Die Stadt der Leser - Greta Tidevand - E-Book

Die Stadt der Leser E-Book

Greta Tidevand

4,5

Beschreibung

Ein Leser kann mit seinen Worten ganze Welten erschaffen. Und deine erschüttern ... Als Sophie nach Heidelberg zieht, will sie nur eins: Nach den Spuren ihres verstorbenen Vaters suchen. Doch mit nicht mehr als einem alten Kinderbuch scheinen ihre Nachforschungen aussichtslos. Ihre Suche tritt in den Hintergrund, als sie dem arroganten Nicholas buchstäblich in die Arme fällt. Mit seiner Hilfe lernt sie, was ihre Worte bewirken können: denn Sophie ist eine Leserin und kann Geschichten zum Leben erwecken. Eine Gabe, die ernste Konsequenzen hat: Der sogenannte Administrator, der Leiter der Gesellschaft der Leser, wird auf Sophie aufmerksam. Das lenkt nicht nur Sophies Leben in neue Bahnen, es bringt auch Nicholas in Gefahr ... Die Stadt der Leser: Flüsternde Steine ist der erste Teil der Leser-Quadrologie

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 1

Ein Ort konnte so unwahrscheinlich gut Erinnerungen speichern. Selbst wenn es nur trübe Fetzen waren, wie die Nebelschwaden, die an diesem frühen Morgen die Altstadt wie Geisterwesen durchstreiften. Ein Blick auf ein bestimmtes Gebäude, eine Szenerie oder Landschaft und sofort fiel einem eine Geschichte ein, ein Mensch, ein Gefühl überlief einen und man hatte einen bestimmten Geruch in der Nase. Sophie lauerte regelrecht darauf, endlich dieses eine Gebäude zu erwischen, während ihr Blick über die Altstadt Heidelbergs streifte.

Sie nahm einen tiefen Atemzug. Im ersten Moment nahm sie wirklich diesen speziellen Geruch wahr, den sie so vermisste, spürte eine Wärme in sich aufsteigen und lächelte. Ein sanfter Hauch strich über ihre Wange und zerzauste ihr Haar. Sophie schloss kurz die Augen und gab sich für einen Moment der Illusion hin.

Hallo, Papa.

Gleich darauf verzog sie spöttisch den Mund. Doch wieder zu lange die Nase in einem Buch gehabt gestern. Oder es war einfach nur der sehnsüchtige Wunsch, endlich ein greifbares Ergebnis ihrer Suche zu erhalten. Sie hob die Hand und fuhr durch den Nebelschwaden. Der Spott in ihrem Gesicht verstärkte sich, vermischt mit einem Gefühl der Wehmut. Hier war nichts greifbar.

Sie blickte auf das trübe Wasser und ihr leicht gewelltes Spiegelbild blickte aus grauen Augen zurück. Eine kühle Brise wehte um sie herum. Sophie fröstelte, schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und steckte die rechte Hand tief in die Jackentasche. Ihre linke Hand, in der sie ihr Handy hielt, war bereits ganz steif.

Sophie sah zum Königstuhl hinauf, der hinter der Stadt aufragte wie ein gebeugter Riese, dann wanderte ihr Blick über die Häuser, zwischen denen noch immer der Nebel als geisterhafte Fetzen waberte. Wie ein Fluch, der auf der Stadt lastete, dachte Sophie. Fehlte nur der strahlende Held, der die Nebelgeister erlöste. Sophie blickte sich einmal um. Weit und breit war kein Held zu sehen. Nur die Sonne, die sich langsam im Rücken des Riesen hinauf kämpfte, um mit ihren warmen Strahlen die Geister zu vertreiben.

Sophie wandte sich ab und folgte dem Fluss auf dem schmalen Fußweg gen Westen. Ein Windhauch wehte ihr ein paar schwarze Strähnen ins Gesicht, die sich aus ihrem nachlässig gebundenen Knoten gelöst hatten und nun auf ihrer Stirn herumtänzelten. Sie blickte auf ihr Handydisplay und murmelte halblaut die Sätze, die sie dort las, wie geheime Zauberformeln. Während sie so die Worte verinnerlichte, malte sie sich verschiedene Möglichkeiten aus, wie sie sie in einem Gespräch verwenden könnte. Hin und wieder lächelte sie. Dann tippte sie einen neuen Begriff ein und wartete auf die Ergebnisse.

Ihre Füße folgten blind den grob verlegten Pflastersteinen, die scheinbar wahllos in den Boden eingelassen worden waren, ihr aber recht deutlich sagten, dass sie noch auf dem richtigen Weg war und nicht unbemerkt einen Schritt Richtung Wasser gemacht hatte. Nicht, dass es sie überrascht hätte, in ihrer gedanklichen Abwesenheit in den Neckar zu stürzen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie, mit dem Kopf in den Wolken, vom Weg abkam. Sie erinnerte sich an eine dicke Beule auf der Stirn, an nasse Füße und blaue Schienbeine. Sophie grinste schief und sah schnell zum Fluss, um sicherzugehen, dass er dort lag, wo er liegen sollte.

Ein Piepsen erinnerte sie an das Jetzt und ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie sich beeilen musste, um rechtzeitig zu ihrem Termin beim Bürgeramt zu sein. Schlimm genug, dass sie erst um acht Uhr öffneten, wo sie doch wissen mussten, dass Sophie darauf lauerte mit einem Mitarbeiter dort zu sprechen. Schließlich würde sie nicht das erste Mal dort aufkreuzen. Sie machte schnell kehrt und kollidierte mit einem gefühlt steinharten Körper. Von der Wucht des Aufpralls taumelte sie rückwärts, stolperte über einen herausragenden Stein am Boden und wäre fast gefallen, als eine Hand sich fest um ihren Arm schloss und sie zurück auf die Füße beförderte.

»Wo hast du denn deine Augen, Mädchen?«

Sophie murmelte eine Entschuldigung, doch der Jogger schien das nicht wirklich wahrzunehmen. Verärgert warf er einen Blick auf das Smartphone, das zum Glück noch in ihrer Hand lag und nicht in den Fluss gefallen war. Blonde Strähnen hingen ihm in die Stirn, die er nun mit einer energischen Bewegung nach hinten strich. Seine blauen Augen funkelten sie missmutig an.

Vielleicht funkeln sie auch nur so, weil sich gerade ein Sonnenstrahl darin bricht, dachte Sophie fasziniert.

»Alles okay mit dir?«, fragte er, aber es klang weniger als läge ihm ihr Wohlbefinden am Herzen, sondern eher so, als würde er an ihrem Geisteszustand zweifeln.

Es war nicht ihre Schuld, dass sie eben noch nach einem Helden Ausschau gehalten hatte und er ihr praktisch in die Arme lief. Wie ein Held sah er wirklich aus, mit seinem hochgewachsenen, trainierten Körper. Der Jogger schien allerdings keine Lust zu haben, sich in den Kampf gegen Geisterwesen und alte Riesen begeben zu wollen. Er warf ihr noch einen zweifelnden Blick zu und verschwand dann im Laufschritt aus ihrem Sichtfeld.

»Packt Euch, Ihr Bierschlingel!«, rief sie ihm hinterher, nachdem sie ihre Verwirrung verdrängt hatte und der Jogger weit genug weg war, um sie nicht mehr zu hören. Da hatte das ganze Zitatelernen doch mal etwas Nützliches gehabt. Gerade Shakespeare war hervorragend dazu geeignet, Menschen zu beschimpfen. An ihrem Arbeitsplatz kam sie leider viel zu selten dazu, das richtig auszunutzen. Sie stellte sich Madame Merciers Gesicht vor, wie sie Sophie beim Fluchen und Schimpfen erwischte, und ein kleiner Schauer überlief sie. Dann lachte sie.

Mit einem Grinsen im Gesicht lief sie zügig weiter, überquerte die Alte Brücke und betrat die Altstadt durch das Brückentor mit den weißen Zwillingstürmen, passierte den Brückenaffen, dem sie kurz die Pfote tätschelte, und folgte dem Neckarstaden in Richtung Westen.

Das Bürgeramt der Altstadt lag direkt am historischen Marktplatz mit der markanten Herkulessäule. Doch Sophie hatte keine Augen, für die hübsch hergerichtete klassizistische Fassade. Ihre Gedanken waren ganz auf den Grund ihres Kommens gerichtet. Nur ganz nebenher dachte sie noch über den strahlenden Helden nach, der sie so heldenhaft vor einem Sturz bewahrt hatte.

Kapitel 2

»Ich kann unter dem Namen nichts finden«, sagte die Frau mit Blick auf den Bildschirm. »Sind Sie sicher, dass er so geschrieben wird?«

Sophie, bemüht, sich nicht von der herablassenden Stimme der Bürgeramtsangestellten provozieren zu lassen, lächelte und nickte. »So wie der römische Kaiser, wissen Sie?«

Die Frau sah sie kurz an und Sophie erkannte an ihrem Blick, dass sie es nicht wusste. Geschichtliche Bildung war offensichtlich keine Voraussetzung, um hier auf dem Bürgeramt eine Karriere zu starten.

»Wie genau schreibt man den?«, fragte die Frau, als wären sie das nicht schon fünfmal durchgegangen.

