Die Spiegelreisende 2 - Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast - Christelle Dabos - E-Book
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Die Spiegelreisende 2 - Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast E-Book

Christelle Dabos

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Beschreibung

Ophelia wurde gerade zur Vize-Erzählerin am Hof von Faruk erkoren und glaubt sich damit endlich sicher. Doch es dauert nicht lange, und sie erhält unheilvolle anonyme Drohbriefe: Wenn sie ihre Hochzeit mit Thorn nicht absagt, wird ihr Übles widerfahren. Und damit scheint sie nicht die Einzige zu sein: Um sie herum verschwinden bedeutende Persönlichkeiten der Himmelsburg. Kurzerhand beauftragt Faruk Ophelia mit der Suche nach den Vermissten. Und so beginnt eine riskante Ermittlung, bei der es Ophelia nicht nur mit manipulierten Sanduhren, sondern auch mit gefährlichen Illusionen und zwielichtigen Gestalten zu tun bekommt. Am Ende steht eine folgenschwere Entscheidung.

Vom glamourösen Hof der Himmelsburg in das abgründige Universum der Sanduhren und Orte, die gar keine sind – um ihr Leben sowie das ihrer Familie zu retten, muss Ophelia an ihre Grenzen gehen. Und das in einer Welt, in der sie so gut wie niemandem trauen kann, womöglich nicht einmal ihrem zukünftigen Ehemann Thorn?

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Christelle Dabos

Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast

Band 2 der Spiegelreisenden-Saga Roman

Aus dem Französischen von Amelie Thoma

Insel Verlag

Inhalt

Was im ersten Buch geschah

An Bord der Himmelsburg

Fragment: Erinnerung

Die Geschichtenerzählerin

Die Partie

Die Göre

Die Verträge

Fragment: Erste Wiederholung

Der Brief

Das Theater

Die Puppe

Die Geschichten

Der Vergessene

Die Pfeife

Die Frage

Der Affront

Die Versprechen

Die Türglocke

Der Kunde

Fragment: Zweite Wiederholung

Der Zug

Die Familie

Die Leserin

Das Datum

Der Wetterstorch

Die Mütter

Die Karawane

Die Geächteten

Die Einladung

Der Schwindel

Fragment: Dritte Wiederholung

Die Abwesenden

Das Siegel

Der Ring

Die Manufaktur

Die Sandinen

Die Sackgasse

Fragment: Vierte Wiederholung

Der Schrei

Der Nicht-Ort

Die Finsternis

Die Ankündigung

Die Matratzen

Die Kunst zu sterben

Das Herz

Der Handel

Die Lektüre

Fragment: Fünfte Wiederholung

Die Erinnerung

Der Urahn

Das Urteil

Der Spiegelreisende

Fragment: Postskriptum

Hinweis der Autorin

Dank

Was im ersten Buch geschah

Die Verlobten des Winters

Nachdem der Riss die ursprüngliche Welt zerstört hat, gibt es nur noch vereinzelt in der Luft hängende Inseln, die sogenannten Archen. Auf ihnen leben Familien, die über besondere Kräfte verfügen und jeweils von einem Urahn, dem »Familiengeist«, geführt werden.

Ophelia kann sich durch Spiegel von einem Ort zum anderen bewegen, eine seltene Fähigkeit unter den Bewohnern der Arche Anima. Außerdem ist sie tollpatschig, zurückhaltend und ungesellig, aber vor allem eine herausragende Leserin: Sobald sie einen Gegenstand anfasst, liest sie dessen Geschichte, indem sie die Gedanken und Gefühle all jener wahrnimmt, die ihn vor ihr berührt haben.

Als eine arrangierte Ehe sie zwingt, ihre vertraute Umgebung und ihre Familie zu verlassen und auf die weit entfernte Arche Pol zu ziehen, bricht für sie eine Welt zusammen. Ihr Verlobter Thorn ist ein ruppiger und unergründlicher Mann. An seiner Seite entdeckt Ophelia die schwebende Himmelsburg, die ganz aus Verzerrungen des Raums und optischen Täuschungen besteht. Rund um den gemeinsamen Urahn Faruk, den allmächtigen und unsterblichen Familiengeist, kreist dort ein Hofstaat rivalisierender Klans, die einander in einer bösartigen Mischung aus List, Manipulation, Täuschung und Verrat begegnen. Zu allem Überfluss ist Thorn auch noch Intendant des Pols, weshalb ihn niemand leiden kann.

Unsanft in diese erbarmungslose Umgebung verpflanzt, lernt Ophelia, zunächst hinter den Kulissen, eine Welt kennen, in der sie niemandem trauen kann. Da sie ihre Identität bis zur Hochzeit geheim halten muss, bekommt sie, als Page verkleidet, das wahre Gesicht der Stadt und ihrer Bewohner zu sehen. Sie erfährt auch von Faruks Buch, einem uralten und geheimnisvollen Dokument, von dem der Familiengeist regelrecht besessen ist, und erkennt eine schreckliche Wahrheit: Thorn will sie nur heiraten, um ihre Lese-Fähigkeit zu erben und damit das Buch zu entschlüsseln.

Gerade als Ophelia ein Telegramm erhält, das die baldige Ankunft ihrer Familie am Pol ankündigt, werden Thorn und seine Tante Berenilde von einem harten Schicksalsschlag getroffen: Als letzte Überlebende des Drachen-Klans müssen sie Faruk um seinen Schutz bitten. Und so macht Ophelia sich bereit, am Hof eingeführt zu werden; erfüllt von einer neuen Entschlossenheit, nimmt sie sich fest vor, in diesem Labyrinth der Illusionen ihren eigenen Weg zu finden.

An Bord der Himmelsburg

7 Faruks Gemächer

6 Frauentrakt

5 Seebrücke

4 Familienoper

3 Thermen

2 Hängende Gärten

1 Ratssaal

0 Botschaft im Mondscheinpalast

a Intendanz

b Polizeihauptwache

c Manufaktur Hildegard & Co.

Fragment: Erinnerung

Am Anfang waren wir eins.Aber Gott befand, dass wir ihm so nicht genügten, also machte Er sich daran, uns zu trennen. Gott amüsierte sich köstlich mit uns, bis Er unser überdrüssig wurde und uns vergaß. Er konnte so grausam sein in seiner Gleichgültigkeit, dass Er mir Furcht einflößte. Dann wieder zeigte Er sich freundlich, und ich liebte Ihn, wie ich niemanden je geliebt habe.

Ich glaube, wir hätten alle irgendwie glücklich sein können, Gott, ich und die anderen, ohne dieses vermaledeite Buch. Ich verabscheute es. Von dem Band, das mich auf die widerwärtigste Art und Weise daran kettete, wusste ich, doch dieses Grauen kam erst später, viel später. Ich habe es nicht gleich verstanden, ich war zu unwissend.

Ja, ich liebte Gott, aber ich hasste dieses Buch, das Er wegen der geringsten Kleinigkeit aufschlug. Er jedoch hatte sein Vergnügen damit! Wenn Gott zufrieden war, schrieb Er. Wenn Gott erzürnt war, schrieb Er. Und eines Tages, als Er äußerst verstimmt war, beging Er eine ungeheure Torheit.

Gott brach die Welt in Stücke.

*

Jetzt erinnere ich mich, Gott wurde bestraft. An jenem Tag verstand ich, dass Gott nicht allmächtig war. Seitdem habe ich ihn nie wiedergesehen.

Die Geschichtenerzählerin

Die Partie

Ophelia war geblendet. Sobald sie einen Blick unter ihrem Schirm hervor wagte, traktierte die Sonne sie von allen Seiten: Sie knallte vom Himmel herab, spiegelte sich im lackierten Holz der Promenade, ließ die Wellen glitzern und die Juwelen der Höflinge erstrahlen. Trotzdem sah Ophelia genug, um festzustellen, dass sowohl Berenilde als auch Roseline nicht mehr da waren.

Es war nicht zu leugnen: Sie hatte sich verlaufen.

Kein guter Anfang für jemanden, der am Hof mit dem festen Vorsatz erschienen war, dort seinen Platz zu finden. Ophelia hatte eine Audienz bei Faruk, dem sie offiziell vorgestellt werden sollte, und es war alles andere als ratsam, diesen Familiengeist warten zu lassen.

Wo mochte er sich wohl aufhalten? Im Schatten der hohen Palmen? In einem der prunkvollen Grandhotels, die die Küstenlinie säumten? In einer Strandkabine?

Ophelia stieß sich die Nase am Himmel. Sie hatte sich über die Balustrade gebeugt, um nach Faruk Ausschau zu halten, doch das Meer war nur eine Mauer. Ein riesiges, bewegliches Fresko, dessen Wellenrauschen ebenso künstlich war wie der Horizont und der Duft nach heißem Sand. Ophelia rückte ihre Brille zurecht und musterte die Umgebung. Beinahe alles hier war unecht: die Palmen, die Springbrunnen, das Meer, die Sonne, der Himmel und die Wärme. Selbst die Hotels waren vielleicht nur Fassaden ohne etwas dahinter.

Was sollte es auch sonst sein, wenn man sich im fünften Stock eines Turms befand und dieser Turm eine Stadt überragte, die wiederum über einer eisigen Arche schwebte, deren aktuelle Temperaturen sich bei minus fünfzehn Grad bewegten? Die Leute hier mochten den Raum noch so sehr verzerren und an allen Ecken und Enden Trugbilder erschaffen, irgendwann stieß auch ihre Kreativität an gewisse Grenzen.

Ophelia misstraute diesem Schwindel, aber noch mehr misstraute sie jenen, die ihn benutzten, um andere zu manipulieren. Deswegen fühlte sie sich besonders unwohl inmitten der Höflinge, die sie achtlos anrempelten.

Sie waren samt und sonders Miragen, Meister des Illusionenwebens.

