Die Stadt ohne Wind - Éléonore Devillepoix - E-Book
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Die Stadt ohne Wind E-Book

Éléonore Devillepoix

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Beschreibung

Mit ihrem treuen Pferd ist Arka auf dem gefährlichen Weg in das sagenumwobene Hyperborea. Die dreizehnjährige Kriegerin sucht dort ihren Vater, den sie noch nie gesehen hat. Die Stadt ist ein geheimnisvoller Ort, sie liegt im rauen Gebirge und wird von einer magischen Kuppel geschützt, die nicht nur Feinde abwehrt, sondern auch die kalten Winde der schneebedeckten Gipfel. Und außerdem die letzte Stadt der Welt, in der Magie noch erlaubt ist. Einer der mächtigen Magier soll Arkas Vater sein. Doch das abgeschottete Leben der großen Magier in den hohen Türmen macht es Arka fast unmöglich, ihn zu finden. Einen überraschenden Verbündeten findet sie in dem Magier Lastyanax. Der talentierte und ehrgeizige junge Mann hat es aus der Armut zum Minister geschafft. Und auch er verfolgt eine Mission: Er sucht einen Mörder, der in der Stadt sein Unwesen treibt und sogar seinen früheren Mentor getötet hat. Doch wie sollen sie einen Täter finden, der keine Spuren hinterlässt, außer einem eisigen Windhauch? Und welches Rätsel steckt hinter Arkas Herkunft?

Bei der Suche nach der Wahrheit bekommen es Arka und Lastyanax mit finsterer Magie und einem tödlichen Fluch zu tun und müssen sich den Geistern ihrer Vergangenheit stellen. Gemeinsam kommen sie einer Intrige auf die Spur, die nicht nur ihre Freundschaft auf die Probe stellt, sondern Hyperborea in den Grundfesten erschüttert.

Empfohlen ab 12 Jahren

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Seitenzahl: 645

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Titel

Eléonore Devillepoix

Die Stadt ohne Wind

Arkas Reise

Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Anne Gabler

Insel Verlag

Widmung

»Nach all den Anstrengungen, die ich für dein Buch unternommen habe, solltest du es mir besser widmen.«

Victoire Devillepoix, 2018

Motto

Die Figuren in Die Stadt ohne Wind existierten bereits vor meiner Ankunft am Europäischen Parlament. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Beamten ist daher rein zufällig. Das Glossar, das sich auf den letzten Seiten des Buches befindet, ist dagegen wohlüberlegt und soll jenen eine Hilfe sein, deren Fantasie vor den hyperboreischen Ausdrücken in die Knie geht.

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Motto

Inhalt

1 Schlange und Tod

Lastyanax

Arka

Lastyanax

Arka

2 Willkommen in Hyperborea

Arka

Lastyanax

Embron und Tetos

Lastyanax

Arka

Kaul

3 Der Große Preis des Basileus

Lastyanax

Arka

Alkander

4 Die siebte Ebene

Lastyanax

Arka

Das Trio

Embron und Tetos

Arka

5 Die Attribution

Arka

Lastyanax

Arka

6 Der Rat

Arka

Lastyanax

Alkander

7 Das Flügelarmband

Arka

Lastyanax

Arka

Lastyanax

8 Der Klan des Blauen Lotus

Lastyanax

Arka

9 Das Blau-Erz

Alkander

Lastyanax

Arka

Lastyanax

Arka

10 Das Jubiläum

Lastyanax

Arka

Lastyanax

11 Der Spiegelfluch

Lastyanax

Arka

Alkander

Der Basileus

Lastyanax

Arka

12 Der Prozess

Lastyanax

Arka

13 Die Amazonen

Lastyanax

Arka

Petroklos

14 Der letzte Magier

Lastyanax

Arka

15 Der Meister der Lemuren

Alkander

Lastyanax

16 Der Wind in der Stadt

Lastyanax

Epilog

Eine Dekade später

Glossar

Das Magisterium

Danksagung

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

1

Schlange und Tod

Lastyanax

Das Leben ist so unvorhersehbar, dass man manchmal erstaunt ist, wenn es sich trotz Zufällen und Ungewissheiten nach einem Plan formt, der Jahre zuvor gefasst wurde. An diesem Tag, während Lastyanax zum Abschluss seines Vortrags ansetzte, schweifte ein Teil seiner Gedanken ab und beschritt noch einmal den Weg, der ihn hierhin geführt hatte, in diesen stillen Saal, in dem nur seine Stimme widerhallte. Und überrascht stellte er fest, dass sich endlich verwirklichen würde, wonach er so lange gestrebt hatte.

»So also ist es dank des Detektors möglich, die Wirkungskraft, die Gestalt und die Bewegung der Animas zu beobachten«, endete er und stellte den Prototyp seiner Erfindung, an dem er während der Präsentation nervös hantiert hatte, auf den Tisch.

»Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

Die Juroren auf dem Podium nickten anerkennend. Lastyanax wusste, dass er von ihnen nicht mehr zu erwarten hatte, und trotzdem konnte er, nach einem Jahr harter Arbeit, eine gewisse Enttäuschung über ihre Reaktion nicht unterdrücken. Während er seine Papiere zusammensuchte, bat ihn der Mystograf, den Saal zu verlassen und draußen auf das Ergebnis der Beratung zu warten. Lastyanax übergab den Juroren den Animadetektor, damit sie seine Erfindung in aller Ruhe prüfen konnten, dann verließ er unter den Blicken der vier Professoren den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Mit einem Seufzer lehnte Lastyanax sich an die Mauer. Endlich hatte er es geschafft. Langsam wich die Anspannung aus seinen Schultern und hinterließ ein seltsames Gefühl der Leere. Als er an sich hinabschaute, wurde ihm bewusst, dass er seine Schülertunika nicht länger tragen würde. Er würde bald ein hyperboreischer Magier sein, ein Amt bekleiden und Geld verdienen, vor allem aber würde er keinen Mentor mehr haben.

Apropos, wo war er überhaupt, dieser Mentor? Der Arkadengang war menschenleer. Lastyanax steckte seinen Kopf zwischen den von blauem Efeu umrankten Säulen hindurch und blickte zur angrenzenden Terrasse hinüber. Auch dort war niemand zu sehen. Vielleicht war Palates beschäftigt oder er hatte die Abschluss-Disputation seines Schülers schlicht vergessen. Unwillig fuhr Lastyanax sich durch die braunen Haare. In den letzten fünf Jahren hatte er gelernt, dass man nicht allzu viel von Palates erwarten konnte. Als zwanghafter Sammler verbrachte sein Mentor die meiste Zeit damit, auf der Suche nach außergewöhnlichen Fundstücken durch die Stadt zu streifen, statt seinen Pflichten eines Ebnungsministers nachzukommen. Seine jüngste Obsession waren Hühner: Im Laufe eines Monats hatte Palates eine bemerkenswerte Anzahl bemalter Hühnereier, Hühnerfiguren und Hühnerfedern gehortet, zum Glück allerdings keine lebenden Vögel. Bestimmt war er gerade dabei, mit irgendeinem Antiquar der dritten Ebene über das x-te Geflügel-Bildnis zu verhandeln.

Lastyanax war der Einzige, der unter der Sammelwut seines Lehrers litt. Die anderen Minister rieben sich die Hände, denn Palates’ mangelndes Pflichtbewusstsein sorgte dafür, dass sie freie Bahn hatten. Lastyanax vermutete sogar, dass sie die Wahl seines Mentors aus diesem Grund unterstützt hatten. Jedenfalls durfte er sich neben der Vorbereitung seiner Disputation auch noch um Palates’ Akten kümmern, während dieser mit der Unbekümmertheit eines Studenten durch Hyperborea bummelte.