Sophie wollte schon sagen, so wie man es spricht, atmete dann aber einmal kurz durch und buchstabierte erneut: »T-I-B-E-R-I-U-S.«

Während sie die ersten Buchstaben noch langsam und betont sagte, nahm ihre Stimme im Verlauf an Fahrt auf, da die Frau ohnehin nicht so aussah, als würde sie ihr überhaupt zuhören. Vermutlich spielte sie heimlich Solitär auf ihrem Computer und versuchte Sophie nur hinzuhalten, da ein neuer Kunde neue Schwierigkeiten mit sich brachte.

»Und der Nachname ist Ihnen nicht bekannt?«, fragte die Frau, als hätten sie das nicht ebenfalls schon mehrfach durchgekaut.

»Leider nein«, antwortete Sophie, obwohl sie es bei früheren Besuchen des Amts in ihrer Verzweiflung mit Morel versucht hatte, aber da es der Nachname ihrer Mutter war, war sie damit, wie mit allen anderen Versuchen, ihren Vater zu finden, erbärmlich gescheitert. »Ich dachte, der Vorname wäre jetzt nicht so geläufig.«

Der Name war die Folge einer seltsamen Vorliebe in der väterlichen Linie für Namen römischer Kaiser. Sein Vater hieß Augustus und dessen Vater Julius. Wer wusste, was für ein Name sie erwartet hätte, wäre sie als Junge auf die Welt gekommen. Wenn man es logisch hätte fortsetzen wollen, vermutlich Gaius oder wie landläufig bekannt: Caligula.

»Hm«, machte die Frau und tippte mit ihren langen, rotlackierten Fingernägeln auf der Tastatur herum. »Ich fürchte, da ist nichts zu finden.« Noch immer wippte sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand leicht auf und ab, als würde sie sich startklar machen, für eine weitere Suche. »Geburtsdatum?«

Sophie schüttelte den Kopf.

»Hm …« Es klang in Sophies Ohren nicht besonders verheißungsvoll. »Und Sie sind sicher, dass Ihr Vater hier geboren wurde? Nicht vielleicht in Heilbronn? Das liegt ja recht nahe beieinander und klingt ähnlich. Das kann man mal verwechseln.«

»Ich … nein. Er kommt von hier«, beharrte Sophie, kam aber nun selbst ein bisschen ins Zweifeln. Heilbronn? Hatte sie vielleicht ihre ganze Suche auf einer falschen Grundlage aufgebaut? Hatte sie etwas falsch im Gedächtnis gehabt? »Nein«, sagte sie bestimmt. »Er ist hier geboren. Ich bin mir absolut sicher.«

»Hm …« Die Frau zog die gekämmten und ziemlich sicher gefärbten Augenbrauen zusammen. »Beruf?«

Sophie hätte am liebsten geweint. »Ich weiß nicht«, flüsterte sie.

Die Frau blickte sie an. »Wann, sagten Sie, haben Sie Ihren Vater das letzte Mal gesehen?«

»Vor neunzehn Jahren. Da ist er gestorben. Bitte, es muss doch irgendetwas über ihn geben. Eine Geburtsurkunde oder dergleichen? Das wird doch aufgehoben, oder nicht? Kann das verlorengegangen sein?«

»Natürlich nicht«, entgegnete die Frau pikiert. Offenbar fühlte sie sich in ihrer Ehre gekränkt, dass Sophie andeutete, sie würden hier schlampig arbeiten. Sophie fühlte sich wie ein kleines Schulmädchen. Dabei dürfte die Frau vor ihr kaum älter als sie sein. Nur deutlich aufgetakelter. Sophie hatte sich am Morgen nur nachlässig die Wimpern getuscht, um einen erwachsenen Eindruck zu machen. Der verschwand sofort in dieser bürokratischen Umgebung.

»Hier kann nichts verschwinden. Es ist schließlich alles digitalisiert.«

Als bedeutete ein Computerserver die Sicherheit schlechthin.

»Es könnte natürlich beim Übertragen zu Problemen gekommen sein«, gab die Frau nach einem Moment zu.

»Zu Problemen?«, hakte Sophie nach.

»Nun, möglicherweise hat einer unserer Mitarbeiter den Namen fehlerhaft eingegeben, sodass er in der korrekten Schreibweise nicht mehr aufzufinden ist. Schließlich gab es zu der Zeit, als ihr Vater geboren wurde noch nicht so viele Computer.« Sie lachte gekünstelt.

Sophie lachte nicht. Sie hätte nicht einmal gelacht, wenn der Spruch wirklich witzig gewesen wäre.

»Und jetzt?«, fragte sie.

»Das ist natürlich nur eine Spekulation. Sofern Sie sicher sind, dass er hier geboren wurde …«

… was ich nach wie vor anzweifele, bei ihrem mangelnden Wissen über Ihren Vater, vervollständigte Sophie den Satz in ihrem Kopf. Sie wünschte sich ja selbst, mehr über ihn zu wissen. Schließlich war sie deswegen nach Heidelberg gekommen.

»In Ordnung.« Sophie schob ihren Stuhl zurück. Er gab ein angenehm quietschendes Knarren von sich, als er über das glatte Linoleum rutschte. Die Frau verzog ihre roten Lippen. »Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit beansprucht habe. Sie haben sicher viel zu tun.«

»Wenn Sie nur ein wenig mehr über ihn wüssten«, sagte die Frau, als hätte sie sich gerade wieder an etwas wie Höflichkeit erinnert. Oder als fürchtete sie sich vor den fordernden Aufgaben, die ein neuer Kunde mit sich bringen könnte. »Vielleicht weiß Ihre Mutter etwas?«

Sophie nickte nur und verabschiedete sich. Ihre Mutter würde sie sicher nicht fragen. Nicht nur, da sie von ihr sowieso keine Antwort erwartete. Vielmehr weil sie fürchtete, dass sie Sophie hier aus Heidelberg fortschleppen würde, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, um zu verhindern, dass Sophie sich weiter mit der Suche nach ihrem Vater beschäftigte. Oder dem blassen Phantom von Vater, das seine Existenz irgendwo hinterlassen haben musste.

Sophie trat auf die Straße und warf einen missmutigen Blick zurück auf die gläserne Tür, die sie soeben hinter sich gelassen hatte. Vielleicht würde sie es in ein paar Tagen wieder versuchen und mit ein wenig Glück einen Angestellten vor sich haben, der etwas mehr detektivisches Gespür aufwies und Begeisterung zeigte, einem Phantom hinterherzujagen. Heute hatte sie kein Glück gehabt. Das war nun schon ihr dritter Besuch hier in der Altstadt, und die Bürgerämter in Neuenheim und Mitte hatte sie auch schon mehrfach abgeklappert. Langsam müsste sie wohl alle Angestellten durchhaben. Ein heimlicher Privatdetektiv war ihr dabei leider noch nicht untergekommen. Ein oder zwei waren ernsthaft bemüht gewesen, die meisten aber vor allem genervt von ihrem mangelhaften Wissen.

Ihre Hand war wie von selbst zu ihrer Umhängetasche gewandert und zog ein dünnes, gebundenes Buch heraus. Der einst weiße Einband war vergilbt und an einigen Stellen eingerissen, sodass er sich an den Rändern leicht einrollte. Jahre, ja fast zwei Jahrzehnte des ständigen Angreifens und darin Herumblätterns hatten ihre Spuren an dem Buch hinterlassen. Sophie betrachtete liebevoll das Bild des kleinen Prinzen. Es war das letzte Buch gewesen, das ihr Vater ihr von seinen zahlreichen Reisen mitgebracht hatte.

Sie schlug es auf. Auf dem Vorsatzpapier stand eine kleine Widmung in einer markanten Handschrift: »Für meine kleine Prinzessin. ›Lesen ist ein großes Wunder‹. Auf dass du viele Wunder in deinem Leben erfährst.«

Ihre Sicht verschwamm für einen Augenblick, ehe sie sich energisch mit dem Ärmel über die Augen fuhr, nur um sich dann daran zu erinnern, dass sie ihre Wimpern ja getuscht hatte. Also wischte sie noch einmal unterhalb der Wimpern entlang, um die schwarzen Schlieren so gut es ging zu beseitigen.

Ehrfürchtig blätterte sie die ersten Seiten des Buches um und betrachtete sie, als könnte sie damit ihren Vater heraufbeschwören. Tatsächlich hatte sie immer das Gefühl, sie würde seinen unverwechselbaren Geruch in der Nase haben, wann immer wie das Buch aufschlug. Und es lag nicht an dem Buch selbst. Sie hatte schon mehrfach an dem Buch gerochen, an allen Seiten, doch es roch einfach nur nach Buch. Etwas trocken, holzig mit einem Hauch Druckerschwärze. Doch nicht nach ihrem Vater. Vermutlich war es nur ihre Einbildung. Trotzdem hob sie erneut das Buch an ihre Nase und sog den Geruch tief ein. Dummkopf, dachte sie, schloss das Buch wieder und schob es bedächtig zurück in die Tasche, wo es seinen Platz zwischen Handy und Geldbeutel fand.

Sophie seufzte und ging zu ihrem Fahrrad, das sie unangekettet an die Wand gelehnt hatte. Vielleicht in der vagen Hoffnung, dass sich irgendein Mensch dieses alten, klapprigen Dings in einem blassen Türkis erbarmte. Bisher hatte sich jedoch kein Dieb dafür interessiert.

Für einige Zeit blieb ihr der Gedanke an einen Privatdetektiv im Kopf hängen, doch dann erinnerte sie sich an ihre eher bescheidenen finanziellen Möglichkeiten und entschied sich, erst mal alle anderen Mittel auszuschöpfen. Sie hoffte auf ein kleines Wunder, dass sie vielleicht durch einen Zufall über ihren Vater stolpern würde.

