. Ich weiß nicht, ob sie dich verdrehen … verstehen würden. Ich selbst bin mir nicht ganz sicher, ob ich dich verstehe. Es fällt mir schon schwer genug, mich selbst zu verstehen.«

»…«

»Du hast mir deinen Namen noch nicht gesagt.«

»Noch nicht.«

»Dabei denke ich, dass wir anprangern … anfangen, uns ganz gut zu kennen. Ich bin jedenfalls Eulalia.«

»Ich bin ich.«

»Das ist eine interessante Antwort. Von wo gehst du aus?«

»…«

»Na gut, meine Frage war etwas kompliziert. Wo bist du jetzt gerade?«

»Hier.«

»Wo, hier?«

»Dahinter.«

»Dahinter? Aber wohinter?«

»Hinter dahinter.«

Recto

Hinter den Kulissen

Er betrachtet den Spiegel; er sieht sich nicht darin. Doch das ist unwichtig, was zählt, ist allein der Spiegel: schlicht, nicht besonders groß und etwas schief an der Wand. Ein bisschen wie Ophelia.

Sein Finger gleitet über das Glas, ohne eine Spur zu hinterlassen. Hier, an diesem Ort, hat alles angefangen oder, je nach Blickwinkel, aufgehört. Jedenfalls wurde es hier erst wirklich interessant. Er erinnert sich, als ob es gestern gewesen wäre, an Ophelias erste Spiegelreise in jener denkwürdigen Nacht.

Er macht ein paar Schritte durchs Zimmer, streift mit dem Blick die vertrauten alten Spielsachen, die auf den Regalen herumzappeln, und bleibt vor dem Etagenbett stehen. Ophelia hat es zuerst mit ihrer großen Schwester und später mit ihrem kleinen Bruder geteilt, ehe sie Anima Hals über Kopf verließ. Wer wüsste das besser als er – schließlich beobachtet er sie nun schon seit Jahren aus dem Hintergrund. Sie hat immer lieber unten geschlafen. Ihre Familie hat die zerwühlten Laken und das eingedrückte Kopfkissen nicht angerührt, als erwarteten sie alle, dass sie im nächsten Moment nach Hause zurückkehrt.

Er bückt sich und betrachtet amüsiert die Karten der einundzwanzig Hauptarchen, die unter das obere Bett gepinnt sind. Während die Doyennen sie hier festhielten, hat Ophelia lange nach ihrem verschwundenen Ehemann gesucht.

Er geht die Treppe hinunter und durchs Esszimmer, wo die Suppe in den Tellern kalt wird. Niemand ist da. Sie sind alle mitten beim Abendbrot rausgelaufen – wegen des Lochs natürlich. In diesen leeren Räumen hat er beinahe das Gefühl, anwesend zu sein, wirklich hier zu sein. Selbst das Haus scheint sein Eindringen zu bemerken: Die Kronleuchter schlottern, die Möbel knarzen, die Pendeluhr lässt einen lauten, fragenden Gong ertönen. Das findet er so lustig bei den Animisten. Man weiß nie genau, wer eigentlich wem gehört: die Dinge ihren Besitzern oder umgekehrt.

Draußen schlendert er lässig die Straße entlang. Er ist nicht in Eile. Neugierig, ja, aber niemals in Eile. Dabei ist es mittlerweile höchste Zeit; für sie alle, ihn eingeschlossen.

Er gesellt sich zu den Nachbarn, die sich um das »Loch«, wie sie es nennen, versammelt haben und beunruhigte Blicke tauschen. Es erinnert an einen Gully mitten auf dem Bürgersteig, nur dass, wenn sie mit ihren Laternen hineinleuchten, kein Licht durch die Schwärze dringt. Um den Grund auszuloten, wickelt jemand eine Garnrolle ab, der bald der Faden ausgehen wird. Tagsüber war das Loch noch nicht da, eine Doyenne hat Alarm geschlagen, nachdem sie beinahe hineingestürzt wäre.

Er kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das ist erst der Anfang, meine Dame.

In dem Pulk entdeckt er Ophelias Eltern; sie bemerken ihn wie üblich nicht. In ihren weit aufgerissenen Augen ist die gleiche stumme Frage zu lesen. Sie wissen nicht, wo ihre Tochter steckt – und ahnen erst recht nicht, dass sie mit schuld ist an diesem klaffenden Abgrund im Gehweg –, aber es ist unschwer zu erraten, dass die beiden sich heute Abend noch mehr um sie sorgen als sonst. Ebenso besorgt drücken sie die übrigen Kinder an sich, ohne ihre Fragen beantworten zu können. Schöne, große, vor Gesundheit strotzende Kinder, deren rotblonde Schöpfe im Laternenlicht schimmern.

Es fasziniert ihn stets aufs Neue, zu sehen, wie sehr sich Ophelia von ihnen unterscheidet, und das aus gutem Grund.

Er setzt seinen Spaziergang fort. Zwei Schritte, und er ist am anderen Ende der Welt, am Pol, irgendwo zwischen den obersten Etagen und den Arbeitervierteln der Himmelsburg, auf der Schwelle zu Berenildes Anwesen. Dieser Landsitz mit seinem ewigen Herbst ist ihm genauso vertraut wie das Haus auf Anima. Überall, wo Ophelia hingegangen ist, war auch er. Als sie für Berenilde den Pagen gab, war er dabei. Als sie Faruks Vize-Erzählerin wurde, war er dabei. Als sie nach den Verschwundenen des Mondscheinpalastes suchte, war er dabei. Mit wachsendem Interesse hat er all ihre Missgeschicke verfolgt, ohne je aus den Kulissen hervorzutreten.

Er kehrt immer wieder gern an die Schauplätze der Geschichte zurück, ihrer aller Geschichte. Was wäre aus Ophelia geworden, wenn Berenilde von sämtlichen Leserinnen Animas nicht ausgerechnet sie als Braut für ihren Neffen bestimmt hätte? Wäre sie dem, was sie »Gott« nennen, dann niemals begegnet? Sicherlich doch. Die Geschichte hätte nur einfach einen anderen Weg genommen. Jeder muss seine Rolle spielen, so, wie er die seine spielen wird.

Während er den Flur durchquert, dringt aus dem roten Salon eine Stimme an sein Ohr. Er späht durch die angelehnten Türflügel. In dem schmalen Blickfeld sieht er Ophelias Tante. Ruhelos läuft sie auf dem exotischen Teppich hin und her, der ebenso eine Illusion ist wie die Jagdbilder und Porzellanvasen. Sie überkreuzt die Arme, löst sie wieder, schwenkt ein Telegramm, das durch ihren Animismus ganz steif geworden ist, redet von einem »wie eine Badewanne« ausgelaufenen See, schimpft Faruk einen »Waschzuber«, Archibald ein »Stück Schmierseife«, Ophelia eine »Kuckucksuhr« und die gesamte Ärzteschaft eine »öffentliche Latrine«. Berenilde sitzt im Sessel und hört ihr nicht zu. Sie summt leise vor sich hin, während sie die langen weißen Haare ihrer Tochter kämmt, deren kleiner Körper sich schlaff an ihren schmiegt. Nichts dringt an ihre Ohren außer diesem schwachen Atem zwischen ihren Händen.