Lastyanax beschloss, sich auf die Terrasse zu setzen und dort zu warten. Es konnte eine Weile dauern, bis die Jury ihre Entscheidung getroffen hatte. Er klemmte seine Aufzeichnungen unter den Arm und trat durch den Torbogen am Ende der mit Mosaiken verzierten Galerie ins Freie. Sofort blendete ihn das grelle Sonnenlicht. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen, als er zwischen Blumenkästen und Springbrunnen in Richtung der Balustrade ging, hinter der die Türme von Hyperborea aufragten. Sein Blick blieb an einer länglichen, dunklen Gestalt hängen, die zu Füßen einer Bank lag. Versunken in seine Grübeleien, fiel ihm nicht gleich auf, was mit dieser Gestalt nicht stimmte.

Dann realisierte er mit einem Schlag: Es war Palates und er war tot.

Arka

Mit der Spitze ihres Fausthandschuhs schob Arka ihre Kapuze zurück und enthüllte das schmale Gesicht eines Mädchens, das zwar kein Kind mehr, aber auch noch nicht wirklich eine Jugendliche war. Die Kälte hatte ihre Wangen mit roten Flecken marmoriert, ihre laufende Nase hinterließ einen glitzernden Streifen über der Lippe, der bereits gefroren war. Vor ihren schneeverkrusteten Lederstiefeln klaffte eine zehn Schritt breite Gletscherspalte.

»Okay, ich glaube, wir haben uns verirrt.«

Eine Feststellung, die Arka bereits vor drei Tagen hätte treffen sollen. Sie hatte mit Zwerg gesprochen, obwohl sie natürlich wusste, dass von ihm kaum eine Antwort zu erwarten war. Ihr Reisegefährte war ein – wie der Name schon sagte – kleines weißes Pferd. Es war zottelig und bis auf die Knochen abgemagert und seine schlechte Laune wurde nur durch seine Faulheit überboten. Wenn es nicht gerade aß, verbrachte es seine Zeit damit, die Ohren anzulegen und die Zähne zu zeigen. Im Moment hatte das fehlende Futter ihm jedoch jeglichen Widerspruchsgeist genommen. Mit gesenktem Kopf und hervorstehenden Rippen beobachtete es Arka dabei, wie sie ihre steifgefrorenen blonden Haare zwirbelte.

»Drecksnebel!«

Seitdem sie auf dem Gletscher des Riphäengebirges angekommen waren, drehten sie sich im Kreis, es war einfach nicht möglich, sich in diesem seltsamen Dunst, der sie umgab, zurechtzufinden. Ein gleichförmiger, undurchdringlicher Nebel, den selbst die Sonne während des Tages nicht vertreiben konnte und der in der Nacht seine eigene Leuchtkraft zu besitzen schien. Und schon zum dritten Mal hatten sich unter ihren Füßen Spalten im Eis aufgetan.

Die Karawanenführer hatten mehrmals versucht, Arka davon abzubringen, den Gletscher zu überqueren, obwohl das der schnellste Weg nach Hyperborea war. Sie hatte jedoch nicht auf sie gehört, weil sie sich für viel klüger hielt, als ihre dreizehn Jahre vermuten ließen. Jetzt bereute sie es bitterlich. Ihre letzte Mahlzeit hatten sie vor zwei Tagen zu sich genommen und sie ertappte sich dabei, dass sie an gebratenes Pferdefleisch dachte, wenn ihr Blick auf Zwergs Kruppe fiel.

Sie zog sich mit den Zähnen die Fäustlinge von den Händen und trat zu ihm. An dem einfachen Packsattel auf seinem Rücken war ein Paar zerbrochener Schneeschuhe befestigt, und an seinen Flanken baumelten leere Satteltaschen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie mit ihren steifen Fingern die gefrorenen Riemen, mit denen das Gepäck befestigt war, aufgeknüpft hatte. Doch schließlich rutschte es knarzend zu Boden. Von seiner Last befreit, schüttelte sich Zwerg und schnaubte.

Nachdem Arka die Satteltaschen aus dickem Leder im Schnee ausgebreitet hatte, band sie die hölzernen Schneeschuhe los, zerbrach sie und schichtete sie auf dem Leder zu einem Haufen. Mit einem Fingerschnipsen entzündete sie das Reisigbündel. Anschließend schnallte sie die Ständer vom Packsattel, warf diese auch noch in die Flammen, gab Eisstücke in einen Napf und stellte ihn obendrauf. Zwerg näherte sich den Flammen und der Rauch zeichnete Kringel um seine Nüstern. Arka ging in die Hocke und wartete, die Hände dicht am Feuer. Als aus dem Napf Dampf aufstieg, zog sie ein Tütchen aus ihrem Umhängebeutel und warf die letzten Krümel der getrockneten Blätter, die sich darin befanden, in das siedende Wasser. Sie ließ das Gebräu eine Weile ziehen, dann goss sie es in eine Schale.

Arka hielt ihr Gesicht dicht über das Getränk, damit sie möglichst viel von der Wärme, die ihm entstieg, aufnehmen konnte, und blickte sich um. Normalerweise war ein Gletscher abschüssig. Um an sein Ende zu gelangen, musste sie also nur der Neigung des Hangs folgen. Aber der Nebel verschlang alle Orientierungspunkte, selbst Zwerg verschmolz mit dem Weiß der Umgebung.

Nach ein paar Schlucken spürte Arka, wie langsam Leben in ihre Glieder zurückkehrte. Sie musste Ruhe bewahren, es gab sicherlich eine Möglichkeit, hier herauszukommen. Mithilfe ihres Flügelarmbands hätte sie den Gletscher schnell überfliegen können, aber die Kälte hatte auch ihm zugesetzt, und außerdem konnte sie Zwerg doch nicht einfach zurücklassen.

Ihr improvisiertes Feuer erlosch allmählich, die Flammen knabberten bereits an den ledernen Satteltaschen. Bald wäre nichts als geschmolzener Schnee und schwarze Asche übrig. Arka verstaute Napf und Schale in ihrer Tasche und versuchte dabei, das entrüstete Knurren ihres Magens zu überhören. Um sie herum zog sich der Nebel so dicht zusammen, dass er beinahe greifbar schien.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob sie ihren Blick. Irgendwo dort oben gab es bestimmt einen klaren Himmel und einen Horizont, der ihr den Weg weisen würde. Sie musste nur die Nebelschicht überwinden.

Nicht weit von ihr entfernt zeichneten sich die Konturen einer Anhöhe ab. Arka stapfte los, immer in sicherem Abstand zu der Gletscherspalte, deren Ende sie nicht ausmachen konnte. Eine gewundene Furche durchzog den Boden neben ihren Füßen, als hätte ein aus dem Nichts entsprungener heißer Bach den Schnee zum Schmelzen gebracht. Sie erreichte den Hügel und nach einem kurzen Anstieg kletterte sie auf einen großen Eisblock. Jetzt musste sie nur noch schweben.

Arka konzentrierte sich und sandte ihre Anima empor. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie das letzte Mal levitiert war, und das Gefühl der durch ihren Körper strömenden Energie war ihr fremd geworden. Schließlich lösten sich ihre Füße vom Eis, ihr Körper überwand die Schwerkraft. Langsam entfernte sich der Boden und versank im Dunst. Unter ihr schienen Zwergs dunkle, zu ihr emporgereckte Nüstern im Nebel zu treiben. Sie spürte, wie ihr die Kälte in die Brust kroch. Ihre Gliedmaßen begannen zu zittern, und ihr Schädel dröhnte. Dann plötzlich verlor sie die Kontrolle über ihre Anima.

Sofort fiel ihr Körper wieder hinab. Arka versuchte, den Sturz abzufangen, doch sie prallte auf den Eisblock und schlitterte rücklings den Abhang hinunter.