Zwischen all den imposanten Menschen mit ihren hellen Haaren, blassen Augen und Klan-Tätowierungen fühlte Ophelia sich kleiner, dunkelhaariger, kurzsichtiger und fremder denn je. Manche warfen ihr verwunderte Blicke zu. Sicher fragten sie sich, was dieses Fräulein hier verloren hatte, das sich verzweifelt unter seinem Schirm zu verstecken suchte. Doch Ophelia hütete sich, es ihnen auf die Nase zu binden. Sie war allein und schutzlos, und wenn herauskäme, dass sie die Verlobte Thorns war, des meistgehassten Mannes am Pol, wäre ihre Haut keinen Pfifferling mehr wert. Oder ihr Geist. Von ihren letzten misslichen Abenteuern hatte sie eine geprellte Rippe, ein blaues Auge und einen tiefen Kratzer an der Wange davongetragen. Besser, sie machte es nicht noch schlimmer.

In einer Hinsicht immerhin waren diese Miragen Ophelia hilfreich: Sie strebten alle einer auf Pfählen erbauten Seebrücke zu, die dank einer ziemlich gelungenen optischen Täuschung den Anschein erweckte, sie rage von der Strandpromenade auf das falsche Meer hinaus. Mit zusammengekniffenen Augen erspähte Ophelia an deren Ende einen riesigen, im grellen Sonnenlicht funkelnden Bau aus Glas und Metall. Diese Seebrücke war kein neues Trugbild, sondern ein wahrhaftiger Herrscherpalast.

Wenn Ophelia Faruk, Berenilde und Roseline irgendwo finden konnte, dann sicher dort.

Also folgte sie dem Strom der Höflinge, bemüht, so wenig wie möglich aufzufallen. Doch da hatte sie die Rechnung ohne ihren Schal gemacht. Halb um ihre Wade geschlungen, halb über den Boden peitschend, führte er sich auf wie eine liebestolle Boa constrictor. Ophelia war es nicht gelungen, ihn abzustreifen. Sosehr sie sich einerseits freute, den treuen Golem nach wochenlanger Trennung gesund und munter wiederzusehen, hätte sie doch lieber nicht so offensichtlich zur Schau gestellt, dass sie Animistin war. Zumindest nicht, bis sie Berenilde wiedergefunden hatte.

Als sie an einem Zeitungskiosk vorbeikam, hielt sie sich ihren Schirm noch etwas tiefer vors Gesicht. Auf allen Titelseiten prangte die Schlagzeile:

DAS ENDE DER DRACHEN

WER ANDERN EINE GRUBE GRÄBT, FÄLLT SELBST HINEIN

Ophelia fand das absolut geschmacklos. Die Drachen waren ihre Schwiegerfamilie, und sie waren allesamt unter tragischen Umständen in den Wäldern ums Leben gekommen. Für die Höflinge bedeutete dies jedoch nur, dass es einen rivalisierenden Klan weniger gab.

Ophelia betrat die Seebrücke. Was zuvor nur ein diffuses Glitzern gewesen war, verwandelte sich nun in ein architektonisches Feuerwerk. Der Palast war noch gigantischer, als sie erwartet hatte. Seine goldene Kuppel, deren Spitze sich wie ein Pfeil gen Himmel reckte, machte der Sonne Konkurrenz. Dabei war sie bloß das i-Tüpfelchen auf einem unendlich viel größeren, hie und da mit orientalischen Türmchen verzierten Bauwerk.

›Und das alles‹, dachte Ophelia, während sie ihren Blick über den Palast, das Meer, das Gewimmel der Höflinge schweifen ließ, ›das alles ist nur die fünfte Etage von Faruks Turm.‹

Jetzt bekam sie langsam wirklich weiche Knie.

Ihre Nervosität verwandelte sich in Panik, als sie zwei Hunde, weiß und groß wie Eisbären, auf sich zukommen sah. Die beiden Tiere starrten sie unverwandt an, doch es waren nicht sie, die Ophelia derart in Schrecken versetzten, sondern ihr Besitzer. Ophelia traute ihren Augen nicht, als sie die blonden Löckchen, die flaschenbodendicken Brillengläser, das pausbäckige Engelsgesicht wiedererkannte.

Der Kavalier. Der Mirage, ohne den die Drachen noch am Leben wären.

»Guten Tag, Mademoiselle. Geht Ihr alleine spazieren?«

Er mochte wirken wie ein ganz gewöhnlicher kleiner Junge – sogar noch ein bisschen unbeholfener als andere kleine Jungen –, trotzdem war er eine Plage, die kein Erwachsener in den Griff bekam, und wurde von seiner eigenen Familie gefürchtet. Im Allgemeinen beschränkten sich die Miragen darauf, ihre Umgebung mit Trugbildern zu überziehen; der Kavalier dagegen pflanzte sie den Menschen direkt in ihre Köpfe. Diese pervertierte Gabe war seine Spezialität. Er hatte sie benutzt, um ein Zimmermädchen in den Wahnsinn zu treiben, Ophelias Tante Roseline in deren Erinnerungen einzusperren, wilde Bestien während der Jagd gegen die Drachen aufzuhetzen, und all das, ohne sich jemals dabei erwischen zu lassen.

Ophelia konnte nicht glauben, dass niemand am gesamten Hof ihn daran hinderte, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.

»Ihr scheint Euch verlaufen zu haben«, bemerkte der Kavalier mit ausgesuchter Höflichkeit. »Möchtet Ihr, dass ich Euch begleite?«

Ophelia antwortete ihm nicht. Sie war außerstande zu entscheiden, ob eher ein Ja oder ein Nein ihr Ende besiegeln würde.

»Da seid Ihr ja endlich! Wo wart Ihr denn nur abgeblieben?«

Zu Ophelias größter Erleichterung sah sie Berenilde durch die Menge der Höflinge auf sie zustreben, anmutig und gelassen wie ein Schwan, der über die Oberfläche eines Sees gleitet. Als sie Ophelia jedoch unterhakte, drückte sie deren Arm mit aller Kraft.

»Guten Tag, Madame Berenilde«, stammelte der Kavalier.

Seine Wangen glühten. Linkisch wischte er die feuchten Hände an seinem Matrosenhemd ab.

»Beeilt Euch, meine Liebe«, sagte Berenilde zu Ophelia, ohne den Kavalier einer Antwort oder auch nur eines Blickes zu würdigen. »Die Partie ist beinahe zu Ende. Eure Tante hält uns einen Platz frei.«

Der Gesichtsausdruck des Kavaliers, dessen dicke Brillengläser seine Augen seltsam verzerrten, war schwer zu deuten, aber Ophelia hätte schwören können, dass er sehr betroffen war. Sie verstand dieses Kind einfach nicht. Es erwartete doch wohl kaum Dankbarkeit dafür, dass es einen ganzen Klan ausgelöscht hatte?

»Sprecht Ihr nicht mehr mit mir, gnädige Frau?«, fragte er tatsächlich mit banger Stimme. »Habt Ihr nicht ein einziges Wort für mich übrig?«

Berenilde zögerte kurz, ehe sie ihm ihr schönstes Lächeln zeigte.

»Wenn Euch so sehr daran gelegen ist, Kavalier, habe ich sogar sieben Worte für Euch: Euer Alter wird Euch nicht ewig schützen.«

Mit dieser fast beiläufig hingeworfenen Prophezeiung wandte sie sich dem Palast zu. Als Ophelia sich noch einmal umdrehte, lief es ihr eiskalt über den Rücken. Das Gesicht vor Eifersucht verzerrt, starrte der Kavalier nicht Berenilde, sondern sie, Ophelia, an. Wäre er imstande, seine Hunde auf sie zu hetzen?

»Der Kavalier steht zuoberst auf der Liste der Personen, mit denen Ihr unter keinen Umständen allein bleiben dürft«, flüsterte Berenilde, wobei sie Ophelias Arm noch etwas fester drückte. »Hört Ihr denn niemals auf meinen Rat?« Dann beschleunigte sie ihren Schritt und fügte hinzu: »Beeilen wir uns, die Partie ist gleich zu Ende, wir dürfen unseren Seigneur auf keinen Fall warten lassen.«

»Welche Partie?«, hechelte Ophelia.

Ihre geprellte Rippe schmerzte mehr und mehr.

»Ihr werdet einen guten Eindruck auf unseren Seigneur machen!«, gebot Berenilde noch immer lächelnd. »Wir haben inzwischen sehr viel mehr Feinde als Verbündete und sind auf seinen Schutz angewiesen. Wenn Ihr ihm nicht auf den ersten Blick gefallt, ist das unser aller Todesurteil.«

Und indem sie sich eine Hand auf den Bauch legte, bezog sie ihr ungeborenes Kind in diese Erklärung mit ein.

Ophelia, die andauernd versuchte, ihren Schal abzuschütteln, der sie beim Gehen behinderte, fühlte sich durch diese Worte nicht gerade ermutigt. Sie war umso besorgter, da sie noch das Telegramm ihrer Familie in der Tasche hatte. Alarmiert durch Ophelias Schweigen, hatten ihre Eltern, Onkel, Tanten, Geschwister und Cousins beschlossen, ihre Reise zum Pol um einige Monate vorzuziehen. Natürlich hatten sie keine Ahnung, dass auch ihre Sicherheit allein von Faruks gutem Willen abhing.

Ophelia und Berenilde waren in der Rotunde angekommen, die von innen noch viel beeindruckender wirkte als von außen. Fünf Galerien gingen strahlenförmig von ihr ab, jede einzelne gewaltiger als das Hauptschiff einer Kathedrale. Das leiseste Hofgeflüster, das geringste Kleiderrascheln wurde unter den riesigen Glasdächern ungeheuer verstärkt. Hier verkehrte nur die feine Gesellschaft: Minister, Konsuln, Künstler und ihre derzeitigen Musen.

Ein Diener in goldener Livree näherte sich Berenilde.

»Wenn die Damen mir gnädigst in den Gänsegarten folgen wollen. Seigneur Faruk wird sie dort empfangen, sobald die Partie zu Ende ist.«

Er wies auf eine der fünf Galerien, während er Ophelia den Schirm abnahm.

Als er sie auch von dem Schal befreien wollte, verwundert darüber, dieses Accessoire um ein so unpassendes Körperteil gewickelt zu finden, wehrte sie höflich ab: »Den behalte ich lieber. Glaubt mir, er lässt mir keine Wahl.«

Mit einem kleinen Seufzer überprüfte Berenilde, ob Ophelias Hutschleier auch ja ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus Spitze verbarg.