Er wendet den Blick ab. Wie jedes Mal, wenn es zu persönlich wird. Er war immer neugierig, aber nie ein Voyeur.

Erst da bemerkt er den Mann neben sich. Im dämmrigen Korridor hockt er auf dem nackten Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, und putzt energisch den Lauf eines Jagdgewehrs. Es scheint, als hätten die Damen sich einen Leibwächter gesucht.

Er setzt seinen Spaziergang fort. Mit einem einzigen großen Schritt verlässt er den Flur, das Anwesen, die Himmelsburg, den Pol und gelangt in einen anderen Teil der Welt. Jetzt ist er in Babel. Ah, Babel! Sein liebstes Studiengebiet. Die Arche, auf der die Geschichte und die Zeit enden werden, der Punkt, an dem alles zusammenläuft.

Es war Abend auf Anima, hier ist es Morgen. Dichter Regen fällt auf die Dächer.

Er durchmisst die Wandelgänge der Guten Familie, wie Ophelia es während ihrer Lehrzeit als Vorbotin getan hat. Um ein Haar hätte sie ihre Flügel behalten und wäre eine Bürgerin Babels geworden, was ihr für ihre folgenden Nachforschungen viele Türen geöffnet hätte. Sie hat es nicht geschafft, zum Glück, findet er. Das macht das Ganze für ihn nur noch reizvoller.

Er erklimmt die Treppe eines Wachturms. Von dort oben kann er trotz des Regens die benachbarten Inseln in der Ferne erkennen. Vor ihm das Memorial, hinter ihm das Beobachtungsinstitut für Abweichungen. Die beiden werden in der Geschichte noch eine entscheidende Rolle spielen.

Um diese Uhrzeit sollten die Auszubildenden der Guten Familie bereits ihre Uniformen tragen und den Radiolektionen aus ihren Kopfhörern lauschen, Kinder des Pollux auf der einen, Patenkinder Helenes auf der anderen Seite. Stattdessen drängen sie sich alle gemeinsam auf der Befestigungsmauer dieser Nebenarche. Ihre Pyjamas sind vom Regen durchweicht. Sie stoßen entsetzte Schreie aus, deuten mit den Fingern über das Wolkenmeer auf die Metropole. Selbst die Direktorin, Helene höchst persönlich, der einzige Familiengeist, der nie Nachkommen hatte, steht unter einem gigantischen Regenschirm bei ihnen und betrachtet die Anomalie mit durchdringender Aufmerksamkeit.

Von seinem idealen Beobachtungsposten aus sieht er ihnen allen zu. Oder besser, er versucht, durch ihre schreckgeweiteten Augen wie sie diese Leere zu sehen, die heute noch etwas weiter um sich gegriffen hat.

Wieder muss er unwillkürlich lächeln. Er ist lange genug im Hintergrund geblieben, nun ist es Zeit, die Bühne zu betreten.

Die Leere

Ophelia hatte Pollux' Botanische Gärten in strahlender Erinnerung. Sie waren das Erste, was sie von Babel gesehen hatte. Sie hatte noch die imposanten, stufenförmig angelegten Terrassen vor Augen und die unzähligen Treppen, die sie erklimmen musste, um aus dem Dschungel herauszukommen.

Sie erinnerte sich an die Gerüche. Die Farben. Die Geräusche.

Nichts davon gab es mehr.

Ein Erdrutsch hatte alles, bis auf den letzten Grashalm, in die Tiefe gerissen. Diese hatte auch eine komplette Brücke, den halben benachbarten Markt und mehrere kleine Archen verschlungen. Ebenso wie jegliches Leben, das sich darauf befunden hatte.

Ophelia hätte entsetzt sein müssen. Doch sie war einfach nur fassungslos. Sie betrachtete den Abgrund durch das behelfsmäßig an der neuen Grenze zwischen Erde und Himmel errichtete Gitter. Zumindest versuchte sie es. Der Regen hatte aufgehört, aber das Wolkenmeer begann die gesamte Stadt zu überfluten. Seine dampfigen Schwaden sorgten nicht nur für zweifelhafte Sichtverhältnisse, sondern ließen auch noch Ophelias Brillengläser beschlagen.

»Der Andere existiert tatsächlich«, stellte sie fest. »Bis jetzt war er nichts als eine abstrakte Vorstellung. Egal wie oft man mir sagte, dass es eine Riesendummheit war, ihn zu befreien, dass er wegen mir die Archen vernichten würde, dass ich mit ihm verbunden wäre, ob ich will oder nicht, ich fühlte mich nicht wirklich betroffen. Wie sollte ich eine apokalyptische Kreatur aus meinem eigenen Spiegel herausgelassen haben, ohne mich richtig daran erinnern zu können? Ich weiß nicht mal, wie er aussieht, wie er das alles anstellt und warum er es überhaupt tut.«

Der Nebel um Ophelia war so dicht, dass sie das Gefühl hatte, nur eine körperlose Stimme im Nichts zu sein. Sie klammerte sich an das Gitter, als plötzlich die Wolken aufrissen und ein Stück Himmel enthüllten, wo sich zuvor das nordöstliche Viertel der Stadt erstreckt hatte.

»Es ist alles weg. Was, wenn Anima … vielleicht auch der Pol …«

Sie ließ den Satz unvollendet. Männer, Frauen und Kinder waren in die Leere dort vor ihren Augen gestürzt, doch sie dachte zuerst an ihre eigene Familie.

Ein Schwarm orientierungsloser Vögel suchte nach den verschwundenen Bäumen. Was geschah mit den Dingen, die versanken? Sämtliche Haupt- und Nebenarchen schwebten auf einem gigantischen Wolkenozean, in den sich keine Lebensform vorwagte. Es hieß, der Weltkern sei nichts als ein Knäuel unablässiger Gewitter. Selbst Lazarus, der berühmte Forschungsreisende, war nie bis dorthin gelangt.

Ophelia hoffte, dass niemand gelitten hatte.

Noch am Abend zuvor hatte sie sich so beruhigt gefühlt, so erfüllt. Sie hatte die wahre Identität des tausendgesichtigen Gottes, der ihre Leben kontrollierte, aufgedeckt. Eulalia Gort. Endlich ihren Namen zu kennen, zu begreifen, dass sie ursprünglich eine kleine idealistische Schriftstellerin gewesen war und niemals irgendein Recht gehabt hatte, zu entscheiden, was gut und was böse war: All das hatte Ophelia von einer solchen Last befreit! Und nun sollte der gefährlichste Gegner gar nicht der sein, von dem sie es angenommen hatte?

