Die Spur des Dschingis-Khan - Hans Dominik - E-Book

Die Spur des Dschingis-Khan E-Book

Hans Dominik

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Beschreibung

Krieg zwischen Europa und dem Gelben Reich. Neueste Erfindungen und aufstrebender Pioniergeist begünstigen die europäische Expansion nach Osten. Der neue Herrscher im chinesischen Reich, der sich als der wahre Erbe des mächtigen Dschingis-Khan sieht, fühlt sich und sein Volk bedrängt. Er mobilisiert seine Riesenheere im Kampf gegen die verhassten Europäer. Hier zeigt sich Dominik wieder in seinem Element: Detaillierte Schlachten mit aberwitzigen Fantasiewaffen, technische Erfindungen und abenteuerliche Spannungsszenen wechseln einander ab. Kommentierte und unzensierte Originalfassung Null Papier Verlag

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Hans Dominik

Die Spur des Dschingis-Khan

Kommentierte und unzensierte Originalfassung

Hans Dominik

Die Spur des Dschingis-Khan

Kommentierte und unzensierte Originalfassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Verlag Keil, Berlin, 1933 1. Auflage, ISBN 978-3-954187-41-6

null-papier.de/361

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Der Au­tor

Zum Buch

Hin­weis des Ver­le­gers

1

2

3

4

5

6

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8

9

10

11

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Der Autor

Hans Do­mi­nik war der Pio­ni­er des uto­pi­schen Ro­mans in Deutsch­land und ei­ner der er­folg­reichs­ten deut­schen Po­pu­lär­schrift­stel­ler des 20. Jahr­hun­derts. Er wur­de 1872 in Zwickau ge­bo­ren und starb 1945 wäh­rend des Kriegs­en­des in Ber­lin. Ne­ben Science-Fic­ti­on hat Do­mi­nik auch Sach­bü­cher und Ar­ti­kel mit tech­nisch-wis­sen­schaft­li­chen In­hal­ten ver­fasst.

Sei­ne Ju­gend­jah­re wie auch den größ­ten Teil sei­nes Le­bens ver­brach­te er in Ber­lin. Am Gym­na­si­um in Go­tha be­geg­ne­te er dem Leh­rer Kurd Laß­witz (http://null-pa­pier.de/au­t­hor/kurd-lass­witz/), selbst ein frü­her Ver­fas­ser uto­pi­scher Ro­ma­ne. Man kann da­von aus­ge­hen, dass die­se Be­geg­nung nicht ohne Ein­fluss auf Do­mi­nik und sein spä­te­res Werk blieb.

Ab 1893 stu­dier­te Hans Do­mi­nik an der Tech­ni­schen Hoch­schu­le Ber­lin Ma­schi­nen­bau und Ei­sen­bahn­tech­nik. Spä­ter war er für meh­re­re Un­ter­neh­men im Be­reich der Gro­ß­in­dus­trie und des Berg­baus tä­tig, u.a. auch für Sie­mens.

Nach 1901 mach­te er sich als Fach­au­tor selb­stän­dig. Für Auf­trag­ge­ber aus der In­dus­trie ver­fass­te er Wer­be­bro­schü­ren und Pro­spek­te. Sei­ne Lei­den­schaft galt aber der auf­kom­men­den Science-Fic­ti­on Li­te­ra­tur oder bes­ser den »tech­ni­schen Aben­teu­er­ro­ma­nen«, wie die­se in Deutsch­land noch ge­nannt wur­den. Do­mi­nik war auch ab­seits der Li­te­ra­tur sehr um­trie­big, er grün­de­te ein Un­ter­neh­men und er­hielt meh­re­re Pa­ten­te auf dem Ge­biet der Au­to­mo­bil­tech­no­lo­gie.

Sein ers­ter uto­pi­scher Ro­man »Die Macht der Drei« er­schi­en 1922 als Fort­set­zungs­ge­schich­te und wur­de kurz dar­auf als Buch ver­öf­fent­licht. Ab 1924 wid­me­te sich Do­mi­nik ganz der Schrift­stel­le­rei, in Jah­res­ab­stän­den er­schie­nen wei­te­re Ro­ma­ne.

Ne­ben den rei­nen Aben­teu­er­ge­schich­ten für eine er­wach­se­ne Le­ser­schaft ver­öf­fent­lich­te er auch die (im­mer noch sehr stark vom tech­ni­schen Fort­schritt ein­ge­färb­ten) Ju­gend­ge­schich­ten um den Auf­stieg des John Work­man vom Zei­tungs­jun­gen zum Mil­lio­när: »John Work­mann, der Zei­tungs­boy« (1925).

Die wich­tigs­ten Wer­ke:

Die Macht der Drei, 1921

Die Spur des Dschin­gis-Khan, 1923

At­lan­tis, 1924/25

Der Brand der Che­ops­py­ra­mi­de, 1925/26

Das Erbe der Ura­ni­den, 1926/27

Kö­nig Lau­r­ins Man­tel (Al­ter­na­tiv­ti­tel: Un­sicht­ba­re Kräf­te), 1928

Kaut­schuk, 1929/30

Be­fehl aus dem Dun­kel, 1932/33

Der Wett­flug der Na­tio­nen. Prof.-Eg­gerth-Se­rie. Teil 1, 1932/33

Ein Stern fiel vom Him­mel. Prof.-Eg­gerth-Se­rie. Teil 2, 1933

Das stäh­ler­ne Ge­heim­nis, 1934

Atom­ge­wicht 500, 1934/35

Him­mels­kraft, 1937

Le­bens­strah­len, 1938

Land aus Feu­er und Was­ser. Prof.-Eg­gerth-Se­rie. Teil 3, 1939

Treib­stoff SR. (Al­ter­na­tiv­ti­tel: Flug in den Wel­ten­raum oder Fahrt in den Wel­traum.) 1939/40

Zum Buch

Krieg zwi­schen Eu­ro­pa und dem Gel­ben Reich.

Neues­te Er­fin­dun­gen und auf­stre­ben­der Pio­nier­geist be­güns­ti­gen die eu­ro­päi­sche Ex­pan­si­on nach Os­ten. Der neue Herr­scher im chi­ne­si­schen Reich, der sich als der wah­re Erbe des mäch­ti­gen Dschin­gis-Khan sieht, fühlt sich und sein Volk be­drängt. Er mo­bi­li­siert sei­ne Rie­sen­hee­re im Kampf ge­gen die ver­hass­ten Eu­ro­pä­er.

Hier zeigt sich Do­mi­nik wie­der in sei­nem Ele­ment: De­tail­lier­te Schlach­ten mit aber­wit­zi­gen Fan­ta­sie­waf­fen, tech­ni­sche Er­fin­dun­gen und aben­teu­er­li­che Span­nungs­sze­nen wech­seln ein­an­der ab.

Kom­men­tier­te und un­zen­sier­te Ori­gi­nal­fas­sung

Hinweis des Verlegers

Ich habe einen großen Teil der geo­gra­phi­schen An­ga­ben kor­ri­giert. Wo dies nicht sinn­voll oder mög­lich war, habe ich eine Fuß­no­te ein­ge­fügt. U.a. habe ich es mir auch er­laubt, das un­säg­li­che »Fri­s­ko« durch »San Fran­cis­co« zu er­set­zen. Au­ßer­dem hat­te der Au­tor die schlech­te An­ge­wohn­heit, je­des Ge­bir­ge ge­le­gent­lich auch „Al­pen“ zu nen­nen, was bei mir nicht sel­ten für Ver­wir­rung sorg­te. Ich habe da­her „Al­pen“ durch „Ge­bir­ge“ oder durch die geo­gra­phisch kor­rek­te Be­zeich­nung er­setzt.

An­sons­ten habe ich den Text auch an sei­nen ras­sis­tischs­ten Stel­len un­an­ge­tas­tet ge­las­sen. Die „gel­be Ge­fahr“ wird nicht (wie bei an­de­ren Ver­öf­fent­li­chun­gen) zur „asia­ti­schen Ge­fahr“ und Ad­li­ge nicht ver­bür­ger­licht - wie in DDR-Nach­kriegs­aus­ga­ben ge­sche­hen. Die­ner wer­den nicht zu An­ge­stell­ten, das Fräu­lein nicht zur jun­gen Frau. Die Wei­ßen wer­den nicht plötz­lich zu Eu­ro­pä­ern, die Schwar­zen nicht plötz­lich zu Afri­ka­nern, die Gel­ben nicht plötz­lich zu Asia­ten und aus Ras­sen wer­den nicht plötz­lich Kul­tu­ren.

Ich bin kein Be­für­wor­ter von nach­träg­li­cher Sprach­hy­gie­ne. Der Text ist ein Kind sei­ner Zeit, ich über­las­se es dem Le­ser selbst, sich ein Ur­teil zu bil­den.

Ihr seid das Saat­korn ei­ner neu­en Welt, Das ist der Wei­he­früh­ling, den er (Gott) will.

Uh­land »Die Wei­he des Früh­lings« (Ver sa­crum)

1

Archi­bald Wel­ling­ton Fox, der Be­richt­er­stat­ter der Chi­ca­go Press, und Ge­org Isen­brandt, ein Obe­r­in­ge­nieur der Asia­ti­schen Dyno­therm­kom­pa­gnie, gin­gen zu­sam­men den Bis­mar­ck­damm in Ber­lin ent­lang. Ihr Ziel war ein mäch­ti­ges Sand­stein­ge­bäu­de, das sich in der Nähe der Ha­vel­brücke in mo­nu­men­ta­ler Grö­ße er­hob und einen gan­zen Stra­ßen­block ein­nahm. Weit­hin glänz­te von sei­ner Front ein gol­de­nes Wap­pen. Drei Ähren, von ei­ner Si­chel um­schlun­gen. Dar­un­ter ein Mo­no­gramm aus den drei Buch­sta­ben E.S.C.

Wel­ling­ton Fox sprach: »Das war ein gu­ter Zu­fall, dass ich dich hier in Ber­lin auf der Stra­ße tref­fen muss­te. Sonst hät­te ich dich im fer­nen Tur­kes­tan1 in dei­nem Ab­schnitt am Ys­sykköl2 auf­su­chen müs­sen … wo es, wie mir scheint, für den Jour­na­lis­ten, das heißt in die­sem Fal­le Kriegs­be­richt­er­stat­ter, nächs­tens gute Ar­beit ge­ben kann.«

»Du meinst, Fox?«

»Al­ler­dings, old fel­low, mei­ne ich. Willst du die Mög­lich­keit leug­nen?«

»… will ich nicht. Aber …«

»Kein ›A­ber‹, Ge­org. Du willst mir wohl vor­rech­nen, wie viel Grad der Wahr­schein­lich­keit da­ge­gen spre­chen?«

»Du irrst, mein lie­ber Fox!«

Ru­hig, ganz gleich­gül­tig hat­te Ge­org Isen­brandt die Wor­te hin­ge­wor­fen. Auf den Jour­na­lis­ten wirk­ten sie wie ein Blitz in der Nacht. Ei­nen Au­gen­blick blieb er wie an­ge­wur­zelt ste­hen.