Am Fuß des Hügels blieb sie einen Moment reglos liegen, die Kapuze voller Eis. Schnaubend kam Zwerg zu ihr getrippelt.

»Aua«, brummte sie und schob den Kopf des Pferdes weg, das an ihren Ohren schnupperte.

Entmutigt stand sie auf. Wenn selbst die Magie versagte, wie sollte sie hier jemals wieder herauskommen? Irgendwann bei Tauwetter würden sie die Karwan-Baschis zerschmettert in einem Gebirgsbach finden, genau wie all die anderen, die der Gletscher über die Jahre verschlungen und von denen man ihr immer wieder erzählt hatte. Warum war sie ihrem Rat nicht gefolgt? Dann stände sie jetzt nicht verlassen und mit leerem Magen im Nebel.

Mit einem leisen Wiehern riss Zwerg sie aus ihren Selbstvorwürfen, seine Ohren waren aufgestellt. Arka folgte seinem Blick. Mit einem Mal waren all ihre Sinne geschärft. Einen Moment später vernahm sie ein seltsames, gleichmäßiges Geräusch: wwwrrrusch … wwwrrrusch … wwwrrrusch … Es klang wie ein Schlitten, der durch den Schnee pflügte.

Verblüfft schaute Arka sich um. Seitdem sie die Bergführer verlassen hatte, war ihr keine Spur menschlichen Lebens mehr begegnet. Und jetzt traf sie durch einen absurden Zufall einen anderen Menschen, der ebenfalls verrückt genug war, eine Überquerung des Gletschers zu wagen.

»Hallo! Ist da jemand?«, rief sie. »Hierher!«

Der Schlitten schien sich zu nähern. Die Kufen knirschten immer schneller über den Schnee, als hätte der Fahrer sie gehört. Auf die Zehnspitzen gereckt, wiederholte Arka ihren Ruf. Sie war so erleichtert, endlich nicht mehr allein zu sein, dass sie sich keine Gedanken darüber machte, auf wen sie treffen würde. Nichts und niemand konnte schlimmer sein, als tiefgefroren auf einem Gletscher zu enden.

Ich sehe deine Vergangenheit …

Arka erstarrte. Die Stimme, die sich auf einmal erhob, hatte einen eigenartigen Klang. Sie durchdrang den Nebel, ohne an Klarheit zu verlieren, war weder tief noch hoch, noch … menschlich.

Wwwrrrusch, wwwrrrusch, wwwrrrusch … Dieses sonderbare Etwas näherte sich immer schneller. Mittlerweile erinnerte sie das Geräusch nicht mehr an einen Schlitten. Arkas Haut überzog sich mit kaltem Schweiß. Um sich Mut zu machen, griff sie in Zwergs struppige Mähne.

»Wer sind Sie?«, stieß sie hervor.

Vor ihr zeichnete sich eine geschwungene Form im Nebel ab, die auf sie zustrebte.

Ich sehe deine Vergangenheit … Frucht einer unwahrscheinlichen Verbindung … Einziges Kind, aufgenommen von einer alten Frau … Unzählige Bäume, der blaue Glanz der Gürtel … Und plötzlich … Das FEUER!

Eine riesenhafte Schlange löste sich aus den Dunstschwaden. Sie maß sicherlich zwanzig Schritt und schleuderte Arka ihre schwarze, gespaltene Zunge entgegen. In ihren lidlosen Augen klafften senkrechte Pupillen. Ihr Körper war von unzähligen durchscheinenden, spitzen Schuppen gespickt, die an Eissplitter erinnerten. Darin spiegelten sich Arkas vor Verblüffung geweitete Augen. Hastig wich sie zurück und Zwerg mit ihr. In ihrem Rücken versperrte ihnen die Gletscherspalte den Weg, vor ihnen richtete sich die Schlange zu ihrer vollen Größe auf, so hoch, dass ihr Kopf im Nebel verschwand.

Eine Hand auf Zwergs Schulter, baute Arka sich vor dem seltsamen Wesen auf. Doch plötzlich stieß das Pferd ein panisches Wiehern aus und floh im gestreckten Galopp. Völlig überrumpelt, vergaß Arka für einen Moment das Ungeheuer.

»Feigling!«, fluchte sie.

Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie das Untier nach vorne schnellte, und warf sich im letzten Moment zur Seite. Sie spürte, wie die Giftzähne ihr Bein streiften. Mit pochendem Herzen robbte Arka auf allen vieren rückwärts. Als ihre Hand ins Leere griff, schrie sie angsterfüllt auf. Der Angreifer hatte sie an den Rand der Gletscherspalte gedrängt. Vor ihr tänzelte das Ungeheuer aus Eis mit wiegenden Bewegungen auf und ab und sprach weiter, obwohl kein Ton aus seinem geschlossenen Maul drang:

Die alte Frau ist mit Asche bedeckt … Die Flucht des Brandstifters, und die deine, durch drei Länder … Noch einmal das Leben in Napoca, noch einmal der Tod in Napoca … Und jetzt, Hyperborea!

Das Tier straffte sich, Arka sah sein mit Giftzähnen gespicktes Maul auf sich zuschnellen und rollte zur Seite. Im nächsten Moment schlug der Kopf des Monsters genau dort auf, wo sie noch einen Augenblick zuvor gesessen hatte. Man hörte Schuppen splittern. In einer einzigen, fließenden Bewegung richtete sich die Schlange wieder auf.

Ich sehe deine Gegenwart … Verfluchte, winde dich, krieche, rutsche übers Eis, um meinen Angriffen zu entgehen!

Und mit diesen Worten stieß sie erneut auf sie herab. Arka wich ihr aus und schleuderte ihr eine Feuergarbe entgegen. Das Reptil bäumte sich zischend auf und ließ seinen riesigen Kopf hin- und herschwingen. Wasser tropfte aus den Schuppen, die von den Flammen getroffen worden waren. Diese vorübergehende Schwäche gab Arka einen Moment Zeit, sich zu überlegen, wie sie das Vieh loswerden könnte. Ihr Blick blieb an dem Eisblock hängen, der auf dem Hügel balancierte. Da hoch. So schnell sie konnte, kletterte sie den Abhang hinauf, wobei sie immer wieder ausrutschte. Unten hatte die Schlange die Jagd wieder aufgenommen und folgte ihrem Geruch. Das Wwwrrrusch begleitete ihr schlängelndes Kriechen.

Ich sehe deine Zukunft … Das Lachen, für das man dich lieben wird … Ein um deinen Finger gewundener Greif … Der dreizehnte Erbe erwartet dich im Mausoleum …

Auf der Spitze des Hügels angekommen, stemmte sich Arka mit aller Kraft gegen den Eisblock, doch es gelang ihr nicht, ihn zu bewegen. Keuchend holte sie aus und versetzte ihm einen Tritt. Mit einem Knirschen verschob sich der Block einen Daumen breit.

Die Schlange sauste auf sie zu.

Arka konzentrierte ihre Anima in den Beinen und versetzte dem Block einen weiteren Tritt, dessen Wucht sie umriss. Der Eisblock hatte sich gelöst und stürzte, gefolgt von einer kleinen Schneelawine, den Abhang hinunter. Arka hörte ein durchdringendes KRACK!, dann ein wütendes Zischen.

Sie rappelte sich auf und blickte den Hügel hinunter, an dessen Fuß das Ungeheuer, halb unter Eisgeröll begraben, hilflos zappelte. Sein langer Schwanz wand sich in der Luft, schlug auf den Boden, doch es gelang ihm nicht, die Last von seinem Rücken abzuschütteln.