›Du wirst mich zu ihm führen.‹

»Erst hat der Andere mich benutzt, um Eulalia Gorts Kontrolle zu entkommen, und jetzt benutzt Eulalia Gort mich, um den Anderen aufzuspüren. Da diese beiden mich in ihre verbrecherischen Machenschaften hineinziehen, werde ich die Sache jetzt persönlich nehmen.«

»Wir.«

Ophelia drehte sich zu Thorn um, ohne ihn zu sehen. In diesem Nebel war auch er nur ein entferntes, etwas unheimliches Flüstern, und doch erschien ihr seine Stimme greifbarer als der Boden unter ihren Sandalen. Mit einem einzigen Wort hatte er dafür gesorgt, dass sie sich besser fühlte.

»Sollte sich herausstellen, dass der Andere sowohl etwas mit der Zerstörung der alten Welt als auch mit dem Einsturz der Archen und der Verwandlung einer einfachen Frau in den Allmächtigen zu tun hat«, fuhr Thorn im nüchternen Ton einer Geschäftsbilanz fort, »dann wird er zu einer grundlegenden Komponente der Gleichung, die ich seit Jahren zu lösen versuche.«

Ein metallisches Klacken war zu hören. Es war Thorns Taschenuhr, die ihren Deckel öffnete und wieder schloss, um ihn zur Eile zu mahnen. Seit sie animiert war, hatte sie die Eigenarten ihres Besitzers angenommen.

»Die Zeit läuft«, sagte Thorn. »Für jeden Normalsterblichen ist ein Erdrutsch wie dieser eine Naturkatastrophe. Wir dagegen wissen inzwischen nicht nur, dass es damit nichts zu tun hat, sondern auch, dass es weitergehen wird. Solange nicht klar ist, wem wir vertrauen und auf welche Fakten wir uns stützen können, sollten wir mit niemandem darüber sprechen. Wir müssen also herausfinden, was genau Eulalia Gort und den Anderen verbindet, verstehen, was sie wollen, was sie sind, wo sie sind, wie und warum sie tun, was sie tun, und dann all diese Erkenntnisse gegen sie verwenden. Und nach Möglichkeit sollten wir es schnell tun.«

Ophelia kniff die Augen zusammen. Der Wind hatte die Wolkenmassen um sie herum fortgeblasen, und das Licht hatte sie urplötzlich überflutet wie ein gleißender Wasserfall.

Jetzt sah sie Thorn ganz genau. Er stand neben ihr vor dem Gitter, extrem aufrecht, übertrieben groß, seine Uhr in der Hand, den Blick in die Unendlichkeit des Himmels gerichtet. Die Goldverzierungen seiner Uniform funkelten grell in der Sonne, doch sie konnten Ophelia nicht dazu bringen, sich abzuwenden. Sie öffnete die Augen sogar noch weiter, um all den Glanz in sich aufzunehmen. Thorn strahlte eine Entschlossenheit aus, die sich auf sie übertrug wie elektrische Energie.

Ophelia spürte am ganzen Körper, was er ihr inzwischen bedeutete, was sie ihm inzwischen bedeutete, und nichts auf der Welt schien ihr verlässlicher zu sein.

Dennoch hütete sie sich davor, ihm zu nahe zu kommen. Weit und breit war niemand zu sehen – die Gegend war von den Behörden evakuiert worden –, trotzdem hielten sie die vorschriftsmäßige Distanz ein, wie immer in der Öffentlichkeit. Die gesellschaftliche Kluft zwischen ihnen hätte größer nicht sein können. Seit ihrem Scheitern am Konservatorium der Guten Familie befand sich Ophelia am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie Babels. Thorn dagegen war »Sir Henry«, ein ehrwürdiger Lord von LUX.

»Eulalia Gort hat tausend verschiedene Identitäten, der Andere nicht eine einzige«, fügte er hinzu. »Wir haben keine Ahnung, wie diese beiden aussehen werden, wenn unsere Wege sich erneut kreuzen, aber wir müssen bereit sein, es mit ihnen aufzunehmen, ehe wir sie finden. Oder von ihnen gefunden werden.«

Plötzlich bemerkte Thorn, wie eindringlich Ophelia ihn ansah. Er räusperte sich.

»Es ist mir nicht möglich, dich von ihnen fernzuhalten, aber ich kann sie von dir fernhalten.«

Fast exakt das Gleiche hatte er schon einmal im Sekretarium des Memorials zu ihr gesagt – nur dass er sie da noch gesiezt hatte. Was Ophelia beunruhigte, war, dass sie ihm aufs Wort glaubte. Thorn hatte seinen Namen und seine Autonomie geopfert, um sie endgültig von dieser Überwachung zu befreien, der sie so mühevoll entkommen war und unter die sie beim kleinsten Fehltritt wieder geraten konnte. Ja, sie wusste, dass Thorn bereit war, auf alles zu verzichten, um dieses eine Ziel zu erreichen. Er hatte schließlich sogar den Gedanken akzeptiert, dass Ophelia sich an seiner Seite in Gefahr brachte, solange es ihre eigene Wahl war.

»Wir sind nicht allein, Thorn. Im Kampf gegen sie, meine ich. Während wir hier reden, sind Archibald, Reineke und Gwenael auf der Suche nach Erdenbogen. Vielleicht haben sie es bereits gefunden. Wenn sie die Bogianer überzeugen können, sich uns anzuschließen, dann ändert das alles.«

Thorn runzelte die Brauen. Ophelia und er hatten schon am Abend zuvor darüber gesprochen, ehe sie vom Heulen der Sirenen aus dem Bett gerissen worden waren, aber allein die Erwähnung Archibalds löste bei Thorn stets dieselbe Reaktion aus.

»Er ist der letzte Mensch auf der Welt, dem ich vertraue.«

Die Sonne verschwand, und sie wurden erneut von der Wolkenflut eingehüllt.

»Ich gehe vor«, verkündete Thorn, während seine Uhr ungeduldig mit dem Deckel klapperte. »Ich habe eine weitere Unterredung mit den Genealogen. So wie ich sie kenne, wird ihr nächster Auftrag etwas mit unserer Angelegenheit hier zu tun haben. Wir treffen uns heute Abend.«

Ein mechanisches Knirschen sagte Ophelia, dass er sich auf den Weg gemacht hatte. Durch die Beinschiene konnte er gehen, ohne zu humpeln, das war allerdings auch die einzige Wohltat, die er den Genealogen zu verdanken hatte. Thorn hoffte, mit ihrer Hilfe Eulalia Gorts Geheimnissen auf die Spur zu kommen, da auch sie deren Herrschaft ein Ende bereiten wollten. Doch für die Genealogen zu arbeiten war wie mit Dynamitstangen zu jonglieren. Sie hatten Thorn eine falsche Identität verschafft, die sie ihm jederzeit wieder nehmen konnten, und ohne die Maske von Sir Henry würde er erneut zum Entflohenen werden.

»Sei vorsichtig.«

Thorn blieb stehen, und Ophelia konnte schemenhaft seine kantige Gestalt ausmachen.

»Du auch. Sogar ein bisschen mehr als das.«

Er entfernte sich, bis der Nebel ihn ganz verschluckt hatte. Ophelia wusste, worauf er anspielte. Sie kramte in den Taschen ihrer Toga. Darin waren die Schlüssel zu Lazarus' Domizil, die Ambrosius ihr anvertraut hatte, und der Zettel mit der Nachricht Helenes, ihrer ehemaligen Schulleiterin: Kommt mich bei Gelegenheit einmal besuchen, Eure Hände und Ihr.