Kapitel 3

Nach dem Misserfolg im Bürgeramt, besuchte sie zur seelischen Wiederaufrichtung einen der zahlreichen Buchläden, mit denen Heidelberg aufwartete. Nummer dreiundzwanzig auf ihrer Liste lag nur fünfhundert Meter vom Bürgeramt entfernt, direkt an der Hauptstraße. Es war ein hübsches, kleines Antiquariat und Sophie schlenderte gemütlich an den Regalen vorbei, um sich an den vielfältigen Buchrücken zu erfreuen. Der Geruch von Papier und Staub lag in der Luft, durchdrungen von einem Hauch Kaffeeduft. Sophie mochte es hier auf Anhieb, suchte sich ein recht zerlesenes Exemplar von ›Der flüsternde Berg‹ heraus und nahm es mit. Sie mochte Bücher, die Geschichten neben den Geschichten in ihrem Inneren erzählten. Von einem vielfältigen Leben, von den zahlreichen Händen, die durch die Seiten geblättert und ihre Spuren hinterlassen hatten. So wie das Buch etwas gegeben hatte, hatte es auch etwas zurückbekommen. Vielleicht nicht immer zu seinem Vorteil.

Nach einem Abstecher in ihre Wohnung, machte Sophie sich auf den Weg zu ihrer Arbeitsstätte. Das Café ›Litérature‹ lag am Neckar, nur einen Steinwurf vom ehemaligen Marstall entfernt, der inzwischen eine Mensa beheimatete. Unscheinbar und zurückhaltend mit seinen weißen Sprossenfenstern fanden oft nur die Eingeweihten den Weg ins Café. Größtenteils Literaturschaffende und -liebhaber, sowie Menschen, die es genossen, zu ihrem Kaffee ein gutes Buch zu lesen, statt auf ihrem Handy im Internet zu surfen. Letzteres war im Litérature gar nicht möglich, da die Inhaberin Madame Mercier es irgendwie geschafft hatte, ihr Café von allen Handystrahlungen abzusperren, sodass das Internet nur im Schneckentempo vonstattenging. Und das durfte man auch nur klammheimlich, sonst konnte man sein elektronisches Gerät, welches auch immer, in der nächsten Mülltonne suchen. Sophie hatte das einmal tun dürfen, seitdem hütete sie sich davor, ihr Handy in Gegenwart von Madame Mercier zu zücken. Wenn es nach der werten Dame ging, waren alle elektronischen Geräte vom Teufel besessen und der beste Weg sie zu exorzieren war, ihnen einen Holzspieß zwischen die Schaltkreise zu treiben. Durch ihre starke Belesenheit vermischte sie bisweilen die Geschichten ein wenig.

Eine weitere Sache, die Madame nicht guthieß, war Unpünktlichkeit. Und das war vielleicht der einzige wirklich gravierende Punkt, den Madame an Sophie bemängelte. Alles andere, von ihrer französischen Herkunft mütterlicherseits bis zu ihrem Hang, sich mit den Gästen in Zitaten zu unterhalten, fand Madame Mercier sehr lobenswert.

Eine Dampfwolke stob aus einer Fensteröffnung und deutete an, dass Julian in der Küche zugange war. Was wiederum hieß, dass Sophie hier einen kleinen Snack abstauben konnte. In ihrer Wohnung hatte sie sich nur eine Tafel Schokolade gegönnt, weil ihr Mitbewohner, statt sie ordentlich zu bekochen, lieber hier herumsaß und Gäste verwöhnte. Er war also selbst schuld, wenn sie gleich seine Küche stürmen würde. Fröhlich stieg sie die Sandsteinstufen hinauf, hielt kurz inne und öffnete vorsichtig die Tür. Sie lugte in den Gastraum, doch von Madame war keine Spur zu sehen. Sie schlich zu der Garderobe, hängte ihre Jacke an den rostigen Haken und band sich zügig ihre Schürze um. Ein letzter Blick auf ihr Handy, um die letzten paar Zeilen, die sie dort gelesen hatte, in ihr Gehirn zu brennen.

»Besser drei Stunden zu früh als eine Minute zu spät«, murmelte sie unterschwellig. Damit konnte sie heute wohl leider nicht dienen.

»Sophie Morel!«, rief eine herrische Stimme hinter ihr und ließ sie zusammenfahren. Schnell drehte sie sich zu Madame Mercier um, während sie ihr unschuldigstes Lächeln aufsetzte und ihre Hand mit dem Handy hinter dem Rücken versteckte.

»Ah, non!«, rief Madame mit einem erhobenen Zeigefinger. »Glaub nicht, dass du mich damit um den Finger wickeln kannst, ma petite! Ich habe es genau gesehen!«

Sophie zuckte erneut zusammen und spürte ihr Mobiltelefon glühend heiß in ihrer schweißnassen Hand.

Der mächtige Busen der Französin bebte. Sophie versuchte weiterhin, ihr Unschuldslächeln beizubehalten, und schob ihre Hand unauffällig in Richtung Handtasche, um dort das Handy hineingleiten zu lassen.

»Trop tard! Ich dachte schon, wir würden heute jeden enttäuschen müssen! Die Leute erwarten doch etwas von uns. Von dir. Und ich auch.«

»Oft schlägt die Erwartung fehl …«, murmelte Sophie.

»Ah, Shakespeare, non?«, fragte Madame mit kritischem Stirnrunzeln. »Eh, bien. Besser als nichts, schätze ich.« Sie seufzte und nickte ihr zu.

Sophie ahnte, dass Madame lieber Victor Hugo oder Honoré de Balzac in ihren Räumen hören würde, am allerliebsten noch in der Originalsprache.

»So, dann los! Mets-toi au travail! Vite!«

Sophie nickte und als Madame sie aus ihren Fängen ließ, um sich einen Pastis mit einem speziellen Lieblingsgast zu gönnen, stahl Sophie sich in die Küche. Der verlockende Duft nach Frischgebackenem schwebte noch immer durch die Räume, lockte mit zarten, unsichtbaren Fingern und ließ ihren Magen vor Vorfreude jubilieren. In der Küche stand Julian und fuhrwerkte in dem engen Raum herum. Er hob den Blick und fixierte Sophie schweigend mit seinen braunen Augen. Er war ein wirklich gutaussehender Kerl, wenn man auf muskulöse Kraftpakete mit kurzen braunen Haaren und einem perfekt gestutzten Bart stand.

»Die Hoffnung auf Genuss ist fast so süß, als schon erfüllte Hoffnung«, sagte sie feierlich und er verdrehte wie erwartet die Augen. Dann wandte er ihr seinen breiten Rücken zu. Sophie griff noch nach einem warmen Croissant und schob es sich rasch in den Mund. Es war so luftig leicht, dass es zusammengequetscht ganz hineinpasste.

»Geld«, brummte Julian, ohne sich umzudrehen.

»Mmpfmpf«, erwiderte sie und ließ einen Euro in das dafür vorgesehene Sparschwein fallen.

»Aus welchem Stück war das denn?«

»Haha«, sagte Sophie wobei mehr ein »Hmpfhmpf« herauskam. Sie schluckte und verbeugte sich. »I have put money in thy purse!« Ein wenig Abwandelung sollte doch erlaubt sein.

Julian erwiderte nichts, sondern starrte nur einen Moment auf die Uhr, die an der Wand neben ihm hing, und hantierte dann weiter in der Küche herum. Sophie wischte sich hastig alle Krümel von Gesicht und Brust, fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne, um sicherzugehen, dass sie sauber waren, dann setzte sie ihr professionelles Bedienerlächeln auf, während sie in den Gastraum zurückeilte.

Der Gastraum war gut gefüllt. Jeannette, Madames Tochter, schob ihre ausladenden Hüften zwischen den Tischen hindurch und lachte, wann immer ein Gast sie ansprach. Sie lachte immer, egal ob man sie etwas fragte, mit ihr flirtete oder über sie schimpfte. Außerdem schwang sie stets fröhlich ihre Hüften, wobei Sophie sich nicht sicher war, ob mit Absicht oder ob das einfach ihr normaler Gang war. Kombiniert mit dem Lachen brachte das zumindest die männlichen Gäste meist dazu, länger zu bleiben als geplant.

»Sophie, vite!«, rief Madame ihr zu.

»Gemach! Leicht zum Fallen führt das Eilen«, sagte Sophie. Das hatte sie heute Morgen am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Der Arbeitstag verlief wie gewohnt mit den üblichen Gästen und den üblichen Bestellungen, während sie durch den Gastraum streifte. Nach einem Monat empfand es auch kaum einer mehr als Kuriosität, von einer Bedienung mit Shakespeare begrüßt zu werden. Sie hatte schon einige Schriftsteller bemüht, von Twain über Kästner bis hin zu Homer. Inzwischen war es auch keine besondere Herausforderung mehr, nur noch in Zitaten zu antworten. Es gab zwar immer irgendwen, der versuchte, sie kalt zu erwischen, aber da sie sich gut auf ihre Autoren eingestellt hatte, konnte sie sich im Bedarfsfall auch einfach etwas aus den Fingern saugen und dabei den richtigen Ton treffen.