»Was willst du sa­gen, Ge­org?«

Er dräng­te an den Freund her­an und sah ihm for­schend ins Ge­sicht.

»Ich mei­ne, dass er­heb­lich vie­le Gra­de der Wahr­schein­lich­keit da­für spre­chen … müss­ten. Aber mei­ne Mei­nung wird von dem Di­rek­to­ri­um der E.S.C. lei­der nicht ge­teilt.«

»Ge­org, Krieg! … Krieg zwi­schen dem Ve­rei­nig­ten Eu­ro­pa und dem großen Himm­li­schen Reich!«

Der an­de­re nick­te stumm. Sein gleich­mä­ßig küh­les Ge­sicht blieb un­ver­än­dert. Nur ein leuch­ten­des Fun­keln sei­ner starr ins Wei­te ge­rich­te­ten Au­gen zeig­te, dass sein In­ne­res kei­nen Teil an sei­ner äu­ßer­li­chen Ruhe hat­te.

In dem Ge­hirn des Jour­na­lis­ten kreuz­ten sich wirr tau­send Ge­dan­ken. Eine Wei­le schrit­ten sie wort­los ne­ben­ein­an­der her.

»Du weißt, Wel­ling­ton, dass un­se­re Un­ter­hal­tun­gen kei­ne In­ter­views sind. Der Jour­na­list Wel­ling­ton Fox von der Chi­ca­go Press hört von un­se­ren Ge­sprä­chen nichts.«

»Kein Zwei­fel, Ge­org. Doch sag, zu wel­chem Zweck bist du hier in Ber­lin?«

»Um einen letz­ten Ver­such zu ma­chen … die Her­ren der E.S.C. zu mei­ner An­sicht zu be­keh­ren. Ich habe um fünf Uhr eine Kon­fe­renz mit ih­nen.«

»Und wenn …? Was wird dann aus dem großen Werk der E.S.C.? Den Hun­dert­tau­sen­den von eu­ro­päi­schen Sied­lern in Tur­kes­tan … und dei­nen großen Ar­bei­ten? Wer­den sie nicht durch den Krieg schwer lei­den?«

»Du fürch­test für sie? … Ich nicht, wenn man mir folgt … sie zu ver­tei­di­gen … zu si­chern auf Men­schen­al­ter … dar­auf ge­hen mei­ne Plä­ne … und wäre dazu Krieg nö­tig.«

Jede Gleich­gül­tig­keit war jetzt von dem Spre­cher ab­ge­fal­len. Ein ei­ser­ner Wil­le, eine un­beug­sa­me Ener­gie präg­te sich auf dem scharf ge­schnit­te­nen Ge­sicht mit der kan­ti­gen Stirn aus.

Stau­nen, Über­ra­schung … Be­wun­de­rung mal­ten sich in den Zü­gen des Jour­na­lis­ten. Mit ei­nem zwei­feln­den Blick maß er die Ge­stalt des eins­ti­gen Schul­ka­me­ra­den.

»Ge­org, Krieg! Das Wort riecht nach Blut!«

»Hat es stets ge­tan … und wird es im­mer tun, so­lan­ge Krieg die Ul­ti­ma ra­tio mensch­li­cher Zwis­tig­kei­ten ist … das heißt so­lan­ge Men­schen le­ben wer­den.«

Ein Au­gen­blick des Schwei­gens.

»Nur eins möch­te ich dich noch fra­gen.« Ein be­sorg­ter Un­ter­ton klang aus der Stim­me des Spre­chen­den. »Bist du dir auch be­wusst, mit wel­chem furcht­ba­ren Geg­ner Eu­ro­pa … du … zu kämp­fen ha­ben wür­dest? Das große ge­ein­te Gel­be Reich ist eine Macht, wie sie die Ge­schich­te der Völ­ker sel­ten ge­kannt hat. Sein Herr­scher, der Kai­ser Schit­su ist ein Mann vom Blut und Schla­ge des Dschin­gis-Khan.«

»Ich weiß es. Die Ge­fahr ist groß! Aber sie wird mit je­dem Jahr grö­ßer … bis sie ei­nes Ta­ges das Abend­land ver­schlin­gen wird. Des­halb heißt es, ihr zu be­geg­nen … jetzt, ehe es zu spät ist.

Der Kai­ser ist tod­krank. Ob er am Le­ben bleibt? … Wer weiß es? Stirbt er, wird man mir leich­ter fol­gen. Die Angst vor ihm ist grö­ßer als vor sei­nem Land. Doch wir sind am Ziel.«

Er deu­te­te auf den Sand­stein­pa­last, den sie jetzt er­reicht hat­ten.

»Was da drin­nen in den nächs­ten Stun­den be­schlos­sen wird, ist ent­schei­dend für das Wohl und Wehe von Mil­lio­nen Men­schen, für das Schick­sal zwei­er Ras­sen … zwei­er Kul­tu­ren.«

Un­will­kür­lich hat­te sich sei­ne Hand er­ho­ben und stand fra­gend und dro­hend ge­gen die stum­men Qua­der des Rie­sen­bau­es ge­r­eckt, der hier wie eine Trutz­fes­te3 auf dem mär­ki­schen Sand rag­te. Denn senk­te sie sich lang­sam in die des Freun­des.

»Auf Wie­der­se­hen denn heu­te Abend bei dir im Ho­tel.«

Noch ein Hän­de­druck, und Ge­org Isen­brandt trat durch das Haupt­por­tal in das Ge­bäu­de ein. Un­schlüs­sig blieb Wel­ling­ton Fox auf der Stra­ße ste­hen. Dann be­gann er, die In­schrif­ten an dem Ge­bäu­de zu stu­die­ren. In den stei­ner­nen Or­na­men­ten der Por­tal­wöl­bung wie­der­hol­ten sich das Ähren­mo­tiv und die ver­schlun­ge­nen drei Buch­sta­ben E.S.C. Jetzt ruh­te sein Blick auf den In­schrif­ten in der Höhe des ers­ten Stock­wer­kes. Breit und mas­sig leuch­te­ten von dort gol­de­ne Buch­sta­ben … Eu­ro­päi­sche Sied­lungs-Com­pa­gnie … Da­ne­ben in eng­li­scher Spra­che »Eu­ro­pean Sett­le­ments Com­pa­ny« … wie­der et­was wei­ter stand es auf rus­sisch »Je­wro­peis­ko­je Obscht­schest­wo dlja na­se­le­ni­ja Wo­sto­ka«.4

Das Haus hier war das Ver­wal­tungs­ge­bäu­de der großen, von den eu­ro­päi­schen Staa­ten mit ei­nem Mil­li­ar­den­ka­pi­tal be­grün­de­ten Sied­lungs­ge­sell­schaft, die den Über­schuss der eu­ro­päi­schen Be­völ­ke­rung seit zehn Jah­ren in Asi­en an­sie­del­te. Auf mei­len­wei­ten Län­de­rei­en, die vor­dem un­frucht­ba­re Step­pen, nach der Er­fin­dung des Dyno­therms bes­tes Acker­land ge­wor­den wa­ren. Hier in Ber­lin war der Haupt­sitz die­ser großen in­ter­na­tio­na­len und mit staat­li­chen Ho­heits­rech­ten aus­ge­stat­te­ten Ge­sell­schaft. Ihr Ar­beits­ge­biet lag in Asi­en. Dort reich­te es vom Kas­pi­schen Meer bis zu den Gren­zen des chi­ne­si­schen Rei­ches. Dort dampf­ten die Hochal­pen un­ter der Wir­kung des Dyno­therms. Dort koch­ten die großen Seen, und war­mer, über das gan­ze Jahr ver­teil­ter Re­gen schuf fünf­zig­fäl­ti­ge Ern­ten, wo frü­her wan­dern­de Kir­gi­sen kaum das Not­wen­digs­te fan­den.

Wel­ling­ton Fox war mit der Be­trach­tung des Ge­bäu­des zu Ende und ging wei­ter, dem Gru­ne­wald­park zu. Die letz­ten Wor­te sei­nes Freun­des ga­ben ihm reich­lich An­lass zum Nach­den­ken. Sei­ne Ge­dan­ken weil­ten ab­wech­selnd im Fer­nen Os­ten und im Palast der E.S.C. Und so über­sah er es, wie eine ele­gant ge­klei­de­te Ge­stalt, die ihm ent­ge­gen­kam, bei sei­nem An­blick schon von Wei­tem einen Bo­gen schlug, um auf die an­de­re Sei­te der Stra­ße zu ge­lan­gen und dann im Hau­se der E.S.C. zu ver­schwin­den.

Ein dump­fer Knall riss ihn we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter aus sei­nem Sin­nen. Der Luft­druck ei­ner schwe­ren Ex­plo­si­on brach­te ihn mo­men­tan ins Wan­ken. Mit ei­nem jä­hen Ruck warf er sich her­um und sah aus den zer­split­ter­ten un­te­ren Fens­tern des E.S.C.-Ge­bäu­des dün­ne Rauch­schwa­den zie­hen.

In­stink­tiv lief er auf den Ein­gang des Ge­bäu­des zu. Durch die auf­ge­ris­se­nen Flü­gel­tü­ren drang er in das Haus ein und stürm­te die Trep­pen em­por. Ein Ge­misch von Staub und Rauch be­nahm ihm fast den Atem. Eine schrei­en­de, in ih­rer Auf­re­gung sinn­lo­se Men­ge drang ihm ent­ge­gen. Zwi­schen­durch … dar­über hin­weg bahn­te er sich sei­nen Weg bis in das zwei­te Stock­werk, wo er den Freund wuss­te.

Hier war es ru­hi­ger. Hier ließ auch der Qualm nach. Er lief über einen Kor­ri­dor und sah die Per­son, die ihm auf der Stra­ße ent­gan­gen, in einen Sei­ten­gang ver­schwin­den. Mit ei­nem Ruck blieb er ste­hen. Ein se­kun­den­lan­ges Zö­gern. Dann schlug er den ent­ge­gen­ge­setz­ten Weg zu den Di­rek­ti­ons­zim­mern ein. Noch ehe er sie er­reicht, kam ihm Ge­org Isen­brandt mit ei­ni­gen Her­ren ent­ge­gen.