Endlich fand Ophelia, was sie gesucht hatte: ein Aluminiumplättchen. Darauf waren dieselben verschlungenen Zeichen zu erkennen wie in den Büchern der Familiengeister, ein Kode, den Eulalia Gort einst erfunden und den bis heute niemand enträtselt hatte. Dieses von einer Gewehrkugel durchbohrte Plättchen war alles, was vom alten Fußbodenkehrer des Memorials geblieben war. Ophelia wurde übel, wenn sie nur daran dachte. Er hatte sich als ein ganz spezieller Familiengeist entpuppt, der über Eulalia Gorts Vergangenheit wachte und sie, Ophelia, beinahe zu Tode erschreckt hätte. Der Sohn des Ohne-Furcht-Und-Beinah-Ohne-Tadel hatte sie gerettet, als er seinen Vater rächen wollte. Zu ihrem Glück hatte er auf den Kopf gezielt, genau da, wo die Plakette befestigt war. Kaum war der Kode zerstört, hatte sich der alte Fußbodenkehrer wie ein Albtraum in Luft aufgelöst. Ein Leben, das nur an ein paar Zeilen hing … Thorn hatte diese Geschichte ganz und gar nicht gefallen, als Ophelia sie ihm erzählt hatte.

Sie warf das Aluminiumplättchen zwischen den Gitterstäben hindurch. Es blitzte ein letztes Mal auf, ehe es sich in den Wolken verlor, zusammen mit all jenen, die in den Abgrund gestürzt waren.

Plötzlich durchzuckte sie der Gedanke an ihre falschen Papiere. Eulalia. Ohne es zu wollen, hatte sie sich den Namen ihrer Feindin gegeben. Es ging sogar noch weiter: Oft wurde sie von fremden Erinnerungen heimgesucht. Wo begann Eulalias Erinnerung und wo endete ihre eigene? Wie sollte sie ihren Platz in der Gegenwart finden, wenn ihre Vergangenheit ein einziges Puzzle war? Wie an die Zukunft denken, während die Welt unterging? Und wie konnte sie sich frei fühlen, wenn sie dazu bestimmt war, den Weg des Anderen wieder zu kreuzen? Sie hatte ihn aus dem Spiegel befreit und fühlte sich verpflichtet, die Verantwortung dafür zu übernehmen, doch sie verübelte es allen beiden – Eulalia Gort und dem Anderen –, dass sie ihr das genommen hatten, was sie ohne sie hätte sein können.

Ophelia blies die Nebelschwaden von sich weg. Sie würde jeden Hinweis verfolgen, den dieses zweite Gedächtnis ihr lieferte, um die Schwachstellen der beiden aufzuspüren. Hier in Babel hatte die Geschichte Eulalias, des Anderen, der Familiengeister und der neuen Welt begonnen. Einsturz hin oder her, sie würde sich nicht von dieser Arche fortbewegen, bis sie ihr nicht ihr letztes Geheimnis entrissen hätte.

Sie machte auf dem Absatz kehrt, um die Leere hinter sich zu lassen.

Jemand stand genau neben ihr. Ein vom Nebel verwischter Schatten.

Das Viertel war abgeriegelt. Seit wann befand sich diese Person dort? Hatte sie belauscht, was Thorn und Ophelia kurz zuvor besprochen hatten? Oder besichtigte sie nur den Ort der Katastrophe?

»Guten Tag?«

Der Schemen antwortete nicht, sondern entfernte sich langsam durch die Wolkenschwaden. Ophelia ließ ihm einen Vorsprung und beschloss dann, ihm zwischen den Silhouetten der verwaisten Stände hindurch zu folgen. Vielleicht bildete sie sich das nur ein, aber falls dieser – oder diese – Neugierige sie tatsächlich belauscht hatte, dann wollte sie zumindest sein – oder ihr – Gesicht kennen.

In dem wolkenverhangenen, nach dem Einsturz nur noch halb vorhandenen Markt herrschte eine apokalyptische Atmosphäre. Ein Automat, der Zeitungen verteilen sollte und noch eine Ausgabe vom Vortag gen Himmel reckte, stand reglos wie eine Statue mitten auf dem Platz, da niemand ihn mehr aufgezogen hatte. Besonders verstörend an dieser Stille waren all die leisen Geräusche, die Ophelia normalerweise überhaupt nicht wahrgenommen hätte. Das Gluckern des Wassers im Rinnstein. Das Summen der Fliegen über den zurückgelassenen Waren. Ihr eigener Atem. Von dem Schatten, den sie allmählich aus den Augen verlor, war dagegen kein Laut zu vernehmen.

Sie beschleunigte ihren Schritt.

Als ein Windstoß den Nebel zerriss, erschrak Ophelia vor ihrem eigenen Spiegelbild. Es fehlte nicht viel, und sie wäre gegen eine Ladenfront geknallt.

GLASEREI & SPIEGEL

Sosehr Ophelia sich in alle Richtungen umschaute, es war weit und breit niemand mehr zu sehen. Der Schatten hatte sie abgehängt, sei's drum.

Sie näherte sich dem Eingang des Geschäftes. Der Händler war in Panik vor dem Einsturz geflohen, ohne auch nur die Tür hinter sich zu schließen. Aus dem Innern erklang das Gemurmel eines Radiogeräts, das noch lief:

»… hier bei uns im Studio der Amtlichen Nachrichten. Bürger, Ihr gehört zu den wenigen Zeugen der Tragödie … Tragödie, die Babel gestern Morgen überschattet hat. Was könnt Ihr uns berichten?«

»Ich kann's selbst noch nicht fassen, dabei hab ich's really gesehen. Oder nein, ich hab's eher nicht gesehen. Ich weiß nicht, wie ich's erklären soll.«

»Sagt uns einfach, was passiert ist, Bürger.«

»Ich war an meinem Platz, hatte meinen Stand aufgebaut. Es hat geschüttet wie aus Kübeln. Ein Sturzbach vom Himmel … Himmel. Wir haben überlegt, ob wir nicht lieber alles wieder einpacken. Und dann war da so was wie ein Hickser.«

»Ein Hickser?«

»Ein ganz leichtes Zucken. Ich hab nichts gesehen, nichts gehört, aber das, ja, das hab ich gespürt.«

»Und danach, Bürger?«

»Danach hab ich begriffen, dass die andern es auch gespürt hatten, dieses Zucken. Wir sind alle aus unsern Ständen … Ständen gekommen. Das war ein Schock! Die Bude nebenan: verschwunden. Nichts mehr da, nur Wolken. Es hätte genauso gut mich treffen können.«

»Danke, Bürger. Liebe Zuhörer … Zuhörer, dies sind die Amtlichen Nachrichten. Zu Eurer Sicherheit haben die Lords von LUX den nordwestlichen Sektor für den Verkehr gesperrt. Sie ermahnen Euch, die verbotenen Flugblätter nicht zu lesen, die die öffentliche Ordnung stören. Wir erinnern Euch außerdem daran, dass im Memorial gerade eine Bürgerzählung … Bürgerzählung durchgeführt wird.«

