Die Spur des Todes - Meg Gardiner - E-Book

Die Spur des Todes E-Book

Meg Gardiner

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
Beschreibung

Flieh, wenn du kannst!

In einer entlegenen Hütte im Hinterland von San Francisco findet Sarah Keller ihre blutüberströmte Schwester Beth. Die Sterbende fleht Sarah an, ihre gerade geborene Tochter vor den Fängen einer fanatischen Sekte zu schützen. Bevor sie mehr sagen kann, stirbt sie. Ihre Verfolger dicht auf den Fersen, flieht Sarah mit dem Baby quer durchs Land. Eine gefahrvolle Reise ins Ungewisse beginnt.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 570

Veröffentlichungsjahr: 2014

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DAS BUCH

Nachdem sie ihre Schwester Beth blutüberströmt und schwer verwundet in einer entlegenen Hütte im Hinterland von San Francisco aufgefunden hat, flieht Sarah Keller mit ihrer Nichte Zoe, einem Neugeborenen, durch den Wald. Der Sterbenden hat sie geschworen, dass sie sich um das Kind kümmern und es um jeden Preis vor zwei Männern schützen wird: vor Nolan Worthe, dem Vater des Babys, und vor Eldrick Worthe, dem Großvater und Oberhaupt einer fanatischen christlichen Sekte. Doch kaum hat Sarah die Hütte verlassen, steht Nolan vor ihr.

DIE AUTORIN

Meg Gardiner wuchs mit zwei Schwestern und einem Bruder im kalifornischen Santa Barbara auf. Nach dem Abschluss des Jurastudiums an der Stanford Law School praktizierte sie zunächst als Anwältin, bevor sie ihren Beruf aufgab und nach England übersiedelte. Dort begann sie zu schreiben und veröffentlichte im Jahr 2002 ihr Romandebüt. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern nahe London. Zuletzt im Heyne Taschenbuch erschienen: Die Zeugin.

LIEFERBARE TITEL

Schmerzlos – Vermisst – Gottesdienst – Rachsucht – Gefürchtet – Die Beichte – Die Strafe – Die Buße – Todesmut – Die Zeugin

MEG

GARDINER

DIE SPUR

DES TODES

THRILLER

Aus dem Amerikanischen

von Ulrike Clewing

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe The Shadow Tracer

erschien bei Dutton, USA

Vollständige deutsche Erstausgabe 01/2015

Copyright © 2013 Meg Gardiner

Copyright © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

© John Eastcott and Yva Momatiuk/Getty Images;

John Miles/Getty Images; Paul Knight/Trevillion Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-10167-1

www.heyne.de

1

Wie tausend spitze Nadeln peitschte der Wind Sarah Keller den Schnee ins Gesicht. Rennend glitt sie auf Blättern und Schlamm immer wieder aus. Es gab keinen Weg. Um sie herum nichts als Wald. Tannen und Ponderosa-Kiefern standen dicht an dicht. Das Baby wand sich in ihren Armen.

Sarah zog die Decke um Zoes winzige Schultern fest. »Alles ist gut«, flüsterte sie mit abgehackter Stimme. »Pst.«

Zweige stellten sich ihnen in den Weg, Kamelien mit roten Blüten. Das Baby schützend, drängte sie an ihnen vorbei. Ihr Fuß verfing sich unter einer Wurzel.

»O nein …«

Sie sank auf die Knie, rutschte aus und hielt Zoe fest umklammert. »Verdammt.«

Sie zügelte sich. Der Wind konnte ihre Stimme weitertragen. Verflucht noch mal.

Sie rappelte sich wieder auf. Zoe verzog das Gesicht, ihre Händchen unter dem Kinn geballt. Das Baumwollmützchen war verrutscht. Sarah setzte es gerade.

»Alles in Ordnung. Alles wird gut. Pst.«

Erde von ihrer Hand überzog Zoes Wange. Der Winzling öffnete die Augen, begann leise zu quengeln und wandte sein Gesicht von den beißenden Eiskristallen ab.

»Ruhig, ganz ruhig.« Bitte. Sie wischte Zoe das Gesicht ab und stutzte. Blut von ihrer Handfläche hatte sich auf der Wange der Kleinen verteilt.

Sie drehte die Hand um. »Ach …«

Eine Wunde, ein langer Schnitt zog sich über die Handfläche. Sie erschrak kurz, ein derber Spalt, scharf und empfindungslos, bis der Schmerz zu ihr drang und unerträglich wurde.

Sie sah über ihre Schulter, über die verschlungenen Wurzeln den Weg hinauf, den sie durch den Wald gestürmt war. Hinter raschelnden Zweigen lag das Haus ruhig und dunkel im fremdartig schattenlosen Licht des Morgens verborgen. Sarah blinzelte vor Schreck, vor Schmerz und weil sie weinte.

Das Haus wirkte unscheinbar und auf unangenehme Weise befremdlich. Die Türen waren geschlossen, die Fensterläden heruntergelassen. Verlassen. Obwohl sie ihren Mantel bis zu den Ohren hochgeschlagen hatte, bohrte sich die Kälte in sie hinein. Dem Haus schien die Seele gestohlen worden zu sein.

Sie wandte sich von ihm ab und von allem darin. Vorbei. Sie, Zoe, alles – vorbei. Mit bebender Brust kämpfte sie sich zwischen den Bäumen hindurch.

Ihr Wagen stand ein paar Hundert Meter entfernt in einer Kehre. Ihr Instinkt hatte sie gewarnt, als sie den Berg hinaufgefahren war, ganz leise, seufzend: Halte auf dem Weg nicht an, fahr weiter. Da ist etwas, das dich beobachtet. Es war ein idyllisches Waldstück, abgelegen in den Bergen, unweit der Küste im Süden von San Francisco. Einsam, unberührt, mitten in den Redwoods. California Dreamin. Ein wahrer Albtraum.

Und es schneite. Verdammt, es schneite, keine zehn Meilen vom Strand entfernt. Der Wind blies dem Baby die Flocken ins Gesicht. Die Kleine wand sich ab und fing erneut an zu quengeln. Sarah zog die Decke höher.

»Pst. Ich halte dich ganz fest.«

Sechs Wochen war sie alt. Kaum alt genug, Sarahs Finger zu greifen und zu lächeln. Und jetzt das.