»BÄM, ich habe dich erwischt!«

Schnell ließ sich Arka den Hügel hinuntergleiten und sprang auf den Geröllhaufen, um das Tier noch zusätzlich herunterzudrücken. Die Schlange hob ihren Kopf und zischte erneut vor Zorn. Arka spürte, wie sich die Eisplatten unter ihren Füßen bewegten. Ihr Gegner würde nicht mehr lange festsitzen. Unter anderen Umständen wäre sie so schnell wie möglich abgehauen, aber die Schlange war das erste lebende Wesen, das sie nach drei Tagen des Herumirrens traf. Und noch dazu eins, das sprechen konnte.

»Jetzt können wir reden«, sagte Arka, in einem Ton, der viel selbstsicherer klang, als sie sich fühlte. »Was genau bist du eigentlich?«

Jene, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt … Deinesgleichen nennt mich Python.

»Sagt mir nichts«, entgegnete Arka und setzte sich im Schneidersitz auf den Eishaufen.

Der Schwanz der Schlange peitschte so heftig durch die Luft, dass die Geröllschichten unter ihr erzitterten.

Ich bin eine Legende … Ihre unwirkliche Stimme klang mit einem Mal gekränkt. Ich bin die Schlange, die die Menschen tötet und die denen, die sie besiegen, ihre Zukunft vorhersagt … Möchtest du die deine erfahren?

Mit der Spitze ihres Handschuhs klopfte Arka auf das Eis.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Lust darauf hab«, antwortete sie und verzog die Lippen zu einem Schmollmund. »Wie wäre es, wenn du mir stattdessen den Weg nach Hyperborea zeigst? Und wie man aus diesem verdammten Nebel rauskommt?«

Verärgert schleuderte das Reptil ihr die Zunge entgegen, sein Schwanz zuckte erneut durch die Luft, und Arka fragte sich besorgt, ob es ihm nicht doch gelingen würde, sich zu befreien. Bei jeder seiner Bewegungen bröckelten kleine Stücke von dem Eishaufen ab.

Ich bin Python, die Schlange, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt … keine Landkarte.

Was für eine herbe Enttäuschung. Nervös kaute Arka auf einer Haarsträhne und sah sich suchend um. Ihre Lage war alles andere als rosig. Sie hatte sich verlaufen, ihr Pferd war abgehauen, sie hatte nichts mehr zu essen, eine Schlange, so groß wie ein Haus, wartete nur darauf, ihr den Garaus zu machen, und der Nebel um sie herum war immer noch genauso dicht.

Plötzlich hörte sie Hufgetrappel. Im nächsten Moment tauchte Zwerg auf und blieb in sicherer Entfernung des Ungeheuers stehen. Dass er zurückgekommen war, machte Arka neuen Mut.

»Angenommen, es würde mir gelingen, hier rauszukommen«, sagte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, »dann wäre der Weg doch in meiner Zukunft eingeschrieben, stimmt’s? Und du könntest ihn mir vorhersagen.«

Zweifellos …

»Sehr gut, dann sage mir den Weg voraus, auf dem ich den Gletscher verlassen werde.«

Wieder zischte das Reptil zornig.

So sagt man nicht die Zukunft vorher …

»Aber so möchte ich sie hören. Also antworte mir.«

Der Schwanz der Schlange sauste durch die Luft.

Zwei Tage lang wirst du dieser Spalte hier folgen … So wird es dir gelingen, den Gletscher zu verlassen, und Hyperborea wird dir seine Tore öffnen … Dort triffst du einen …

»Das reicht, das reicht!«, schrie Arka, um die Prophezeiungen zu übertönen. »Mehr brauchst du mir nicht zu sagen. Ich muss also einfach nur an dieser Gletscherspalte entlanggehen?«

Erneut schnellte ihr die schwarze Zunge entgegen, was Arka als Zustimmung wertete. Sie sprang von dem Eishaufen hinunter, wich vorsichtig ein paar Schritte zurück, um sicherzugehen, dass die Schlange sich nicht doch im nächsten Moment befreien würde. Aber die hatte aufgehört, sich zu winden, stattdessen beobachtete sie sie hinterlistig aus ihren geschlitzten Pupillen. Arka fragte sich, was sie wohl im Schilde führte. Die Partie war an sie gegangen, und doch sagte ihr etwas, dass die Schlange immer noch das Spiel bestimmte.

Sie spürte einen zärtlichen Stüber warm in ihrem Nacken. Zwerg war zu ihr gekommen und rieb seinen Kopf an ihr.

»Esel!«, brummte sie, kraulte ihm aber trotzdem den Hals.

Wieder erhob sich die unwirkliche Stimme: Ich habe dir deine Zukunft offenbart … Jetzt musst du mich befreien …

Arka erwiderte spöttisch:

»Damit du mich erneut angreifen kannst? Ja klar, gute Idee. Bald taut es, dann wirst du den Eishaufen schon los … Es sei denn, du schmilzt mit ihm.«

Die Pupillen des Tieres schienen sich noch weiter zu verengen. Arka brach auf, gefolgt von Zwerg. Vor ihnen verlor sich die Spalte, die wie ein aufgerissener Schlund zu ihrer Rechten klaffte, im Nebel. Kurz bevor der Dunst auch das Ungeheuer verschluckte, blieb Arka, von einem Zweifel beschlichen, stehen und blickte noch einmal zurück.

»Wenn du meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft kennst, warum hast du mich dann angegriffen? Du wusstest doch, dass ich dich schlagen und dich dazu zwingen würde, mir zu helfen.«

Die Schlange wackelte geheimnisvoll mit dem Kopf. Arka hätte schwören können, dass sie lächelte.

Wer sagt dir, dass ich dir helfe, indem ich dir den Weg nach Hyperborea weise?

Lastyanax

Letztendlich war Palates also doch gekommen, um ihn nach seiner Disputation in Empfang zu nehmen. Mit ausgebreiteten Armen lag er in einem Beet napocanischer Orchideen und starrte ihn aus leeren Augen an. Die grauen Haare, die sonst immer sehr sorgfältig frisiert waren, standen in Büscheln von seinen Schläfen ab. Sein dicker roter Kopf lehnte an einem Fuß der Steinbank, als wäre er im Sterben von der Sitzfläche gerutscht. In der rechten Hand befand sich noch seine letzte Errungenschaft, eine kleine Keramikfigur in Form eines Huhns.

Benommen sah Lastyanax den Dienern dabei zu, wie sie den Verstorbenen auf eine Trage hoben, ihn mit einem Tuch bedeckten und seine sterblichen Überreste in eine Aufbahrungshalle brachten. Auch eine Stunde nachdem er die Leiche entdeckt hatte, konnte Lastyanax noch immer nicht fassen, dass sein Mentor gestorben war. Als er ihn am Abend zuvor gesehen hatte, war Palates doch noch kerngesund gewesen, lebenslustig und gutmütig, wie gewohnt.

Um die Terrasse hatte sich ein kleiner Auflauf aus Beamten gebildet, die, an die Balustrade der Galerie gedrängt, die Szene beobachteten. Ein Tod im Magisterium, noch dazu der eines Ministers, war ein echtes Ereignis. Lastyanax hörte, wie sich die Menge in Spekulationen erging.

»Es war bestimmt das Herz, das ist doch bei Magiern immer das Erste, was versagt.«

»Ich habe einen Diener sagen hören, er hätte was Falsches getrunken.«

»Ich wette, es war ein Schlaganfall, mein Vetter ist im letzten Jahr daran gestorben, so was erwischt dich ohne Vorwarnung.«

»Vielleicht wurde er ermordet …«

»Wie sollte man ihn denn ermordet haben? Es gibt keine Anzeichen von Verletzungen, und niemand hat ihn schreien hören.«

Lastyanax blickte auf den Ring an seinem Zeigefinger, in den sein Name graviert worden war und den ein Greif zierte. Kurz zuvor war der Professor für Mechamagie zu ihm gekommen, um ihm das Schmuckstück zu überreichen, und hatte ihn dabei an einen Händler auf dem Schwarzmarkt erinnert, so eilig hatte er es gehabt, die Terrasse wieder zu verlassen, auf der sich noch immer die Leiche seines Kollegen befand.