»Zeigt um Himmels willen nicht Eure Verletzungen, das wäre furchtbar geschmacklos. Wenn Ihr Euch geschickt anstellt, könnt Ihr in Zukunft die Seebrücke als Euer zweites Zuhause betrachten.«

Insgeheim fragte sich Ophelia, was wohl ihr erstes Zuhause sein mochte. Seit sie am Pol angekommen war, hatte sie Berenildes Anwesen kennengelernt, den Mondscheinpalast und die Intendanz ihres Verlobten, doch nirgends hatte sie sich zu Hause gefühlt.

Gerade als der Diener sie in einen riesigen gläsernen Pavillon führte, brandete dort Applaus auf, durchsetzt von vereinzelten Rufen: »Bravo!«, »Genialer Zug, Seigneur!«. Durch den weißen Spitzenschleier konnte Ophelia kaum erkennen, was unter den Palmen dieses überdachten Gartens vor sich ging. Auf dem Rasen stand eine Schar perückenbewehrter Adliger rund um etwas, das aussah wie ein Labyrinth. Ophelia war zu klein, um über die Schultern der vor ihr Stehenden einen Blick darauf zu erhaschen, doch Berenilde bahnte ihnen mühelos einen Weg in die vorderste Reihe: Sobald die Adligen sie bemerkten, wichen sie ganz von allein vor ihr zurück, weniger aus Höflichkeit, als um einen Sicherheitsabstand zu wahren. Sie warteten Faruks Urteil ab, ehe sie ihr Verhalten dem seinen anpassten.

Als Ophelias Tante sie mit Berenilde herankommen sah, verbarg sie ihre Erleichterung hinter einer säuerlichen Miene.

»Irgendwann wirst du mir erklären müssen«, flüsterte sie erbost, »wie ich über die Tugendhaftigkeit eines gewissen Fräuleins wachen soll, das mir alle naselang ausbüxt.«

Hier vorne hatte Ophelia eine perfekte Sicht auf die Partie. Das Spielfeld bestand aus einer Reihe nummerierter Steinplatten, die zu einem schneckenförmigen Weg angeordnet waren. Auf einigen dieser Platten standen an Pfähle gebundene Gänse. Zwei Diener hatten ihre Positionen auf dem Feld eingenommen und warteten anscheinend auf Anweisungen.

Ophelia folgte den Blicken der Anwesenden, die alle denselben Punkt fixierten: eine kleine runde, ein wenig erhöhte Bühne am Rand des Labyrinths. Darauf saß an einem Tischchen, das ebenso weiß lackiert war wie die Bühne, ein Spieler und schüttelte die Faust. Es bereitete ihm ganz offensichtlich größtes Vergnügen, die Zuschauer auf die Folter zu spannen. Ophelia erkannte ihn an seinem aufgeschlitzten Zylinder und dem breiten, frechen Grinsen: Es war Archibald, Faruks Botschafter.

Als er endlich die Hand öffnete, hallte das Klackern der Würfel durch die Stille.

»Sieben!«, verkündete der Zeremonienmeister.

Sofort ging einer der Diener sieben Felder weiter und verschwand zu Ophelias Verblüffung in einem Loch.

»Unser Botschafter hat wirklich kein Glück im Spiel«, bemerkte jemand hinter ihr süffisant. »Das ist schon seine dritte Partie, und er landet jedes Mal auf den Brunnen.«

Archibalds Anwesenheit beruhigte Ophelia in gewisser Weise. Er hatte zwar seine Fehler, aber hier in diesem Umfeld war er trotzdem das, was einem Freund am nächsten kam. Und er hatte den Vorzug, dem Klan des Gespinstes anzugehören. Denn der Hofstaat bestand bis auf wenige Ausnahmen nur aus Miragen, deren kaum verhohlene Feindseligkeit die Atmosphäre vergiftete. Wenn sie alle so heimtückisch waren wie der Kavalier, dann konnte sie sich auf eine reizende Zeit gefasst machen.

Wie der Rest des Publikums wandte Ophelia nun ihre Aufmerksamkeit dem anderen Spieler auf der Empore zu. Durch ihren Hutschleier hindurch glaubte sie zuerst nur einen Haufen Diamanten zu sehen, bis sie begriff, dass diese zu den zahlreichen Favoritinnen gehörten, die Faruk in einem Gewirr aus Armen umschlangen. Eine kämmte sein langes, weißes Haar, eine andere schmiegte sich an seinen Oberkörper, die nächste kniete zu seinen Füßen und so weiter. Den Ellbogen auf den viel zu kleinen Tisch gestützt, schien Faruk diesen Liebkosungen gegenüber ebenso gleichgültig wie dem Spiel, dem er sich widmete. Zumindest vermutete Ophelia dies, da er seinen Wurf mit einem lauten Gähnen begleitete. Sein Gesicht konnte sie von ihrer Position aus nicht erkennen.

»Fünf!«, säuselte der Zeremonienmeister inmitten von Beifall und Jubelrufen.

Der zweite Diener sprang sofort von Platte zu Platte. Jedes Mal kam er auf ein Feld mit einer Gans, die lauthals schnatternd versuchte, ihn in die Waden zu zwicken, doch er lief weiter, immer wieder fünf Felder bis zur nächsten Gans, und landete schließlich genau im Ziel, im Zentrum der Spirale, während das Publikum ihn feierte wie einen Olympiasieger. Faruk hatte die Partie gewonnen. Ophelia fand das alles vollkommen unwirklich. Sie hoffte nur, dass irgendjemand rasch den anderen Diener aus seinem Loch befreien würde.

Auf der Bühne trat unterdessen ein kleiner Mann in weißem Anzug an Faruk heran. Er hielt etwas in der Hand, das aussah wie ein Etui mit Schreibutensilien. Ein strahlendes Lächeln auf den Lippen, flüsterte er dem Familiengeist etwas ins Ohr. Verwundert sah Ophelia, wie dieser achtlos, und ohne zuvor eine Zeile davon zu lesen, das Papier unterzeichnete, das der Mann ihm gereicht hatte.

»Nehmt Euch ein Beispiel an Graf Boris«, raunte Berenilde ihr zu. »Er hat den richtigen Moment abgepasst, um neue Ländereien zu erhalten.«

Ophelia hörte sie nicht. Sie hatte einen weiteren Mann auf der Empore bemerkt, der ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm. Er hielt sich im Hintergrund, reglos und finster, und wäre vielleicht niemandem aufgefallen, wenn nicht plötzlich der Deckel seiner Taschenuhr ein lautes Klacken von sich gegeben hätte. Bei seinem Anblick begann Ophelia innerlich so sehr zu kochen, dass ihre Ohren glühten.

Thorn.

Seine schwarze Uniform mit Offizierskragen und den schweren Epauletten war sicher nicht für die – zwar künstliche, aber doch sehr spürbare – Bruthitze unter dem Glasdach geeignet. Stocksteif, akkurat vom Kopf bis zu den Füßen und schweigsam wie ein Schatten, schien er sich in der extravaganten Umgebung des Hofes überhaupt nicht wohlzufühlen.

Ophelia hätte alles dafür gegeben, ihn nicht hier zu sehen. Er würde wie üblich die Situation an sich reißen und ihr vorschreiben, was sie zu tun hatte.

»Die gnädige Frau Berenilde und die Damen aus Anima!«, verkündete der Zeremonienmeister.

Ophelia holte tief Luft, als sich in einer bleiernen Stille, die nur vom Schnattern der Gänse unterbrochen wurde, alle Köpfe zu ihr umwandten. Nun war der Moment gekommen, endlich war sie am Zug.

Sie würde ihren Platz finden, ob es Thorn passte oder nicht.

Die Göre

Die Blicke, die Ophelia auf ihrem Weg zur Empore folgten, brannten derart vor Neugier, dass sie fürchtete, sie würde gleich Feuer fangen. Sie ignorierte Archibald so gut es ging, der ihr von seinem Spieltisch aus anzüglich zuzwinkerte, und konzentrierte sich auf einen einzigen Gedanken, während sie die Treppe des Podestes erklomm: ›Meine Zukunft hängt davon ab, was sich jetzt hier abspielen wird.‹

Vielleicht lag es daran, dass Thorn sie nervös machte, oder an dem Spitzenschleier, der ihr die Sicht erschwerte, an dem um ihre Wade gewundenen Schal oder ihrer hoffnungslosen Tollpatschigkeit, jedenfalls stolperte sie über die letzte Stufe. Sie wäre der Länge nach hingefallen, hätte Thorn sie nicht im Flug am Arm gepackt und wieder auf die Füße gestellt. Doch dieser Patzer war niemandem entgangen. Weder Berenilde, deren Lächeln gefror, noch Tante Roseline, die ihr Gesicht in den Händen verbarg, noch ihrer wütend pochenden Rippe.

Ein Kichern ging durch den Gänsegarten, doch es verstummte jäh, als man bemerkte, dass Faruk die Situation überhaupt nicht amüsant zu finden schien. Er hatte sich keinen Millimeter bewegt, seit die Partie beendet war, saß unverändert da mit zutiefst gelangweilter Miene, den Ellbogen auf den Tisch gestützt, die diamantenbehängten Favoritinnen an sich geschmiegt, als wären sie die natürliche Fortsetzung seines Körpers.

Sobald der Familiengeist den unergründlichen Blick seiner blassblauen, beinahe weißen Augen auf Ophelia richtete, hatte sie Thorn vollkommen vergessen. Im Grunde war alles an Faruk weiß – das lange glatte Haar, die alterslose Haut, die majestätische Kleidung –, aber Ophelia sah nur seine Augen. Die Familiengeister waren an sich schon beeindruckend. Jede Arche, bis auf eine, hatte ihren eigenen. Mächtig und unsterblich, waren sie die Wurzeln des universellen Stammbaums, die gemeinsamen Vorfahren aller großen Klans. Die wenigen Male, die Ophelia ihrer eigenen Urahnin Artemis auf Anima begegnet war, hatte sie sich winzig klein gefühlt. Das war jedoch gar nichts im Vergleich zu dem, was sie nun gegenüber Faruk empfand. Obgleich Ophelia den vom Hofprotokoll vorgeschriebenen Abstand einhielt, überwältigte sie seine mentale Kraft, während er sie starr wie eine Statue betrachtete, ohne einen Lidschlag, ohne jegliche Regung.