Warum? Warum jetzt? Gerade erst waren sie nach Hause gekommen. Hatten eine gute Fahrt gehabt. Den Spießrutenlauf hatten sie hinter sich gebracht und waren heil davongekommen. Alles war gut.

Nur, das war es eben nicht. Ein Kribbeln stieg Sarah den Nacken hinauf. Erneut blickte sie sich um. Im Schutz der Kiefern kaum noch zu erkennen, wirkte das Haus gespenstisch. Ausdruckslos blickten die Fenster sie an.

Unter dem Tosen des Windes drang ein Geräusch zu ihr, ein dunkler Strom, der anzuschwellen schien. Zitternd drehte sie sich um und setzte ihren Weg zur Spitzkehre fort.

Der Mann tauchte direkt vor ihr auf, als hätten die düsteren Untiefen zwischen den Bäumen Gestalt angenommen.

»O Gott.« Abrupt und völlig außer Atem blieb sie stehen und zog Zoe an sich.

Er stellte sich ihr fast geräuschlos in den Weg. Seine dunklen Augen wirkten bedrohlich, sein Gesicht war gerötet vom Wind. Er sprach mit tiefer Stimme.

»Bleib stehen.«

Ihre Brust bebte. »Du kommst zu spät.«

Hinter sich vernahm sie ein immer lauter werdendes Knistern. Das fahle Licht des Waldes flackerte und färbte sich orange. Es verlieh dem Schnee einen bronzenen Schimmer und spiegelte sich in seinen Augen wider. Das Haus stand in Flammen.

Er stand zwischen ihr und dem Wagen. Zoe entfuhr ein zartes Wimmern. Sarah trat einen Schritt zurück, bemüht, ihren Blick nicht in Richtung Kehre zu lenken.

Mit erhobener Hand gebot er ihr Einhalt. »Tu es nicht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bleibe nicht hier.«

Laut klirrend platzten die Fenster des Hauses und flogen hinaus. Er erstarrte. Den Blick in die Ferne gerichtet, griff er in seine Jacke und zog eine halb automatische Pistole heraus.

Er hielt sie in der Hand, als wäre damit jegliche Diskussion beendet und jede Frage beantwortet, die sie stellen könnte. Aber der Wind zerrte an den Bäumen, das Schneegestöber nahm zu. Geisterhafte Wesen schienen sich um sie herum zu erheben. Sie rührte sich nicht. Denn der Wald war finster, und er war nicht der Einzige, der eine Waffe trug.

2

Fünf Jahre später: heute

9:03 am Vormittag. Sarah machte ein Foto draußen vor der Gedenkstätte und schob ihr Handy wieder in die Jeanstasche. Erinnerungsstücke und Briefe flatterten in der lauen Frühlingsluft am Maschendrahtzaun. Fotos, Blumen und kleine Fähnchen. Plüschteddys. Sie stand allein am Eingang, aber solange sie sich alles so andächtig ansah, würde man sie eher für eine Touristin als für eine Bedrohung halten.

Nicht für eine Stalkerin und schon gar nicht für eine Diebin.

Es war ein warmer Vormittag. Der Himmel schien aus blauem Porzellan zu bestehen. Der morgendliche Berufsverkehr quälte sich über die Harvey Avenue in die Innenstadt. Auf der anderen Straßenseite stand der weinrote Porsche. Abgeschlossen. Unbewacht. Der Fahrer hatte ihn vor elf Minuten dort abgestellt. Sarah hatte er nicht bemerkt. Er betätigte die Fernbedienung und ging. Gedankenverloren ließ er den 911er zurück, ein 300-PS-Dauerlutscher. Sie marschierte weiter am Zaun entlang.

Keine fünfzig Meter weiter drängelte sich eine Gruppe Schulkinder vor dem Museum. Sie hüpften herum und kicherten, während die Lehrer und begleitenden Eltern sie durch die Eingangstüren schoben.

Lasst sie doch lachen, dachte Sarah. Die Wasseroberfläche des riesigen Bassins, in dem sich das Mahnmal spiegelte, schien das Geräusch zurückzuwerfen. Lasst es widerhallen, den Platz mit Leben erfüllen.

Sie ging weiter am Zaun entlang. Heute Morgen hatte sie sich für ein Rodeo-Outfit entschieden: tief sitzende Jeans und ein Gürtel mit einer schweren silbernen Spange. Dazu ein kariertes Arbeitshemd, das sie über einem weißen Tanktop zusammengeknotet hatte, und Cowboystiefel, wie sie Mädchen aus der Großstadt tragen. Sie sah aus, als wäre sie soeben einem Rodeo-Kalender entsprungen. Jedenfalls fiel sie in dieser Aufmachung weniger auf als in einem Tarnanzug für Scharfschützen. Das von der warmen Sonne beschienene brünette Haar fiel ihr über die Schultern.

Ein Jogger eilte vorbei und zog einen Klangbrei der Gruppe Muse hinter sich her. Der Mann, dem sie nachspionierte, der Fahrer des Porsche, war in dem Apartmenthochhaus auf der anderen Straßenseite verschwunden.

Erneut warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Wie lange noch? Hatte sie sich vielleicht verrechnet? Vielleicht spielten sie Trivial Pursuit oder trieben es wild miteinander. Aber vielleicht grübelten sie auch darüber nach, wer sie reingelegt haben mochte und warum.

Eine Polizeistreife fuhr langsam vorbei. Der Officer am Lenkrad sah sie an.

Die hellen Kinderstimmen vor dem Museum verebbten. In der sich anschließenden Stille schien das Sonnenlicht über dem Field of Empty Chairs mit seinen 168 Stühlen, 19 davon kleiner als die anderen, zu vibrieren.

Die Kiefern wiegten sich im Wind. Hinter ihnen war noch eine Ecke des Murrah Gebäudes zu sehen, die nach dessen Zerstörung stehen geblieben war: Beton und verdrehte Bewehrungsstäbe. Der Putz war von der Hitze der Detonation schwarz verrußt. Hinter der Gedenkstätte ragten Wolkenkratzer auf, ein wunderbares, ergreifendes Bild.

Schlüsselanhänger glitzerten am Maschendrahtzaun. Daneben ein Paar Babyschuhe. Sarah blieb stehen. Kleine süße Mary-Janes-Schühchen baumelten am Zaun.