Eigentlich wollte es der Brauch, dass der Mentor seinem Eleven im Rahmen einer Zeremonie den Siegelring übergab, der ihn als Magier auswies und ihm so erlaubte, sich frei zwischen den Ebenen von Hyperborea zu bewegen. Außerdem konnte er mit ihm sein Siegel unter offizielle Dokumente setzen. Nach einer kurzen Beileidsbekundung hatte ihm der Professor das Ergebnis seiner Disputation mitgeteilt: Er hatte 11 von 12 Punkten erreicht, eine Note, die in den letzten zehn Jahren nie vergeben worden war.

Wie in Trance hatte Lastyanax die guten Nachrichten aufgenommen, ohne sich über die Anerkennung freuen noch das Los seines Mentors betrauern zu können. Nachdem er fünf Jahre lang auf Palates geschimpft hatte, war er ganz einfach noch nicht in der Lage, ihm gegenüber etwas anderes zu empfinden als Ungeduld und Gereiztheit.

Und trotzdem überkam ihn mit einem Mal ein heftiger Schmerz. Rastlos begann Lastyanax auf der Terrasse hin und her zu gehen. Er verübelte Palates sein plötzliches Verschwinden und schämte sich zugleich für diesen egoistischen Gedanken. Bisher hatte er seinen Mentor immer nur als Last empfunden, doch jetzt merkte er, welch wichtigen Platz der exzentrische Alte in seinem Leben eingenommen hatte.

Mitten auf der Terrasse blieb er stehen, schloss die Augen, öffnete sie wieder und betrachtete den blauen Himmel jenseits der Kuppel. Sein Geist musste sich an irgendetwas Konkretem festhalten. Er brauchte eine Erklärung.

Lastyanax ließ den Blick über die Blumenbeete schweifen, auf der Suche nach einem Hinweis, der ihm zu verstehen half, was in den letzten Augenblicken seines Mentors geschehen war. Palates hatte nie Anzeichen körperlicher Gebrechen gezeigt. Hatte sein Tod eine natürliche Ursache, oder war er, wie einer der Beamten angedeutet hatte, ermordet worden? Verglichen mit der Sinnlosigkeit eines plötzlichen Todes, wirkte diese Vermutung beinahe tröstlich, auch wenn Lastyanax sich nicht vorstellen konnte, wer ein Interesse daran gehabt haben sollte, ihn aus dem Weg zu räumen. Palates war nicht nur inkompetent, sondern immer auch kompromissbereit gewesen und besaß damit eigentlich die beiden Eigenschaften, die man brauchte, um sich als Politiker in Hyperborea eines langen Lebens zu erfreuen.

Am äußeren Ende der Terrasse, zu Füßen einer gewaltigen Statue, die den Titel Das Magisterium klärt das Volk auf trug und einen Magier zeigte, der feierlich eine leuchtende Kugel über eine verklärt zu ihm aufblickende Menschenmenge reckte, zog eine Spiegelung seine Aufmerksamkeit auf sich. Lastyanax näherte sich und entdeckte das Keramikhuhn. Es musste aus Palates’ Hand geglitten sein, als die Diener seine Leiche mitgenommen hatten. Er betrachtete die Figur eingehend, und ihm wollte einfach nicht gelingen, ihre Lächerlichkeit mit der Tragik des Todes ihres Käufers in Einklang zu bringen.

»Lastyanax!«

Als er den Kopf hob, sah er Silenos, den lebhaften Mystografieprofessor, mit flatternder Toga auf sich zu trippeln. Sein hervorspringender Bauch brachte ihn bei jedem Schritt aus dem Gleichgewicht, und bis er bei Lastyanax ankam, war er völlig außer Atem.

»Lieber Lastyanax, mein herzliches …«, begann er.

Dann unterbrach er sich keuchend und stützte sich mit einer entschuldigenden Geste auf das Geländer der Terrasse, die den Abgrund überragte. Das Magisterium belegte die oberste Etage des höchsten Gebäudes von Hyperborea. Unter ihnen erstreckte sich ein Wald riesiger runder Türme, umgeben von einer lichtdurchlässigen Kuppel, so weit wie das Himmelsgewölbe. Lastyanax ließ die kleine Statue in eine Falte seiner Tunika gleiten.

»Mein herzliches Beileid«, beendete Silenos seinen Satz. »Der Rat hat einen … pfff … einen großen Mann verloren … Warten Sie, ich muss mich setzen, ich kann nicht mehr.«

Der Mystograf ließ sich auf eine kleine Steinbank sinken, ähnlich der, auf der Palates gestorben war. Seine Speckrollen drohten die Nähte der Toga zu sprengen.

»Was für eine Tragödie, und dann noch am Tag Ihrer Disputation! Man hat Ihnen offenbar Ihren Ring übergeben, ja, gut so … aber sicherlich steht Ihnen heute nicht der Sinn danach, sich darüber zu freuen. Sobald alle Eleven ihre Erfindungen präsentiert haben, gebe ich wie jedes Jahr einen kleinen Empfang zu Ehren der Ernennung der neuen Magier, das wäre doch eine Gelegenheit, Ihren Erfolg zu feiern«, sagte der Mystograf und tätschelte dabei wie zum Trost Lastyanax’ Ellenbogen. »Ich erinnere mich noch daran, als Ihr Mentor seine Disputation hatte«, fuhr er in heiterem Ton fort. »Ich war damals noch ein ganz junger Professor. Palates war so nervös, dass er zunächst kein Wort herausbrachte. Doch dann hat er seinen Vortrag wunderbar gemeistert. Übrigens hatte ich es in jenem Jahr ebenfalls zu tun mit …«

Er unterbrach seine Anekdote, als er die gequälte Miene des jungen Magiers sah, der viel darum gegeben hätte, der ausschweifenden Beileidsbekundung seines ehemaligen Professors zu entgehen. In letzter Zeit hatte Silenos den Hang, ins Schwadronieren zu verfallen. Meistens tat er so, als würde er das Räuspern und die ungeduldigen Seufzer seiner Schüler nicht bemerken. Doch heute beherrschte er sich glücklicherweise.

»Ah, entschuldigen Sie, sogar in den schwierigsten Momenten schaffe ich es nicht, mich mit meinen Erinnerungen zurückzuhalten. Es war ein Infarkt, nicht wahr?«

»Sieht so aus«, antwortete Lastyanax düster. »Palates hat üppige Mahlzeiten ja geliebt.«

»Na, dann wird mir das wohl auch blühen«, sagte der Mystograf und deutete auf seinen Bauch. »Entschuldigung, ich sollte darüber nicht scherzen … Schließlich bin ich nicht zu Ihnen gekommen, um Ihr Leid noch zu vergrößern. Lassen Sie uns stattdessen ein wenig über Politik reden, lieber Lastyanax«, schlug er vor, wobei er auf den Platz neben sich klopfte.

Lastyanax zögerte einen Moment verunsichert, doch dann setzte er sich, ein Bein halb in der Luft, auf die kleine Ecke, die nicht vom breiten Hintern seines Professors in Beschlag genommen wurde. Silenos unterrichtete Mystografie oder Magisches Schreiben. Bis jetzt war ihre Beziehung auf ein reines Lehrer-Schüler-Verhältnis beschränkt gewesen. Aber Silenos’ Nähe zum Basileus machte ihn zu einer einflussreichen Person. Der Herrscher von Hyperborea hatte ihn sogar zum Stellvertretenden Obersten Richter ernannt, auch wenn dieser Ehrentitel keinerlei Verantwortung mit sich brachte. Indem er die Unterhaltung jetzt auf die Politik lenkte, verließ er den gewohnten Rahmen ihrer Gespräche.