Ophelia verzichtete darauf, den Rest anzuhören; die Echos waren zu lästig. Dieses Phänomen, das früher so gut wie gar nicht und noch bis vor zwei Tagen nur gelegentlich aufgetreten war, beeinträchtigte nun sämtliche Übertragungen. Bevor Lazarus zu einer neuen Reise aufgebrochen war, hatte er ihnen versichert, die Echos seien »der Schlüssel zu allem«. In diesem Zusammenhang hatte er Ophelia außerdem eröffnet, dass sie eine Verdrehte sei, wie er selbst im Übrigen auch, dass er in Gottes Auftrag die Archen erkunde und aus eigenem Antrieb die Automaten entwickelt habe, weil er seinen Beitrag dazu leisten wolle, diese neue Welt noch perfekter zu machen. Lazarus erzählte allerdings so einiges, und man wusste nie, was man davon glauben sollte.

Ophelia starrte ihr Ebenbild in einem der Spiegel im Schaufenster an. Das letzte Mal, als sie durch einen Spiegel hindurchgegangen war, hatte sie mit einem Satz eine riesige Distanz überwunden, als wäre ihre Familienkraft mit ihr gemeinsam gereift. Die Fähigkeit, durch Spiegel zu reisen, hatte sie schon aus so mancher Klemme gerettet, aber die Welt der Archen wäre besser dran, wenn sie es gleich beim ersten Mal hätte sein lassen. Könnte sie sich doch bloß erinnern, was genau damals in ihrem Kinderzimmer geschehen war! Von ihrer Begegnung mit dem Anderen waren ihr nur ein paar vereinzelte Bruchstücke im Gedächtnis geblieben. Etwas hinter ihrem Spiegelbild. Ein Ruf, der sie mitten in der Nacht geweckt hatte.

Befreie mich.

Sie hatte ihn befreit, nun gut, aber wo war er letztlich herausgekommen und in welcher Gestalt? Soweit sie wusste, hatte niemand auf Anima oder sonst wo das Auftauchen einer apokalyptischen Kreatur gemeldet.

Ophelia riss die Augen auf. Irgendwas stimmte nicht mit dem Spiegel im Schaufenster. Sie sah sich mit ihrem Schal, dabei hatte sie den ganz sicher bei Lazarus zu Hause gelassen. Die Kleiderordnung von Babel erlaubte ihr nicht, in der Öffentlichkeit Farben zu tragen, und sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Doch das war nicht das einzige Seltsame an ihrem Spiegelbild. Ihre Toga war blutverschmiert. Sie starb. Eulalia Gort und der Andere waren auch dort, obwohl sie keine erkennbare Form hatten, und überall, überall um sie herum gab es nur noch Leere.

»Eure Ausweispapiere, please.«

Mit rasendem Herzen wandte Ophelia sich von dem Anblick ab. Ein Gardist streckte ihr fordernd die Hand entgegen.

Während der Mann ihre falschen Papiere untersuchte, warf Ophelia erneut einen raschen Blick auf den Spiegel im Schaufenster. Ihr Ebenbild war wieder ganz gewöhnlich. Kein Schal mehr, kein Blut, keine Leere. Erst dieser Schatten, jetzt ihr Spiegelbild … Sie dachte an die Illusionen der Miragen, denen sie am Pol alle naslang aufgesessen war. War sie auch diesmal Opfer einer Sinnestäuschung geworden? Oder schlimmer, einer Manipulation?

»Animistin achten Grades«, bemerkte der Wachmann, während er ihr den Ausweis zurückgab. »Ihr seid nicht in der Metropole geboren, Miss Eulalia.«

So nahe an der Absturzstelle patrouillieren zu müssen war ihm nicht geheuer. Seine langen Ohren zuckten unablässig wie bei einer nervösen Katze. Jeder Nachkomme Pollux' hatte ein überentwickeltes Sinnesorgan. Dieser hier war ein Akustiker.

»Aber ich habe eine Unterkunft«, erwiderte Ophelia. »Kann ich da jetzt hingehen?«

Der Gardist starrte auf ihre Stirn, als suche er etwas, was sich dort hätte befinden müssen.

»Nein, Ihr seid nicht ordnungsgemäß. Habt Ihr die Ankündigungen nicht gehört? Ihr müsst zur Bürgerzählung ins Memorial gehen. Now.«

Die Unterschrift

Die Vogeltram war zum Bersten gefüllt. Dennoch schob der Gardist Ophelia unsanft hinein, bevor die Türen geschlossen wurden. Sie konnte sich nicht rühren, ohne auf irgendwelche Babuschen zu treten. Es war brütend heiß, und der Schweißgeruch übertraf noch den ohnehin schon atemberaubenden Gestank der Schimären auf dem Dach. Ein Baby schrie. Auf sämtlichen Gesichtern rundum las Ophelia dieselbe Ratlosigkeit. Warum brachte man sie ins Memorial? Was hatte diese plötzliche Bürgerzählung zu bedeuten? Hatte es etwas mit dem Erdrutsch zu tun? Trotz der allgemeinen Besorgnis wagte niemand zu protestieren. Wenn Ophelia der Kleiderordnung trauen konnte, waren hier Totemisten, Floraner, Weissager, Heliopolitaner, Gestaltwandler, Totenbeschwörer und Phantome zusammengepfercht, Männer und Frauen aus aller Herren Archen, wie man vielen in Babel begegnete. Jede Erfindung der Metropole war Frucht ihrer vereinigten Familienkräfte, angefangen bei dieser Vogeltram, in der sie gerade erstickten und die noch immer nicht losgeflogen war.

Alle hier waren nervös, doch Ophelia war noch weit mehr als das. Sie hatte keinerlei Lust, von den babelischen Behörden erfasst zu werden, nicht mit falschen Papieren in der Tasche und einem bevorstehenden Weltuntergang, den sie verhindern musste. Ihr Spiegelbild in diesem Laden, ob es nun eine Sinnestäuschung gewesen war oder nicht, hatte sie zutiefst aufgewühlt.

An die Scheibe der Tür gequetscht, betrachtete sie die Menge draußen. Ein Händler zurrte seine Teppiche auf einem Karren fest, eine alte Dame lenkte einen Kastenwagen voller Kinder durchs Gewühl, und ein Zebu hielt mitten auf der Straße den Verkehr auf. Man floh nicht nur aus dem vom Einsturz betroffenen Viertel: Man floh vor dem Rand, vor der Leere. Die Leute hatten Angst, wer hätte es ihnen verübeln mögen? Ophelia dachte, dass jeder von ihnen der Andere sein konnte. Obwohl sie doch angeblich mit ihm verbunden war, hätte sie ihn in der Menge nicht erkannt.