»Wer ist das?«, fragte Faruk.

Ophelia konnte ihm nicht verübeln, dass er sich an sie nicht erinnerte, denn sie waren einander bisher nur ein einziges Mal flüchtig begegnet, da war sie als Page verkleidet gewesen und er hatte ihr keinerlei Beachtung geschenkt. Sie war allerdings etwas erstaunt, als sie begriff, dass die Frage sich auch auf Thorn und Berenilde bezog, die Faruk nun ausdruckslos ansah. Ophelia wusste, dass die Familiengeister generell ein sehr schlechtes Gedächtnis hatten, aber dennoch! Thorn war der oberste Intendant der Himmelsburg sowie aller Provinzen des Pols und als solcher verantwortlich für die Finanzen und einen guten Teil des Justizwesens der Arche. Was Berenilde anging, so war sie von Faruk schwanger und hatte erst die vorletzte Nacht mit ihm verbracht.

»Wo ist der Gedächtnishelfer?«, verlangte Faruk.

»Ich bin hier, mein Seigneur!«

Ein junger Mann, ungefähr in Ophelias Alter, erschien hinter Faruks Sessel. Er besaß die typische Tätowierung und die ätherische Schönheit des Gespinst-Klans. Vielleicht ein Cousin Archibalds.

»Der Herr Botschafter hat um Audienz ersucht, um mit Euch hinsichtlich der Situation Eures Intendanten, Herrn Thorn, seiner Tante, Dame Berenilde, sowie seiner Verlobten, Fräulein Ophelia, zu konferieren.«

Der Gedächtnishelfer hatte geduldig und mit sanfter Stimme gesprochen und dabei jeweils auf die Person gezeigt, deren Namen er gerade nannte. Archibald war als Erster vorgetreten, den Zylinder schief auf dem verstrubbelten Haar. Ophelia war überzeugt, dass er sich absichtlich nicht rasiert hatte: Je feierlicher ein Anlass war, desto nachlässiger war sein Aufzug.

»Worum geht es?«, erkundigte sich Faruk, schon jetzt tödlich gelangweilt.

»Um das Verschwinden des Drachen-Klans, mein Seigneur«, rief ihm der Gedächtnishelfer mit unerschütterlicher Langmut in Erinnerung. »Jenen verhängnisvollen Unfall, der Eure Jäger das Leben gekostet hat. Der gnädige Herr Archibald hat Euch heute Morgen alles erläutert. Lest selbst, mein Seigneur, Ihr habt es in Euer Merkheft notiert.«

Daraufhin reichte der Gedächtnishelfer Faruk ein Notizbuch, das vom vielen Gebrauch schon ganz abgegriffen war. Quälend langsam hob dieser seinen Ellbogen vom Spieltisch und blätterte darin. Die Favoritinnen folgten jeder seiner Bewegungen, lösten hier einen Arm von seinem Körper, um ihn an anderer Stelle sofort wieder abzulegen. Ophelia verfolgte die Szene gleichermaßen fasziniert wie befremdet. Unter all den glitzernden Ringen, Diademen und Diamantcolliers sahen diese Favoritinnen kaum noch aus wie echte Frauen.

»Die Drachen sind tot?«, sagte Faruk.

»Ja, mein Seigneur«, antwortete der Gedächtnishelfer. »Das habt Ihr als Letztes vermerkt.«

»›Die Drachen sind tot‹«, las Faruk nun seine eigene Aufzeichnung vor. Dann verharrte er lange reglos wie ein Marmorblock, ehe er eine andere Seite seines Heftes aufschlug. »›Berenilde gehört zum Klan der Drachen.‹ Das habe ich hier hingeschrieben.«

Faruk hatte jede Silbe einzeln betont. In seinem Mund verwandelte sich der nordische Akzent in Gewittergrollen. Ein entferntes, kaum hörbares, aber doch drohendes Gewitter. Als er den Blick wieder von seinem Notizheft hob, entdeckte Ophelia darin ein besorgtes Flackern, das vorher noch nicht da gewesen war.

»Wo ist Berenilde?«

Ohne ein Wort oder einen Knicks trat Berenilde zu ihm und streichelte zärtlich und wie eine echte Ehefrau seine Wange. Dieses Mal schien Faruk sie sofort zu erkennen. Er sah sie ebenfalls wortlos an, doch Ophelia spürte, dass ihr Schweigen weit mehr ausdrückte als alles Gerede der Welt.

Wieder war es Thorn, der durch ein ungeduldiges Klacken seiner Taschenuhr den Zauber brach. Darauf setzte sich Faruk, träge wie ein driftender Eisberg, in Bewegung, nahm den Federhalter, den der Gedächtnishelfer ihm reichte, und fügte seinem Merkheft eine Zeile hinzu: Berenilde lebt, um es nicht mehr zu vergessen.

»So habt Ihr also Eure gesamte Familie verloren, meine Dame«, wandte er sich an Berenilde. »Erlaubt mir, Euch mein Beileid auszusprechen.«

Seine Grabesstimme verriet keinerlei Gefühl, als wäre nicht gerade ein ganzer Zweig seiner Nachkommenschaft in einem entsetzlichen Blutbad ausgelöscht worden.

»Zum Glück bin ich nicht die einzige Überlebende«, beeilte Berenilde sich klarzustellen. »Meine Mutter ist zur Kur auf dem Land und weiß noch nichts von den jüngsten Ereignissen. Was meinen hier anwesenden Neffen betrifft, so wird er bald heiraten. Der Fortbestand der Drachen ist also gesichert.«

Ophelia tat es beinahe leid. Eines Tages würde sie Berenilde erklären müssen, dass diese Ehe nur auf dem Papier existieren und kinderlos bleiben würde.

Aus dem missbilligenden Gemurmel, das sich sogleich unter den um die Bühne versammelten Adligen erhob, war das Wort »Bastard« deutlich herauszuhören. Thorn versuchte nicht einmal, seine Ehre zu verteidigen, sondern sah nur mit schweißtropfender Stirn unverwandt auf seine Uhr, als würde er sich gerade furchtbar verspäten.

»Eben darum habe ich um diese Audienz gebeten«, meldete sich nun Archibald mit einem breiten Lächeln zu Wort. »Ob es Euch gefällt oder nicht, meine liebe Berenilde, Euer Neffe wurde nie von den Drachen anerkannt, und Eure Mutter ist nicht mehr die Jüngste. Bald werdet Ihr die letzte Angehörige Eures Klans sein. Was wiederum, da werdet Ihr wohl kaum widersprechen, Eure Position bei Hofe infrage stellt.«

Der Einwurf wurde mit diskretem Applaus quittiert. In würdiger Ausübung seines Amtes hatte der Botschafter laut ausgesprochen, was jeder im Stillen dachte. Ophelia wandte sich um, als sie hinter sich das Klappern einer Schreibmaschine hörte: Ein Gerichtsschreiber hatte sich an einem der Spieltische niedergelassen und protokollierte alles, was gesagt wurde.

»Aus diesem Grunde«, fuhr Archibald mit erhobener Stimme fort, »habe ich Dame Berenilde und Fräulein Ophelia offiziell die Freundschaft meiner Familie angetragen.«

Diese Erklärung sorgte für eisige Stimmung im Gänsegarten, und der Beifall verstummte sogleich. Bis zu diesem Moment hatten die Miragen nichts von einer Absprache zwischen Berenilde und dem Gespinst gewusst.

»Es handelt sich um ein diplomatisches Bündnis, nicht um eine militärische Allianz«, präzisierte Archibald heiter, als erzähle er eine amüsante Anekdote. »Das Gespinst möchte darüber wachen, dass diesen Damen nichts Unerfreuliches zustößt, dabei jedoch seine politische Neutralität wahren und nicht in Eure kleinen Palastmeucheleien hineingezogen werden. Wir verpflichten uns hiermit in aller Form dazu, weder jemandem nach dem Leben zu trachten noch jemanden anzuheuern, der dies an unserer Stelle tun könnte.«

Ophelia war fassungslos, wie ungezwungen Archibald ein so gravierendes Thema vortrug. Auch war ihr nicht entgangen, dass er das entscheidende Pfand dieser Freundschaft einfach nicht erwähnt hatte: Berenilde hatte ihn zum Paten ihres ungeborenen Kindes erwählt, dem direkten Nachkommen eines Familiengeistes. Das war immerhin kein unbedeutendes Detail.

»Auch der Freundschaft meiner Familie sind jedoch Grenzen gesetzt«, fuhr Archibald an Faruk gewandt fort. »Wärt Ihr selbst daher bereit, diese beiden Frauen hier bei Hofe Eurem Schutz zu unterstellen?«

Faruk hörte ihm kaum zu. Gekrümmt vor Langeweile, die Ellbogen auf die Knie gestützt, schien er alles, was ihm an Konzentration blieb, auf sein Merkheft zu richten, das er lustlos durchblätterte.

Ophelia fragte sich indessen, woher dieses unangenehme Gefühl an ihrem Arm kam, bis sie begriff, dass es Thorns knochige Finger waren, die sie seit ihrem Fehltritt auf der Treppe umklammert hielten. Sie bohrten sich noch etwas fester in ihr Fleisch, als Faruk plötzlich über dem Merkheft innehielt und in einer endlosen Bewegung die weißen Augenbrauen hob.

»Die Leserin. Ich habe aufgeschrieben, dass Berenilde mir eine Leserin bringen wird. Wo ist sie?«

»Sie ist hier, mein Seigneur«, antwortete der Gedächtnishelfer und deutete auf Ophelia. »Neben ihrem gnädigen Herrn Verlobten.«

›Da wären wir‹, dachte Ophelia, die die Finger verschränkte, um ihr Zittern zu verbergen.

»Ach«, sagte Faruk, indem er sein Heft zuklappte. »Sie ist das also.«

Es wurde mucksmäuschenstill, als er sich Ophelia näherte und vor ihr in die Hocke ging, wie ein Erwachsener, der zu einem Kind spricht. Auf eine solche Gegenüberstellung war sie nicht vorbereitet.