Tatsächlich fühlte sie eine dezente Langeweile, während sie von Tisch zu Tisch ging und ihre Phrasen aufsagte. Um sich ein wenig abzulenken, begann sie die anwesenden Gäste in die verschiedenen Theaterstücke einzusortieren. Sie wartete noch immer auf Lady Macbeth. Der eine Professor hatte jedoch, zumindest körperlich, eine gewisse Ähnlichkeit mit Richard III. Leider mit einem leichten Hang zum Lispeln.

Und da am Fenster, an seinem üblichen Platz saß Anton, ein junger Autor, der in trübseliger Stimmung war. Offenbar hatte er wieder Probleme mit seinem Roman. Er war auch optisch der Inbegriff des romantischen Dichters, mit seinen braunen Locken, die ihm auf die Stirn fielen, und der dunkel umrandeten Brille. Sophie überlegte, wie er wohl mit einem Schädel in der Hand aussehen würde. Unwillkürlich blickte sie sich in dem Café um, auf der Suche nach einem Schädel, den sie ihm in die Hand drücken könnte.

»Sophie«, hörte sie die weiche, melodische Stimme der Französin aus dem hinteren Teil des Cafés und zuckte erschrocken zusammen.

War sie vielleicht wieder zu abwesend gewesen? Hatte sich jemand über sie beschwert? Sie warf einen kurzen Blick durch den Gastraum, dann eilte sie zu Madame.

Als sie um die Ecke bog und sich gerade eine Ausrede zurechtlegte, warum sie so viel Zeit mit Nichtstun verbracht hatte, sagte Madame mit einem herzlichen Lächeln: »Ah, da bist du ja. Ich muss dir noch jemanden vorstellen. Unseren Vorleser für nachher. Das ist Nicholas. Nicholas Boyle. Sophie Morel.«

Die Lesestunden, die in einem extra dafür hergerichteten Vorlesesaal abgehalten wurden, waren eine Spezialität des Cafés. Sophie hatte schon viel davon gehört und sich darauf gefreut, auch einmal daran teilzunehmen. Sie mochte es guten Vorlesern zu lauschen, wenn sie den geschriebenen Worten mit ihrer Stimme Leben einhauchten. Im Litérature gab es einen besonderen Vorleser und das war dieser Nicholas.

Auch über ihn hatte sie bereits einiges gehört. Das meiste von Jeannette und das in einem schwärmerischen Ton, der einen griechischen Gott oder wenigstens einen Halbgott vor ihrem inneren Auge hatte entstehen lassen. Er war die letzten vier Wochen im Urlaub gewesen und heute war sein erster Vorlesetermin seit Sophies Ankunft in Heidelberg. Madame hatte ihr daher befohlen, heute dem Vorlesen beizuwohnen, und Sophie war nicht abgeneigt gewesen.

Jedenfalls bis sie nun Nicholas gegenüberstand.

Es war dieser blonde Jogger mit den strahlend blauen Augen. Er hatte tatsächlich etwas von einem griechischen Gott an sich, so groß und sportlich-schlank, wie er war. Apollon vielleicht. Er überragte sie um einen ganzen Kopf und das nutzte er, um spöttisch auf sie herabzulächeln. Ganz offensichtlich erinnerte er sich ebenfalls an sie. Seine blauen Augen funkelten dabei leider nicht. Vielleicht hatte sie es sich vorhin im Sonnenschein wirklich nur eingebildet. Dafür waren seine Haare jetzt in einem absichtlichen Durcheinander nach hinten gestylt, was ihm ziemlich gut stand.

»Ah, der Smombie.«

»Äh, was?« Ganz offensichtlich hatte sie kurz den Fokus verloren, bei der Bertachtung seines zugegebenermaßen sehr attraktiven Äußeren.

»So nennt man doch Menschen, die nur auf ihr Handy schauen und nichts von der Umgebung mitbekommen. Und dann andere Leute anrempeln.«

Ihr Gesicht wurde heiß. »Oh, ja, äh … Tut mir leid.« Super schlagfertig, Sophie. Hättest doch mehr Beschimpfungen à la Shakespeare auswendig lernen sollen.

»So, Sophie!«, rief Madame aus dem Hintergrund. »Keine Zeit zum Flirten. Allez! Le travail.«

Flirten war auch Sophies erster Gedanke gewesen, als sie Nicholas herablassenden Blick auf sich gespürt hatte, gleich gefolgt von, einen dicken Wälzer aus dem nächsten Regal zu nehmen und ihm diesen über den Schädel zu ziehen. Allerdings war sie nur in ihrer Fantasie so gewalttätig. Ein Glück für die Bücher in ihrer Umgebung. Sie wollte sich gerade abwenden, da hielt sie inne, blickte erneut zu Nicholas hoch und sagte: »Wer hastig läuft, der fällt.«

»Bitte, was?«, fragte er wie vom Donner gerührt. »Davon abgesehen wärst du gefallen und nicht ich, hätte ich dich nicht aufgefangen.«

»Ein tiefer Fall führt oft zu hohem Glück«, erwiderte sie achselzuckend und lief grinsend davon, ehe Madame sie erneut antreiben konnte.

Sie fühlte noch Nicholas’ finsteren Blick im Rücken, als sie im Gastraum herumlief und Bestellungen aufnahm, und überlegte innerlich lachend, ob sie sich jetzt seinen göttlichen Zorn aufs Haupt geladen hatte. Bald darauf bemerkte sie, dass er sich zu Anton gesellt hatte und sich mit ihm unterhielt. Sophie überlegte währenddessen, welche Rolle in Shakespeares Stücken für Nicholas geeignet wäre, doch irgendwie waren alle Figuren zu sympathisch. Selbst König Lear.

Als sie gezwungenermaßen an dem Tisch vorbeikam, hielt Nicholas sie auf. Da eben erst Jeannette dort ungestört vorbei hüftgewackelt war, ahnte Sophie, dass er sie wohl mit Absicht abgepasst hatte.

»Fräulein«, sagte er in einem spöttischen Ton. »Darf ich einen Wunsch äußern?«

»Wie der Ochse sein Joch hat, Herr, das Pferd seine Kinnkette und der Falke seine Schellen, so hat der Mensch seine Wünsche«, antwortete sie gleichmütig.

»Ja, ich habe verstanden, dass du heute nur mit Shakespeare antwortest. Wie lange, glaubst du, hältst du das durch?«

»Komme, was kommen mag; die Stund’ und Zeit durchläuft den rauhsten Tag.«

»Wie kann man sich das alles eigentlich merken?«

Sophie zuckte nur die Achseln.

»Oh, hast du darauf keine Antwort?«

»Nein!«

»Hm, das war sicher kein Zitat«, gab er zurück. »Ich schätze, du bist raus.«

»Aber wieso?«, fragte sie überrascht. »Das war eindeutig aus Hamlet, dritter Aufzug, erste Szene. Vielleicht nur ein wenig gekürzt.«

Für einen Moment starrte er sie sprachlos an. Dann sah sie, wie ein kleines Lachen seine Augen erhellte und Sophie beobachtete fasziniert, wie es seine ganze Erscheinung veränderte. Er war vorher schon ausgesprochen attraktiv gewesen, aber ziemlich unnahbar. Das Funkeln in den Augen machte ihn nahezu sympathisch.

»In Ordnung, dieser Punkt geht an dich«, gab er lächelnd zu. »Leider kann ich das jetzt nicht weiterführen. Meine Lesestunde fängt gleich an. Aber ich verspreche dir, dass ich dich erneut herausfordern werde.«

»Stets lächelt Willkomm’, Lebewohl geht seufzend.«

»Na, ob das so stimmt«, sagte er zweifelnd und musterte sie einen Moment. Vielleicht suchte er gerade ihr Seufzen. Da konnte er lange suchen.

Kapitel 4

Ziemlich widerwillig ging auch Sophie, nachdem sie ihre Schürze nachlässig an ihren Haken geworfen hatte, zu dem Lese-saal. Heute war es eine Vorstellung für Kinder mit Carrolls ›Alice im Wunderland‹. Sophie hatte das Buch immer geliebt und fürchtete sich jetzt davor, bei der Vorlesestunde zuzuhören. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie gerade Nicholas mit seiner Stimme, die eine Spannweite von spöttisch bis hochmütig hatte, soweit sie bisher feststellen durfte, die Atmosphäre des Buches rüberbringen sollte.

Sophie wollte sich schon aus der Sache herausreden, doch Madame bestand darauf, dass sie das unbedingt miterleben müsste. Und da sie ihr dafür den Rest des Tages frei geben wollte und Sophies Gehirn schon ein bisschen matschig vom ganzen Shakespeare war, gab sie schließlich nach. Zur Not konnte sie sich die Finger in die Ohren stecken und an irgendetwas anderes denken. Ähnlich hatte sie auch die Schulzeit hinter sich gebracht, nur ohne das mit den Fingern. Das wäre bei den Lehrern wahrscheinlich nicht so gut angekommen. Sollte sie Nicholas damit brüskieren, wäre ihr das nur recht.

Der Raum wirkte wie eine Mischung aus großzügigem Wohnzimmer und Heimtheater. In einer Ecke stand ein lederner Ohrensessel und daneben eine ältliche Leselampe, die das Sitzmobiliar hell beleuchtete. In einem Halbkreis drum herum standen mehrere Reihen aus wahllos zusammengewürfelten Sitzmöbeln, die bis zu fünfzig Zuhörern Platz boten. Und wie es aussah, würden heute alle Plätze und der Boden vor der ersten Reihe besetzt werden. Die Wände waren schlicht weiß getüncht und die Fenster mit schweren, dunkelroten Vorhängen behängt, die das Tageslicht nur schwach hindurch ließen, sodass der restliche Raum in einem trüben Dämmerlicht verharrte.