Ein Automat näherte sich auf einem Fahrrad. Es war ein merkwürdiger Anblick, wie diese Puppe ohne Augen, Nase und Mund stur geradeaus radelte, während aus ihrem Bauch eine heisere Grammofonstimme erklang:

»ICH JÄTE EUER UNKRAUT, ICH POLIERE EUER MESSING, ICH FLICKE EURE BABUSCHEN … BABUSCHEN … UND ERMÜDE NIE. ENGAGIERT MICH, UM DER UNTERJOCHUNG DES MENSCHEN DURCH DEN MENSCHEN EIN ENDE ZU BEREITEN.«

Ophelias Blick durch die Scheibe kreuzte den eines alten Herrn auf einem Koffer, der viel zu groß und schwer für ihn war. Er hatte den verstörten Gesichtsausdruck eines Menschen, der nicht weiß, wo er die nächste Nacht verbringen wird, und rief den Passagieren an Bord der Vogeltram zu:

»Sucht euch eine andere Arche! Lasst Babel seinen wahren Bürgern!«

Endlich verließ die Vogeltram den Bahnsteig. Ophelia fühlte sich erschüttert, und das nicht nur von den Turbulenzen des Fluges. Sie bemühte sich, nicht in den Abgrund unter dem Wolkenmeer zu schauen. Erst als sich die Türen auf den Vorplatz des Memorials öffneten, atmete sie wieder freier.

Sie hob ihre Brille, so weit es ging, um diesen architektonischen Wahnwitz mit dem Blick zu erfassen, diese Mischung aus Bibliothek und Leuchtturm, die derart kolossal war, dass sie, von ein paar Goldakazien abgesehen, die gesamte Nebenarche einnahm. Tage und sogar Nächte hatte Ophelia in diesem Gebäude mit Katalogisieren, Begutachten, Sortieren und Lochen zugebracht.

Das hier war auch ein bisschen ihr Zuhause.

Pollux' Familiengarde gab Anweisungen. »Aussteigen, please! Vorwärts, please! Immer der Reihe nach, please!« Kaum hatten alle Passagiere die Waggons verlassen, nahm schon eine Flut bereits registrierter Bürger ihre Plätze ein, um in die Stadt zurückgebracht zu werden. Sie alle hatten ein seltsames Zeichen auf der Stirn.

Ophelia fand sich in einer endlosen Warteschlange eingeklemmt, mitten in der prallen Sonne. Sie beneidete den alten Wünschelrutengänger von der Arche Dschinns hinter ihr, über dessen Haupt eine kleine Regenwolke schwebte.

Lange stand sie vor der Statue des kopflosen Soldaten, die ebenso alt war wie der Rest dieses Ortes. Das Memorial hatte schon zur Zeit der früheren Welt existiert. Hier hatte Eulalia Gort die Familiengeister großgezogen. War sie hier auch dem Anderen begegnet? Und hatten die beiden hier den Riss verursacht? Das Memorial war davon gezeichnet. Eine Hälfte war ins Nichts gestürzt und später kühn über dem Wolkenmeer wieder aufgebaut worden. Jedes Mal, wenn Ophelia den gigantischen Turm betrachtete, fragte sie sich, wie es möglich war, dass er sich nicht zur Seite neigte.

Plötzlich sah sie nichts mehr. Ein Windstoß hatte ein orangefarbenes Flugblatt an ihre Brille geklatscht.

WIR WERDEN TRINKEN. WIR WERDEN RAUCHEN.

WIR WERDEN ALLE TABUS BRECHEN.

UND IHR, WIE FEIERT IHR DAS ENDE DER WELT?

Ophelia drehte den Zettel um. Auf die Rückseite war eine einzige Zeile gedruckt:

SCHLIESST EUCH DEN SCHMUDDELKINDERNVON BABEL AN!

Der Ohne-Furcht-Und-Beinah-Ohne-Tadel war tot, aber seine Anhänger zogen jetzt erst recht alle Register.

Ein Gardist riss Ophelia das Papier aus der Hand.

»Eintreten, please!«

Endlich durchschritt sie das Portal der Gedenkstätte. Wie jedes Mal fühlte sie sich zunächst erdrückt von ihrem Gigantismus, dem immensen Atrium, den ringförmig darum herum angelegten Galerien, den senkrechten Gängen der Transzendien, den an den Decken eingerichteten Lesesälen, der Erdkugel des Sekretariums, die hoch oben unter der Kuppel schwebte, und, vielleicht mehr noch als von allem anderen, der Unmenge an Bücherregalen voller Wissen. Dann, sobald diese erste überwältigende Empfindung verflogen war, fühlte Ophelia sich emporgehoben vom Einklang all der Seiten, all der stillen Stimmen, die ihr zuzuraunen schienen, dass auch sie das Recht hatte, ihre zu Gehör zu bringen.

Verzweigt in mehrere Nebenarme, setzte sich der Strom der Wartenden bis ans Ende des Atriums fort. Ein paar wenige Memoristen huschten mit gesenktem Blick durch die Gänge, als wären sie peinlich berührt von dieser Bürgerzählung hier in ihren Räumen. Ophelia hielt nach Blasius' vertrautem Gesicht Ausschau, stellte aber bald fest, dass er nicht da war. Der arme Bibliotheksgehilfe wurde von einem solchen Pech verfolgt, dass sie ihn sicherlich bemerkt hätte. Dafür liefen jede Menge Automaten mit tragbaren Schreibmaschinen herum.

Als sie nach einer Ewigkeit endlich den Tisch sah, zu dem ihre Schlange führte, entschlüpfte ihr ein: »O nein!« Denn dahinter saß eine große, dünne Vorbotin, deren blondes Haar zu einem nachlässigen Pferdschwanz gebunden war.

Elizabeth.

Sie war die Verantwortliche ihrer Division gewesen. Ophelia schätzte ihre direkte Art und bewunderte ihre Intelligenz, doch Elizabeths blinde Loyalität gegenüber der herrschenden Klasse der Metropole hatte sie schon immer irritiert. Sollten Ophelias falsche Papiere sich als Problem erweisen, hätte sie von dieser Vorbotin ganz bestimmt keine Milde zu erwarten.

»Du schon wieder?«, sagte diese zur Begrüßung, als Ophelia an der Reihe war. »Willkommen am Schalter der eingewanderten Babelier.«

Wie üblich lächelte sie kein bisschen. Die schweren, dunklen Lider hingen wie Lampenschirme über ihre Augen. Trotz der Sommersprossen wirkte sie leichenblass. Ophelia war inzwischen so sonnengebräunt, dass man viel eher sie als Elizabeth für eine Babelierin halten konnte.

»Du bist nicht besonders präsentabel«, bemerkte Elizabeth und zeigte mit ihrem Stift auf Ophelias schweißtriefende Nase.

»Du siehst auch nicht gerade frisch aus«, erwiderte die.

Das war eine etwas billige Retourkutsche, denn Elizabeth sah nie frisch aus. Sie hob leicht die Augenbrauen, sicher erstaunt darüber, dass sie geduzt worden war, doch dann erinnerte sie sich wohl daran, dass Ophelia ihr nicht mehr unterstellt war, denn ihre Stirn glättete sich wieder.