Faruk hob den Spitzenschleier, um ihr Gesicht vollkommen ungeniert zu mustern. Während er sie eingehend betrachtete, kämpfte Ophelia verzweifelt gegen den Drang, die Beine unter die Arme zu nehmen und davonzulaufen. Faruks mentale Kraft ließ ihren Blick verschwimmen und zerriss ihr den Schädel.

»Sie ist beschädigt«, stellte er schließlich enttäuscht fest, als hätte er mangelhafte Ware erhalten.

Der Gerichtssekretär tippte die Worte gewissenhaft in seine Schreibmaschine.

»Außerdem«, fuhr Faruk fort, »mag ich keine Gören.«

Ophelia verstand nun besser, warum niemand ihm gegenüber Berenildes Schwangerschaft erwähnte. Sie holte tief Luft. Ihre gesamte Zukunft hing davon ab, wie sie jetzt auftrat. Sie schaute kurz zu Tante Roseline, die sie mit einem Kopfnicken ermunterte, sich frank und frei zu äußern, dann sah sie Faruk ins Gesicht und zwang sich, den Blick nicht von ihm, von dieser übermenschlichen Schönheit abzuwenden.

»Man würde mich vielleicht nicht als groß bezeichnen, aber ich bin gewiss keine Göre mehr.«

Ophelia hatte eine sehr leise Stimme und musste oft wiederholen, was sie sagte. Daher schöpfte sie diesmal so viel Atem, wie sie nur konnte, damit jeder auf der Empore sie gut verstand. Denn ihre Worte waren nicht nur an Faruk gerichtet, sondern auch an Thorn, Berenilde, Archibald, all die Leute, die es sich ärgerlicherweise zur Gewohnheit gemacht hatten, sie wie ein kleines Mädchen zu behandeln.

Faruk tippte sich gedankenverloren an die Unterlippe, ehe er sein Merkheft auf einer der ersten Seiten wieder aufschlug. Ophelia war nah genug dran, um, wenn auch verkehrt herum, eine krakelige Schrift und eine beeindruckende Menge Skizzen zu erkennen. Faruks Augen verweilten bei einem Strichmännchen mit orangebraunen Locken und einer dicken Brille.

»Das ist Artemis«, erklärte er mit seiner schleppenden Stimme. »Da sie meine Schwester ist und da sie Euer Familiengeist ist, nehme ich an, Ihr seid eine Art Urururur-Großnichte von mir. Ja«, befand er, indem er wieder das Bild ansah, »ich denke, Ihr erinnert mich ein wenig an sie. Vor allem die Brille.«

Ophelia fragte sich, wann Faruk seine Schwester wohl zum letzten Mal gesehen hatte, denn Artemis ähnelte ganz bestimmt nicht dieser Kritzelei und sie trug auch keine Brille. Die Familiengeister verließen niemals ihre Archen. Vielleicht hatten sie in grauer Vorzeit, vor dem Riss, ihre Kindheit zusammen verbracht, doch sie schienen daran keine besonders lebhaften Erinnerungen zu haben. Sie hatten überhaupt ein furchtbar schlechtes Gedächtnis, womöglich eine Begleiterscheinung ihrer erstaunlichen Langlebigkeit, die ihre Vergangenheit – und damit die Vergangenheit der gesamten Menschheit – in einen geheimnisvollen Nebel hüllte. Selbst Ophelia, Leserin hin oder her, wusste nichts über die persönliche Geschichte der Familiengeister. Manchmal fragte sie sich, ob auch sie in einer weit zurückliegenden Epoche einmal Eltern gehabt hatten.

»Nun, Kleine von Artemis«, fuhr Faruk fort, »Ihr könnt also die Vergangenheit der Dinge lesen?«

»Zu meinem größten Bedauern«, seufzte Ophelia, »ist dies das Einzige, worauf ich mich wirklich verstehe.«

Das und durch Spiegel zu verschwinden, aber diese Fähigkeit ließ sich nicht so leicht als berufliche Kompetenz präsentieren.

»Bedauert es nicht.«

Ein Funke schlich sich zwischen Faruks müde Lider. Unendlich langsam schob er die Hand unter seinen herrschaftlichen Mantel und zog ein Buch mit edelsteinbesetztem Einband daraus hervor. Gemessen an Faruks Größe, wirkte es wie ein Oktavheftchen, doch nach Ophelias Maßstab entsprach es eher einer Enzyklopädie.

»Ihr könntet zum Beispiel mein Buch lesen.«

Die Angst, die sie beim Anblick dieses Gegenstandes befiel, war beinahe ebenso groß wie ihre Neugier. Ein Buch wie dieses verdiente seine besondere Betonung. Lange hatte Ophelia geglaubt, es gäbe nur eines seiner Art, auf Anima, in Artemis' Privatarchiv: Ein so altes und einzigartiges Dokument, dass selbst die besten Leser, zu denen sie zählte, es nicht zu entschlüsseln vermochten. Nach ihrer Ankunft am Pol jedoch hatte Ophelia nicht nur erfahren, dass auf den verschiedenen Archen weitere existierten, sondern auch, dass das von Faruk bei ihrer Hochzeit eine zentrale Rolle spielte.

Als Ophelia daher nun endlich mit eigenen Augen dieses Buch sah, das so eng mit ihrem Schicksal verbunden war, begannen ihre Hände zu kribbeln und sie streckte sie unwillkürlich danach aus. Vielleicht könnte sie, indem sie sein Geheimnis ergründete, ihre Freiheit zurückgewinnen?

»Nicht sie.«

Die düstere Stimme erklang wie ein Totengong. Es waren Thorns erste Worte seit Beginn der Audienz. Er schien genau auf diesen Moment gewartet zu haben, um Ophelia unvermittelt am Arm zu ziehen und sie hinter sich in seinen Schatten zu schieben.

»Ich.«

Immer noch in der Hocke, das Buch in den Händen, sah Faruk überrascht zu Thorn hoch und blinzelte wie jemand, den man aus einem Nickerchen gerissen hatte.

»Ich bin es, der Euer Buch lesen wird«, wiederholte Thorn entschieden. »Sobald ich, in vier Monaten und neun Tagen, die Kräfte meiner Frau geerbt und gelernt haben werde, sie zu gebrauchen. So steht es in unserem Vertrag.«

Thorn steckte seine Uhr weg, zog ein offizielles Dokument aus seiner Uniformtasche und entfaltete es mit einer raschen Bewegung seines Handgelenks. Die andere Hand hielt noch immer seine Verlobte fest. Ophelia wusste, dass diese Geste weder zärtlich noch beschützend war. Sie war eine Warnung an Faruk und seinen gesamten Hofstaat: Ihm, Thorn, allein gehörte ihre Gabe einer Leserin.

Sie verkrampfte sich vom Kopf bis zu den Füßen. Von allen Entdeckungen, die sie am Pol gemacht hatte, war dies die abscheulichste. Die Gabenzeremonie war ein Hochzeitsritual, bei dem die Brautleute einander ihre jeweiligen Familienkräfte übertrugen. Thorn hatte Ophelia wohlweislich verschwiegen, dass er ihre Vermählung einzig und allein arrangiert hatte, um ihren Animismus zu erben und sich selbst als Leser hervorzutun. Er hatte das untrügliche Gedächtnis seiner Mutter, einer Chronistin, geerbt und schien zu glauben, dass er dank der Verbindung ihrer beiden Familienkräfte weit genug in die Vergangenheit würde vordringen können, um Faruks Buch zu ergründen.

Dabei hatte Thorn keinerlei historisches Interesse. Ihn trieb nur persönlicher Ehrgeiz.

»Würdet Ihr meine Verlobte und meine Tante von nun an bis zu meiner Hochzeit unter Euren Schutz nehmen?«, wiederholte Thorn die Frage, die Archibald bereits gestellt hatte. »Ebenso wie alle Animisten, die möglicherweise zum Pol kommen, um mit ihnen gute diplomatische Beziehungen zu pflegen?«

Sicher war der nordische Akzent bei ihm besonders ausgeprägt und schärfte die Kanten jeder einzelnen Silbe, aber man hätte wirklich meinen können, es zerschnitte ihm die Lippen, Faruk um diesen Gefallen zu bitten. Berenilde schwieg indessen gleichmütig; man musste sie sehr gut kennen, um die leichte Unruhe hinter ihrem samtenen Lächeln zu bemerken.

Ophelia war klar, dass sie gemeinsam auf der Bühne eines Theaters spielten, dessen Zuschauer nur auf einen einzigen Fehltritt lauerten, um über sie herzufallen. Jedes Wort, jede Betonung, jede Geste hatte ihre Bedeutung. Doch auf dieser Bühne blieb Thorn Ophelias größter Widersacher. Seinetwegen würde man von ihr nur das Bild einer im Schatten ihres Mannes verborgenen Frau in Erinnerung behalten.

Faruk las mit mürrischem Gesicht die Bedingungen des Vertrages noch einmal durch, den Thorn ihm ausgehändigt hatte, schob dann das Buch zurück unter seinen Mantel und richtete sich Muskel für Muskel, Gelenk für Gelenk wieder zu seiner vollen Größe auf. Thorn war groß; Faruk war riesig.

»Wenn sie nur zum Lesen gut ist und ich sie nicht lesen lassen kann«, sagte er langsam, »was soll ich dann mit ihr anfangen? Ich dulde in meinem Gefolge nur Höflinge, die mich zu unterhalten wissen.«

Jetzt oder nie. Ophelia entwand sich Thorns Griff, trat aus seinem Schatten heraus und hob die Augen zu Faruk, ganz egal, wie schmerzhaft es war, seinem Blick zu begegnen.

»Ich bin nicht unterhaltsam, aber ich kann mich nützlich machen. Auf Anima hatte ich ein Museum, und ich könnte hier auch eines eröffnen. Ein Museum ist wie ein Gedächtnis«, betonte sie, wobei sie mit Bedacht jedes Wort wählte, »wie Euer Merkheft.«

Sie konnte Thorns Gesichtsausdruck nicht sehen, dafür aber Berenildes, deren Lächeln erlosch. Das war sicher nicht das, was sie gemeint hatte, als sie Ophelia ermahnte, einen guten Eindruck zu machen. Auch das entgeisterte Gemurmel der rund um die Bühne stehenden Adligen ignorierte Ophelia so gut sie konnte. Mit diesem Vorstoß hatte sie vermutlich die Hälfte aller Regeln der höfischen Etikette missachtet.