Sophie setzte sich auf einen Stuhl in der hintersten Reihe, ganz am Rand, und bemerkte zu ihrer Erleichterung, dass sie nicht die älteste Zuhörerin war. Zwar überwog die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, aber das Publikum war auch gut durchsetzt von Erwachsenen bis ins hohe Alter. Nicholas schritt gelassen nach vorne zu dem Sessel und ließ sich dort nieder.

Jetzt, da sie ihn dort vorne sitzen sah, konnte sich Sophie noch weniger vorstellen, wie so ein Kerl, der mehr in einem Fitnessstudio, auf einem Laufsteg oder vor der Kamera statt in einer Bibliothek zu Hause schien, eine Geschichte wirklich gut erzählen könnte. Er war außerdem zu jung. Auch wenn das ein albernes Argument war, wie sie zugab, schließlich hatte sie selbst schon einige jüngere Autoren ihre Werke vortragen gehört und das oft sehr ansprechend. Doch Nicholas wirkte hier, jedenfalls in ihren Augen, vollkommen fehl am Platze.

Aber die Masse an Zuschauern strafte diesen Eindruck Lügen. Sie kamen sicher nicht nur hierher, um Nicholas wegen seines guten Aussehens zu bewundern. Abgesehen vielleicht von einer Handvoll Teenie-Mädchen in der ersten Reihe, die ihn deutlich anhimmelten und denen er ein nachlässiges Nicken schenkte.

Er schaute einmal in die Runde und alle Zuhörer verstummten. Sophie schien es, als würde er für einen Moment an ihrem skeptischen Gesicht hängen bleiben und die Augenbrauen leicht heben, aber vielleicht war es auch nur Einbildung. Trotzdem errötete sie und war froh um das Dämmerlicht, das das Publikum umgab. Dann begann Nicholas zu lesen.

»Alice fing an sich zu langweilen; sie saß schon lange bei ihrer Schwester am Ufer und hatte nichts zu tun.«

Mit den ersten Worten, die aus seinem Mund kamen, fühlte sich Sophie gefangen. Sie hatte sich geschworen, dass es ihr nicht gefallen würde, egal was käme. Mühsam klammerte sie sich an ihre Abneigung, die sie Nicholas gegenüber empfand, doch mit jeder weiteren Silbe schmolz ihr Widerstand dahin. Seine Stimme, mit der er eben noch so kühl und spöttisch mit ihr geredet hatte, klang nun warm und voller Gefühl. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr Blick hing an seinen Lippen und folgte deren Bewegungen, als fürchtete sie, etwas zu verpassen, wenn sie nur einmal wegschaute.

Ein Raunen und Murmeln ertönte aus den Reihen der Zuhörer und ließ Sophie sich umschauen. Und dann sah sie es auch. Die beiden Schwestern, wie sie am Ufer saßen. Sie hörte sie in ihren Stimmen reden, wie sie sie sich immer vorgestellt hatte. Erregt folgte sie mit den Augen das weiße Kaninchen mit seiner Uhr, wollte sich am liebsten hintendrein in das Loch stürzen, in das Alice nun fiel. Gebannt betrachtete sie das Wunderland und versuchte es mit dem abzugleichen, was sie sich immer vorgestellt hatte, als sie das Buch selbst gelesen hatte, doch mit jedem Wort vermischten sich Erinnerung und die Bilder, die ihr nun vor Augen lagen, und es wurde ein Ganzes.

Ihr Körper fieberte mit den Abenteuern des jungen Mädchens mit. Sie zitterte furchtsam, freute sich, lachte und weinte. Und sie konnte es nicht verhindern. Ja, sie wollte es nicht einmal. Sie wollte ganz in dieser Geschichte aufgehen.

Nicholas verstummte. Die letzten Bilder hingen noch für einen Moment in der Luft und verblassten dann allmählich. Sophie saß stumm da und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Erfolglos. Es war absolut irreal und unmöglich gewesen, aber so wunderschön. Der einsetzende Jubel der Zuhörer riss sie zurück in die Gegenwart. Die blassen Schatten der Geschichte verpufften in dem plötzlichen Lärm. Sophie hatte das wehmütige Gefühl, in ein Paradies geblickt zu haben, um dann brutal daraus verbannt zu werden. Es dauerte einen Moment, ehe ihr bewusst wurde, dass ihr Sitznachbar sie angesprochen hatte. Befremdet blickte sie ihn an.

»Das erste Mal dabei?«, wiederholte der ältere Herr neben ihr freundlich seine Frage. Sie nickte geistesabwesend.

Er kicherte. »Ja, so geht es wohl jedem beim ersten Mal«, sagte er. »Ich hatte danach gleich nach den Projektoren gesucht, die das ausgestrahlt haben mussten. Aber da war nichts.«

Unwillkürlich blickte sich jetzt auch Sophie um. Doch an der weiß getünchten Decke und den mit dicken Vorhängen behängten Wänden war nichts dergleichen auszumachen.

»Wie funktioniert das?«, fragte sie mehr sich selbst.

»Er ist ein Leser.« Als würde das alles erklären. Sophie schaute den Mann irritiert an.

Er lachte wieder. »Ja, so habe ich auch geschaut, als man mir das erklärt hat. Ein Leser ist ein Mensch, der die Geschichten zum Leben erwecken kann. Es gibt wohl nicht allzu viele von ihnen. Zumindest habe ich in meinem Leben erst zwei kennengelernt. Den jungen Nicholas hier und noch einen freundlichen Herrn, der mir davon erzählt hat.«

»Von Lesern habe ich noch nie gehört. Sollte so etwas nicht bekannt sein, wenn das real ist?«

Der Mann lachte. »Ja, das sollte man meinen. Doch heutzutage sind die Menschen so vieles gewohnt, an Tricktechnik oder sonstigem. Da kommt man wohl gar nicht auf die Idee, dass es echt ist, oder? Die Zuschauer hier sehen es eher als besonders gelungene Show an. Was wirklich dahinter steckt, wissen nur die Wenigsten.« Er blickte sich um, als erwartete er, dass man ihn wegen des Geheimnisverrats gleich belangen würde. »Nun ja, aber wie gesagt, wer glaubt schon daran, dass ein Mensch das nur mit den Worten aus einem Buch und seiner Stimme erschaffen kann? Die Kunst des Vorlesens wird ja auch nicht mehr so geschätzt wie zu Zeiten, als es noch keine Filme gab. Möglicherweise gibt es noch weitaus mehr Leser, aber sie wissen es selbst nicht.«

Den letzten Satz sagte er mehr zu sich selbst und er schaute so wehmütig, als wünschte er sich, selbst ein Leser zu sein. Dann seufzte er, erhob sich und ging mit einem kurzen Gruß, den sie mit einem abwesenden Lächeln beantwortete.

Sophie blieb noch eine Weile sitzen und versuchte zu verdauen, was sie da erlebt hatte. Irgendwie war sie noch immer in der Geschichte gefangen und sie wünschte sich, dass Nicholas weiterlesen und sie zurück ins Wunderland bringen würde.

Sie wusste nicht, wie lange sie so da herumgesessen hatte, doch als sie sich umblickte, war sie ganz allein und es war düster im Raum. Nur durch die leicht geöffnete Tür drang ein Spalt Licht vom Flur herein. Langsam stand sie auf und wollte gerade gehen, da drehte sie sich noch einmal um und warf einen Blick zurück zu dem großen Ohrensessel. Auf seinem Sitzpolster lag das Buch.

Möglicherweise gibt es noch weitaus mehr Leser, aber sie wissen es selbst nicht.

Ohne es recht zu bemerken, ging Sophie zum Sessel, nahm das Buch und setzte sich. Sie knipste die Stehlampe an und öffnete das Buch, das sich freiwillig an der Stelle teilte, an der Nicholas aufgehört hatte zu lesen.

Lautlos begann Sophie zu lesen, folgte den Buchstaben und Worten mit den Augen. Doch es war nicht das Gleiche und frustriert wollte sie das Buch schon beiseitelegen. Dann hielt sie inne, blickte sich einmal um, um zu schauen, ob sie wirklich allein war, und begann erneut zu lesen. Diesmal lauter. Sie versuchte die Gefühle, die sie eben gehabt hatte, und die Bilder, die sie gesehen hatte, in jedes Wort hineinzulegen, das ihr über die Lippen kam. Sie fühlte das Glück, den Schmerz, die Angst. Spürte den warmen Sonnenschein auf ihrer Haut. Hörte die Stimmen und Geräusche. Roch die Rosen, deren Duft den Raum zu erfüllen schien.

Und da sah sie, wie die Bilder zurückkamen. Etwas blass, als würde man sie durch einen Schleier betrachten, aber sie waren da. Sophie stockte kurz, denn obwohl sie gehofft hatte, sie zurückzubefördern, hatte sie nicht wirklich damit gerechnet, dass es funktionierte. Bevor sie vollständig verschwanden, fasste Sophie sich wieder und las weiter, mit fröhlich hüpfendem Herzen und einem flatternden Gefühl im Magen.