Sarah blickte wieder zum Eingang des Museums hinüber. Auch Zoe machte heute einen Ausflug mit ihrer Kindergartengruppe. Sie müssten jetzt ungefähr den Bus besteigen.

Eine Mutter schob die letzten Kinder durch die Tür hinein. Vor sich hin lächelnd, sah sie auf ihr Handy.

Wahrscheinlich hatte sie das GPS eingeschaltet, sodass ihre Position an sämtliche Kontakte weitergeleitet wurde und die ganze Welt darüber im Bilde war, wann sie und die Kleinen sich auf das Gelände einer terroristischen Gräueltat begaben. Sarah ließ ihr GPS immer ausgeschaltet. Sie wusste, wo sie war. Im Zentrum eines Blocks, der von Geistern beseelt war, mitten in Oklahoma City, mutterseelenallein.

Oklahoma City war eine große Stadt, in deren Einzugsgebiet über eine Million Menschen lebte. Sarah hatte herausgefunden, dass sie ziemlich anonym bleiben konnte, wenn sie es darauf anlegte. Niemand wurde misstrauisch, wenn sie ihre Privatsphäre schützte. Und der Ort war unverfänglich. Die Menschen waren freundlich, bemüht, aufeinander zu achten. Vielleicht wegen des Vorfalls, der sich 1995 hier zugetragen hatte, gar nicht weit von der Stelle entfernt, an der sie jetzt stand, als Timothy McVeigh seinen gemieteten Transporter abstellte, die Zündung betätigte und ging.

Die Babyschuhe am Zaun waren aus schwarzem Lackleder. Sie berührte sie und wandte sich von der Morgensonne ab.

Der Fahrer des Porsche verließ das Apartmenthochhaus wieder und ging den Bürgersteig entlang zu seinem Wagen.

Sein Name war Derek Dryden. Er war Arzt, vernarrt in schnelle Autos, und er betrog seine Frau. Für seine Geliebte hatte er ein Apartment in den Cadogan Towers gemietet, und wenn Sarah sich heute Morgen nicht schwer irrte, dann dürfte er gerade einen heftigen Streit mit ihr gehabt haben.

Dryden wirkte zerquält. Er blickte sich um und verhielt sich genauso wie ein Mann, der nicht gesehen werden wollte.

Los geht’s! Sarah vergewisserte sich, dass kein Auto kam, und ging über die Straße direkt auf ihn zu.

Ihre Glock hatte sie im Pick-up gelassen. Gesichert in einer abschließbaren Edelstahlbox. Aber in ihrer Umhängetasche hatte sie ein Militär-Springmesser dabei. Sie kannte Derek Dryden nicht und wollte kein Risiko eingehen. Ein Stethoskop war schließlich keine Garantie für Friedfertigkeit.

Warme Luft schlug ihr vom Bürgersteig entgegen. Der Weg war vollkommen eben, nur hier und da kämpfte sich ein wenig bleiches Gras durch die rote Erde zwischen ein paar robusten Eichen nach oben. Ein sonnenüberfluteter, offen liegender Weg. Sie und Dryden die einzigen Menschen weit und breit.

Zwei Dinge hatten ihn verraten: ein Strafzettel für zu schnelles Fahren und sein Müll. Eine Woche hatte Sarah gebraucht, um ihn hier zu erwischen, zweihundert Meilen mit dem Wagen und ein Paar Latexhandschuhe. Jetzt kam das Finale. Dryden wusste nicht, dass er reingelegt wurde – hoffte sie. Denn Dryden war nicht ihr Ziel. Seine Geliebte war es.

Kayla Pryce hatte den durchtrainierten Körper einer notorischen Kraftsportlerin. Auf Fotos sah sie aus, als könnte sie einen Mann zwischen ihren Schenkeln knacken wie eine Nuss. Und ihr Herz war aus säureverätztem Stahl. Sie hatte bei einer Wohltätigkeitsstiftung für ein Kinderkrankenhaus in Houston gearbeitet. Als herauskam, dass das Bankkonto leer war, wurde der Schatzmeister der Stiftung wegen Unterschlagung angeklagt. Einen Tag nachdem er von der Polizei festgenommen worden war, hatte Kayla Pryce die Stadt verlassen.

Der Schatzmeister sollte sich vor Gericht verantworten. Sein Anwalt bestand jedoch darauf, das fehlende Geld derjenigen anzulasten, die dafür verantwortlich war, nämlich Pryce. Sie wurde von der Verteidigung vorgeladen, um vor Gericht auszusagen, war dieser Aufforderung allerdings nicht nachgekommen.

Das wollte Sarah ändern.

Bis zur Verhandlung waren es aber nur noch vier Tage. Der Verteidiger machte Druck. Finden Sie Pryce, sagte er. Uns bleibt nicht viel Zeit.

Das Problem war, dass auch er nur wenige Informationen hatte. Nichts außer Kayla Pryces vollständigem Namen, ihrem Geburtsort und der unbestimmten Vermutung, dass sie sich in Oklahoma City aufhielt.

Sarahs erste Nachforschungen liefen ins Leere. Weder Anschrift noch Telefonnummer fand sie heraus. Auch die Überprüfung des Vorstrafenregisters führte zu keinem Ergebnis. Pryces Wagen war in Texas gemeldet, ihre Kreditkarte gab Houston als letzten Aufenthaltsort an. Sie hatte die Wohnung gekündigt, Strom, Wasser abbestellt, sogar ihr Handykonto abgemeldet und dann die Stadt ohne Nachsendeantrag verlassen.

Menschen, die auf der Flucht waren oder nicht gefunden werden wollten, mieden das Tageslicht. Oft blieben sie unsichtbar, doch sie hinterließen Spuren. Und genau diesen Spuren ging Sarah nach.

Kayla Pryce war gerissen, aber auch leichtsinnig. Wie die meisten Amerikaner des einundzwanzigsten Jahrhunderts hing sie am Nabel der Cyberwelt und konnte von ihren sozialen Kontakten nicht lassen. Statt ihre Accounts zu löschen, setzte sie nur alle Einstellungen auf »Privat«. Das brachte Sarah jedoch nicht davon ab, sich die Liste ihrer Freunde genauer anzusehen. Und diese Freunde sprachen mit ihr oder über sie, bis eine schließlich ein Foto teilte, das Pryce selbst gepostet hatte, damit die ganze Welt es sehen konnte.