»Ge­org, was ist los?«

»Das wis­sen wir selbst noch nicht. Wir müs­sen die Un­ter­su­chung ab­war­ten.«

»Ein ver­bre­che­ri­scher An­schlag?«

»Nicht so ei­lig! War­te mit dei­nen Te­le­gram­men, bis die Un­ter­su­chung Klar­heit ge­schaf­fen hat.«

Der Don­ner ei­ner zwei­ten, schwä­che­ren Ex­plo­si­on in der Nähe ver­schlang die letz­ten Wor­te Isen­brandts. Ohne sich noch auf­hal­ten zu las­sen, stürm­te der Ame­ri­ka­ner dem Weg nach, den der Frem­de vor­her ein­ge­schla­gen hat­te. Die zwei­te Ex­plo­si­on hat­te neue Rauch­men­gen ent­wi­ckelt. Er konn­te kaum se­hen und at­men, lief durch einen an­de­ren Kor­ri­dor, rüt­tel­te an ver­schlos­se­nen Tü­ren und stieß schließ­lich auf eine Tür, die nach­gab. Sah zu­erst einen mäch­ti­gen Tre­sor, der durch die Ge­walt der Ex­plo­si­on von oben bis un­ten auf­ge­ris­sen war. Die Kraft der Spren­gung hat­te die in ihm ver­wahr­ten Do­ku­men­te durch das Zim­mer zer­streut. Sah dann nur un­deut­lich in dem rauch­ge­füll­ten Raum, wie der Ge­such­te be­müht war, meh­re­re Schrift­stücke in sei­nen Ta­schen ver­schwin­den zu las­sen. Mit ein paar ti­ge­r­ähn­li­chen Sät­zen schoss Wel­ling­ton auf ihn los. Doch noch schnel­ler hat­te der Frem­de die Tür zum Ne­ben­zim­mer auf­ge­ris­sen. Als Wel­ling­ton Fox die Klin­ke be­rühr­te, hör­te er, wie der Schlüs­sel im Schloss von au­ßen um­ge­dreht wur­de. Im sel­ben Au­gen­blick ließ er sie auch schon los, um über den Flur einen an­de­ren Ein­gang zu die­sem Zim­mer zu su­chen. Doch um­sonst! Alle Tü­ren wa­ren ver­schlos­sen.

Wel­ling­ton Fox blieb ste­hen. Das Ver­geb­li­che ei­ner wei­te­ren Ver­fol­gung hier im Ge­bäu­de war ihm klar.

Wo ihn fin­den? … Ah! … Schon lief Fox dem Haupt­por­tal zu.

*

Sei­ne Ex­zel­lenz Herr Wang Tschung Hu, der chi­ne­si­sche Bot­schaf­ter beim Deut­schen Rei­che, saß al­lein in sei­nem Ar­beits­zim­mer. Ner­vös spiel­te sei­ne Rech­te mit ei­nem Blei­stift, wäh­rend sein Auge den lang­sa­men Fort­gang des Uhr­zei­gers auf dem Zif­fer­blatt ver­folg­te. Hier war er al­lein, hier brauch­te er nicht die un­er­schüt­ter­li­che Mie­ne ei­nes gel­ben Di­plo­ma­ten zur Schau zu tra­gen, und sei­ne Un­ge­duld kam in sei­nen Zü­gen und Be­we­gun­gen deut­lich zum Aus­druck. Er un­ter­brach das Spiel mit dem Blei­stift nur, um hin und wie­der das Te­le­fon vom Ha­ken zu neh­men und kur­ze Fra­gen zu stel­len.

Die Uhr hub aus und schlug halb sechs. In ih­ren ver­hal­len­den Schlag misch­te sich der Klang der Te­le­fonglo­cke.

Die Mel­dung des Se­kre­tärs, dass Mr. Col­lin Ca­me­ron so­eben die Bot­schaft be­tre­ten habe.

Wang Tschung Hu leg­te den Ap­pa­rat wie­der auf die Ga­bel, such­te einen Mo­ment zwi­schen ver­schie­de­nen, an dem großen Di­plo­ma­ten­tisch be­fes­tig­ten He­beln und leg­te einen da­von um. Im glei­chen Au­gen­blick war ein Te­le­fon auf sei­nem Tisch mit den Lauschmi­kro­fo­nen ver­bun­den, die sich in der Woh­nung des Haus­meis­ters der Bot­schaft be­fan­den. Je­des Wort, was dort un­ten ge­spro­chen oder auch nur ge­flüs­tert wur­de, muss­te hier oben klar und deut­lich aus dem Ap­pa­rat kom­men.

Die Grün­de, die Sei­ne Ex­zel­lenz Herrn Wang Tschung Hu ver­an­lasst hat­ten, die­se Ver­bin­dung zwi­schen sei­nem Schreib­tisch und der Woh­nung sei­nes Haus­meis­ters her­stel­len zu las­sen, wa­ren von be­son­de­rer Art. Wu­tin Fang, der da un­ten in der be­schei­de­nen Stel­lung ei­nes Haus­meis­ters wirk­te, war in Wirk­lich­keit chi­ne­si­scher Ge­ne­ral­stabs­of­fi­zier und Chef der gel­ben Spio­na­ge in Eu­ro­pa. Der Bot­schaf­ter muss­te je­der­zeit of­fi­zi­ell ver­si­chern kön­nen, dass er Leu­te, wie jetzt die­sen Mr. Col­lin Ca­me­ron, nicht ken­ne, nie­mals ge­se­hen oder ge­spro­chen habe. Aber Sei­ne Ex­zel­lenz hat­ten ein großes und be­rech­tig­tes In­ter­es­se dar­an, zu er­fah­ren, was sol­che Leu­te mit Wu­tin Fang ver­han­del­ten. So saß Wang Tschung Hu jetzt mit ge­spann­ter Auf­merk­sam­keit vor dem Te­le­fon. Stim­men er­klan­gen aus dem Ap­pa­rat.

»Was brin­gen Sie uns, Mr. Ca­me­ron?«

»Schlech­te Neu­ig­kei­ten, Herr Wu­tin Fang. Es hat nicht ge­klappt.«

»Ich ver­ste­he nicht, wie das mög­lich war?«

»Wie das mög­lich war? … Ich hat­te Ih­nen den ge­nau­en Plan be­sorgt … Die Lage der Tre­so­re, in de­nen die Kom­pa­gnie die Pro­ben und Ana­ly­sen des neu­en Dyno­therms auf­be­wahrt. Die Tre­so­re soll­ten ge­sprengt wer­den. Ihre Leu­te ha­ben ein harm­lo­ses Feu­er­werk ver­an­stal­tet, aber kei­ne Spren­gung … Ein paar Fens­ter­schei­ben in Trüm­mern, ein paar Tür­fül­lun­gen her­aus­ge­schla­gen, aber die Tre­so­re kaum be­schä­digt … Ganz un­mög­lich, an die Pro­ben des Dyno­therms her­an­zu­kom­men … ich habe das Men­schen­mög­li­che ver­sucht … Mehr, als für mei­ne Per­son gut war …«

»… Ver­dammt … wir müs­sen die Ana­ly­sen ha­ben. Wenn es heu­te nicht ging, muss es das nächs­te Mal ge­hen.«

»Hal­ten Sie die Di­rek­to­ren der Kom­pa­gnie nicht für Kin­der! Ein zwei­tes Mal wird sich eine Ge­le­gen­heit nicht wie­der bie­ten … ge­wiss nicht … ganz be­stimmt nicht … da­für wird der Er­fin­der des neu­en Stof­fes sor­gen. Isen­brandt war wäh­rend der Spren­gung im Ge­bäu­de. Ich sah ihn, wie er mit den Di­rek­to­ren das Haus ver­ließ. Mei­nen Sie, der wüss­te nicht, um was es sich ge­han­delt hat …«

»Wir wer­den die Ana­ly­sen be­kom­men. Wenn nicht mor­gen, dann über­mor­gen.«

»Ma­chen Sie, was Sie wol­len … ich kann mich mit der An­ge­le­gen­heit nicht mehr ab­ge­ben … Ich habe mich schon zu sehr ex­po­niert. Ich bin ge­se­hen wor­den …«

»Von wem … von Isen­brandt?«

»Nein. Der hat­te an­de­re Din­ge im Kopf und kennt mich auch nicht … ein Freund von ihm, ein ame­ri­ka­ni­scher Jour­na­list … ein ver­damm­ter Schnüff­ler. Ich ken­ne ihn von San Fran­cis­co her … Jetzt kennt er mich auch. Ich ver­mu­te bei­na­he, dass er mich schon von drü­ben her ver­folgt. Ich muss Ber­lin von hier aus so­fort ver­las­sen.«

»Ihr Be­richt ist we­nig be­frie­di­gend, Mr. Ca­me­ron … Sie ha­ben uns zu dem Un­ter­neh­men ver­an­lasst … Jetzt zie­hen Sie sich zu­rück.«

»Weil ich muss. Die Grün­de habe ich Ih­nen ge­sagt. Das Un­ter­neh­men ist fehl­ge­schla­gen, weil Ihre Leu­te schlecht ge­sprengt ha­ben … Im­mer­hin … Ich habe dar­aus zu ma­chen ver­sucht, was sich ma­chen ließ. An die Ana­ly­sen in den Pan­zer­ge­wöl­ben war nicht her­an­zu­kom­men. Für den Tre­sor im ers­ten Stock reich­ten die Spreng­mit­tel, die ich bei mir hat­te …«

»Mir wur­de von zwei Ex­plo­sio­nen be­rich­tet … Ha­ben Sie …«

»Ich habe es ge­tan, weil ich es für die letz­te Ge­le­gen­heit hielt, in das Kom­pa­gnie­ge­bäu­de zu kom­men … Auf die Ge­fahr hin, ver­haf­tet zu wer­den … auf die Ge­fahr hin, nichts zu fin­den … Ich habe ge­fun­den.«

»Was ha­ben Sie …«

»Wol­len Sie, bit­te, selbst se­hen!«

Bis­her hat­ten die Lauschmi­kro­fo­ne jede Sil­be in den Ap­pa­rat des Bot­schaf­ters ge­lei­tet. Aber se­hen konn­te Wang Tschung Hu nichts. Er hör­te deut­lich das Knis­tern, wie wenn Pa­pie­re aus­ge­brei­tet und ge­ra­de ge­stri­chen wer­den.