»Es ist uns verboten, uns zu schminken. Wir sind verpflichtet, uns vollkommen transparent zu zeigen, während wir unsere Tätigkeit ausüben. Gib mir deine Papiere, Eulalia, damit ich überprüfen kann, wie transparent du bist.«

»Was ist los? Warum wurden wir alle hierherbestellt?«

»Hmm?«, machte Elizabeth, ohne den Blick von Ophelias Ausweis zu heben, den sie in Augenschein nahm. »Die Lords von LUX haben die Erfassung aller Männer und Frauen, die in den letzten zehn Jahren nach Babel gekommen sind, angeordnet. Und glaub mir, das sind eine ganze Menge Leute«, versicherte sie mit einem gleichgültigen Nicken in Richtung der Warteschlangen, die sich endlos hinzogen. »Ich habe mich freiwillig gemeldet, um zu helfen. Natürlich nur vorübergehend, ich sollte bald erfahren, wohin ich als Nächstes versetzt werde. Ich habe schon mehrere Vorschläge erhalten.«

Im Moment sorgte Ophelia sich sehr viel weniger um Elizabeths Zukunft als um ihre eigene. Archibald hatte ihre Papiere mehr schlecht als recht zusammengeschustert. Ein Stempel an der falschen Stelle würde genügen, um den Schwindel auffliegen zu lassen.

»Aber warum?«, beharrte sie. »Warum wollen die Lords von LUX uns erfassen lassen?«

»Warum sollten sie es nicht tun?«

Es war genau, wie Ophelia gefürchtet hatte; selbst im letzten Studienjahr als Informationsexpertin hatte Elizabeth noch immer nichts durchschaut. Wie alle Babelier ahnte sie nicht, dass die Lords von LUX insgeheim Eulalia Gort dienten. Wenn sie am Tag nach einem Einsturz ein so aufwendiges bürokratisches Verfahren veranlassten, dann konnte das kein Zufall sein. Irgendetwas braute sich zusammen.

»Elizabeth«, flüsterte Ophelia, über den Schaltertisch gebeugt, »weißt du, ob es woanders als in Babel auch Erdrutsche gegeben hat?«

»Hmm? Warum sollte ich so etwas wissen?«

»Weil du eine Vorbotin bist.«

Ihre undurchdringliche Miene brachte Ophelia zur Verzweiflung. Auf der Suche nach einer ergiebigeren Informationsquelle drehte sie sich zu den benachbarten Tischen um.

»Ist Octavio auch hier?«

Es war nicht so sehr der Sohn Lady Septimas, selbst Angehörige der privilegierten Kaste von LUX, den sie zu sehen hoffte, sondern vielmehr einen Menschen, dem sie vertraute – was einigermaßen erstaunlich war, wenn man bedachte, wie argwöhnisch Octavio und sie einander während ihrer gemeinsamen Ausbildung am Konservatorium der Guten Familie begegnet waren.

»Er hat gerade eine halbe Stelle beim Amtsblatt angetreten«, erwiderte Elizabeth. »Im Übrigen ist es nicht an uns, dir Informationen zu geben. Ich werde dir ein paar Fragen stellen, um deine Akte zu vervollständigen; antworte mit so wenigen Worten wie möglich.«

Ophelia wurde einem regelrechten Kreuzverhör unterzogen. Wann war sie nach Babel gekommen? Warum hatte sie sich hier niedergelassen? Von welcher Arche stammte sie? Welche Familienkraft besaß sie? Hatte sie derzeit einen Arbeitsvertrag? Hatte sie Vorstrafen? Litt irgendein Mitglied ihrer Familie an körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen? Auf einer Skala von eins bis zehn, wie sehr fühlte sie sich der Metropole verbunden? Welche Süßigkeit naschte sie am liebsten?

Obwohl Ophelia sich darauf vorbereitet hatte, irgendwann einmal zu ihrer falschen Herkunft befragt zu werden, musste sie all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um ruhig zu antworten. Sie hatte allerdings Mühe, nicht doch noch die Nerven zu verlieren, als sie ein Paar hereinkommen sah, bei dessen bloßem Erscheinen sich in sämtlichen Reihen ehrfürchtige Stille ausbreitete. Plötzlich hörten die Menschen auf zu flüstern, zu murren, zu gähnen, zu husten. Ophelia hatte die Genealogen erst ein Mal von Weitem gesehen, bei der Abschlusszeremonie hier im Memorial, aber sie erkannte sie mühelos, denn sie waren ganz in Gold gehüllt. Selbst ihre Haare und Gesichter waren golden gefärbt. Sie schlenderten heran, Hand in Hand, eng aneinandergeschmiegt, als wären sie es gewohnt, inmitten administrativer Formalitäten spazieren zu gehen anstatt in einem Park.

Thorn, der sie hätte treffen sollen, war nicht bei ihnen, was Ophelia sofort beunruhigte. Erwartete er sie wie verabredet in Lazarus' Haus? Sie hoffte, dass er weniger Ärger gehabt hatte als sie. Die Genealogen wurden von einer jungen Pharaonin begleitet, die verschüchtert zusammenzuckte, sobald einer von ihnen ihren Arm berührte oder ihr etwas ins Ohr raunte.

Ophelia erstarrte, als sie sah, dass die drei auf sie zu steuerten. Warum interessierten sie sich von all den Schaltern im Memorial ausgerechnet für den, an dem sie stand?

An ihrem Tisch angekommen, beugten sich die Genealogen von links und rechts über Elizabeth.

»Was macht die Trägerin des Ehrenpreises für herausragende Leistungen auf einem Posten, der ihrer derart unwürdig ist?«, fragte der Mann mit bedauernder Stimme.

»Ihr ganz allein habt die Datenbank des Memorials revolutioniert«, fuhr die Frau fort, »Eure Fähigkeiten sind hier vergeudet, Bürgerin!«

So wenig ausdrucksvoll Elizabeths Mimik auch sein mochte, es war nicht zu übersehen, wie sehr die Aufmerksamkeit der beiden sie verunsicherte. Sie erhob sich, um Habtachtstellung einzunehmen und das Paar mit der vorschriftsmäßigen Formel zu begrüßen – »Wissen dient dem Frieden!« –, aber die Genealogen drückten sie sanft zurück auf ihren Stuhl.

»Macht Euch wegen uns keine Umstände, young lady. Lasst uns nur wissen, ob Ihr über unseren Vorschlag nachgedacht habt.«

»Nun, es ist so, ich hatte noch keine Zeit, zu …«

»Ein einfaches Ja genügt«, sagte die Frau.

»Das ist genau das Richtige für Euch«, sagte der Mann.

»Und Ihr würdet der Metropole einen großen Dienst erweisen!«, schlossen sie im Chor.

Ophelia hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen, aber sie war heilfroh, nicht an Elizabeths Stelle zu sein, deren Wangen sich auf einmal gerötet hatten. Jetzt, da sie die Genealogen von Nahem sah, fiel ihr auf, dass deren Poren unter dem Goldstaub, der sie bedeckte, wirkten, als hätten sie eine permanente Gänsehaut. Taktile. Ophelia wusste nichts über diese Variante der Pollux'schen Familienkraft.