Pryce hatte den Schnappschuss selbst gemacht – wie sie am Rand einer Landstraße herumhing, während ihr Date sich einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens einfing. Das Foto zeigte sie mit aufgedonnerten Haaren, perfekt trainierten Schultern und aufgesetztem Duckface. Auch eine Ecke des Wagens war darauf zu sehen: ein weinroter Porsche. Dazu noch ein Schild mit der Nummer des Highway: U.S. 62 West. Am unteren Rand des Schildes: ILLKOMMEN IN KIO.

Darunter: So nah an der Grenze.

Mehr brauchte sie nicht. Es zeigte Sarah, dass der Porsche auf der Grenze zwischen den Territorien der Kiowa-Indianer und der Komantschen geblitzt worden war. Und so kam sie zu dem Bezirksgebäude, das dieser Grenze am nächsten lag.

Meistens ist den Menschen gar nicht klar, dass es sich bei Strafzetteln wegen Geschwindigkeitsüberschreitung um Verwaltungsakte handelt. Sie brauchte zwei Stunden, bis sie fündig geworden war. Die Vorladung für einen 1976er Porsche 911, geblitzt bei einer Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern. Der Strafzettel trug Derek Drydens Namen und seine Anschrift in Oklahoma City.

Dort lebte er in einer Villa im Pseudo-Tudorstil in der Nähe des Country Club. Kaum hatte Sarah das herausbekommen, stellte sie auch fest, dass Dryden seine Frau betrog und den Müll in pflichtschuldiger Erfüllung seiner Aufgaben jeden Mittwochabend an die Straße stellte.

Und aus diesem Mülleimer hatte sie die Hefty-Tüte gefischt, in der sie die Quittung über den Breitbildfernseher fand, den Dryden gekauft und in die Cadogan Towers gebracht hatte.

Leider war die Quittung zerrissen. Die Apartmentnummer fehlte. Sarah hatte in dem Fernseh-Geschäft angerufen, um die Nummer herauszubekommen. Aber vergeblich. Dann rief sie in der Rezeption der Cadogan Towers an, gab sich als eben dieses Geschäft aus und erkundigte sich, ob der Fernseher an das richtige Apartment geliefert worden sei. Auch das funktionierte nicht.

Daher stolzierte sie an diesem Morgen mit zwei Dutzend roten Rosen im Arm ins Foyer des Apartmenthauses.

»Lieferung von Moonflower für Kayla Pryce«, erklärte sie.

Die Dame am Empfang lächelte. »Die sind ja wunderschön.«

Sarah marschierte an ihr vorbei zu den Aufzügen. »Welche Apartmentnummer …«

»Die können Sie gern bei mir abgeben.«

»Ist schon in Ordnung. Ich bringe sie …«

»Ich sorge schon dafür, dass sie abgegeben werden.«

Also ließ sie sie am Empfang liegen. Sekunden später war sie wieder auf dem Bürgersteig und auf dem Weg zurück zur Gedenkstätte. Sie hatte gehofft, dass die Blumen Kayla Pryce zu einer Reaktion veranlassen würden. Sie wollte erreichen, dass Pryce auf die Straße hinunterkam, ihr nachlief, um mehr zu erfahren. Immerhin hatte sie ihr eine Karte dazu geschrieben: Für meine einzige, einzig wahre, unglaubliche Janelle. In Liebe, Derek.

Aber Pryce war nicht erschienen und hatte auch nicht die Nummer von Moonflower angerufen – die fingiert war und sie auf Sarahs Handy geleitet hätte. Aber zehn Minuten nachdem Sarah die Rosen abgegeben hatte, kam der Porsche, und Dryden war in das Apartmenthaus gegangen. Jetzt, dreizehn Minuten später, war er wieder auf dem Weg zum Auto. Allein.

Kayla Pryce vereinte alles in sich, was Sarah hasste: Sie war eine Betrügerin, Blutsaugerin, Diebin. Sie war gerissen, hinterhältig und skrupellos. Vielleicht wusste Derek Dryden, wie sie war. Vielleicht war es ihm auch egal. Aber das konnte Sarah gleichgültig sein.

Sarah sah ihn zügig auf sein Auto zugehen und sich noch einmal zum Apartmenthaus umdrehen.

Perfekt. Er vermutete also, dass Pryce ihm hinterhersah. Und er würde sich nicht umsehen, wenn ihr Apartment nicht zur Straße hinausging.

Sarah setzte ihr Pokerface auf und ging schnurstracks auf den Porsche zu. Sie verlangsamte ihren Schritt, nahm ihn einen Augenblick bewundernd in Augenschein und lehnte sich an die Haube. Mit gekreuzten Beinen erwartete sie ihn, als würde ihr der Wagen gehören. Oder der Typ, der ihn fuhr.

Verärgert stürmte Dryden auf sie zu. »Was soll das?«

»Der Wagen ist ein wahres Prachtstück.« Sie fuhr mit der Hand über die Seite des Autos, als streichelte sie ein Vollblutpferd. »76er-Baujahr, nehme ich an?«

»Ja. Kommen Sie runter davon.«

»Ich biete Ihnen dafür zehn Prozent über Listenpreis.«

»Ist nicht zu verkaufen.«

»Bar auf die Hand. Oder Barscheck. Ich kann Ihnen das Geld in zwanzig Minuten besorgen.«

Er kam näher und gab ihr mit erhobener Hand zu verstehen, dass sie sich verziehen sollte. »Was habe ich gerade gesagt? Verschwinden Sie.«

»Fünfzehn Prozent über Listenpreis. Er ist ein Prachtstück.«

»Rede ich gegen die Wand? Bewegen Sie Ihren Cowgirl-Hintern von meinem Auto.«

Einen guten Meter entfernt, stand er vor ihr, außer Reichweite, aber nah genug, um ihr Angst einzujagen. Er war ungefähr eins fünfundachtzig groß und wirkte unglaublich fit, als würde er Gewichte heben oder am Sandsack trainieren. Er verströmte eine intensive Mischung aus Eau de Cologne und Schweiß.