Dann wie­der die Stim­me Col­lin Ca­me­rons: »Ich mei­ne, der Be­such hat sich im­mer­hin ge­lohnt.«

»Das Ilidrei­eck …«5

Sei­ne Ex­zel­lenz Herr Wang Tschung Hu press­te den Hö­rer mit Ge­walt ge­gen das Ohr, aber er hör­te nichts mehr. Wu­tin Fang schwieg, als habe er mit dem einen Wort schon zu viel ge­sagt. Col­lin Ca­me­ron sprach wei­ter: »Ich las­se Ih­nen die Plä­ne hier. Ich kann es nicht mehr ris­kie­ren, sie selbst nach Chi­na zu brin­gen. Die Mar­che­sa di To­resa­ni ist hier. Die kann das be­sor­gen … ich muss so­fort und auf dem schnells­ten Wege nach Ka­x­gar.«6

Wang Tschung Hu hör­te, wie Pa­pie­re ge­fal­tet wur­den und die Tür ei­nes Tre­sors in ihr Schloss fiel. Dann Blät­tern wie in ei­nem Buch und dann die Stim­me Wu­tin Fangs: »In vier­zig Mi­nu­ten geht das Ost­schiff. Sie kön­nen es noch er­rei­chen.«

Die Hän­de tief in den Ta­schen sei­nes Man­tels ver­bor­gen, ging Wel­ling­ton Fox auf der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te der Stra­ße vor der chi­ne­si­schen Bot­schaft auf und ab. Der fei­ne kal­te Re­gen schi­en sei­ner of­fen­bar recht gu­ten Stim­mung kei­nen Ab­bruch zu tun.

»Hab’ ich dich doch end­lich, mein Freund«, kam es im Selbst­ge­spräch von sei­nen Lip­pen. »Zwar nicht in mei­nen Fäus­ten, in de­nen ich dich gern hät­te. Aber dei­ne Sch­li­che ken­ne ich jetzt … und die sind schlim­mer, als ich dach­te. Ge­org wird Au­gen ma­chen, wenn ich ihm schnel­ler als die lie­be Po­li­zei vol­le Auf­klä­rung über den Tä­ter gebe. Es dürf­te jetzt auch Zeit sein, Isen­brandt et­was von mei­nen Beo­b­ach­tun­gen in den Staa­ten zu er­zäh­len … und von der Rol­le, die der Bur­sche da spielt. Isen­brandt! Isen­brandt! Du spielst ein grö­ße­res Spiel, als du ahnst … Hier ist mei­ne Ar­beit für heu­te zu Ende.«

Er woll­te sich eben dem In­nern der Stadt zu­wen­den, als das plötz­li­che Hal­ten ei­nes Au­tos vor der Bot­schaft ihn noch ein­mal still­ste­hen ließ. Er kniff die Au­gen zu­sam­men, um in der un­si­che­ren Be­leuch­tung bes­ser zu se­hen.

Eine Dame, de­ren ho­her Wuchs die Eu­ro­päe­rin ver­riet, ver­ließ den Wa­gen und schritt, von ei­nem grau­haa­ri­gen Die­ner be­glei­tet, durch den Vor­gar­ten in das Haus. Mit ei­nem Um­we­ge be­gab sich Wel­ling­ton Fox noch ein­mal auf den Bür­ger­steig vor der Bot­schaft. Als er den Wa­gen er­reich­te, kam die Be­su­che­rin mit ih­rem Die­ner be­reits wie­der aus dem Ge­bäu­de. Ein dich­ter Schlei­er ver­barg ihre Züge. Aber Wel­ling­ton Fox starr­te den bei­den nach und starr­te noch, als das Auto längst ver­schwun­den war.

»Hal­lo! Was war das? Wer­den dei­ne Au­gen schwach, Wel­ling­ton? Vor ei­ner Mi­nu­te hät­te ich noch ge­schwo­ren, dass der Die­ner ein al­ter, grau­haa­ri­ger Bur­sche war. Und jetzt hat­te er schwar­zes Haar. So schwarz wie dei­nes, mein Freund Col­lin Ca­me­ron. Lauf, Bur­sche! Wir tref­fen uns wie­der.«

*

Der Prä­si­dent Dr. Rein­hardt sprach in der Di­rek­to­ri­ums­sit­zung der Eu­ro­päi­schen Sied­lungs­ge­sell­schaft: »… über die wirt­schaft­li­chen und tech­ni­schen Er­fol­ge im letz­ten Jah­re gibt der Be­richt des Auf­sichts­ra­tes der Ge­sell­schaft ein an­schau­li­ches und er­freu­li­ches Bild. Sie ken­nen ihn ja alle. Ich möch­te nur die wich­tigs­ten Punk­te her­vor­he­ben. Die Schmelz­ar­bei­ten ha­ben mit 3,6 Mil­li­ar­den Ku­bik­me­ter Was­ser die Zif­fer des Vor­jah­res um 600 Mil­lio­nen über­trof­fen. Die Zahl der eu­ro­päi­schen Sied­ler auf un­se­ren Ge­bie­ten hat sich, die rus­si­schen nicht mit­ein­ge­rech­net, um 200.000 ver­mehrt, die auf etwa 50.000 Qua­drat­ki­lo­me­ter Neu­land an­ge­setzt sind. Auf das Ge­sell­schafts­ka­pi­tal von ei­ner Mil­li­ar­de Pfund Ster­ling wird eine Di­vi­den­de von 6 Pro­zent in Aus­sicht ge­stellt. Die Bör­se be­wer­te­te un­se­re Ak­ti­en schon seit dem Be­kannt­wer­den des neu­en Dyno­therms nach dem Ver­fah­ren un­se­res Herrn Isen­brandt mit 150 Pro­zent des Nenn­wer­tes. Sie kön­nen an Ihre Staa­ten nur Er­freu­li­ches be­rich­ten. Die Aus­sich­ten für die Zu­kunft sind eben­falls güns­tig. Ich sage nicht ›sehr güns­tig‹, denn ein vol­ler Er­folg könn­te un­se­ren Ar­bei­ten nur be­schie­den sein, wenn wir auch im Quell­sys­tem der Flüs­se schmel­zen dürf­ten, die im chi­ne­si­schen Ilidrei­eck ent­sprin­gen und in un­se­rem Ge­biet mün­den. Ich be­rüh­re hier eine hei­kle Fra­ge, über die Herr Isen­brandt ih­nen nä­he­ren Vor­trag hal­ten wird. Herr Isen­brandt hat das Wort.«

Als die­ser sich er­hob, füll­te sich der Raum mit Span­nung. Man wuss­te, dass jetzt et­was kam.

»Mei­ne Her­ren! Ich will nur ganz kurz auf die heu­ti­gen ge­walt­sa­men An­schlä­ge auf un­se­re Tre­so­re zu­rück­kom­men, um ih­nen zu sa­gen: Das war gel­be Ar­beit. Der Raub der Ana­ly­sen und Syn­the­sen des neu­en Dyno­therms ist miss­lun­gen. Der Vor­fall zeigt aber, wie gut es ist, dass wir die Fa­bri­ka­ti­on des neu­en Dyno­therms nicht wie die der al­ten Prä­pa­ra­te im Ural­ge­bir­ge be­werk­stel­li­gen, son­dern nach den mit­tel­eu­ro­päi­schen Ge­bir­gen ver­legt ha­ben. Der län­ge­re Trans­port­weg wird durch die viel ge­rin­ge­ren be­nö­tig­ten Men­gen reich­lich auf­ge­wo­gen. Der zwei­te An­schlag ist lei­der ge­lun­gen. Die Plä­ne für die Be­set­zung und Be­ar­bei­tung des chi­ne­si­schen Ili­ge­bie­tes sind fort … in chi­ne­si­schen Hän­den. Di­plo­ma­ti­sche Ver­wick­lun­gen sind ja nicht zu be­fürch­ten, da die Gel­ben dar­auf­hin kei­ne Vor­stel­lun­gen ma­chen kön­nen. Aber das Bes­te dar­an, die Über­ra­schung, ist ver­lo­ren. Wir wür­den also ge­ge­be­nen­falls einen vor­be­rei­te­ten Geg­ner fin­den. Und doch …!«

Die Ge­stalt des Spre­chers straff­te sich. Sei­ne Mie­nen schie­nen ge­wan­delt. Das wa­ren nicht mehr die Züge ei­nes Ge­lehr­ten und Er­fin­ders. Die Au­gen ei­nes großen Kriegs­man­nes wa­ren es, die einen Kampf um Sein oder Nicht­sein mit ei­nem über­mäch­ti­gen Geg­ner schau­en. Die schma­len Lip­pen fest zu­sam­men­ge­presst, die Rech­te auf der Tisch­plat­te zur Faust ge­ballt, so stand er da in se­kun­den­lan­gem Schwei­gen.

»Und doch …!« Wie eine Fan­fa­re hat­ten die Wor­te durch den Saal ge­klun­gen und je­des Ohr auf­hor­chen ge­macht.

»Wir müs­sen das Ilidrei­eck ha­ben!«

»Right or wrong!«, nick­te der Ver­tre­ter Eng­lands.

»Kei­nen Krieg!« Der Rus­se rief es und sprang er­regt auf. »Wir sind als nächs­te Nach­barn des Gel­ben Rei­ches am bes­ten über die Macht­ver­hält­nis­se in­for­miert. Wol­len Sie die blü­hen­den Flu­ren Tur­kest­ans in Wüs­ten und Rui­nen ver­wan­delt se­hen? Soll die Ar­beit ei­nes De­zen­ni­ums um­sonst ge­we­sen sein?«

Leb­haf­tes Stim­men­ge­wirr er­füll­te den Saal. Die Mei­nun­gen wa­ren ge­teilt. In er­reg­tem Für und Wi­der platz­ten die An­sich­ten auf­ein­an­der. Ge­las­sen schau­te Isen­brandt eine Wei­le auf die er­reg­ten Grup­pen. Dann er­hob er sei­ne Stim­me von Neu­em: »Um die­se Ge­fah­ren zu ver­mei­den, mach­te ich mei­nen Vor­schlag. Ich will jetzt nicht von un­se­ren Ar­bei­ten spre­chen, die ohne das Ilidrei­eck nicht zur vol­len Aus­wir­kung ge­lan­gen kön­nen. Ich will mich auch nicht auf die Tat­sa­che stüt­zen, dass das Land vor 150 Jah­ren schon ein­mal rus­si­scher Be­sitz war. Dass es Russ­land in ei­ner Zwangs­la­ge ent­ris­sen wur­de. Ein Blick auf die Kar­te hier an der Wand müss­te ge­nü­gen, um Sie von der Not­wen­dig­keit zu über­zeu­gen, dass das Ili­ge­biet un­ser wird.«

Er war an die Kar­te her­an­ge­tre­ten.

»Sie se­hen, wie hier vom Pa­mir-Pla­teau7 aus nörd­lich zie­hend das Alai­ge­bir­ge8 und an­schlie­ßend der Tian Shan9 die Gren­ze ge­gen Chi­na bil­den. Da springt auf dem 80. Län­gen­grad die Gren­ze plötz­lich vom Ge­birgs­kamm ab und geht über das of­fe­ne Ili­tal nach Nor­den, statt na­tur­ge­mäß auf dem Ge­birgs­kamm zu blei­ben.