Mit der Sicherheit, die sie mit jedem weiteren Satz hinzugewann, wurden die Bilder deutlicher und lebendiger. Begeistert hörte sie auf zu lesen und blickte sich um. Und gerade als sie weiterlesen wollte, sah sie durch die verblassten Bilder einen Menschen hinten im Raum stehen. Vor Schreck blieb ihr Herz fast stehen und sie ließ das Buch fallen.

Da stand Nicholas. Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte er mit dem Rücken an der Wand und starrte sie finster an. Hastig sprang Sophie auf und lief hinaus, ohne darauf zu achten, ob er noch irgendetwas von ihr wollte.

Kapitel 5

Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster und setzte sich mitten auf Sophies Gesicht, wo er ihre Augen hinter den geschlossenen Lidern kitzelte. Missmutig zog sie ihre Daunendecke über den Kopf und versuchte, noch irgendwie so etwas wie Schlaf zu finden. Oder Erholung. Sie hatte nicht besonders gut geschlafen. Ständig hatte sie die Bewohner des Wunderlands um sich gehabt, die sie mit in ihr Buch ziehen wollten. Sie war auch nicht abgeneigt gewesen. Bis sie sah, dass Nicholas ebenfalls dort war und sie mit seinem finsteren Blick durchbohrte. Das hatte ihre Nachtruhe nachhaltig gestört. Sie fühlte sich jetzt wie gerädert.

Sophie war froh, dass sie heute ihren freien Tag hatte. So konnte sie das Erlebte erst einmal verarbeiten. Oder versuchen, es zu verarbeiten. Noch immer war sie ganz erstaunt, fasziniert und begeistert davon, was sie am Vortag erlebt hatte. Es war so unwirklich und so wundervoll gewesen. Jedenfalls, bis sie der Blick aus zwei harten, blauen Augen getroffen hatte und sie sich hatte wünschen lassen, der Boden würde sich unter ihr öffnen und sie verschlingen.

Da ihre Gedanken sie daran hinderten erneut einzuschlafen und es unter der Decke schnell stickig wurde, strampelte Sophie sie schließlich weg und blickte einfach starr nach oben. Leider war ihre Vorstellungskraft besonders lebhaft. Unter normalen Umständen fand sie das eigentlich in Ordnung, hatte es ihr doch gestern geholfen, so schnell in das Buch hineinzufinden und die passenden Bilder heraufzubeschwören. Doch gerade jetzt störte es sie extrem, denn diese Vorstellungskraft ließ nun vor ihr diese blauen Augen entstehen. Und das Gesicht ihres Besitzers, mit seinem hochmütigen Ausdruck. Blöder Arsch, dachte sie und hoffte, diese Verwünschung würde das Bild verschwinden lassen. Doch das Gesicht zeigte nur sein herablassendstes Lächeln.

Mühsam raffte sie sich auf und hievte sich aus dem Bett, das das Herzstück in ihrem achtzehn Quadratmeter Zimmer bildete. Unter dem Fenster, durch das die Morgensonne hereinblickte, stand der Schreibtisch. Darunter zwei Pappkisten vom Umzug, die Sophie noch nicht ausgeräumt hatte. An der Wand, neben dem Schreibtisch, stand ein einfaches Holzregal, das noch recht nackt und leer dastand, abgesehen von einem Stapel Bücher, die sie hier in Heidelberg gekauft hatte. Ihrem Bett gegenüber stand ein älterer, angeschlagener Kleiderschrank aus Kiefernholz. Dort angekommen zog sie die Türen auf und warf einen zweifelnden Blick auf die Klamotten. Da sich keines ihrer Kleidungsstücke richtig in den Vordergrund drängte, nahm sie nur ein frisches T-Shirt und Unterwäsche heraus, schnappte sich die Jeans vom Vortag und schlurfte damit ins Bad.

Geduscht und angezogen ging sie in ein Café in der Unteren Straße, setzte sich in die Ecke direkt am großen Fenster, bestellte einen Latte macchiato und zückte ihr Lieblingsbuch. Vielmehr eines ihrer zahlreichen Lieblingsbücher: Nonni und Manni. Die beiden Jungs aus Akureyri hatten ihr schon in ihrer Jugend durch trübe Zeiten geholfen. Sophie war gerade ganz in der Geschichte versunken, als eine kühle Stimme sie zurück in die Wirklichkeit holte.

»Ist hier noch frei?«, fragte Nicholas.

Entsetzt blickte Sophie auf. Ohne ihre Antwort abzuwarten, setzte er sich auf den Stuhl ihr gegenüber. Die Hände in die Taschen seiner Jeans vergraben lehnte er sich zurück und fixierte sie mit seinem Blick. Wie eine Schlange eine Maus, fuhr es Sophie durch den Kopf. Und so fühlte sie sich auch gerade. Wie erstarrt erwiderte sie seinen Blick, das Buch noch halb erhoben in der Hand. Langsam wandelte sich der erste Schock in Wut, weil er sie so unhöflich anstarrte.

Sie wollte ihm gerade etwas ebenso Unhöfliches an den Kopf werfen – oder wahlweise das Buch in ihrer Hand –, da fragte er unvermittelt: »Wo hast du deine Ausbildung gemacht?«

Seine Stimme klang seltsam hart, voller Misstrauen.

»Ich habe keine Ausbildung gemacht«, antwortete Sophie, obwohl sie eigentlich beabsichtigt hatte, ihn anzupflaumen, was ihn das bitte anginge. »Ich habe studiert. Literaturwissenschaften.«

Sie merkte, wie sie anfing zu plappern und schwieg wieder,

»Wer studiert denn so was?«, fragte er. »Das ist aber nicht, was ich meinte. Ich wollte wissen, wo du das Lesen gelernt hast.«

Er betonte ›Lesen‹ ungewöhnlich deutlich, was in ihr eine gewisse Ahnung weckte, worauf er abzielte. Gleichmütig schloss sie ihr Buch und legte es vor sich auf den Tisch.

»In der Schule«, sagte Sophie leichthin und beobachtete, wie Nicholas darauf ansprang.

»Schule?«, fragte er und richtete sich auf. »Was für eine Schule?« Eine steile Falte ragte zwischen seinen Augenbrauen empor.

»Na, die Schule bei uns daheim«, antwortete sie, erfreut darüber, auf Anhieb den richtigen Knopf gedrückt zu haben. »Aber wenn ich es recht bedenke, war es meine Schwester, die mir das grundsätzliche Verständnis beigebracht hat«, fügte sie hinzu.

»Deine Schwester kann auch lesen?«

»Ja, ist das nicht erstaunlich?«, fragte sie treuherzig. »Alle aus meiner Familie können es. Und ich glaube, auch alle in unserer Nachbarschaft. Jedenfalls nehme ich das an, aber es würde wohl auch niemand damit angeben, wenn er nicht lesen könnte …«

Sie fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Nasenspitze und tat, als würde sie über diese Sache nachgrübeln.

In Nicholas’ Gesicht zeigte sich die Erkenntnis, dass sie ihn mutwillig falsch verstand. Sophie konnte beobachten, wie er um Fassung rang und versuchte, seine aufkochenden Gefühle zu dämpfen.

»Sehr amüsant«, sagte er, doch klang eher wütend als belustigt. »Bist du eigentlich immer so?«

»Was meinst du mit so?« Sophie erwiderte seinen Blick unschuldig, aber konnte ein leichtes Zucken ihrer Mundwinkel nicht verhindern.

Offenbar sah Nicholas das, denn er verzog das Gesicht. »So unverschämt.«

Sie hob die Augenbrauen. »Na, was das angeht …«

Er wollte gerade etwas entgegnen, schloss den Mund wieder und lächelte unfreiwillig.

»Also gut, ich war auch nicht ganz höflich«, gab er zu und versuchte, seiner Stimme einen freundlicheren Klang zu geben. »Dürfte ich erfahren, wo du gelernt hast, so vorzulesen, wie du es gestern getan hast?«

»Ich habe es nicht gelernt.«

Zweifelnd schaute er sie an. »Hast du es dir selbst beigebracht?«

»Sozusagen. Ich hab’s gestern zum ersten Mal versucht.«

»Zum ersten Mal?«

Etwas in seiner Stimme ließ ihr Herz vor Aufregung fast stolpern. »Hab ich es gut gemacht?«

»Nun, ganz passabel«, sagte er und warf ihr einen kritischen Blick zu. »Wenn du es gelernt hättest. Für einen Neuling hingegen …«

»Oh, ich war gut, oder?«, rief sie begeistert aus und klatschte in die Hände. Sie bemerkte die irritierten Blicke der anderen Gäste und grinste. Insgeheim hoffte sie, ihr Gegenüber würde sich dabei ausgesprochen unwohl fühlen, doch leider schien er davon gänzlich unbeeindruckt.

»Na, wir wollen ja jetzt nicht überheblich werden. Du hast noch viel zu lernen.«

»Wenn hier jemand überheblich ist …«, murmelte sie. »Wo kann ich es lernen?«, fragte sie lauter.

»Du hältst mich für überheblich?«

Sophie hob eine Schulter. »Na ja, vielleicht nur etwas griesgrämig.«

Für einen Moment blickte er sie perplex an, dann lachte er plötzlich auf. Sie war immer noch fasziniert, wie sehr er sich veränderte, wenn er lachte. Es erhellte seine kühlen, blauen Augen und ließ sie funkeln.