»Was für ein Museum hattet Ihr?«, wollte Faruk wissen.

»Ein Museum für Ur- und Frühgeschichte«, erklärte Ophelia hastig, erleichtert, dass es ihr gelungen war, seine Neugier zu wecken. »Alles, was mit der alten Welt zu tun hat. Natürlich kann ich mich nach Euren historischen Quellen richten.«

Faruk wirkte ehrlich interessiert, und für einen Moment glaubte Ophelia, sie würde endlich ihr Museum bekommen, ihre Selbständigkeit und ihre Freiheit. Umso fassungsloser war sie, als sie Faruks Antwort vernahm, die der Sekretär beflissen mit seiner Schreibmaschine festhielt:

»Geschichte, also. Abgemacht, Kleine von Artemis, Ihr werdet mir Geschichten erzählen. Das ist der Preis für den Schutz, den ich Euch gewähre, Euch und Eurer Familie. Ich ernenne Euch zur Vize-Erzählerin.«

Die Verträge

Kaum war Ophelia, behindert durch ihren Schal und noch ganz benommen von dem, was gerade passiert war, die Stufen zur Bühne wieder hinuntergestiegen, da blendete sie ein greller Blitz. Sie war soeben zum ersten Mal in ihrem Leben fotografiert worden, und das ausgerechnet in einem Moment, in dem sie so richtig verzagt aussah. Gehüllt in eine Magnesiumwolke, seinen schwarzen Kasten unter dem Arm, sprang der Fotograf auf sie zu. Es war ein Mirage, der kahl war wie ein Ei und brodelte wie ein Kochtopf.

»Gnädiges Fräulein Animistin! Ich bin Herr Tschechow, der Herausgeber des Nibelungen, der meistgelesenen Zeitung der Himmelsburg. Wärt Ihr bereit, mir ein paar Fragen zu beantworten? Unser Seigneur Faruk hat Euch soeben zur Vize-Erzählerin ernannt«, ratterte er herunter, ohne Ophelia Zeit für eine Erwiderung zu lassen, »habt Ihr das Format, Euch mit dem sagenhaften Erik, unserem amtierenden Geschichtenerzähler, zu messen? Ohne überragendes Talent werdet Ihr neben seinen atemberaubenden Lichtspielen nicht bestehen. In vierzig Jahren Vorführung hat ihn niemand übertroffen. Welche Strategie verfolgt Ihr, um Euren Platz auf der Bühne zu behaupten?«

Ophelia hatte keine Ahnung, wie dieser Zeitungsdirektor es anstellte, aber sie war allein vom Zuhören schon schweißgebadet. Eine Bühne? Musste sie sich etwa auch noch auf einer Bühne präsentieren?

Dass die Höflinge sie in Erwartung ihrer Antwort kalt musterten, machte die Sache auch nicht besser. Umso erleichterter war sie, als das allgemeine Interesse sich plötzlich von ihr ab- und wieder der Empore zuwandte, auf der Faruk gerade Berenilde ein Diadem aufsetzte. Die Miragen spendeten dieser Krönung widerwillig Beifall.

Als Ophelia Berenilde so sah, diamantengeschmückt, mit rosigen Wangen und strahlenden Augen, im gleißenden Licht des Glaspavillons vor dem Hintergrund der Palmen und Bougainvilleen, glaubte sie, eine exotische Königin vor sich zu haben. Eine Königin? Nein. Eine Mätresse.

»Ich beneide sie wahrlich nicht«, sagte Tante Roseline, die sich endlich unter Einsatz ihrer Ellbogen zu Ophelia durchgekämpft hatte. »Es dürfte nicht einfach sein, einen Mann zu lieben, der Diamanten braucht, um sich daran zu erinnern, mit wem er das Bett teilt.«

»Sie hat sich meinetwegen darauf eingelassen«, murmelte Ophelia. »Monsieur Faruk beschützt mich vor seinem Hof, und Berenilde beschützt mich vor Monsieur Faruk.«

»Dich beneide ich noch viel weniger als sie. Ich wusste ja bereits, dass dieser Monsieur Thorn nicht besonders sentimental ist, aber man muss schon ein Uhrwerk anstelle des Herzens haben, um in dir nichts als ein Paar Hände zu sehen … Kind, du bist ja weiß wie eine Glühbirne«, bemerkte die Tante plötzlich besorgt. »Tut dir deine Rippe weh?«

Ophelia hatte den Schleier von ihrem Hut abgenommen, da sie genug davon hatte, die Welt durch ein Netz aus Spitze zu sehen.

»Meine eigene Dummheit ist es, die mir wehtut. Unsere Familie kann jeden Tag hier eintreffen, und ihre Sicherheit hängt nun allein von meiner Darbietung auf der Bühne ab. Könnt Ihr Euch mich etwa als Geschichtenerzählerin vorstellen?«

Die Frage brachte Tante Roseline ganz offensichtlich in Verlegenheit. Sie klappte den Mund auf und wieder zu, ehe sie Ophelia an den Schultern fasste.

»Fliehen wir vor diesen Hofschranzen, solange sie abgelenkt sind. Wir werden draußen auf Berenilde warten. Und pass auf, wo du hintrittst: Dein Schal hat wirklich keinerlei Benehmen.«

Ophelia sah ein letztes Mal zurück zur Empore, auf der die Höflinge zusammenströmten, um Berenilde zu beglückwünschen. Auch Thorn stand noch dort, aber er schenkte als Einziger seiner Tante keinerlei Beachtung, denn er war ganz in die Lektüre des Protokolls vertieft, das der Gerichtsschreiber ihm ausgehändigt hatte. Ophelia wandte sich ab, sobald Thorn seinen stählernen Blick hob und sie über das Blatt hinweg anschaute.

»Sagt, das scheint ja nicht gerade die große Liebe zu sein!«

Die Frau, die diese Worte mit gurrender Stimme ausgesprochen hatte, näherte sich ihnen zwischen den Palmen. Sie war von kräftiger Statur und trug einen Schleier mit kleinen goldenen Anhängern, der unglaublich schwer sein musste. Es beruhigte Ophelia nicht gerade, die Tätowierung der Miragen auf ihren Lidern zu entdecken. Und noch weniger, dass diese Frau ihr Gesicht mit den Händen umschloss, um ungeniert ihre Verletzungen zu mustern.

»Hat Herr Thorn Euch so zugerichtet, mein Täubchen?«

Ophelia hätte ihr gern geantwortet, dass das vielleicht die einzige Sache war, die sie Thorn nicht vorwerfen konnte, doch stattdessen nieste sie kräftig. Diese Frau verströmte einen so aufdringlichen Parfumduft, dass einem schwindlig wurde.

»Mit wem haben wir die Ehre?«, erkundigte sich Tante Roseline.

»Ich bin Kunigunde«, antwortete die Mirage, ohne den Blick von Ophelia abzuwenden. »Was Ihr da auf der Empore versucht habt, hat mir sehr gefallen, mein Täubchen. Wir sind uns ähnlich, Ihr und ich.«

Ihre Goldgehänge klimperten wie Glöckchen, als sie den Arm hob, um auf einen Miragen im Gefolge der Höflinge zu deuten. Sein Körperumfang war so kolossal, seine Erscheinung so prachtvoll, dass man eigentlich nur ihn sah. Eine sehr gelungene Illusion ließ die Streifen seines Gehrocks in allen Farben des Regenbogens schillern. Ophelia erkannte Baron Melchior sofort. Sie war ihm mehr als einmal in den Fluren des Mondscheinpalastes begegnet, während sie dort als Page verkleidet gearbeitet hatte.

»Euer rotes Tuch ist Herr Thorn«, flüsterte Kunigunde Ophelia ins Ohr, »meines ist mein Bruder. Der Baron mit dem goldenen Händchen! Der große Mode-Zauberer! Der Minister für Stil und Eleganz! Er hat sogar das Kreuz der Ehrenlegion bekommen für seine besonderen Verdienste um die Familie. Melchior stand immer im Rampenlicht, während ich dazu verdammt war, als Künstlerin ein Schattendasein zu fristen. Und wisst Ihr warum, mein Täubchen? Weil diese Herren denken, sie allein wären in der Lage, den Zirkus hier oben am Laufen zu halten.«

»Was müssen wir tun, um aus ihrem Schatten zu treten?«, fragte Ophelia, der Kunigunde aus der Seele sprach.

»Uns verbünden, mein Täubchen. Warum sollten wir wegen dieses lächerlichen Klan-Gezänks miteinander im Clinch liegen? Wir sind doch zuallererst einmal Frauen. Frauen mit Unternehmergeist noch dazu.«

»Endlich mal ein vernünftiges Wort«, mischte sich Tante Roseline ein. »Ich bin voll und ganz Eurer Meinung, verehrte Dame. Wie viel ruhiger würde ich doch nach Anima zurückkehren, wenn ich wüsste, dass meine Nichte hier auf eigenen Beinen stehen kann. Welche Kunst übt Ihr aus?«

Kunigundes rote Lippen spreizten sich zu einem salbungsvollen Lächeln.

»Ich besitze Imaginationshäuser, in denen die Besucher pikante Illusionen geboten bekommen. Erotische Genüsse habe ich sie genannt, und glaubt mir, ich behalte sie nicht nur diesen Herren hier vor.«

An Roselines entsetzt aufgerissenen Augen erkannte Ophelia, dass Kunigunde bereits aufgehört hatte, eine »verehrte Dame« zu sein.

»Im Gefolge unseres Seigneurs Faruk gibt es nur zwei Sorten von Frauen. Jene, die sich ihm selbst anbieten, oder jene, die ihm ihre Dienste anbieten. Wer nichts zu seinem Vergnügen beiträgt, überlebt hier nicht lange. Darf ich einmal Eure Hände sehen, mein Täubchen?«

Nach kurzem Zögern knöpfte Ophelia ihre Leserinnen-Handschuhe auf. Fasziniert folgte Kunigunde mit ihren roten, spitzen Nägeln Ophelias Lebenslinien.