»Nachdem Sie fünf Jahre lang der Eleve eines Ministers waren«, begann er, »wissen Sie, wie schnell sich die Dinge manchmal entwickeln. Die Mitglieder des Rates sind bereits über Palates’ Tod unterrichtet, und jeder versucht, seinen Stein auf die vakante Stelle im Ebnungsministerium zu setzen. Ich beabsichtige zum ersten Mal, dieses Spiel mitzuspielen, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Wissen Sie, ich habe noch nie einen jungen Mann getroffen, der so intelligent ist wie Sie, und ich sage das, ohne Ihre bescheidene Herkunft zu berücksichtigen. Darüber hinaus wurden Sie von Palates selbst ausgebildet, was Ihnen einen beachtlichen Vorteil gegenüber potenziellen Konkurrenten verschafft. Deswegen möchte ich Sie dabei unterstützen …«, Silenos machte eine Pause, kniff ein Auge zusammen und fuhr triumphierend fort: »Ebnungsminister zu werden!«

Lastyanax hatte natürlich geahnt, worauf sein Gesprächspartner hinauswollte, trotzdem starrte er ihn ungläubig an. Palates war doch gerade erst gestorben. Und er selbst trug noch seine Eleventunika. Eines Tages sah er sich durchaus im Ministerium, aber nicht so jung, und vor allem nicht unter diesen Umständen.

»Ich habe nicht gedacht, dass ich mich derart früh für Sie einsetzen würde«, fuhr Silenos fort, ohne ihm Zeit für eine Erwiderung zu lassen. »Es wäre sicher wünschenswert, wenn Sie noch etwas mehr Erfahrung hätten … trotzdem wüsste ich niemanden, der besser geeignet wäre als Sie, diesen Posten zu bekleiden. Das Amt des Ebnungsministers setzt Kenntnisse über das Leben in den niedrigen Ebenen voraus. Bedauerlicherweise verfügt beinah keiner unserer Magier über dieses Wissen. Sie dagegen könnten dem Amt neuen Schwung verleihen, Lastyanax.«

Mit einem wohlwollenden Nicken beendete der Mystograf seinen Satz. Lastyanax schwieg einen Moment und dachte über eine Antwort nach, während Silenos’ forschender Blick zwischen seinem rechten Auge und seinem linken hin- und herwanderte.

Kaum zwei Stunden nachdem die Leiche seines Mentors gefunden worden war, hatte Lastyanax eigentlich keine Lust, über dessen Nachfolge zu reden. Andererseits war ihm auch bewusst, dass sich einem wie ihm, der aus der ersten Ebene stammte, eine solche Karrierechance nicht noch einmal bieten würde. Minister zu werden, im Herzen der städtischen Verwaltung zu arbeiten, war etwas, wovon er seit Jahren träumte. Unwillkürlich wanderte sein Blick zu der Statue des Magiers mit seiner leuchtenden Kugel.

»Ich fühle mich sehr geschmeichelt«, erwiderte er schließlich. »Es wäre mir eine Ehre, den Fackelstab von meinem Mentor zu übernehmen. Aber gehen Sie nicht ein beträchtliches Risiko ein, indem Sie meine Kandidatur unterstützen, Professor?«

Auf höfliche Art versuchte er so nach den Gegenleistungen zu fragen, die der andere für seine Unterstützung erwartete. Auch wenn der Vorschlag des Mystografen uneigennützig erschien, ließ Lastyanax sich nicht täuschen. Und Silenos verstand seine Anspielung.

»Mir macht es Freude, vielversprechende junge Leute zu fördern, die nicht das Glück hatten, in einer Familie von Magiern aufzuwachsen. Aber ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass dies mein einziger Beweggrund ist«, fügte er ruhig hinzu. »Um ehrlich zu sein, machen mir das mangelnde Urteilsvermögen des Eparchen und sein Einfluss auf den Basileus Sorgen. Mir wäre sehr viel wohler, wenn jemand Zuverlässiges und Vernünftiges, mit einem frischen Blick auf die Dinge, an den Besprechungen des Rates teilnehmen würde. Außerdem würde mich natürlich auch deren genauer Inhalt interessieren … Aber es geht selbstverständlich nicht um eine Einflussnahme meinerseits: Der Rat soll seine volle Unabhängigkeit bewahren.«

Lastyanax nickte erleichtert. Das angespannte Verhältnis zwischen Silenos und dem Eparchen war für niemanden ein Geheimnis. Silenos suchte nach Pfeilen, die er gegen seinen alten Kontrahenten richten konnte. Nun gut, Lastyanax hatte nichts dagegen, ihn mit solchen zu versorgen, zumal er den Stadtpräfekten ebenfalls nicht besonders schätzte. Das war ein annehmbarer Preis für einen Sitz im Rat der Minister.

»Meine Chancen, in den Rat zu kommen, sind allerdings sehr gering«, gab er zu bedenken. »Ich bin gerade erst diplomiert worden und kenne nur wenige einflussreiche Magier, brauche jedoch die Mehrheit der Stimmen des Mentorenkollegiums sowie die Einwilligung des Basileus.«

»Man findet immer Unterstützung, wenn man weiß, wo man sie suchen muss«, antwortete der Mystograf gelassen. »Sie können jetzt schon auf den Kuppelbaumeister und den Chefarchitekten zählen, das sind gute Freunde von mir, ich werde ihnen gleich ein Hydrotelegramm senden …«

Während er weiter seine Beziehungen aufzählte, ging ein Mann mit eiligen Schritten in der Galerie, die an die Terrasse grenzte, vorbei. Lastyanax erkannte in ihm den Eparchen, der seine geringe Körpergröße durch einen ständig missmutigen Gesichtsausdruck wettmachte. Er hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen, denn der Vorsitzende des Rates und Stadtpräfekt war stets zu sehr von seinen Pflichten in Anspruch genommen, als dass er einem unbedeutenden Schüler seine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Während Silenos weiterredete, hörte Lastyanax ihn brummen: »Dieser Dummkopf von Palates … einfach so zu sterben, ohne Vorwarnung … als hätte ich nicht so schon genug zu tun …«

Als Silenos merkte, dass Lastyanax abgelenkt war, drehte er sich überrascht um.

»Guten Tag, Mezentius«, grüßte er den Eparchen. »Wie geht es deiner Familie? Ist dein Sohn bereit für die Attribution?«

»Hab keine Zeit für dein Getue, Silenos. Zwischen den Klans gärt es, in der fünften Ebene ist ein Kanal eingestürzt, die Karawanenführer-Gilde bedrängt mich … und jetzt muss ich auch noch einen Minister ersetzen!«

Lastyanax sah aus dem Augenwinkel, wie Silenos an seiner Seite vor Freude zappelte.

»Eben, Mezentius«, entgegnete der Professor munter, »ich möchte dir einen möglichen Nachfolger vorstellen.«

Für seinen Körperumfang stand er erstaunlich flink auf und trat zum Stadtpräfekten, der ungeduldig mit den Füßen scharrte. Lastyanax folgte ihm.

»Und wer soll dieser Kandidat sein, für den du meine Zeit verschwendest?«

»Er hier.« Silenos schob Lastyanax nach vorn.

Der Eparch lachte verächtlich auf.