Was ist die Fol­ge da­von? Die Gel­ben ha­ben hier ein Gla­cis,10 das eine stän­di­ge Dro­hung für uns ist. Des­sen ist sich Chi­na wohl be­wusst. Das an sich klei­ne, mä­ßig frucht­ba­re Ge­biet bie­tet wirt­schaft­lich für das große Himm­li­sche Reich kein In­ter­es­se. Aber als Aus­fall­pfor­te ge­gen den Wes­ten ist es von höchs­ter Be­deu­tung.

Die gel­be Ge­fahr ist noch im Wer­den. Sie ver­kör­pert sich nicht nur in der Per­son des großen Kai­sers Schit­su. Stirbt er, wird ein an­de­rer kom­men, frü­her oder spä­ter, un­ter dem sich die Ent­wick­lung fort­set­zen wird. Der Kai­ser ist nur ein Ex­po­nent der Ver­hält­nis­se, die sich in je­dem Fall durch­set­zen. Nicht um Au­gen­blicks­po­li­tik wol­len wir han­deln. Auf Men­schen­al­ter müs­sen wir uns si­chern.«

Ge­org Isen­brandt hat­te ge­en­det. Wie­de­r­um be­gann eine leb­haf­te, von vie­len Stim­men gleich­zei­tig ge­führ­te De­bat­te. Nicht we­ni­ge wa­ren es, die zu Isen­brandt hin­tra­ten und ihm zu­stim­mend die Hand schüt­tel­ten. Bis der Prä­si­dent sich Ge­hör ver­schaff­te.

»Mei­ne Her­ren, wir wer­den mor­gen um die­sel­be Zeit wie­der zu­sam­men­kom­men, um über das heu­te Be­spro­che­ne ab­zu­stim­men. Sie ha­ben vier­und­zwan­zig Stun­den Zeit, um sich von ih­ren Re­gie­run­gen die letz­ten In­for­ma­tio­nen zu ho­len.«

*

Die Strah­len der April­son­ne ver­gol­de­ten die Kup­peln von Oren­burg und lie­ßen sie auf­leuch­ten und schim­mern wie einst vor ei­nem Vier­tel­jahr­tau­send, als der Be­fehl der Kai­se­rin Eli­sa­beth hier die Grenz­burg ge­gen die Stäm­me Asi­ens ent­ste­hen ließ. Die Son­nen­strah­len über­flu­te­ten das Bahn­hofs­ge­bäu­de und spiel­ten und glit­zer­ten in tau­send Re­fle­xen in den ge­wal­ti­gen Ei­sen­kon­struk­tio­nen des großen Post­flug­ha­fens ne­ben dem Bahn­hof.

Zur Höhe von zwei­hun­dert Me­ter reck­ten sich die stäh­ler­nen Bau­ten. Wie fei­ne Fi­li­gran­ar­beit stand ihr Fach­werk in der sich­ti­gen Früh­lings­luft. Nur bei der Be­trach­tung aus der Nähe sah man, dass gi­gan­ti­sche Stahl­trä­ger die ein­zel­nen Ma­schen die­ses Netz­wer­kes bil­de­ten, ei­nes Fach­wer­kes, das stark ge­nug war, um in schwin­deln­der Höhe noch die schwe­ren Platt­for­men zur Auf­nah­me der großen Flug­schif­fe zu tra­gen.

Jetzt war der Flug­platz leer. Ver­las­sen stan­den die rie­si­gen Lan­dungs­an­la­gen. Schein­bar un­be­wohnt lag das Post­ho­tel in­mit­ten der park­ar­ti­gen Gar­ten­an­la­gen. Lang­sam wan­der­te der Zei­ger der großen Uhr am Turm des Ho­tels über das Zif­fer­blatt. Eben er­reich­te er die Zwölf, und mit weit­hin schal­len­den Schlä­gen ver­kün­de­te das Werk die Mit­tags­stun­de.

Auf der Nord­o­ste­cke der Lan­dungs­platt­form er­hob sich ein ei­ser­ner Turm und rag­te noch ein­mal fünf­zig Me­ter in die Höhe. In sei­nem obers­ten Teil, dicht un­ter dem Dach, von dem die rus­si­sche Post­flag­ge weh­te, la­gen die Dien­sträu­me für den Sta­ti­ons­chef und die Te­le­gra­fis­ten. Hier lie­fen Te­le­gra­fen­lei­tun­gen von al­len Tei­len des Flug­plat­zes zu­sam­men, hier stan­den die Wel­len­te­le­fo­ne, durch wel­che die Sta­ti­on je­der­zeit mit den Flug­schif­fen ver­keh­ren konn­te.

Der Sta­ti­ons­chef trat in den Te­le­gra­fis­ten­raum.

»Was Neu­es, Gre­gor Iwa­no­witsch?«

»Al­les in Ord­nung, Fe­dor Fe­do­ro­witsch.«

Der Chef blät­ter­te in dem Sta­ti­ons­buch, das auf­ge­schla­gen auf dem Tisch lag. No­ti­zen über den lau­fen­den Dienst. Te­le­fona­te aus den Schif­fen der ver­schie­de­nen Li­ni­en.

Oren­burg war ein Kno­ten­punkt für den Luft­ver­kehr. Die große eu­ro­päi­sche Li­nie Ber­lin–Mos­kau–Oren­burg spal­te­te sich hier in drei Teil­stre­cken: die si­bi­ri­sche Li­nie nach Omsk und Tomsk, die Süd­ost­li­nie nach Far­g’o­na11 und die per­si­sche Li­nie nach Te­her­an.

Der Chef über­flog die Auf­zeich­nun­gen … Das si­bi­ri­sche Schiff hat­te vor ei­ner hal­b­en Stun­de zwei Zim­mer im Ho­tel be­stellt … Das per­si­sche Schiff hat­te vor zwan­zig Mi­nu­ten ge­spro­chen. Vom Mos­kau­er Schiff war vor ei­ner Stun­de das letz­te Ge­spräch ge­kom­men. Es mel­de­te die Ab­ga­be und Über­nah­me der Post über Sa­ma­ra beim Über­schrei­ten der Wol­ga.

Der Sta­ti­ons­chef ver­glich sei­ne Uhr mit der Nor­mal­uhr über dem Ap­pa­ra­te­tisch.

»Noch fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten bis zur An­kunft des Mos­kau­er Schif­fes … Star­ke Be­set­zung heu­te … Nach den Lis­ten hun­dert­sech­zig Pas­sa­gie­re … Gre­gor Dimi­dow ist ein be­lieb­ter Ka­pi­tän … Die Rei­sen­den be­nut­zen sein Schiff mit Vor­lie­be. Ob­wohl Num­mer acht­zehn längst nicht mehr das neues­te Schiff ist …«

Das plötz­li­che An­spre­chen ei­nes der Te­le­fon­ap­pa­ra­te un­ter­brach die Wor­te des Sta­ti­ons­chefs.

»Acht­zehn … tick tick tick, tä tä tä, tick tick tick, tä tä tä …«

Acht­zehn war die Num­mer des Schif­fes Mos­kau – Oren­burg,12 das hier in fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten er­war­tet wur­de. Die Mor­se­zei­chen, die da­nach im peit­schen­den Rhyth­mus in je drei Kür­zen und drei Län­gen ge­ge­ben wur­den, be­deu­te­ten den in­ter­na­tio­na­len Not­ruf für höchs­te Ge­fahr.

Was war ge­sche­hen?

Unauf­hör­lich schrill­ten die Not­ru­fe wei­ter durch den Raum … Kei­ne te­le­fo­ni­sche Mit­tei­lung, die nä­he­re Auf­klä­rung ge­ge­ben hät­te. War die Te­le­fon­an­la­ge an Bord von Num­mer acht­zehn in Un­ord­nung ge­ra­ten? Ar­bei­te­te nur noch die Te­le­gra­fen­an­la­ge und schrie in höchs­ter Not die omi­nösen Mor­se­zei­chen in den Raum? Hat­ten die Te­le­gra­fis­ten an Bord den Kopf ver­lo­ren?

Mit ei­nem Ruck schal­te­te der Te­le­gra­fist die ei­ge­ne Sen­de­an­la­ge ein. Er woll­te rück­fra­gen … Aus­kunft über die Art der Ge­fahr ein­for­dern. Aber er kam nicht dazu.

Gera­de in die­sem Au­gen­blick be­gann es im Te­le­fon­ap­pa­rat in al­len nur denk­ba­ren Ton­ar­ten zu rau­schen und zu pfei­fen. Dem er­fah­re­nen Be­am­ten war es klar, dass es eine an­de­re star­ke Sta­ti­on mit der glei­chen Wel­len­län­ge wie Num­mer acht­zehn gab. Of­fen­sicht­lich, um die Not­ru­fe des Schif­fes zu über­tö­nen und un­wirk­sam zu ma­chen. Über sei­ne Ap­pa­ra­te ge­beugt, ver­such­te er durch schnel­le Um­stim­mung der Wel­len­län­gen die Ver­stän­di­gung wie­der­her­zu­stel­len.

Als es ihm nicht ge­lang, nahm er die Ver­bin­dung mit den Städ­ten im Um­kreis auf. Der Rei­he nach sprach er mit Ka­san und Sa­ra­tow, mit Perm, To­bolsk und Omsk. Er rief Ka­mensk und Gur­jew13 an und hat­te kei­nen Er­folg. Wohl hat­te man auch auf die­sen Sta­tio­nen den Hil­fe­ruf von Num­mer acht­zehn ver­nom­men, aber es wa­ren auch dort kei­ne Po­li­zei­schif­fe zur Ver­fü­gung. Vier­tel­stun­de auf Vier­tel­stun­de ver­strich, ohne dass sich eine Mög­lich­keit bot, dem Post­schiff Hil­fe zu sen­den.

Der Te­le­gra­fist leg­te sei­nen Ap­pa­rat wie­der auf die Wel­len­län­ge von Num­mer acht­zehn um. Jetzt herrsch­te Ruhe im Hö­rer. Das Zwi­schen­spre­chen der Stö­rungs­sta­ti­on hat­te auf­ge­hört. Aber auch das Post­schiff mel­de­te sich nicht. Ver­geb­lich rief der Te­le­gra­fist es an. Der Zei­ger auf der Nor­mal­uhr rück­te in­zwi­schen un­auf­halt­sam wei­ter. Schon war die An­kunfts­zeit, zu der es hier in Oren­burg ein­tref­fen soll­te, um zehn Mi­nu­ten über­schrit­ten.

*

Kurs Ost zu Süd­ost zog das Post­schiff Num­mer acht­zehn der Li­nie Mos­kau – Oren­burg in zehn Ki­lo­me­ter Höhe sei­ne Bahn. Vor ei­ner Stun­de hat­te es über Sa­ma­ra die letz­te Post ab­ge­ge­ben und emp­fan­gen. Noch fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten, und es soll­te in Oren­burg lan­den. Mit zwei­hun­dert Ki­lo­me­ter in der Stun­de strich der mäch­ti­ge, in den rus­si­schen Far­ben blau und weiß ge­stri­che­ne Bau durch den Äther.