Ganz ruhig. Sie erhob sich. »Ich bin im Auftrag eines Sammlers unterwegs, der für solche Autos Höchstpreise zahlt. Sagen Sie mir, was Sie dafür haben wollen. Nehmen Sie wenigstens meine Karte.«

Sie hielt sie ihm entgegen, aufmunternd, wie sie hoffte.

Er stürmte an ihr vorbei »Vergessen Sie es.«

Er stieg ein und schlug die Tür zu. Sie ging zum Fenster auf der Fahrerseite, beugte sich hinab und legte beschwörend eine Hand auf die Scheibe.

»Sollten Sie Ihre Meinung ändern …«

Er ließ den Motor an, legte die Hand auf die Gangschaltung und hielt inne. Er drehte sich zu ihr um und sah sie zweifelnd an.

Moment mal!

Mit einem Ruck machte er die Tür auf. »Wer zum Teufel sind Sie?«

»Langsam.« Sie hob die Hände und wich zurück. »Sorry, Mister.«

Er stieg aus und ging auf sie zu. »Waren Sie das etwa mit den Blumen?«

Sie ging weiter zurück. »Welche Blumen?«

Er griff nach ihrem Arm. »Was für ein beschissenes Spiel ist das?«

Furchtlos schlug sie ihm die Hand weg. »Lassen Sie das.«

Er hielt inne und schien zu bemerken, dass er zu weit gegangen war. Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Wenn ich herausbekomme …«

»Vergessen Sie es. Behalten Sie doch Ihr Auto. Ich will es nicht.«

Sie ging die Straße hinunter. Sein Zeigefinger blieb noch einen Augenblick auf sie gerichtet. Offensichtlich empört schüttelte er den Kopf, stieg in den Porsche und brauste mit quietschenden Reifen davon. Sie stand auf der Straße, die Hände in die Seite gestemmt.

Ein reizender Mensch.

Auf dem Bürgersteig stand ein Briefkasten. Sie ging hin, holte aus und trat kräftig zu, sagte sich: Showtime. Wie gut, dass du dich für die Cowboystiefel mit den Stahlkappen entschieden hast. Sie trat noch einmal zu. Dann rieb sie sich mit dem Handrücken die Nase und ging langsam, für alle sichtbar, zum Coffeeshop an der Ecke. Sie ging hinein und ließ sich auf einen Sitz am Fenster fallen.

Eine Spielerin war Sarah nicht. Sie war Jägerin, Strippenzieherin, professionelle Lügnerin. Sie war Zielfahnderin. Sie sah aus dem Fenster auf die Cadogan Towers und wartete.

3

»Alles einsteigen!«

Die Kinder kletterten die Stufen hinauf und tobten mit hin und her schlenkernden Rucksäcken durch den Gang. Zoe Keller blieb zögernd draußen vor dem Bus stehen.

Die Erzieherin, Lark Sobieski, ermunterte sie lächelnd: »Na los, mein Schatz.«

Zoe rührte sich nicht vom Fleck. »Haben die Geparden auch genügend Auslauf?«

»Das werden wir sehen, wenn wir da sind.«

Zoe machte ein ernstes Gesicht. Die Morgenhitze ließ ihre Wangen in der Farbe der riesigen Erdbeere auf ihrem T-Shirt hellrot leuchten. Sie war ein nachdenkliches Kind mit dunklen, wachen Augen. Sie sah die Dinge manchmal anders, Dinge, die die anderen Erzieher gar nicht sahen oder sich nicht einmal vorstellen konnten. Sie war sehr geschickt, gehörte zu den Kindern, deren Feinmotorik schon vor der Grobmotorik voll entwickelt war. Immer wieder hatte sie sich auf dem Spielplatz verletzt – Lark bewahrte in ihrem Schreibtisch stets eine Box mit Pflastern auf, auf der auch gut Zoes Erste-Hilfe-Kiste stehen könnte. Lark stellte sich manchmal vor, dass Zoe Astrophysikerin werden könnte oder Schamanin. Dann wiederum, wenn sie sie mit ihrer Zahnlücke unten anlächelte, war sie ein ganz normales Kind, das einfach nur in den Zoo ging.

»Das will ich hoffen«, sagte Lark. »Na los, Süße, such dir einen Platz.«

Zoe sah sie noch einen Augenblick an, als suchte sie nach Anzeichen von Unaufrichtigkeit, bevor sie einen großen Schritt machte und in den Bus stieg. Auf der obersten Stufe drehte sie sich noch einmal um.

»Wenn sie nämlich nicht genug Auslauf haben, dann brauchen sie einen anderen Ort, wo es gut ist. Kenia. Oder einen Park. Aber mit einem Zaun drum herum.«

Der Fahrer tippte eifrig eine SMS in sein Handy und bemerkte: »Dagegen ist nichts zu sagen.«

Zoe beugte sich zu Lark hinüber und flüsterte: »Man darf beim Fahren nicht telefonieren.«

Dann drehte sie sich um, hüpfte durch den Gang und warf sich auf einen Sitz neben Ryan Fong.

Lark stand in der Tür. Verunsichert sprach sie ihn an: »Sir?«

Mit einem leicht dümmlichen Gesichtsausdruck sah der Fahrer auf und legte sein Handy auf das Armaturenbrett. »Sind alle bereit?«

»Ja, es kann losgehen.«

Er ließ den Motor an. Lark setzte sich auf den vordersten Sitz. Die Tür setzte sich langsam in Bewegung und schob sich mit einem pneumatischen Zischen zu, das ein diffus ungutes Gefühl in ihr hervorrief.

Sarah hatte ihren zweiten Becher Kaffee halb aufgetrunken, als sich die Tür öffnete und Kayla Pryce hereinplatzte. Perfektes Make-up mit von Haarspray festbetonierten Locken, schwarzer Velour-Trainingsanzug und eine Rolex, die gern auch als Schlagring hätte durchgehen können. Sarah setzte den Becher ab und vergewisserte sich, dass ihr der Weg zum Ausgang nicht versperrt war.