»Sie sind so klein und gewöhnlich … Dabei habt Ihr die gefürchtetsten Hände der gesamten Himmelsburg.«

»Wegen Monsieur Faruks Buch?«, wunderte sich Ophelia.

Kunigunde zwinkerte ihr zu, wodurch die Tätowierung auf ihrem Lid für einen kurzen Moment ganz sichtbar wurde.

»Die Dinge haben keinerlei Geheimnis für Euch. Anders gesagt, Ihr seid imstande, all die kleinen Schwindeleien des Hofes zu entlarven, und davon gibt es unzählige.«

Ophelia betrachtete etwas aufmerksamer die um das Gänsespiel versammelten Adligen und bemerkte, dass man ihr aus sicherer Distanz feindselige Blicke zuwarf. Besonders die Damen überprüften nervös ihre aufgetürmten Frisuren, als könnte schon der Verlust einer einzigen Haarnadel sie zum Gespött machen.

»Ich schlage Euch ein Geschäft vor, mein Täubchen«, fuhr Kunigunde flüsternd fort, wobei sie Ophelias Hände in ihre nahm. »Ich biete Euch meine besten Illusionen und garantiere Euch ein Spektakel, das die Darbietung des amtierenden Geschichtenerzählers in den Schatten stellt. Als Gegenleistung«, fügte sie noch leiser hinzu, »streckt Ihr hier und da mal Eure Fingerchen für mich aus.«

Sie stand so dicht vor Ophelia, dass ihr Parfum ihr den Atem nahm wie Schwefeldämpfe.

»Ich danke Euch für Euer Angebot«, antwortete Ophelia, bemüht, einen Hustenreiz zu unterdrücken, »aber ich muss es ablehnen. Ich lese keinen Gegenstand ohne das Einverständnis seines Besitzers.«

Kunigundes Lächeln wurde breiter, während ihre Nägel sich in Ophelias Handflächen bohrten.

»Ihr lehnt ab?«

»Ich lehne ab, Madame.«

»Wie es scheint, habe ich mich in Euch getäuscht. Ich dachte, ich hätte auf dieser Empore eine ehrgeizige junge Frau gesehen. Erlaubt Ihr mir, Euch einen kleinen Rat zu geben, mein Täubchen?« Als ihre Nägel noch tiefer in Ophelias Haut versanken, konnte Roseline ein beunruhigtes Zucken nicht unterdrücken. »Sagt niemals Nein zu einem Miragen.«

»Ist das eine Drohung?«

Die Frage kam von Archibald, der lässig herbeigeschlendert war, die Hände in den löchrigen Taschen seines Gehrocks vergraben, den alten Zylinder schief auf dem Kopf. Zwei Greisinnen begleiteten ihn. Mit ihren pechschwarzen, ausladenden Reifröcken sahen sie aus wie Friedhofsglocken.

Kunigunde ließ sofort Ophelias Hände los.

»Eine Empfehlung, Herr Botschafter«, erwiderte sie, mehr an die Greisinnen, als an Archibald gerichtet. »Eine bloße Empfehlung.«

Mit diesen Worten und einem letzten eindringlichen Blick zu Ophelia verschwand Kunigunde unter dem Geklimper ihrer Goldanhänger.

Archibald lachte lauthals los.

»Ihr lasst wahrhaft keine Gelegenheit aus, Verlobte von Thorn! Kaum seid Ihr bei Hofe eingeführt, macht Ihr Euch schon die erste Feindin. Und nicht nur irgendeine. Niemand ist gefährlicher als eine verzweifelte Künstlerin.«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht knöpfte Ophelia ihre Handschuhe wieder zu. Kunigunde war nicht zimperlich gewesen mit ihren Nägeln.

»Verzweifelt?«, bemerkte sie.

Aus einer Tasche seines Gehrocks angelte Archibald eine hübsche blaue Sanduhr an einer Kette. Ophelia kannte diese Dinger vom Hörensagen, obwohl sie noch nie eine benutzt hatte. Man musste nur den Stift herausziehen, der den Mechanismus auslöste, und schon wurde man für die Dauer eines Durchlaufs der Sanduhr an einen paradiesischen Ort versetzt. ›Versuch dir die leuchtendsten Farben auszumalen, die betörendsten Düfte, die erregendsten Liebkosungen‹, hatte Reineke ihr einmal gesagt, ›und du weißt noch lange nicht, welche Genüsse dir diese Illusion bereitet.‹

»Dame Kunigundes Geschäfte florieren nicht gerade«, sagte Archibald. »Ihre Imaginationshäuser gehen eines nach dem anderen bankrott, seit die gute Mutter Hildegard ihre blauen Sanduhren eingeführt hat. Welcher Aristokrat würde sich schon öffentlich an einem verrufenen Ort zeigen, wenn er stattdessen in aller Diskretion diese kleine Sanduhr aufreißen kann? Darf ich Euch Eure Eskorte vorstellen«, wechselte er dann unvermittelt das Thema. »Ich hatte der verehrten Berenilde Schutz versprochen. Das ist er.«

Mit einer gespreizten Geste zeigte Archibald auf die beiden Greisinnen, die schweigend hinter ihm standen. Ihre blassen Augen, zwischen denen die Familientätowierung ein geheimnisvolles Satzzeichen zu bilden schien, ruhten kühl und fachmännisch auf Ophelia.

»Diese Damen sollen uns verteidigen?«, empörte sich Tante Roseline. »Wären da ein paar Gendarmen nicht angebrachter?«

»Ihr werdet im Frauentrakt wohnen, wie alle Favoritinnen Faruks«, erklärte Archibald, »Männer haben dort keinen Zutritt. Doch seid unbesorgt, die Walküren sind der beste Garant für Eure Sicherheit.«

Ophelia hob beeindruckt die Brauen. Sie hatte sich lange genug im Mondscheinpalast aufgehalten, um schon einmal von den Walküren gehört zu haben. Diese Frauen waren spezialisiert auf diplomatische Eskorten: Mit äußerster Gewissenhaftigkeit beobachteten sie jedes Detail, verfolgten jedes Gespräch. Sie waren telepathisch mit den anderen Mitgliedern des Gespinstes verbunden, die zum Teil die Aufgabe hatten, alles festzuhalten, was die Walküren sahen und hörten. Die ihnen anvertrauten Personen wurden also vortrefflich bewacht, ein Privileg, das nicht jedem beliebigen Adligen zuteilwurde.

Ophelia schob sich die Brille auf der Nase hoch, um Archibald direkt in die Augen sehen zu können. Es war, als würde man durch zwei Fenster in den Himmel blicken.

»Ich wurde Opfer eines gravierenden Missverständnisses. Ich bin nicht dazu in der Lage, Geschichten zu erzählen. Herr Botschafter, Ihr habt mir Eure Freundschaft angeboten, könnt Ihr mir helfen, diesen Irrtum aufzuklären?«

Archibald schüttelte mit einem halb spöttischen, halb bedauernden Lächeln den Kopf. Trotz seiner verstrubbelten Haare, seiner unrasierten Wangen und der schlecht geflickten Kleider sah er unverschämt gut aus.

»Verzeiht mir den Ausdruck, Verlobte von Thorn, aber wie man sich bettet, so liegt man. Vor allem bei Faruk.«

»Ich hatte keine Zeit, mein Anliegen richtig vorzutragen. Wenn ich darlegen könnte, wie sinnvoll mein Projekt ist …«

»Euer Projekt?«, grinste Archibald, »Ihr meint dieses lächerliche Museum? Vergesst das sofort wieder! Etwas derart Langweiliges wird hier niemanden hinter dem Ofen vorlocken.«

»Ihr …« Tante Roseline schnappte nach Luft. »Ihr seid ungehobelter als ein krummes Kantholz!«

Äußerst belustigt von ihrer Beschimpfung, drehte Archibald sich zu ihr um.

»Nein, Tante«, widersprach Ophelia ihr. »Er hat recht.«

Im hellen Licht des Glaspavillons zeigte sich mit einem Mal der ganze angesammelte Staub auf ihrer Brille. Sie nahm sie ab und rieb die Gläser an dem schönen weißen Kleid sauber, das Berenilde ihr geschenkt hatte, ohne sich darum zu scheren, ob es schmutzig werden könnte. Ihre Gedanken begannen wütend zu kreisen. Sie hatte wochenlang Zeit gehabt, neue Ideen und Möglichkeiten zu erkunden, doch stattdessen hatte sie sich an ihr altes Leben geklammert.

»Ich hätte gerne, dass Ihr Euch das hier einmal etwas genauer anseht«, unterbrach Archibald ihre Grübeleien. »Ich habe sie mir sozusagen vom Zeremonienmeister ausgeliehen.«

Er hielt Ophelia zwei hübsche Würfel hin. Es waren die, mit denen er die Partie des Gänsespiels bestritten hatte. Sofort griff Roseline an Ophelias Stelle danach und reichte sie ihrer Nichte. Nach all den Ausschweifungen, die sie unter Archibalds Dach hatte beobachten müssen, wollte sie nun nicht einmal zulassen, dass sich auch nur die Fingerspitzen der beiden flüchtig berührten.

Ophelia bemerkte, dass alle Seiten der Würfel leer waren.

»Versteht Ihr, Verlobte von Thorn? Sie sind gezinkt. Der Zeremonienmeister ist ein Mirage, er entscheidet, welche Zahlen auf den Würfeln erscheinen, nachdem man sie geworfen hat.«

»Seid Ihr deswegen jedes Mal auf ein Brunnenfeld gekommen?«, murmelte Ophelia, überrascht von dieser Enthüllung.

»Faruk gewinnt immer. Ihr hättet ihm vorschlagen können, eine Käserei zu eröffnen, er hätte beschlossen, eine Schokoladenfabrik daraus zu machen.«

In dem Moment erhoben sich begeisterte Rufe im Gänsegarten. Ophelia konnte die Empore der Spieler nicht mehr sehen, weil Palmen und Springbrunnen ihr die Sicht versperrten, aber sie nahm an, dass eine neue Partie begonnen hatte. Eine neue Partie mit neuen gefälschten Würfeln.