»Anton hatte unrecht. Ich hielt immer viel auf seine Menschenkenntnis, aber dich hat er als nettes, liebenswürdiges Mädchen beschrieben und ich wüsste nicht, wie er sich gravierender hätte irren können.«

»Oh, hat er das? Das ist ja lieb von ihm«, sagte Sophie ganz gerührt und ignorierte gleichmütig den zweiten Teil seiner Rede. Mit einem Mal wurde sie ernst. Sie beugte sich zu Nicholas vor und blickte ihn eindringlich an. »Kannst du mir beibringen vorzulesen?«

Nachdenklich strich er sich mit dem Daumennagel über die Unterlippe, während er sie musterte. Sophie wartete ungeduldig, dass er etwas sagen würde, doch sie hütete sich, ihn erneut zu ärgern. Ihre Neugier hatte die Oberhand gewonnen. Allein die Möglichkeit, dass man dieses Lesen lernen konnte, erfüllte sie mit einer euphorischen Aufregung. Nicholas ergriff Sophies Buch und blätterte darin herum. Dann hielt er inne und warf ihr einen prüfenden Blick zu.

Er reichte ihr das aufgeschlagene Buch. »Lies das vor.«

Zaghaft griff sie danach und blickte sich unsicher im Café um. »Ich kann doch hier nicht einfach irgendetwas laut vorlesen.«

»Ja, ich verstehe, dass das recht unangenehm ist, wenn man so schüchtern ist«, sagte er spöttisch. »Du kannst es auch still vorlesen.«

»Das funktioniert?« Sophie runzelte zweifelnd die Stirn, doch dann beugte sie sich über das Buch und las lautlos den Text. Sie versuchte, sich auf die Geschichte einzulassen, aber der bohrende Blick von Nicholas irritierte ihr Gehirn, das sich unentwegt fragte, ob irgendwas in ihrem Gesicht hing oder sie sonst irgendwie komisch aussah. Schließlich hob sie die Augen zu ihm.

»Das geht nicht. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn man mich anstarrt.«

Nicholas blickte sich um. »Es guckt doch niemand.« Dann lachten er sie mit seinen Augen vergnügt an. »Oh, du meinst mich. Gut, ich werde woanders hinsehen.«

Wie schaffte er es nur, mit den Augen zu lachen und dabei ein vollkommen unbewegtes Gesicht zu behalten? Mit einem griesgrämigen Nicholas konnte sie besser umgehen. Dieser belustigt funkelnde Blick machte sie nervös, so als könnte etwas in ihr ihn tatsächlich charmant finden. Was er definitiv nicht war, mahnte sie sich streng.

Nicholas hatte sein Handy gezückt und schien irgendetwas zu spielen. Sophie begann erneut zu lesen und versuchte sich die Szenerie genau vorzustellen, die eisige Luft Islands zu fühlen, den Schnee zu riechen.

Endlich spürte sie einen kühlen Hauch, der über ihre nackten Unterarme strich. Dann rieselte Schnee von der Decke. Die weißen Flocken glitten zu Boden und bildeten eine dünne Schicht. Aus dem Augenwinkel nahm Sophie wahr, wie die Leute verwundert nach oben blickten, und sie musste ein Grinsen unterdrücken. Langsam entstanden die Umrisse der Berge und der graublaue Fjord, der sich vor ihnen erstreckte.

»Das reicht«, hörte sie Nicholas’ Stimme wie aus weiter Ferne, doch es widerstrebte ihr aufzuhören. Nur ein kleines Bisschen noch. Es drängte sie, in die Geschichte einzutauchen. Sie wollte mehr lesen, mehr sehen …

Plötzlich wurde das Buch zugeschlagen und sie wurde brutal in die Wirklichkeit zurückgeworfen. Sophie keuchte. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie im ganzen Raum verstreut und müsste sich erst wieder neu zusammensetzen. Verwirrt blinzelte sie. Nicholas stand vor ihr, das Buch in der Hand und einem seltsamen Ausdruck in seinen Augen. Sophie wollte etwas sagen, doch ihre Zunge gehorchte ihr nicht und ein leichter Schwindel erfasste sie.

»Es tut mir leid«, sagte Nicholas. »Das hier ist wohl doch der falsche Ort für solche Experimente. Lass uns gehen.«

Sie erhob sich, noch immer leicht abwesend, und schwankte. Nicholas ergriff ihren Arm und zog sie mit sich hinaus. An der frischen Luft angelangt hatte Sophie sich halbwegs wieder gefasst und rief erschrocken: »Ich hab noch gar nicht bezahlt!« Sie wollte gerade wieder zurück ins Café taumeln, doch Nicholas drückte sie recht grob auf einen der davor stehenden Stühle und ging selbst ins Café zurück, um ihre Schulden zu bezahlen.

Sophie blieb gehorsam sitzen, wie er sie in einem mürrischen Befehl angewiesen hatte, auch wenn ein Teil von ihr gegen diese dreiste Bevormundung rebellierte. Doch noch immer fühlte sie sich etwas schwach, als würden irgendwelche Moleküle ihres Körpers fehlen. Vielleicht tummelten sie sich in den Resten der vorgelesenen Geschichte, ohne zu bemerken, dass sie den Anschluss verpasst hatten. Ein Zittern hatte sich in Sophies Glieder geschlichen und verebbte nur sehr langsam. Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie dieses Lesen tatsächlich lernen wollte, wenn es solche Nebenwirkungen hatte. Doch sie hatte diese Bedenken kaum zu Ende geführt, als sie sie schon energisch von sich geschoben hatte.

Als Nicholas wieder nach draußen trat, hob sie den Blick. Sein Gesicht drückte deutlich seinen Argwohn und seine Ablehnung aus. Aber daneben lag etwas anderes, das wie ungläubiges Staunen aussah und eine Spur Neugier.

»Kannst du mich im Lesen unterweisen?«

»Ich schätze, ich habe zumindest die Verpflichtung, dir die wichtigsten Grundlagen beizubringen, sodass du dich nicht in einem Buch verirrst. Und auch keine Gefahr für andere wirst.« Er klang, als könnte er sich vor Begeisterung kaum halten. Das genervte Stöhnen unterstrich diesen Eindruck noch zusätzlich.

Er befahl ihr aufzustehen und mitzukommen, und nach kurzem Widerstreben gehorchte Sophie. Sie hätte ihm weitaus lieber einen Tritt gegen sein sehr ansehnliches Bein gegeben, aber sie beherrschte sich mühsam.

Da sie beim Gehen noch immer torkelte, als hätte sie zu tief ins Glas geschaut, nahm Nicholas wieder ihren Arm, um sie zu stützen. Oder um zu verhindern, dass sie fortlief. Dabei hatte sie ganz und gar nicht die Absicht, das zu tun. Oder ihn noch mal von der Angel zu lassen.

»Ich kann damit andere gefährden?«, fragte sie, einfach um irgendwas zu sagen und weil es ziemlich spannend klang. Wie sollte man jemanden in Gefahr bringen, wenn man eine Geschichte erzählte? Auch wenn das Geschichtenerzählen wohl zu gewissen Zeiten in gewissen Ländern verboten gewesen war. Ob man damit wohl die Leser in Zaum hatte halten wollen?

»Wenn man nicht weiß, was man tut, kann man wohl mit allem eine Gefahr für andere sein«, sagte er in seinem gewohnt kühlen, herablassenden Ton.

»Also ist das ein Ja? Du wirst mich ausbilden?«, fragte sie eifrig.

Nicholas antwortete nicht sofort. »Warum bist du gestern weggelaufen, als du mich gesehen hast?«, fragte er stattdessen.

Sophie errötete. »Du hast mich erschreckt. Ich hatte Angst bekommen.«

»Du hattest Angst vor mir?«, fragte er verwundert.

Offenbar hatte er sich selbst noch nie im Spiegel gesehen, wenn er wie ein Racheengel in einer dunklen Ecke stand und einen mit blauglühenden Augen durchbohrte. Auch wenn sie nun daran zweifelte, dass er tatsächlich so ausgesehen hatte. Jedenfalls jetzt im hellen Tageslicht sah er gar nicht so bedrohlich aus. Nur etwas griesgrämig. Sophie zuckte die Achseln.

»Du hast so finster geschaut …«

Er blickte zweifelnd auf sie herab. »Du erscheinst mir nicht gerade ängstlich.«

»Das ist nur Fassade«, sagte sie fromm. »In Wahrheit bin ich von Panik zerfressen.«

»Kannst du auch einmal ernst bleiben?«

»Ungern«, gab sie zu. »Du bist ja schon ernst genug für zwei. Und um ernst zu sein, genügt Dummheit, während zur Heiterkeit ein großer Verstand unerläßlich ist.« Shakespeare war ein wirklich kluger Mann gewesen. Wie groß Nicholas’ Verstand war, blieb noch abzuwarten.

Er starrte sie wieder einen Moment an. »Ich frage mich, ob es wirklich klug ist, dich auszubilden.«

Besorgt blickte sie zu ihm auf. »Warum?«

»Weil ich nachher vermutlich wegen Mordes angeklagt werde«, sagte er missmutig.

»Du willst mich umbringen?«

»Ich freunde mich jede Minute mehr mit dem Gedanken an. Ich kann mich nur noch nicht entscheiden, ob ich dich erwürgen, ertränken oder einfach vom Schlossberg schubsen soll.«

Sophie lachte vergnügt auf und Nicholas runzelte die Stirn, während er vor sich auf den Weg stierte.