Sie war gewarnt worden, dass Kayla Pryce drei Dinge schätzte: Ärzte, Diamanten und scharfe Gegenstände. Einmal, so war ihr zu Ohren gekommen, hatte sie das Porträt einer Nebenbuhlerin entstellt, indem sie mit einem Eispickel die Augen durchstochen hatte. Einer Frau hatte sie im Streit um einen Thighmaster im Fitnessstudio das Gesicht zerkratzt. Und in einer Boutique für Designermode war sie mit einer Schere auf eine Schneiderin losgegangen, die sich die Bemerkung erlaubt hatte, dass ihre neue Abendrobe am Hintern etwas ausgelassen werden musste.

Sarah ballte die Faust und öffnete sie dann wieder. Die lange Narbe in ihrer Handfläche war zu einer hellen wulstigen Narbe verheilt, ein Schnitt, der ihre Lebenslinie unlesbar gemacht hatte. Zum Glück gab es bei Your Morning Joe kein echtes Besteck. Wollte Kayla Pryce sie aufschlitzen, niederstechen oder zerstückeln, dann hätte sie mit Zahnstochern und abknickbaren Strohhalmen vorliebnehmen müssen.

»Du!«

Pryces Stimme schrillte wie eine Schulglocke. Sarah griff in ihre Umhängetasche, als suchte sie nach ihrem Autoschlüssel, und erhob sich von ihrem Platz.

»Hallo, Janelle.«

Alle Gespräche im Coffeeshop waren jäh verstummt. Im Augenwinkel sah Sarah Pryce näher kommen.

Ein privater Ermittler, ein Skiptracer, durfte niemals Angst zeigen. Die alten Hasen hatten es ihr immer schon gepredigt:

Ein hartes Brot, denn kaum hatte man jemanden aufgespürt, war man um einen Feind reicher. Selbstzweifel waren nicht angebracht. Du durftest niemals lockerlassen und musstest clever sein.

»Sieh mich an.«

Sarah drehte sich um. Pryce war größer, als sie gedacht hatte. Fünfzehn Zentimeter waren es bestimmt, die Haare nicht mitgerechnet. Ihre Lippen waren zu Schlauchbooten aufgespritzt. Wie ein außer sich geratener Strauß kam sie auf sie zugestampft, und einen Augenblick lang dachte Sarah, Pryce wollte ihr das Gesicht weghacken.

»Worum geht’s?«, wollte Sarah wissen.

»Was hattest du mit Derek zu bequatschen?«

Sarah sah sich um, als suchte sie einen imaginären Freund. »Ich bin allein hier.«

»Draußen meine ich. Du hast ihn angemacht.« Pryce fuchtelte mit ihren Händen herum. »Seine einzige, einzig wahre Janelle.«

»Das ist doch blanker Unsinn.«

»Jetzt spiel hier bloß nicht die Unschuld vom Lande.«

Die Bedienung beäugte die Szene mit ängstlichen Blicken. Sie hielt eine Kaffeekanne in der Hand. »Ma’am …«

Sarah hob die Hand. »Ist schon in Ordnung.«

Pryce sagte: »Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede. Lass deine dreckigen Finger von Derek.«

»Ich habe keine Ahnung, von wem du sprichst. Ich kenne keinen Derek!«

»Wer zum Teufel bist du?«

»Priscilla, Königin aller Cowgirls. Und du?«

»Ich bin seine Verlobte«, antwortete Pryce.

Sarah warf den Kopf zurück. »Kimberly?«

»Ich bin Kayla. Wer zum Teufel ist …«

»Kyla? Du bist Kyla DeMint?« 

Pryces Straußenschnabel klaffte auseinander. »Kayla Pryce. Wer, zum Henker, sind all die anderen Frauen?«

In Sarahs Ohren klang es, als würde ein Spielautomat den Jackpot ausschütten. Pryce hatte ihre Identität soeben selbst preisgegeben. Und das vor zwanzig Zeugen. Sarah zog den Aktenordner aus ihrer Tasche, in dem sich die Vorladung befand.

»Vielleicht hilft das hier deinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge.«

Pryce riss es ihr aus der Hand. Während sie ihn aufriss, bemerkte Sarah: »Du bist erledigt.«

Pryce starrte auf das Papier. Als hätte sich eine Spinne von der Decke herabgelassen, schleuderte sie das Dokument plötzlich auf den Tisch und machte einen Satz zurück. Sarah wandte sich zur Tür. Oberstes Gebot bei der Zustellung einer Vorladung: Hast du gefunden, wonach du gesucht hast, verlier keine Zeit. Setz deinen Arsch in Bewegung und verschwinde.

Pryce stieß einen Stuhl in ihre Richtung. »Du Schlampe!«

Sarah bremste das Möbel mit ihrem Stiefel ab, während Pryce sich ihr in den Weg stellte.

Die Bedienung trat auf die beiden Frauen zu, versuchte zu schlichten. »Ma’am, wenn Sie freundlicherweise …«

Pryce packte die junge Frau am Arm und schlug ihr die Kaffeekanne aus der Hand.

Der Raum explodierte. Eine Schlägerei zwischen Frauen sahen sich die Leute immer gerne an, aber betrogene Frauen und kochend heißer Kaffee vergifteten das Karma. Sarah hielt den Stuhl wie einen Schild vor sich.

Als Erstes ergoss sich in einem heißen Schwall der Kaffee. Dann schmetterte Pryce die Glaskanne gegen einen Tisch.

»Geht es um die Verhandlung in Houston? Die haben dich als Spürhund geschickt?«

Das Glas flog dicht an Sarahs Gesicht vorbei, blitzend wie zerschlagene Zähne. Ein gleißender Funke der Angst stieg in ihr auf. Sie hasste scharfe Gegenstände. Und sie hasste es, Teil einer Szene zu sein. Sie hob den Stuhl hoch.

»Nimm das zurück«, kreischte Pryce. »Ich denke gar nicht daran, der Vorladung nachzukommen.«

Genauso gut hätte sie auch die Anziehungskraft der Erde leugnen können, aber Sarah machte sich nicht die Mühe, ihr das darzulegen. Die Bedienung war hinter der Theke in Deckung gegangen. Mit hochrotem Kopf kam sie aus ihrem Versteck, dieses Mal hatte sie keine Kaffeekanne in der Hand.

Sarah setzte den Stuhl ab, um sicherzustellen, dass Pryce sie ansah. »Viel Spaß mit den Blumen. Im Knast darfst du dich eher an Leibesvisitationen erfreuen als an Rosen.«

Pryce holte aus. Sarah duckte sich weg und hob den Stuhl hoch.