Im großen Sa­lon und in den Ge­sell­schafts­räu­men ver­trie­ben sich die Pas­sa­gie­re die Zeit in der bei sol­chen lan­gen Rei­sen üb­li­chen Ma­nier. Hier sa­ßen sie beim Kar­ten­spiel. Dort las ei­ner, dort schlief ein drit­ter im be­que­men Ses­sel. An an­de­rer Stel­le wie­der ver­kürz­te man sich in sorg­lo­sem Ge­spräch die Stun­den.

In der Zen­tra­le des Schif­fes stand der Kom­man­dant Gre­gor Dimi­dow ne­ben dem wacht­ha­ben­den Of­fi­zier … und hier war die Sor­ge zu Haus. Scharf und an­ge­strengt späh­te der Ka­pi­tän nach Sü­den. Jetzt griff er zum schar­fen Glas. Ein ein­zi­ges Wort fiel von sei­nen Lip­pen:

»Wo?«

Der Wacht­ha­ben­de wies mit dem Fin­ger die Rich­tung.

»Dort!«

Mit dem Glas un­ter­such­te der Ka­pi­tän den Him­mel in der an­ge­deu­te­ten Rich­tung. Sah und such­te, wäh­rend die Fal­ten auf sei­ner Stirn sich ver­tief­ten.

»Schnel­ler als wir! … Kei­ne Flag­ge?! … Kein Zei­chen? … Was ist …«

Wäh­rend der Kom­man­dant die bei­den letz­ten Wor­te sprach, war das frem­de Schiff ver­schwun­den. In die­ser Ent­fer­nung über­haupt nur ein win­zi­ger grau­er Sche­men, war es in eine Wol­ke ge­taucht und im glei­chen Mo­ment den Bli­cken der hier so scharf Auss­pä­hen­den ent­rückt.

Der Kom­man­dant ließ das Glas sin­ken.

»Was hal­ten Sie von der Ge­schich­te?«

Der Wacht­ha­ben­de mach­te aus sei­ner Mei­nung kein Hehl.

»Da stimmt et­was nicht, Ka­pi­tän! Seit­dem wir über die Wol­ga gin­gen, treibt sich das Schiff in un­se­rer Nähe her­um. Es ist schnel­ler als wir … Ich glau­be, viel schnel­ler. Wenn es glat­te Wege gin­ge, könn­te es uns längst über­holt ha­ben, schon seit ei­ner Stun­de in Oren­burg sein, wenn’s da­hin woll­te … Ich hal­te es nicht für Zu­fall, dass es sich zeit­wei­se in den Wol­ken ver­kriecht … Ich woll­te, wir wä­ren fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten wei­ter.«

Der Ka­pi­tän ging mit un­ru­hi­gen Schrit­ten in dem klei­nen Kom­man­dan­ten­raum hin und her. Die Verant­wor­tung für das wert­vol­le Schiff mit hun­dert­sech­zig Pas­sa­gie­ren las­te­te schwer auf sei­nen Schul­tern. Soll­te er te­le­fo­ni­schen Alarm ge­ben? … Suk­kurs14 von Oren­burg er­bit­ten? … Oder soll­te er not­lan­den? Tat er es ohne Grund, wür­de die Ver­wal­tung ihm Vor­wür­fe ma­chen … Ner­vö­se Ka­pi­tä­ne wa­ren im Diens­te der rus­si­schen Post­li­ni­en nicht er­wünscht. Aber … die Verant­wor­tung.

»Dort!«

Zum zwei­ten Mal fiel das kur­ze Wort von den Lip­pen des Wacht­ha­ben­den.

Das frem­de Schiff war wie­der aus den Wol­ken her­aus­ge­tre­ten und wur­de jetzt schnell grö­ßer. Der Kom­man­dant fass­te sei­nen Ent­schluss.

»Wenn es jetzt wei­ter auf uns zu­hält, dann will es was von uns … Und dann neh­me ich die te­le­fo­ni­sche Ver­bin­dung auf und rufe um Hil­fe.«

Aber wäh­rend der Kom­man­dant dem Wacht­ha­ben­den die­sen Ent­schluss mit­teil­te, über­leg­te er schon wei­ter, wel­che Wir­kung er sich von die­ser Maß­nah­me ver­spre­chen dür­fe. Oren­burg war noch zu weit. Ganz un­mög­lich wür­de er den Flug­ha­fen vor dem frem­den Schiff er­rei­chen kön­nen … Hil­fe von dort? … Raub­über­fäl­le auf Post­schif­fe wa­ren seit zwan­zig Jah­ren sel­ten ge­wor­den. Seit­dem die »Eu­ro­pean Sett­le­ments Com­pa­ny« und die »Asia­tic Dyno­therm Com­pa­ny« hier ein­ge­grif­fen und mit ih­ren gut be­waff­ne­ten Schif­fen den Ver­kehr ge­schützt hat­ten, war das Ge­schäft für die Luf­träu­ber zu ge­fähr­lich ge­wor­den. Die Ge­gend hier galt als voll­kom­men si­cher. Die Schif­fe der bei­den Ge­sell­schaf­ten ver­sa­hen ih­ren Wacht­dienst jetzt viel wei­ter im Os­ten, im Her­zen Asi­ens. Es war un­wahr­schein­lich, dass ir­gend­ein Po­li­zei­schiff hier schnell zur Stel­le sein konn­te.

Und Schnel­lig­keit tat not. Be­deu­tend nä­her war das frem­de Schiff wäh­rend der letz­ten bei­den Mi­nu­ten her­an­ge­kom­men. Jetzt war kein Zwei­fel mehr, dass es dem Post­schiff den Weg ver­le­gen woll­te.

Auf einen Wink des Kom­man­dan­ten schal­te­te der Wacht­ha­ben­de die Sen­de­sta­ti­on ein. Au­to­ma­tisch be­gann das Ty­pen­rad zu lau­fen und gab die Num­mer des Schif­fes in den Raum … Und dann blitz­te ein Wölk­chen auf dem frem­den Schiff auf, und ein Schrap­nell pfiff dicht über das Post­schiff hin. Zwei­hun­dert Me­ter seit­lich von ihm platz­te das Ge­schoss.

Mit ei­nem Satz stand der Wacht­ha­ben­de an der Mor­se­tas­te. Mecha­nisch häm­mer­ten sei­ne Fin­ger das S.O.S., S.O.S., den in­ter­na­tio­na­len Not­ruf, und tick tick tick, tä tä tä, tick tick tick schrie die Sta­ti­on des an­ge­grif­fe­nen Schif­fes den Ruf in alle Win­de.

Jetzt galt es, und jetzt war alle Un­schlüs­sig­keit vom Kom­man­dan­ten ge­wi­chen. Er selbst stand am Steu­er und ge­bot durch den Ma­schi­nen­te­le­gra­fen den Tur­bi­nen die Her­ga­be der höchs­ten Leis­tung.

Nach Oren­burg war nicht mehr zu ge­lan­gen. Aber nach Nor­den ab­wei­chen … etwa noch Ufa er­rei­chen, ir­gend­wo im Schut­ze mensch­li­cher An­sied­lun­gen not­lan­den … Bis da­hin aber von den im­mer häu­fi­ger flie­gen­den Schrap­nel­len nicht ge­trof­fen wer­den … das blieb die letz­te Mög­lich­keit ei­ner Ret­tung.

Zick­zack­fah­ren, den Kurs so schnell und so sprung­haft än­dern, dass die da drü­ben mit ih­rem Schie­ßen im­mer zu spät kom­men muss­ten … dass nur Zu­falls­tref­fer dem ei­ge­nen Schiff ge­fähr­lich wer­den konn­ten … Zeit ge­win­nen … Raum ge­win­nen … dem Geg­ner den Wind ab­ge­win­nen!

Fie­ber­haft ar­bei­te­te das Ge­hirn des Kom­man­dan­ten, wäh­rend er sein Schiff in wil­den und im­mer wil­de­ren Zick­zack­li­ni­en durch den Äther führ­te.

Im­mer noch hieb der Wacht­ha­ben­de auf der Mor­se­tas­te das Not­zei­chen S.O.S., S.O.S. in den Raum. Der Kom­man­dant sah es in ei­nem ru­hi­gen Mo­ment, als das schwe­re Schiff, jäh durch eine Kur­ve ge­ris­sen und schief ge­legt, sich all­mäh­lich wie­der auf­rich­te­te.

»Ge­hen Sie zu den Pas­sa­gie­ren! Die Leu­te müs­sen bei dem Wen­den und Sch­lin­gern au­ßer Rand und Band kom­men … Ge­hen Sie schnell in den Sa­lon und be­ru­hi­gen Sie die Pas­sa­gie­re … ir­gend­wie! … Mit ir­gen­det­was! … Er­fin­den Sie Aus­re­den! … Er­zäh­len Sie den Leu­ten, was Sie wol­len … aber hal­ten Sie mir die Pas­sa­gie­re bei Ver­nunft …«

Der Wacht­ha­ben­de ging, den Auf­trag des Kom­man­dan­ten zu er­fül­len. Der Kom­man­dant aber gab sich ganz der im­mer schwie­ri­ger wer­den­den Auf­ga­be hin, sein Schiff dem Feu­er ei­nes Geg­ners zu ent­zie­hen, der, an Schnel­lig­keit zwei­fel­los über­le­gen, von ei­nem un­er­schüt­ter­li­chen Ver­nich­tungs­wil­len be­seelt zu sein schi­en. Er ver­such­te es im Ge­fühl sei­ner Verant­wort­lich­keit, ver­such­te es, weil ihm ein an­de­res Mit­tel als sei­ne Steu­er­kunst nicht zur Ver­fü­gung stand. Aber er sah den Un­ter­gang sei­nes Schif­fes un­ab­wend­bar vor Au­gen, wenn kein Wun­der ge­sch­ah.

*

Wel­ling­ton Fox kam von sei­nem Rund­gang durch die Ma­schi­nen­räu­me des Kom­pa­gnie­schif­fes wie­der in die Zen­tra­le zu­rück.