»Ein Eleve! Du hast wirklich Humor, Silenos!«

»Ich meine es ernst. Lastyanax kennt sich mit der Angleichung der Ebenen bestens aus, schließlich hat er die Vorhaben und Projekte seines Mentors im Laufe der letzten fünf Jahre verfolgt. Außerdem ist er seit heute nicht mehr Schüler, seitdem die Professoren und auch ich seiner Disputation die Note 11 von 12 gegeben haben.«

»Ha!«, rief Mezentius, »11 von 12. Das Beurteilungsniveau ist auch nicht mehr das, was es mal war. Zu meiner Zeit wurde so gut wie nie eine 9 vergeben. Je länger du redest, desto mehr verlierst du in meinen Augen an Glaubwürdigkeit, lieber Silenos.«

Der Mystograf zuckte lachend mit den Schultern. »Dann finde doch einen Nachfolger, der die Unterlagen und Vorhaben besser kennt. Nur zu, befrag ihn.«

Der Eparch schnaubte und drehte sich zu Lastyanax um. Wie zuvor schon Silenos wusste er nicht, in welches Auge er blicken sollte. Lastyanax war diese Reaktion gewohnt: Seine beiden Iris hatten unterschiedliche Brauntöne.

»Wie viele Karawanen befinden sich derzeit in der Karawanserei?«, fragte er schließlich, nachdem er sich für das rechte Auge entschieden hatte.

»Das ist unfair, Mezentius, diese Frage hat nichts mit dem Ebnungsposten zu tun.«

»Vierhundertsechzig«, antwortete Lastyanax.

Der Eparch grinste herablassend und wandte sich mit überlegener Miene zum Gehen.

»Falsch, vierhundertzweiundsechzig. Sie sollten Ihre Lektionen besser noch einmal wiederholen, junger Mann.«

»Vierhundertzweiundsechzig waren es noch vor zehn Tagen«, gab Lastyanax unerschütterlich zurück, »aber zwei Karwan-Baschis sind in der Nähe von Themiskyra angegriffen worden. Die Nachricht kam heute rein. Sind Sie nicht auf dem Laufenden?«, fragte er mit unschuldigem Augenaufschlag.

Der Eparch kniff die Lippen zusammen, während Silenos ihm einen süffisanten Blick zuwarf. Um sie herum hatte sich mittlerweile die Schar der Neugierigen zerstreut. Nichts erinnerte mehr an Palates’ Tod, abgesehen von den Blumen, die die Diener zertreten hatten, als sie seinen Leichnam abholten. Lastyanax schämte sich, dass er den Affen machte, um im Rat den Platz seines Mentors zu übernehmen.

»Also gut, es sieht so aus, als hättest du einen möglichen Kandidaten für den Sitz des Ebnungsministers aufgetrieben«, wandte der Eparch sich an Silenos. »Aber übrigens«, fügte er hinzu und tat, als sei ihm die Eingebung gerade erst gekommen, »wirklich schade, dass seine Kandidatur nicht angenommen werden kann, auch wenn er das Kollegium vielleicht davon überzeugen sollte, für ihn zu stimmen.«

Silenos runzelte die Stirn.

»Und warum nicht?«

»Weil er keinen Eleven hat«, antworte der Eparch mit einem triumphierenden Grinsen. »Und du weißt genauso gut wie ich, dass nur Mentoren für den Ministerposten kandidieren können.«

Der Mystograf prustete los, und sein Bauch begann zu zittern.

»Mezentius, du hast vor lauter Klan-Geschichten und Kanälen wohl vergessen, dass die Attribution der Eleven genau in neun Tagen stattfindet. Auch dein Sohn nimmt übrigens daran teil.«

Mit einem Schulterzucken wischte der Eparch das Argument beiseite.

»Ich werde nicht neun Tage warten, um dem Basileus einen brauchbaren Kandidaten zu präsentieren. Ich habe schließlich einen Rat zu leiten.«

»Genau, und die nächste Ratssitzung ist in zehn Tagen, am Tag nach der Attribution«, konterte Silenos lächelnd.

»Lastyanax hat also genug Zeit, um einen Schüler zu finden. Und der Basileus wird sicher einverstanden sein, ein paar Tage zu warten, um meinen Vorschlag in Betracht ziehen zu können.«

Verärgert machte der Eparch Anstalten zu gehen, drehte sich dann jedoch noch einmal zu Lastyanax um und bohrte ihm einen Finger in die Brust.

»Sie sollten sich besser nicht in die politischen Mauscheleien Ihres ehemaligen Professors hineinziehen lassen, junger Mann! Sie werden sich die Finger verbrennen. Man wird Ihnen beim geringsten Zwischenfall die Schuld geben. Im Rat wird kein Minister Ihre Beiträge gutheißen. Damit das ganz klar ist: Ich werde der Erste sein, der Ihnen Steine in den Weg legt. Dieser absurde Ehrgeiz wird Sie sehr teuer zu stehen kommen.«

Und mit diesen Worten rauschte er ab. Verunsichert blickte Lastyanax ihm nach und fragte sich, ober er nicht einen großen Fehler beging. Er nahm sich vor, mit Palates darüber zu sprechen, doch dann wurde ihm bewusst, dass dies nicht mehr möglich war. Neben ihm tätschelte sich Silenos mit zufriedenem Seufzen den enormen Bauch.

»Ah, es gibt doch nichts Amüsanteres, als ihm auf die Nerven zu gehen. Messen Sie seinen Worten nicht allzu viel Bedeutung bei, er ist bloß neidisch. Er musste warten, bis er vierzig war, um in den Rat gewählt zu werden, und Sie sind erst neunzehn! Allerdings hat er in einem Punkt recht: Sie brauchen starke Schultern, um die Verantwortung, die Ihre neue Position mit sich bringt, tragen zu können. Der Rat ist ein unerschöpflicher Quell der Unannehmlichkeiten. Deswegen habe ich mich auch immer gehütet, selbst Minister zu werden … Übrigens werden Sie ja bald Mentor sein, lieber Lastyanax. Wie stellen Sie sich denn Ihren idealen Schüler vor?«

Nachdenklich legte Lastyanax einen Finger auf seinen höckrigen Nasenrücken, ein Souvenir seiner eigenen Attribution, des Tages, an dem er Palates zum ersten Mal begegnet war. Jedes Mal, wenn er von seiner Zukunft als Magier träumte, hatte er sich immer nur ausgemalt, wie er die Stufen der politischen Leiter erklomm. Daran, dass er auch einen Schüler würde unterstützen müssen, hatte er nie gedacht.

»Er muss brillant sein«, antwortete er.

Arka

»Wenn wir nicht bald durch dieses verdammte Tor kommen, geht mein Magen schon mal ganz allein nach Hyperborea vor.«

Zwerg antwortete Arka mit einem unzufriedenen Schnauben. Vor ihnen schlängelte sich eine schier endlose Reihe Ankommender durch die verschneite und vom Wind gepeitschte Steppe. In der Ferne zeichnete sich Hyperborea ab, dessen Kuppel wie eine gigantische schillernde Blase aus dem Schnee aufragte. Wenn Arka nicht derart ausgehungert gewesen wäre, hätte sie Stunden damit verbringen können, die Stadt zu bewundern. Hinter der transparenten Oberfläche, in der sich die Wolken spiegelten, erkannte sie einen Wald aus Türmen in allen Größen, manche so riesig, dass sie die Innenwand der Kuppel streiften. Grün, blau, ocker und rosa, erstrahlten sie in einer verschwenderischen Fülle an Farben, die inmitten der Grauabstufungen der Steppe, des Himmels und der Berge völlig unwirklich erschien. Nachdem sie den Gletscher, wie von der Schlange beschrieben, verlassen hatte, war Arka einen ganzen Tag lang durch die Ebene gelaufen, ohne ihre Augen von der Stadt abwenden zu können, wie eine Motte, die vom Licht angezogen wurde. Hyperborea. Die Stadt der Magier, warm wie ein ewiger Sommer und so reich, dass man sagte, ihre Straßen seien mit Gold gepflastert. Arka wusste nicht, was es mit den Pflastersteinen auf sich hatte, aber sie konnte von Weitem bereits die Hyperboreer sehen, die gelassen ihren Beschäftigungen nachgingen, während sie selbst sich beim Warten in der Kälte die Ohren abfror. Sie bewegten sich über eine Art Brücken aus weißem Stein, die die Türme miteinander verbanden. Von hier aus wirkten sie wie winzige Ameisen auf einem Zweig. Ihre Silhouetten waren durch die Krümmung der Kuppel verzerrt.