Dann trat die Bedienung hinter Pryce und setzte sie mit einem Taser außer Gefecht.

Pryce zuckte zusammen, schlug sich selbst die zerbrochene Kanne gegen den Kopf und fiel zu Boden. Mit einem dumpfen Schlag traf sie auf und blieb zitternd liegen.

Die Kellnerin sagte: »Das hätte sie besser nicht getan.«

Sarah setzte den Stuhl ab. »Da kann ich Ihnen nicht widersprechen.«

Pryce bellte wie ein kleiner Hund und kratzte mit ihren Fingernägeln am Fußgelenk der Bedienung herum. Die Kellnerin wich schockiert zurück.

Sarah holte ein paar Geldscheine aus ihrem Portemonnaie und drückte sie der Kellnerin in die Hand. »Cupcakes für alle. Die Runde geht auf mich.«

Sie stürmte zur Tür hinaus. Hab sie, dachte sie. Durch K. o. – ein klarer Sieg. Erst zwei Blocks weiter bemerkte sie, dass sie rannte. In Cowboystiefeln.

Zehn Minuten später, als sie wieder in ihrem Wagen saß und den Zustellungsnachweis ausfüllte, raste ihr Herz immer noch. Und auch die Ohren klangen ihr immer noch, als das Handy ging.

4

In der Notaufnahme des St. Anthony herrschte heilloses Chaos. Kinder weinten. Schwestern in weißen Kitteln riefen sich gegenseitig irgendetwas zu. Eltern brüllten in ihre Handys. Sarah stürmte hinein und erblickte Lark Sobieski, die Erzieherin, die einen kleinen Jungen im Arm hielt. Die Schultern bebten unter seinem Schluchzen. Lark hatte eine blutige Wunde an der Stirn.

»Wo ist Zoe?«, erkundigte sich Sarah.

Lark sah verwirrt auf.

»Zoe«, wiederholte Sarah.

Lark deutete auf die Untersuchungsräume am Ende des Ganges. Sarah spurtete gleich los, drehte sich aber noch einmal um.

»Sind alle hier?« Sie brachte es nicht fertig, es anders zu formulieren.

»Ein Minivan hat uns geschnitten«, erklärte Lark. »Und der Bus ist dann in den Graben gerutscht.«

»Und die Kinder?«

»Die meisten sind mit dem Schrecken davongekommen.« Sie tätschelte den kleinen Jungen, den sie im Arm hatte. »Ja, alle sind hier.«

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

»Das ist nicht so schlimm.« Lark betastete die Wunde und betrachtete ihre blutigen Finger.

Sarah legte ihr die Hand auf die Schulter und eilte dann zum Anmeldungstresen. Ihr brannten die Augen. Sie wollte sprechen, aber ihre Zunge schien den ganzen Mund auszufüllen.

»Zoe Keller. Sie war in dem Schulbus.«

Die Schwester fragte: »Sind Sie eine Angehörige?«

Sarah nickte und zog umständlich ihre Brieftasche aus der Umhängetasche. Lark rief: »Sie ist Zoes Mutter.«

Mit zittrigen Fingern holte Sarah ihren Führerschein heraus. Die Schwester betrachtete ihn prüfend. »Ihre Tochter wird gerade untersucht.«

»Geht es ihr gut?«

Die Schwester rief eine Frau in einer roten Jacke herbei, die um die siebzig sein musste und zu dem Team freiwilliger Helfer in diesem Krankenhaus zu gehören schien. Sie begleitete Sarah durch die Doppeltüren in die grell erleuchtete Notaufnahme.

Sie gingen an Kindern aus Zoes Klasse vorbei. Ärzte. Mütter, die Sarah wiedererkannte. Im hinteren Bereich der Abteilung stand eine Krankenschwester über ein Krankenhausbett gebeugt.

Zoe saß im Schneidersitz darauf und sah genau hin, wie die Schwester ihr den Blutdruck maß. Sie ließ die Manschette nicht aus den Augen.

Der Boden schien unter Sarahs Füßen nachzugeben, und die Wände schienen vor Licht zu gleißen. Die Dame in der roten Jacke gab ihr Halt und umfasste ihren Ellbogen.

»Danke, ist schon gut«, sagte Sarah.

Doch das war es nicht. Sie war kaum in der Lage, das Wort gut auszusprechen. Aber sie fing sich wieder. Die Helferin tätschelte ihr den Arm und entfernte sich.

Zoe sah auf. »Mom, sie quetschen mir das Blut ab.«

Wegen der Zahnlücke schwang in ihren Worten ein leichtes Zirpen mit. Sarah ergriff das Gitter des Bettes. »Ja, ich weiß.«

Zum ersten Mal seit fünf Jahren ertappte sie sich dabei, dass sie betete. Nicht mit Worten, sondern mit einem hellen singenden Ton, der sie umgab und die Luft zu erfüllen schien. Dem Herrn sei Dank.

»Wie geht es dir?«, fing sie an. Dann, zur Krankenschwester gewandt: »Wie geht es ihr?«

Die Schwester nahm die Manschette ab. »Es geht ihr gut. Sie ist nur noch ein wenig aufgeregt.«

Zoes braunes Haar, das sie in einem Bob mit stumpf geschnittenem Pony trug, wurde von einer Spange mit einer dicken Hummel darauf aus ihrer Stirn gehalten. Einhörner oder süße Kätzchen waren nichts für Zoe. Sie war ganz wild auf alles, was sticht.

»Der Bus ist einfach umgekippt«, platzte sie heraus.

Sarah steckte ein Kloß im Hals. Sie legte Zoe eine Hand auf den Kopf und gab ihr einen Kuss. Dann schloss sie die Augen, um ihre Tränen zu verbergen. Sie spürte einen Verband an Zoes Hinterkopf.