»Alle Wet­ter, Ge­org! Mei­ne Hochach­tung vor der Char­te­red Com­pa­ny und ih­ren Schif­fen …«

»E.S. Kom­pa­gnie!«, ver­bes­ser­te Isen­brandt. »Nicht Char­te­red Com­pa­ny! Der Name hat einen schlech­ten Klang in der Ge­schich­te. Eu­ro­päi­sche Sied­lungs­ge­sell­schaft, bit­te!«

»Mei­net­we­gen! Aber es kommt doch auf was Ähn­li­ches her­aus. Eure Ge­sell­schaft ist mit staat­li­chen Ho­heits­rech­ten aus­ge­stat­tet, hält auf ei­ge­ne Rech­nung Sol­da­ten und … wird viel­leicht ei­nes Ta­ges Krieg füh­ren … auf ei­ge­ne Rech­nung.«

»Lass, Fox! Dei­ne Ver­glei­che hin­ken zu stark!«

»Na! Je­den­falls gibt die­se Fahrt mir Stoff für einen gu­ten Be­richt nach Chi­ca­go. Etwa so … Beim Streif­kom­man­do der E.S.C. … mit dem schnells­ten Schiff der Kom­pa­gnie von Eu­ro­pa nach Asi­en … Die Streit­kräf­te der Kom­pa­gnie … Eine wirk­sa­me Sa­che wird das … Fehlt nur noch ein re­gel­rech­tes Aben­teu­er.«

Ge­org Isen­brandt saß be­quem in ei­nem Korb­ses­sel und ver­folg­te mit sach­kun­di­gen Bli­cken das Zei­ger­spiel der man­nig­fa­chen Ap­pa­ra­te in der Zen­tra­le, wäh­rend er ab und zu halb­lau­te Wor­te mit dem Kom­man­dan­ten des Schif­fes, dem bal­ti­schen Baron von Lö­wen, wech­sel­te.

Der Kom­man­dant und der wacht­ha­ben­de Of­fi­zier tru­gen schmu­cke Uni­for­men mi­li­tä­ri­schen Schnitts, wie sie in ähn­li­cher Art nur bei den ste­hen­den Hee­ren der Staa­ten zu fin­den wa­ren. An den Müt­zen der bei­den ein ei­gen­ar­ti­ges Wap­pen mit den ver­schlun­ge­nen Buch­sta­ben der E.S.C. Mi­li­tä­risch wa­ren die Uni­for­men der bei­den Of­fi­zie­re, mi­li­tä­risch auch ihre Hal­tung und Sprach­wei­se eben­so wie die­je­ni­ge der Un­ter­of­fi­zie­re und Ma­schi­nis­ten, die ge­le­gent­lich mit ei­ner Mel­dung in den Raum ka­men.

Nach den we­ni­gen Wor­ten, die er mit dem Baron von Lö­wen wech­sel­te, konn­te kein Zwei­fel blei­ben, dass das Kom­pa­gnie­schiff un­ter dem Be­fehl Isen­brandts stand.

Wel­ling­ton Fox sprach wei­ter:

»Mein Kom­pli­ment, Herr von Lö­wen! Ich ken­ne un­se­re ame­ri­ka­ni­schen Kreu­zer … Ich kann be­ur­tei­len, was ich hier ge­se­hen habe … Die Ma­schi­nen … vor­züg­lich … Ihre Aus­rüs­tung … un­über­treff­lich. Sie müs­sen bei for­cier­ter Fahrt sie­ben­hun­dert Ki­lo­me­ter in der Stun­de hin­ter sich brin­gen …«

Ge­org Isen­brandt und Archi­bald Wel­ling­ton Fox wa­ren seit zwan­zig Jah­ren eng be­freun­det. Ihre Freund­schaft da­tier­te schon aus der Zeit, in der bei­de noch in Deutsch­land auf der­sel­ben Schul­bank sa­ßen. Aus ei­ner Zeit, in der Archi­bald Wel­ling­ton Fox noch auf gut deutsch Au­gust Wil­helm Fuchs hieß.

Das Le­ben hat­te die bei­den Schul­freun­de spä­ter ge­trennt. Wal­ter Isen­brandt hat­te in Deutsch­land als As­sis­tent des Pro­fes­sors Fro­wein an der Ver­bes­se­rung des Dyno­therms mit­ge­ar­bei­tet, je­nes künst­lich her­ge­stell­ten ra­dio­ak­ti­ven Stof­fes, der in sei­nen letz­ten Aus­wir­kun­gen zur Grün­dung der großen Eu­ro­päi­schen Sied­lungs­ge­sell­schaft ge­führt hat­te.

Wel­ling­ton Fox war ei­nes Ta­ges in den Ve­rei­nig­ten Staa­ten ge­lan­det. Leu­te, die ihm viel­leicht nicht wohl­woll­ten, be­haup­te­ten, es habe da­mals hin­ter ihm merk­lich nach ver­brann­ten Schif­fen ge­ro­chen. Je­den­falls war er im He­xen­kes­sel des ame­ri­ka­ni­schen Le­bens nicht un­ter­ge­gan­gen und heu­te der an­ge­se­he­ne und hoch­be­zahl­te Kor­re­spon­dent der Chi­ca­go Press für die Din­ge in Asi­en.

Fox wand­te sich wie­der an den Ka­pi­tän.

»Ein wun­der­ba­res Schiff, Herr von Lö­wen. Es muss Freu­de ma­chen, so et­was zu füh­ren.«

»Ge­wiss, Mr. Fox. Es macht mir Freu­de, einen der schnells­ten Kreu­zer der Com­pa­ny zu füh­ren. Aber der Dienst wird auf die Dau­er ein­tö­nig. Es pas­siert nichts Auf­re­gen­des mehr, seit­dem wir die neue Flot­te ha­ben.

Wir pa­trouil­lie­ren vom Bal­kasch bis zum Al­tai. Ta­gein, tag­aus der glei­che Dienst. Es pas­siert nichts mehr. Die Zei­ten der gu­ten al­ten Luf­träu­ber­ro­man­tik sind da­hin. Vor zehn Jah­ren kam es noch öf­ters vor, dass die Post­schif­fe zwi­schen dem Aral- und Bal­kasch­see15 über der Hun­ger­step­pe über­fal­len wur­den. Da­mals muss­ten Post­schif­fe mit grö­ße­ren Wert­trans­por­ten noch im Kon­voi fah­ren. Heu­te ist das längst vor­bei … und ich möch­te auch kei­nem dazu ra­ten. Un­se­re Kreu­zer wür­den den Spaß schnell ver­der­ben … Es ist jetzt viel si­che­rer, aber, un­ter uns ge­sagt, auch viel lang­wei­li­ger.«

Ein leich­tes Lä­cheln zog über die Züge Ge­org Isen­brandts, wäh­rend er die grau­en Au­gen einen Mo­ment auf dem Kom­man­dan­ten ru­hen ließ.

»Es wäre nicht ganz aus­ge­schlos­sen, Herr von Lö­wen, dass der heu­ti­ge Tag eine klei­ne Ab­wechs­lung in Ihren Dienst bringt.«

Der Kom­man­dant sah ihn einen Au­gen­blick er­staunt, fra­gend an.

Mit ei­nem leicht hin­ge­wor­fe­nen, gleich­gül­tig klin­gen­den »Oh …« tat Isen­brandt die un­aus­ge­spro­che­ne Fra­ge ab.

Herr von Lö­wen sprach wei­ter: »Hm … Es war mir schon eine an­ge­neh­me Ab­wechs­lung, Herr Isen­brandt, als ich den Be­fehl be­kam, in for­cier­ter Fahrt nach Mos­kau zu ge­hen und Sie an Bord zu neh­men.«

Isen­brandt zog sei­ne Uhr.

»Das Post­schiff Num­mer acht­zehn muss in fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten in Oren­burg lan­den. Wie ste­hen wir?«

Der Kom­man­dant beug­te sich über die Kar­te, auf der das Be­steck der Fahrt vom Log fort­lau­fend und selbst­tä­tig auf­ge­tra­gen wur­de.

»Wir ste­hen zwan­zig Ki­lo­me­ter hin­ter Num­mer acht­zehn.«

»Hal­ten Sie den Ab­stand bis Oren­burg, wenn nicht …«

Das Wel­len­te­le­fon schlug an. Scharf und ab­ge­hackt ka­men die Mor­se­zei­chen.

»Num­mer acht­zehn, tick tick tick, tä tä tä, tick tick tick, tä tä tä …«

Herr von Lö­wen starr­te ab­wech­selnd auf den Ap­pa­rat und auf den Obe­r­in­ge­nieur. Ge­org Isen­brandt blieb un­be­wegt sit­zen. Nur sei­ne Au­gen blitz­ten.

»Also doch … äu­ßers­te Fahrt vor­aus! Dem Post­schiff nach … Ihre Ka­no­nie­re be­kom­men Ar­beit, Herr von Lö­wen!«

Ein jä­her Ruck ging durch das Wacht­schiff und warf Wel­ling­ton Fox ge­gen den Tür­pfos­ten. Jetzt ris­sen die mäch­ti­gen Ma­schi­nen den schnit­ti­gen Bau plötz­lich mit sie­ben­hun­dert Ki­lo­me­ter durch den Raum. Und jetzt sa­hen sie, was ge­sch­ah. Es war ein Raub­über­fall in bes­ter Form. Ein schnel­les, gut be­waff­ne­tes Schiff ohne Flag­ge feu­er­te un­abläs­sig hin­ter dem schwer­fäl­li­gen Post­schiff her, das sich durch schar­fe Wen­dun­gen und eine Flucht nach Nor­den dem An­griff zu ent­zie­hen ver­such­te.

Wel­ling­ton Fox war an das Fens­ter ge­sprun­gen und ver­schlang das Raub­schiff mit den Au­gen. Herr von Lö­wen sprach durch den Ap­pa­rat mit den Bat­te­ri­en. Unabläs­sig ar­bei­te­ten die au­to­ma­ti­schen Ent­fer­nungs­mes­ser und ga­ben von Se­kun­de zu Se­kun­de die er­rech­ne­ten Ent­fer­nun­gen zu den Ge­schüt­zen wei­ter.

»Hal­te dich fest, Fox!«

Die War­nung Isen­brandts kam zu spät. Der schwe­re Don­ner ei­nes Schus­ses, und gleich­zei­tig führ­te das Schiff un­ter der Ge­walt des Rück­sto­ßes eine Sch­lin­ger­be­we­gung aus, die den Be­richt­er­stat­ter der Chi­ca­go Press der Län­ge nach auf den Fuß­bo­den schleu­der­te. Mit der Ge­wandt­heit ei­ner Kat­ze sprang er wie­der auf und klam­mer­te sich an der Fens­ter­brüs­tung fest.

»Dicht Back­bord vor­bei, Ge­org!«

Schon roll­te ein zwei­ter Don­ner, und der Rück­stoß des zwei­ten Schus­ses leg­te das Kom­pa­gnie­schiff schwer über.

Wel­ling­ton Fox ver­gaß alle Vor­sicht und mach­te einen Freu­den­sprung.

»Hur­ra, der hat ge­ses­sen! Ein Back­bord­pro­pel­ler ist beim Teu­fel … ko­los­sa­le Frech­heit! Die Hun­de las­sen nicht lo­cker … Schie­ßen wie ver­rückt auf das Post­schiff …«

Beim letz­ten Wor­te mach­te Wel­ling­ton Fox wie­der Be­kannt­schaft mit dem Fuß­bo­den. Ein drit­ter Schuss war aus den Roh­ren des Kom­pa­gnie­schif­fes ge­fah­ren.