»Es sei denn, man wäre etwas geschickter«, erwiderte sie und dachte dabei an Graf Boris, der Faruks Sieg abgepasst hatte, um sich weitere Ländereien zu sichern. »Statt über mein Museum zu reden, hätte ich ihm vorschlagen sollen, sein Buch zu lesen. Ich habe mich von Thorn ausstechen lassen.«

Archibald sperrte vor Überraschung Mund und Augen auf.

»Immer hübsch langsam, hat man Euch denn nicht erzählt, was mit den Lesern geschehen ist, die vor Euch hierhergekommen sind?«

»Man hat mir gesagt, sie seien alle gescheitert und Monsieur Faruk habe es sehr schlecht aufgenommen. Ich könnte mein Glück doch zumindest versuchen. Es gibt nicht viele Dinge, die ich mir zutraue, aber meine Gutachten sind exzellent.«

»Verzichtet in diesem Fall darauf«, entgegnete Archibald, ohne zu zögern. »Ich habe Euch vorhin auf der Bühne beobachtet. Ihr wärt beinahe in Ohnmacht gefallen, bloß weil Faruk Euch angesehen hat. Stellt Euch nur mal vor, welche Wirkung sein Zorn erst auf Euch hätte. Ich habe Männer Blut weinen und völlig den Verstand verlieren sehen, nachdem sie ihn enttäuscht hatten. Unser Familiengeist ist nicht in der Lage, sich zu beherrschen.«

Ophelia schüttelte ihren Fuß, der immer noch in ihrem Schal verheddert war. Wenn Archibald vorgehabt hatte, sie zu erschrecken, so war ihm dies gelungen.

»Schlagt euch dieses Buch aus dem Kopf«, beharrte er. »Meine Familie hat sich ruiniert, indem sie die besten Experten engagierte, um es zu entziffern: Sprachforscher, Leser, und so weiter und so fort. Eines habe ich wenigstens dabei gelernt, es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Buch mit sieben Siegeln. Unmöglich zu datieren, da die Zeit ihm nichts anhaben kann. Unmöglich zu übersetzen, da seine Schrift auf der ganzen Welt einzigartig ist.«

»Artemis, unser Familiengeist, hat ein ähnliches Buch in ihrer privaten Sammlung«, bemerkte Ophelia. »Ob wohl alle Familiengeister eines besitzen?«

»Diese Frage ist schwer zu beantworten, da jede Arche so ihre kleinen Geheimnisse hat«, gab Archibald mit unergründlichem Lächeln zurück. »Lasst jedenfalls lieber Thorn sich an Eurer Stelle das Genick brechen. Ihr werdet eine zauberhafte kleine Witwe abgeben.«

Trotz der falschen Sonne überlief es Ophelia eiskalt. Sie sah nacheinander die beiden Walküren an, die ihnen stumm und mit professioneller Teilnahmslosigkeit lauschten, dann fragte sie leise:

»Warum ist Faruk derart besessen von diesem Buch?«

Archibald brach in so schallendes Gelächter aus, dass sein Zylinder auf den Rasen purzelte.

»Diese Frage, Verlobte von Thorn«, antwortete er, als er wieder Luft bekam, »ist vermutlich das Einzige, was Ihr mit sämtlichen Bewohnern des Pols gemein habt. Das Buch ist Faruks alleinige Obsession. Ich betone noch einmal zu Eurem eigenen Besten: Kommt nie, wirklich niemals wieder vor ihm darauf zu sprechen.«

Archibald hob seinen Zylinder auf, wirbelte ihn durch die Luft und fing ihn wie ein Clown mit dem Kopf wieder auf. Ophelia sah ihn dennoch ernst an. Er mochte ein Provokateur und Egozentriker sein, aber wenigstens war er nicht falsch, wie alle anderen hier.

»Ich bin am Pol bisher nicht vielen Menschen begegnet, die sich darum geschert hätten, was für mich das Beste ist. Danke, Herr Botschafter.«

»Oh, Ihr braucht mir nicht zu danken. Mit jedem Ratschlag, den ich Euch erteile, steht Ihr mehr in meiner Schuld. Und eines Tages werde ich Euch die Rechnung präsentieren.«

»Welche Schuld, welche Rechnung?«, fragte Ophelia verwundert. »Ihr habt mir doch Eure Freundschaft angeboten.«

»Eben. Strenge Rechnung, gute Freundschaft. Aber macht Euch keine Sorgen, Ihr werdet so viel Vergnügen daran haben, dass Ihr es kaum erwarten könnt, Euch erneut zu verschulden.«

Ophelia bedauerte zutiefst, dass sie die einzige wahre Unterstützung am Hof von einem derartigen Schürzenjäger bekam, dessen liebster Zeitvertreib es war, Frauen zum Ehebruch zu verführen. Wäre Ophelia nicht Thorn versprochen gewesen, so hätte Archibald sich niemals für sie interessiert.

»Ich habe dir doch geraten, dich von diesem Lüstling fernzuhalten!«, fuhr Tante Roseline dazwischen, deren Gesicht vor Empörung noch gelber war als sonst. »Werter Herr Botschafter, ich werde persönlich darüber wachen, dass Ihr zu meiner Nichte den gebührenden Abstand wahrt!«

Archibalds Lächeln, das dehnbar war wie ein Gummiband, wurde immer breiter.

»Es tut mir leid, Euch widersprechen zu müssen, Madame Roseline, denn ich habe Euch bereits ins Herz geschlossen, doch Ihr könnt dieses kleine Fräulein nicht immerzu im Auge behalten. Und Ihr ebenso wenig, Herr Intendant.«

Ophelia drehte sich so ruckartig um, dass der Schmerz in ihrer Rippe ihr den Atem verschlug. Direkt hinter ihr ragte Thorn, zwei Köpfe größer als sie, wie ein Monolith aus dem Rasen. In der Hand hielt er ein maschinengeschriebenes Blatt. Ophelia hatte noch nie den Eindruck gehabt, dass er sich irgendwo wohlfühlte, auf keinem Stuhl, an keinem Tisch, in keiner Gesellschaft. Aber deplatzierter als in diesem exotischen Garten war er ihr wirklich noch niemals erschienen. Das grelle Licht ließ die beiden Narben in seinem Gesicht scharf hervortreten, und aus seinen bleichen Haaren rann der Schweiß. Das musste der reinste Backofen sein, unter seiner Dienstuniform. Doch statt aufgeweicht, wirkte er im Gegenteil erstarrt vom Scheitel bis zu Sohle.

Thorn schenkte Archibald nicht mehr Beachtung als einem Teppich.

»Ich bin gekommen, um Euch Euren Vertrag zu übergeben.«

»Erspart Euch vor allem Eure Kommentare«, fauchte Ophelia, während sie ihm das Papier aus den Händen riss.

Sie hatte vor Thorns Augen gekämpft und eine erbärmliche Niederlage erlitten. Ein kritisches oder spöttisches Wort hätte in diesem Moment genügt, damit sie explodierte.

Thorn ließ sich davon nicht im Geringsten aus dem Konzept bringen.

»Zudem informiere ich Euch darüber, dass es mir gelungen ist, eine radiotelegrafische Verbindung zu Eurer Familie herzustellen. Ich konnte sie bezüglich Eures Befindens beruhigen und ihre Anreise auf später verschieben.«

Das war vermutlich die beste Nachricht des heutigen Tages. Trotzdem empfand Ophelia die Ankündigung als weitere Kränkung.

»Und Euch ist nicht in den Sinn gekommen, dass ich dieser radiotelegrafischen Verbindung womöglich gern beigewohnt hätte? Seit meiner Abreise haben meine Verwandten keinen einzigen unserer Briefe erhalten und wir keinen der ihren. Habt Ihr auch nur die leiseste Ahnung, wie isoliert meine Tante und ich uns dadurch fühlen?«

»Ich wollte zunächst dem Dringlichsten abhelfen«, antwortete Thorn, ohne Archibald, der sich an der Situation herrlich zu ergötzen schien, eines Blickes zu würdigen. »Die Anwesenheit Eurer Familie hier wäre, unter den gegebenen Umständen, für sie ebenso gefährlich wie für uns. Ich werde dafür sorgen, dass Eure nächsten Briefe sie erreichen.«

»Und Euer Vertrag?«, wollte Ophelia wissen. »Habe ich ein Recht darauf, ihn zu sehen, oder geht mich das auch nichts an?«

Thorns Brauen waren stets gerunzelt, doch Ophelias Bemerkung grub die senkrechte Falte noch etwas tiefer in seine Stirn. Er holte einen Umschlag aus der Innentasche seiner Uniformjacke.

»Dieses Faksimile ist für Euch bestimmt. Trennt Euch niemals davon und haltet es Faruk unter die Nase, sooft es nötig ist.«

Als Ophelia den Briefumschlag aufriss, fiel das Blatt, das er enthielt, zu Boden. Sie hob es auf und las es konzentriert durch. Es war eine Kopie von Thorns Vertrag. Darin war alles festgehalten: Das Verlobungsarrangement mit einer Leserin aus Anima (Ophelias Name wurde nicht explizit genannt), der geplante Hochzeitstag, der 3. August, und selbst der für die Lektüre des Buches anberaumte Termin im November. Es war vollkommen klar, dass die Verlobte, die Thorn auswählen würde, nichts mit dem vorliegenden Vertrag zu schaffen hatte. Ophelias Brillengläser verdunkelten sich, als sie zu dem Passus kam, der die Gegenleistung für die Lektüre betraf:

Im Erfolgsfall erhält Herr Thorn einen offiziellen Adelstitel und sein Status als Bastard wird für null und nichtig erklärt.

Ophelia schnürte es die Kehle zu. Thorns ganzer Ehrgeiz ließ sich in einem Satz zusammenfassen. Er hatte sie ihrer Familie entrissen und großen Gefahren ausgesetzt, um sich als Aristokrat aufspielen zu können. Auch Berenilde wurde nirgendwo genannt; trotz all der Risiken, die sie auf sich genommen hatte, um ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen, hatte er nicht einen Gedanken an seine eigene Tante verschwendet.

Thorn scherte sich um niemanden, und Ophelia beschloss, sich nicht mehr um Thorn zu scheren.

»Eines Tages werde ich meine Schuld begleichen«, versprach sie Archibald daher. »Lasst mich wählen, auf welche Weise, und ich sorge dafür, dass Ihr gerecht entlohnt werdet.«