Die Krankenschwester fühlte Zoes Puls. »Sie hat ein paar Prellungen und klagte über Schmerzen im Nacken – wir haben sie geröntgt.«

»Und haben Sie was gefunden?«

»Keine Anzeichen für ein Schädeltrauma, nur ein paar Schürfwunden und kleinere Schnittwunden.« Sie ließ Zoes Hand sinken. »Der Arzt wird das Untersuchungsergebnis mit Ihnen besprechen.«

Zoe sah Sarah ernst an. »Auf einmal kamen Gras und Erde durch die Fenster in den Bus rein. Wie bei einer Käsereibe, nur dass wir innen waren.«

»Das ist ja furchtbar, mein Kleines.«

»Ryan Fong ist auf mich draufgefallen. Dann sind wir durch den Notausgang rausgekrabbelt. Miss Lark hat ihn mit einem kleinen Hammer aufgeschlagen.«

Sarah senkte das Gitter herab, setzte sich auf das Bett und schloss Zoe in die Arme. »Es wird alles wieder gut.«

»Ich weiß.«

Sarah musste lächeln. Dieses Kind.

Sie wandte sich an die Krankenschwester: »Wann kann ich mit dem Arzt sprechen?«

»Er wird gleich hier sein.«

Zoe sagte: »Sie haben mir Blut abgenommen.« Wie zum Beweis hielt sie den Arm hoch. In der Armbeuge klebte ein dickes Verbandspäckchen. »Mit einer Nadel. Und ich habe nicht geweint.«

»Du warst so tapfer.«

»Ich habe gesehen, wie der Van in den Bus gekracht ist.«

Erneut begannen Sarahs Nerven zu vibrieren. Sie strich Zoe über das Haar. »Das war sicher grauenvoll.«

»Er ist aus der Kurve geflogen.« Sie zog die Beine an und legte die Arme um die Knie. »Die Frau, die den Van gefahren hat, hatte gerade Limonade getrunken und am Handy gesprochen.«

Großartig. Ihre kleine Augenzeugin. Machte sich schon für die Zeugenaussage bereit. Die Krankenschwester zog eine Augenbraue hoch.

»Das hast du gesehen?«, fragte Sarah nach.

»Sie hat ins Telefon geschrien und es dann gegen die Windschutzscheibe geschleudert. Sie hat bestimmt mit ihrem Freund gesprochen.«

Die Schwester verzog das Gesicht.

»Vielleicht …« Sarah hielt inne. Ihr Handy klingelte. Sie entschuldigte sich.

Es war ihre Chefin. »Danisha«, sagte sie.

»Hast du Kayla Pryce erwischt?«

Danisha Helms Legal war ein Servicebüro für Anwälte. Ihre Firma übernahm das Zustellen von Gerichtsurkunden und Gerichtsakten, Dokumentenrecherche und private Ermittlungen. Das war Sarahs Gebiet. Der Name des Dienstleistungsbüros war so einfach wie pfiffig: Die Menschen würden sich im Schrank verstecken, wenn sie wüssten, dass ein Gerichtszusteller vor der Tür stand. Aber auf die Worte »DHList hier« würden sie die Kette ohne Umschweife lösen und die Tür öffnen.

»Ich hab sie«, erklärte Sarah. »Aber ich bin jetzt im St. Anthony. Zoes Schulbus hatte einen Unfall.«

»Ach du lieber Himmel. Ist alles in Ordnung mit ihr?«

Diese Frau war ein Segen. Cool, skrupellos und immer mit einem Blick, als verlange sie nach einer Marlboro oder einer .45er, vermochte Danisha Helms es immer wieder, einen wie mit einem Schlaflied zu beruhigen.

»Schnittverletzungen und Prellungen. Sie haben sie geröntgt, und vielleicht muss sie auch noch genäht werden, aber nicht an Stellen, an denen die Narben zu sehen wären«, sagte Sarah.

Keine besonderen Kennzeichen. Darauf kam es immer an. »Ich bringe dir den Zustellungsnachweis, sobald ich kann.«

»Liebes, du bleibst da und kümmerst dich um die Kleine. Mach dir über das Geschäftliche keine Sorgen«, erklärte Danisha.

»Mach ich auch nicht.«

»Aber deine Stimme zittert. Ich mach das alles schon.«

Sarah bedankte sich, sie war ihr wirklich sehr dankbar, und beendete das Telefongespräch.

Die Schwester sprach sie an: »Mrs. Keller?«

Sie war Miss Keller, aber Sarah stellte es nicht richtig. Sie gab Zoe einen Kuss auf den Kopf. »Ich bin mir nicht so sicher über Zoes Geschichte zum Unfallhergang. Kinder sehen die Welt oft mit einem sehr kreativen Blick.«

Zoe war ein Mädchen mit besonders viel Fantasie. Und das war gut so. Meistens jedenfalls. Manchmal jedoch gingen die Pferde mit ihr durch. Dann bauschte ihre Fantasie eine ganz normale Luftspiegelung zu einem ausgewachsenen Hurricane auf.

Die Schwester sah sie verunsichert an. »Nein, das meine ich nicht. Ich meine das Untersuchungsergebnis.«

»Stimmt etwas nicht?«

»Der zuständige Arzt möchte mit Ihnen sprechen. Es geht um die Röntgenaufnahme.«

Ein kalter Schauer durchfuhr sie. »Was ist damit? Wovon reden Sie?«

Die Schwester sah sie ausdruckslos an. Sie ließ ihren Blick taxierend an Sarah herabgleiten, sodass sie sich ausgezogen fühlte. »Das besprechen Sie besser mit dem zuständigen Arzt.«

»Nein – bitte, sagen Sie es mir.«

Eine männliche Stimme schaltete sich ein. »Soll das ein schlechter Scherz sein?«

Sarah drehte sich um. Vor ihr stand Derek Dryden, der zuständige Arzt.

5

Sämtliche Warnleuchten bei Sarah sprangen schlagartig auf Rot.

Drydens Gesicht sagte dasselbe. »Was soll das hier werden?« Er deutete auf die Krankenschwester. »Rufen Sie den Wachdienst.«

Sarah hob die Hände. »Moment! Mit der Gerichtsvorladung, die ich Ms. Pryce überreicht habe, hat das alles nichts zu tun.«

»Etwas Besseres fällt Ihnen nicht ein? Nancy, bitte.«

Die Krankenschwester hastete zur Wand und nahm den Telefonhörer aus der Gabel.

»Bitte nicht«, flehte Sarah. »Es geht um Zoe. Die Krankenschwester sagte mir, dass Sie mit mir über die Untersuchungsergebnisse sprechen wollten.«

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