»Ich rate dir wirk­lich, dich fest­zu­hal­ten, Fox.«

Ge­org Isen­brandt sag­te es mit un­er­schüt­ter­li­cher Ruhe, wäh­rend er durch ein gu­tes Glas die Schuss­wir­kun­gen auf dem Raub­schiff be­ob­ach­te­te.

»Auch ein Steu­er­bord­pro­pel­ler … gut! … Das hat in die Bat­te­rie ge­schla­gen …«

Ru­hig und lei­den­schafts­los stell­te er die ein­zel­nen Tref­fer fest. Ohne Pau­se krach­ten jetzt die acht Schnell­feu­er­ge­schüt­ze des Kom­pa­gnie­schif­fes und schleu­der­ten einen Strom von Stahl und Dy­na­mit auf das Raub­schiff hin. Aber ob­schon schwer ge­trof­fen, setz­te dies den An­griff auf das Post­schiff fort.

Nur noch aus ei­nem Rohr ver­moch­te es jetzt zu feu­ern, aber es feu­er­te, bis ein Tref­fer des Kom­pa­gnie­schif­fes auch dies letz­te Rohr in Trüm­mern schlug.

Ge­org Isen­brandt kniff die Lip­pen zu­sam­men.

»Halt! … Das darf nicht sein … Herr von Lö­wen!«

Der Kom­man­dant folg­te mit den Bli­cken dem Fin­ger des Obe­r­in­ge­nieurs. Ein gel­bes Pünkt­chen lös­te sich von dem Raub­schiff und sank in die Tie­fe. Der Kom­man­dant sprach durch das Te­le­fon. In dich­ten Sal­ven feu­er­te das Kom­pa­gnie­schiff. Wei­ße Schrap­nell­wölk­chen um­hüll­ten das nie­der­sin­ken­de gel­be Fleck­chen und dann … ganz plötz­lich war das ver­schwun­den, wie weg­ge­wischt aus dem blau­en Him­mel.

Aber schon tropf­te es wei­ter aus dem tod­wun­den Raub­schiff. Ein zwei­ter, drit­ter, vier­ter und fünf­ter Fall­schirm lös­ten sich fast gleich­zei­tig von ihm und san­ken nach un­ten.

Wel­ling­ton Fox hielt sich mit der Rech­ten am Fens­ter­griff und schlug sich mit der Lin­ken auf die Schen­kel.

»Num­mer zwei ist futsch … Num­mer drei ist ge­trof­fen … den Fünf­ten hat’s ge­fasst … der Vier­te … aber der Vier­te … Ge­org … der Vier­te kommt durch.«

Die Ge­schüt­ze des Kom­pa­gnie­schif­fes ar­bei­te­ten wie Schnell­feu­er­pis­to­len. Die Wol­ken der plat­zen­den Schrap­nel­le um­hüll­ten den vier­ten Fall­schirm so dicht, dass man das Gelb sei­ner Form nicht mehr zu er­ken­nen ver­moch­te.

»Jetzt hat’s ihn! … Nein, da ist er noch … jetzt hat’s ihn doch … nein … na … ich weiß nicht …«

Wel­ling­ton Fox stieß die Wor­te mit der Lei­den­schaft­lich­keit ei­nes Jä­gers her­vor, wäh­rend er das Schick­sal des vier­ten Fall­schirms ver­folg­te.

In den letz­ten Mi­nu­ten war das Kom­pa­gnie­schiff dem be­we­gungs­lo­sen Raub­schiff im­mer nä­her ge­kom­men. Noch ein­mal drei Schüs­se aus den schwers­ten Roh­ren. Trüm­mer flo­gen auf. Dann brach das füh­rer­lo­se Schiff in drei Tei­len aus­ein­an­der. Schwer wie Stei­ne stürz­ten sie in die Tie­fe und schlu­gen dumpf auf den Bo­den auf. Die Roh­re des Kom­pa­gnie­schif­fes schwie­gen. Un­wahr­schein­lich wirk­te die Stil­le nach dem Ge­tö­se des vor­an­ge­gan­ge­nen Kamp­fes. Der Kom­man­dant brach als Ers­ter das Schwei­gen.

»Hor­ri­do! Herr Isen­brandt … Das war also Ihre klei­ne Ab­wechs­lung!? Der Sieg war ja nicht schwer. Aber im­mer­hin …«

Isen­brandt trat auf ihn zu und schüt­tel­te ihm die Hand.

»Das war gute Ar­beit, Herr von Lö­wen. Es wa­ren nicht die hun­dert oder zwei­hun­dert Pas­sa­gie­re des Post­schif­fes, die Sie vor ei­nem schlim­men Tode be­wahrt ha­ben … Denn of­fen­sicht­lich ging die Ab­sicht der Pi­ra­ten nicht auf Raub, son­dern auf Ver­nich­tung … Es war dies­mal mehr …«

Herr von Lö­wen blick­te den Spre­cher zwei­felnd an.

»Also … Es war gute Ar­beit, mein Herr von Lö­wen. Die Kom­pa­gnie wird Ih­nen Dank wis­sen. Doch nun run­ter! Be­se­hen wir uns die Stre­cke in der Nähe.«

Im schnel­len Gleit­flug stieß der star­ke Kreu­zer in die Tie­fe. Nach we­ni­gen Mi­nu­ten setz­te er dicht ne­ben den Über­res­ten des ab­ge­schos­se­nen Schif­fes auf.

Mit dem Kom­man­dan­ten stan­den Ge­org Isen­brandt und Wel­ling­ton Fox zwi­schen den Trüm­mern des Wracks. Ver­bo­ge­nes Fach­werk, zer­fetz­te Ble­che, zer­schla­ge­ne Trans­mis­sio­nen. Kaum mög­lich, sich durch den Wirr­warr einen Weg zu bah­nen. Jetzt wa­ren sie an der Bat­te­rie. Zwi­schen den zer­trüm­mer­ten La­fet­ten la­gen die Über­res­te mensch­li­cher Kör­per. Zur Not lie­ßen sich Ras­se und Haut­far­be er­ken­nen.

»Mon­go­len … mon­go­li­sche Räu­ber?«

Zwei­felnd brach­te der Kom­man­dant die Wor­te her­vor.

»Je­den­falls Gel­be, Herr von Lö­wen! Gel­be! Es ist wich­tig, dass Sie das in Ihrem Be­richt an die Ge­sell­schaft be­to­nen … Was macht Num­mer acht­zehn?«

»Ah! … Da!«

Der Kom­man­dant deu­te­te nach Nord­os­ten.

»Es hat wie­der Rich­tung Oren­burg ge­nom­men. Sei­ne Be­schä­di­gun­gen schei­nen nicht all­zu schwer zu sein. Es er­reicht mit ei­ge­ner Kraft den Ha­fen.

Wir soll­ten bis Far­g’o­na durch­fah­ren, Herr Isen­brandt. Mit Ih­rer Zu­stim­mung wür­de ich in­des gern in Oren­burg zwi­schen­lan­den. Für die wei­te­ren Er­mitt­lun­gen und mei­nen Be­richt wäre es wün­schens­wert.«

»Bit­te, Herr von Lö­wen!«

We­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter er­hob sich das Kom­pa­gnie­schiff und setz­te den Kurs mit for­cier­ter Fahrt auf Oren­burg.

Tur­kes­tan (per­sisch »Land der Tür­ken«) war die per­si­sche Be­zeich­nung ei­ner nicht fest um­ris­se­nen zen­tralasia­ti­schen Re­gi­on, die sich vom Kas­pi­schen Meer im Wes­ten bis zur Wüs­te Gobi im Os­ten er­streck­te. Das Ge­biet um­fass­te rund 2.500.000 km² und ge­hört im We­sent­li­chen heu­te zu sie­ben Staa­ten, u.a. Ka­sachs­tan, Kir­gi­sis­tan, Ta­d­schi­kis­tan, Us­be­kis­tan und Turk­me­nis­tan.  <<<

Der Ys­sykköl (kir­gi­sisch »hei­ßer See«) ist der größ­te See in Kir­gi­sis­tan.  <<<

Burg, Fes­tung  <<<

»Eu­ro­päi­sche Ge­sell­schaft für die Be­völ­ke­rung des Os­tens«  <<<

Der Ili ist ein 1001 km lan­ger Fluss in Chi­na und Ka­sachs­tan.  <<<

Haupt­stadt des gleich­na­mi­gen Re­gie­rungs­be­zirks, ge­le­gen im (heu­ti­gen) Ui­gu­ri­schen Au­to­no­men Ge­biet Xinji­ang der Volks­re­pu­blik Chi­na, ist eine Oa­sen-Stadt und bil­det einen wich­ti­gen Kno­ten­punkt der Sei­den­stra­ße.  <<<

Der Pa­mir ist ein Hoch­ge­bir­ge in Zen­trala­si­en, das zum Dach der Welt ge­zählt wird.  <<<

Das Alai­ge­bir­ge oder die Alai­ket­te oder der Alai ist ein zen­tralasia­ti­sches Hoch­ge­bir­ge.  <<<

Der Tian Shan ist ein bis zur Höhe von 7439 m auf­ra­gen­des Hoch­ge­bir­ge in der zen­tralasia­ti­schen Groß­land­schaft Tur­kes­tan.  <<<

un­ge­deck­tes, un­ge­si­cher­tes Ge­län­de  <<<

Far­g’o­na ist die Haupt­stadt der Pro­vinz Far­g’o­na im Os­ten von Us­be­kis­tan und liegt im Ferg­ha­na­tal.  <<<

Oren­burg ist die Haupt­stadt der Oblast Oren­burg im Fö­de­ra­ti­ons­kreis Wol­ga im eu­ro­päi­sches Russ­land.  <<<

das heu­ti­ge Aty­rau in Ka­sachs­tan  <<<

Un­ter­stüt­zung  <<<

Der Bal­chasch­see (zu deutsch »Sumpf-See«) ist ein ab­fluss­lo­ser See, der in der wüs­ten­haf­ten Step­pe des öst­li­chen Ka­sachst­ans (Asi­en) liegt.  <<<

2

Num­mer acht­zehn steu­er­te von Nor­den her den Oren­bur­ger Ha­fen an. Es fuhr schwer­fäl­lig, als ob ein Teil sei­ner Ma­schi­nen au­ßer Be­trieb sei. Der mäch­ti­ge Rumpf lag nach Back­bord über, als ob das Gleich­ge­wicht ge­stört sei. Aber es fuhr doch mit ei­ge­ner Kraft und kam dem Flug­ha­fen von Mi­nu­te zu Mi­nu­te nä­her.