»In fact war meine erste Wahl der Posten als Lady Helens persönliche Assistentin«, erklärte ihnen Elizabeth respektvoll. »Ohne sie säße ich auf der Straße. Ich verdanke ihr jede einzelne meiner Tressen.«

Die Genealogen wechselten einen einvernehmlichen Blick.

»Das ist eine very bewegende Geschichte, Bürgerin, aber Eure Arbeit im Beobachtungsinstitut wird sie auch betreffen. Nirgendwo sonst könntet Ihr Lady Helen so nützlich sein wie dort!«

Elizabeths unerschütterliche Maske bekam Risse. Ophelia schielte zu der Pharaonin, die die Augen auf ihre Babuschen gesenkt hielt, als ginge das Gespräch sie nichts an. Ihre Rolle bei diesem Überraschungsbesuch war leicht zu durchschauen. Die Familienkraft der Pharaonen erlaubte es ihnen, die Gefühle anderer Menschen unbemerkt zu beeinflussen und ihnen Vertrauen einzuflößen. Sie arbeiteten für gewöhnlich im medizinischen Bereich, wo sie Patienten beruhigten, doch das war ganz offensichtlich nicht die Aufgabe dieser jungen Frau hier.

»Du solltest das nicht jetzt entscheiden.«

Ophelia hatte sich diese Warnung nicht verkneifen können, als sie sah, wie Elizabeth sich unentschlossen wand, doch sie bereute es noch im selben Moment. Die Genealogen, die sie bis dahin überhaupt nicht beachtet hatten, drehten sich in einer einzigen fließenden Bewegung zu ihr um. Selbst ihre Wimpern waren golden gefärbt.

»Möchtet Ihr uns etwas sagen, Miss?«, fragte der Mann mit einem Blick auf Ophelias falsche Papiere.

»Gibt es vielleicht ein Problem mit Eurer Akte?«, mutmaßte die Frau und strich dabei sacht über ein Formular.

Das Paar flößte Ophelia einen solchen Widerwillen ein, dass sie vorsorglich zurückwich. Seit ihrer Hochzeit mit Thorn, bei der sie sich gegenseitig ihre Familienkräfte übertragen hatten, verfügte sie über Drachenkrallen. Zwar waren ihre nicht gefährlich, doch wenn sie wütend wurde, machten sie sich manchmal selbständig. Die Genealogen kannten Ophelia nicht, aber Ophelia kannte sie und wusste, dass die beiden mitnichten das Beste für die Metropole im Sinn hatten, sondern einfach nur werden wollten, was Eulalia Gort geworden war. Ophelia musste für sie eine kleine unbedeutende Fremde bleiben, sonst würde sie Thorn ebenso in Schwierigkeiten bringen wie sich selbst.

Also zügelte sie ihre Zunge, ihren Stolz und ihre Krallen.

»Nein.«

»Nun?«, bedrängten die Genealogen Elizabeth erneut. »Nehmt Ihr unser Angebot an, Bürgerin?«

»Milady, Milord, ich … es ist mir eine Ehre.«

Die Frau zog einen Vertrag aus ihrem Dekolleté, den sie auf dem Tisch ausrollte. Der Mann reichte Elizabeth seinen Füllfederhalter.

Sie unterschrieb.

»Good girl«, hauchten sie, jeder in eines von Elizabeths Ohren, um sich dann Hand in Hand und mit wehenden goldenen Umhängen zu entfernen, in respektvollem Abstand gefolgt von der jungen Pharaonin. Ophelia bemerkte, dass ihr Mund völlig ausgetrocknet war.

Elizabeth wischte sich über die Stirn, an der ihre Haare klebten.

»Ich … ich habe vielleicht etwas voreilig unterschrieben.«

»Was war das für ein Angebot?«, wollte Ophelia wissen.

Hinter ihr in der Schlange erhob sich Protestgeschrei. Jetzt, da die Genealogen fort waren, verloren die Wartenden die Geduld. Der alte Wünschelrutengänger drohte, ein Gewitter zu entfesseln. Elizabeth selbst war noch ganz benommen.

»Das ist geheim, ich kann nicht darüber reden. Ich habe wirklich zu schnell unterschrieben.«

Sie blinzelte derart verwirrt, dass sie Ophelia leidtat.

»Dafür hat diese Pharaonin gesorgt.«

»Ich hoffe für dich, dass du damit nicht irgendeine Beeinflussung unterstellen willst«, warnte Elizabeth sie streng, während sie ihr den Ausweis wiedergab. »Immerhin geht es hier um die Lords von LUX. Das ist eine sehr schlimme Anschuldigung, zumal von jemandem, dessen Papiere nicht vorschriftsmäßig sind. Du wirst dich vor einem Gericht verantworten müssen.«

Ohne Ophelia Zeit für eine Reaktion zu lassen, beugte sich die Vorbotin über den Tisch und drückte ihr einen Stempel mitten auf die Stirn.

»Das war nur ein Scherz. Fürs Erste ist alles in Ordnung. Du musst nur noch zur ärztlichen Visite, dann kannst du nach Hause gehen.«

Das Zuhause

»Also Ihr seid mal wirklich nicht alltäglich.«Ophelia, die auf einem Hocker saß, betrachtete das verschwommene Gesicht vor ihrer Nase. Sie hatte für die Untersuchung ihre Brille abnehmen müssen und sah daher von dem Arzt nur zwei im gedämpften Licht funkelnde Pupillen. Mehrere Behandlungskabinen waren auf die Schnelle in den Reprographieräumen im ersten Stock des Memorials eingerichtet worden. Ophelia saß in Unterwäsche inmitten von Mimeographen, Zyklostyle-Schablonendruckern und Hektographen. Ohne die Leserinnen-Handschuhe, die zusammen mit ihren übrigen Sachen auf dem Tablett eines Automaten lagen, fühlte sie sich schutzlos.

Elizabeth hatte ihr gesagt, fürs Erste sei alles in Ordnung. Es war dieses »fürs Erste«, das sie beunruhigte. Was würde geschehen, wenn man befand, dass sie den Wünschen der babelischen Verwaltung nicht entsprach? Vor den Fenstern dämmerte es allmählich, und Ophelia begann sich ernsthaft zu fragen, ob diese Erhebung jemals ein Ende nehmen würde. Sie wollte Thorn wiedersehen und sich mit ihm gemeinsam in die Nachforschungen stürzen.

»Kann ich gehen? Ich werde anderswo erwartet.«

Der Doktor beugte sich noch etwas weiter zu ihr vor. Seine wie Glühbirnen strahlenden Visionärsaugen ersetzten alle medizinischen Durchleuchtungsapparate. Er hatte Ophelia kein einziges Mal berührt, seit sie die Kabine betreten hatte, nicht mal, um ihren Puls zu fühlen, doch in seinem Blick lag etwas, was ihr nicht behagte.

»Hattet Ihr einen Unfall, Miss Eulalia?«, fragte er, während er ihre Akte überflog.