»Ich wundere mich immer noch, wie Anton sich so in einem Charakter irren konnte. Sonst ist er wirklich zuverlässig.«

Sophie biss sich auf die Lippe und starrte stur auf den Boden.

Nicholas, der wohl auf eine Erwiderung gewartet hatte, blickte sie fragend an und rief dann aufgebracht: »Nein, Mädchen, wirklich, das ist genug. Du musst doch jetzt nicht wie ein getretener Hund gucken.«

»Ich gucke doch gar nicht wie ein getretener Hund.«

»Und ob. Fehlt nur ein Schwanz und komische Schlappohren, dann wärst du ein perfekter Hund.« Dann fuhr er sich nachdenklich über die Unterlippe. »Ich könnte dir einen Schwanz besorgen …«

»So was geht?«

»Führ mich nicht in Versuchung.«

»Ach, ich schätze, das funktioniert eh nicht«, sagte sie und winkte ab.

Nicholas verzog ein wenig das Gesicht, schob eine Hand in die Hosentasche und murmelte lautlose Worte.

»Was?«

Er antwortete nicht, sondern führte seine Hand hinter ihren Rücken und zog … an ihrem Schwanz. Fassungslos blickte sie über ihre Schulter. Dann beäugte sie ihr Spiegelbild in einem Schaufenster.

»Wie ist das möglich?« Sie drehte sich probeweise hin und her und die schwarze Rute, die aus ihrem unteren Rücken herauswuchs, folgte der Bewegung. Erneut strich sie darüber, spürte weiches Fell unter ihren Fingern. »Es fühlt sich so echt an. Kann ich das auch lernen?«, wandte sie sich begeistert an Nicholas.

»Ich glaube nicht, dass das klug wäre. Du würdest wahrscheinlich nur Unfug damit treiben.«

»Und das hier ist kein Unfug?«, fragte sie auf ihren Schwanz deutend.

Seine Augen funkelten verräterisch und ein jungenhaftes Grinsen stahl sich in sein Gesicht.

»Du hast offenbar einen ganz schlechten Einfluss auf mich«, sagte Nicholas. »Ich war immer ein ernsthafter und gefestigter Mensch. Und nun? Keine halbe Stunde mit dir zusammen und ich werde angesteckt von deinen Leichtfertigkeiten und Albernheiten. Entweder bin ich nach deiner Ausbildung ein nervliches Wrack oder mein Ruf ist vollends ruiniert.« Stirnrunzelnd blickte er auf seine Armbanduhr. »Jetzt müssen wir aber los.«

»Wo gehen wir hin?«

»Ins Litérature. Du willst doch was lernen, oder? Da können wir nicht den ganzen Tag nur herumalbern. Also Hundchen, sei brav und komm bei Fuß!«

Kapitel 6

Auf dem Weg zum Litérature dachte Nicholas darüber nach, wie es nur so weit hatte kommen können. Er hatte sich nach dem Vorfall im letzten Jahr geschworen, nie wieder jemanden zu unterrichten. Als er dann Sophie beobachtet hatte, wie sie ›Alice im Wunderland‹ gelesen hatte, war er überrascht und äußerst misstrauisch gewesen. Sie hatte es nicht besser gemacht, als sie Hals über Kopf davongeeilt war. Und er hatte den restlichen Tag damit zugebracht, darüber nachzugrübeln, wer sie sein könnte und woher sie so plötzlich erschienen war.

Nicholas hatte von Anton erfahren, dass das Mädchen bei Julian wohnte, doch als er diesen löchern wollte, stellte er sich als gewohnt schweigsam heraus. Er hatte Nicholas nichts darüber sagen wollen, woher Sophie stammte, sondern ihn nur darauf hingewiesen, dass er sie ja selbst ausquetschen könnte, wenn er sich für sie interessierte. Nicholas hatte fast höhnisch aufgelacht. Ein Interesse – jedenfalls solches Interesse, wie Julian ihm vermutlich unterstellen wollte – hegte er ganz gewiss nicht. Dennoch hatte er ihn gefragt, wo er sie denn finden könnte, und Julian hatte ihm verschiedene Orte genannt, an denen das Mädchen offenbar gerne seine Freizeit verbrachte.

Nachdem er zwei der Plätze erfolglos abgeklappert hatte und schon ziemlich angepisst war, da er seine wertvolle Zeit für so einen Schwachsinn verschwendete, hatte er Sophie schließlich in dem kleinen Café entdeckt. Er hatte sie aus der Fassung bringen wollen und hatte sich schon auf einem sicheren Weg gewähnt, als sie ihn so entsetzt angesehen hatte. Doch irgendwie, er hatte keine Ahnung wie genau, hatte sie den Spieß umgedreht und es geschafft, ihn durch ein Wechselbad der Gefühle zu schicken, das von Staunen über Wut, Abscheu bis hin zu Belustigung und wieder zurück ging. Es war ihm nicht gerade angenehm, zumal er sich inzwischen selbst für ziemlich gefestigt gehalten hatte. Er wusste nicht, wieso sie ihn so leicht provozieren konnte. Er konnte es sich nur damit erklären, dass er heute einfach nicht ganz er selbst war.

Als sie ihm dann noch eröffnete, dass sie das erste Mal vorgelesen hatte, war er zunächst ungläubig gewesen. Doch dann fiel ihm ein, wie sie bei seiner Vorlesestunde staunend die Bilder um sich herum betrachtet hatte und es ziemlich eindeutig gewesen war, dass dies dort ihre erste Erfahrung mit dem Lesen gewesen war. Das machte es nicht besser, sondern verwandelte nur seinen Unglauben in Schock. Wenn das tatsächlich stimmte, dann hatte sie ein außergewöhnliches Talent.

Die meisten seiner Schüler waren doch eher mittelprächtig begabt gewesen, ein oder zwei auch ganz ordentlich. Doch ein Naturtalent wie Sophie hatte er erst einmal … Wie sollte er sagen? Getroffen war das falsche Wort. Wohl eher erlebt. Sich selbst. Möglicherweise hatte es ihn deswegen auch so pikiert. Er war es nicht gewohnt, seine herausragende Stellung in diesem Metier bedroht zu sehen.

Dennoch hatte er sich entschlossen, sie unter seine Fittiche zu nehmen, weil er wusste, dass sich sonst jemand ihrer annahm, von dem er nicht wollte, dass er dieses Talent für sich gewann. Nicholas wusste, dass er ein Risiko einging, wenn er sie ausbildete. Und das nicht nur für seine Nerven. Ein noch größeres Risiko wäre es allerdings, wenn er sie nicht ausbildete. Und das wiederum nicht nur für sie, wie er es ihr dargestellt hatte, sondern insbesondere für ihn, Nicholas. Es war eine verdammte Zwickmühle.

Er betrachtete das lästige Mädchen, das ihn in einem Moment mit ihren wohlkalkulierten Sticheleien zur Weißglut brachte, um im nächsten Augenblick herzallerliebst zu sein. Als sie neben ihm her lief und gleichmütig mit ihrem lächerlichen Schwanz wedelte, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er hatte absolut keine Ahnung, worauf er sich hier einließ und wohin ihn das führte, aber er ahnte, dass es alles andere als langweilig werden würde.

Kapitel 7

Am Litérature angekommen, bat Sophie Nicholas, den Schwanz zu entfernen. Für einige Zeit hatte sie es lustig gefunden, aber nun war es ihr doch genug damit. Außerdem reichte es, dass jeder sie für sonderbar hielt, wenn sie mit Zitaten um sich warf. Jetzt noch als die Frau mit dem Hundeschwanz zu gelten, wäre mehr Ruhm, als sie ertragen konnte.

Kaum betraten sie das Café, kam Madame angelaufen und schalt Sophie dafür, dass sie wirklich außerordentlich vergesslich wäre. Heute sei doch ihr freier Tag und sie solle sich amüsieren gehen, wie es junge Mädchen ihres Alters taten. Sophie wurde einer Antwort enthoben. Nicholas übernahm die Aufgabe, Madame zu erklären, dass er ihren Vorleseraum bräuchte, da er Sophie im Lesen unterweisen wollte. Madame blickte ihn erschrocken an, die Hände vor die Brust geschlagen.

»Nicholas, mon cher. Willst du das wirklich tun?«, fragte sie eindringlich und wirkte ungewohnt ernst. »Ich dachte, nach allem, was letztes Jahr vorgefallen war …«

Nicholas warf einen schnellen Blick zu Sophie und brachte Madame mit einem minimalen Kopfschütteln zum Schweigen.

»Nun, es ist wohl deine Entscheidung. Mais encore une fille? Ist es das wert? Ist sie so talentiert?«, fragte Madame Nicholas unterschwellig.

Er sagte noch immer nichts, aber sein Gesichtsausdruck war ihr offenbar Antwort genug, denn sie hob nur vielsagend die Schultern und ging. Allerdings nicht, ohne ihm noch einmal einen skeptischen Blick zuzuwerfen. Dann verschwand Madame und Nicholas führte Sophie in den Lesesaal.

Die Worte von Madame wirkten noch in ihr nach und Skrupel überkamen sie. »Also, äh, wenn … Ich meine, ich will nicht, dass … dass du Umstände hast oder so. Ich … ich will dir nicht den Tag verderben, und wenn du keine Lust hast …«

»Mädchen, wenn ich keine Lust hätte, wären wir jetzt nicht hier«, sagte er barsch. »Jetzt zier dich nicht so und setz dich da hin.«