In der Mitte der Wehrmauer befand sich ein gewaltiges Bronzetor, an dem die Ankommenden kontrolliert wurden. Von Bollwerken aus blau emaillierten Ziegeln flankiert, stellte es einen der vier Zugänge zur Stadt dar. Über dem Türsturz umrankte ein Flechtwerk aus Kreisen und Quadraten ein Schild, auf dem ein Greif thronte.

›Ein magisches Siegel‹, dachte Arka.

Die Kuppel, die sich wie eine zarte Kristallkugel über den Stadtmauern wölbte, stellte eine trügerische Zerbrechlichkeit zur Schau. Mittlerweile konnte Arka erkennen, dass der Adamant, der transparente Stein, aus dem sie gefertigt worden war, gut zehn Fuß maß. Der Robustheit dieser Konstruktion war es zu verdanken, dass Hyperborea seit seiner Gründung keine Invasion erlitten hatte. Zu gut geschützt, zu weit im Norden gelegen und voller Magier, kannte die Stadt einfach keine Feinde, die mächtig genug waren, um es mit ihr aufzunehmen.

Arka kam das nur zupass. Seit über einem Jahr hatten Konflikte sie nicht nur von einem Land zum anderen irren lassen, sondern ihr auch das Zuhause und zwei geliebte Menschen genommen. Bei einem Brand in Arkadien hatte sie ihre Tutorin verloren und kurz darauf eine Freundin während eines Volksaufstandes in Napoca. Endlich an einen Ort zu kommen, der von Kriegen verschont blieb, war alles, wovon sie träumte.

Arka stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu erkennen, warum die Wächter so lange für die Kontrolle der Neuankömmlinge brauchten. Aber die Menschen, die vor ihr warteten – größtenteils Bergbewohner –, versperrten ihr die Sicht. In einiger Entfernung harrten Karawanen vor einem der Zollposten aus. Die Ochsen lagen wiederkäuend im Schnee, ihre Rücken mit Waren bepackt. Ohne Zugang zum Meer, versorgte sich Hyperborea allein dank der Händler, die aus ihren unzähligen Kolonien kamen. Zusätzlich zu den Lebensmitteln verleibte sich die Stadt jeden Tag unglaubliche Mengen an Holz, Stein und Metall ein, die sie als Waffen, Gerätschaften oder Kunsthandwerk, welche in aller Herren Länder verkauft wurden, wieder verließen. Sie war ein kommerzielles und kulturelles Imperium, das seit Jahrhunderten über den benachbarten Städten erstrahlte.

Nach einer Stunde, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, stand Arka endlich vor dem Grenzposten, einem kleinen Steingebäude, das sich an das Bollwerk schmiegte. Darin befragte eine Zollbeamtin gerade eine Bergbewohnerin, die von zwei schmächtigen Kindern begleitet wurde. Einen Moment später kam die Mutter in Tränen aufgelöst und mit den Knirpsen am Rockzipfel heraus, und Arka hörte, wie die Zöllnerin zu einer der Wachen sagte:

»Die Frauen glauben immer, sie könnten mich erweichen, wenn sie ihre Blagen mitbringen. Dabei weiß ich doch genau, dass sie, kaum sind sie drin, als Erstes ein neues ausbrüten, das sie dann auch nicht ernähren können. Keine Hyper, kein Einlass, so einfach ist das. Der Nächste!«

Arka zuckte zusammen und betrat nun selbst das Gebäude, während Zwerg vor der Tür stehen blieb. Was war das, ein »Hyper«? Hyperboreisches Geld? Sie hatte nichts, womit sie hätte zahlen können.

Die Zöllnerin saß hinter einem Schreibtisch und füllte ein Formular aus. Ihre rosafarbene Kopfhaut schimmerte unter dünnen grauen Haarsträhnen hervor, und ein Doppelkinn quoll über den Kragen ihres Pelzmantels. Mit ihren kleinen Wurstfingern brachte sie sorgfältig einen Stempel auf, der die Form eines Greifs – das Wahrzeichen der Stadt – hatte. Dann faltete sie das Blatt, fuhr mit ihrem Fingernagel an der Falz entlang und legte es auf einen hohen Papierstapel zu ihrer Rechten. Im Hintergrund stützten sich zwei Wachen auf große, bedrohlich wirkende Metallstöcke, die ihnen als Waffen dienten. Mit einem Ausdruck tiefster Langeweile beobachteten sie ihre Kollegin dabei, wie sie den Formularstapel zurechtrückte und ein Kästchen voller Münzgeld als Briefbeschwerer daraufstellte, ehe sie endlich zu Arka aufsah. Ihr Blick wanderte über deren abgewetzten Pelzmantel und blieb schließlich an den verfilzten blonden Haaren hängen. Stirnrunzelnd stellte sie fest, dass diese sicher seit Monaten nicht mehr gewaschen worden waren.

»Was führt Sie nach Hyperborea?«, blaffte sie ohne weitere Vorrede und zog ein neues Formular auf den Schreibtisch.

Arka hatte genug Zeit gehabt, um sich auf diese Frage vorzubereiten. Von der Brauchbarkeit ihrer Antwort überzeugt, betete sie stockend herunter:

»Ich bin nach Hyperborea gekommen, weil es die einzige Stadt ist, in der Magie noch erlaubt ist, und ich möchte die Freiheit haben, meine Fähigkeiten zu nutzen, nicht wie in Napoca, wo …«

»Also stammen Sie aus Napoca?«, unterbrach sie die Zöllnerin.

»Ja«, log Arka.

»Sie haben aber nicht die Spur eines napocanischen Akzents.«

Völlig überrumpelt, wusste Arka nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie sprach Hyperboreisch, weil die Amazonen eben Hyperboreisch sprachen. Dabei lebte das Volk, aus dem sie stammte, Tausende Meilen von hier entfernt und unterhielt, zumindest soweit sie wusste, keinerlei Beziehungen zu der magischen Stadt. Da die Kriegerinnen keinen guten Ruf hatten, vermied Arka es jedoch zu erwähnen, dass sie bei ihnen aufgewachsen war. Von ihrer eigenen Notlüge in Bedrängnis gebracht, suchte sie fieberhaft nach einer Erklärung.

»Mein Vater ist Hyperboreer, er hat mir beigebracht, seine Sprache zu sprechen. Ich möchte ihn wiederfinden, deswegen bin ich auch hergekommen.«

Das war immerhin nur eine halbe Lüge. Ihr Vater war tatsächlich Hyperboreer, auch wenn sie ihn nie kennengelernt hatte, weil er ihre Mutter vor ihrer Geburt verlassen hatte. Und sie wollte ihn wiederfinden.

Die Zöllnerin nickte bedächtig und trug dann etwas in das Formular ein.

»Sie sprachen von Magie«, nahm sie den Faden wieder auf. »Wie würden Sie Ihre Fähigkeiten beschreiben?«

»Oh, ich kann ein paar einfache Sachen«, antwortete Arka ausweichend. »Feuer machen, Gegenstände zum Schweben bringen, so etwas …«

Die Zöllnerin machte sich erneut eine Notiz.

»Wie wollen Sie Ihren Lebensunterhalt in Hyperborea verdienen?«

Auch darauf wusste Arka eine Antwort:

»In Napoca habe ich auf der Straße Pasteten verkauft, dasselbe will ich hier auch tun.«

In Wahrheit hatte sie noch nie in ihrem Leben eine Pastete zubereitet, noch wusste sie, wie sie überhaupt Geld verdienen sollte, aber sie fand die Lüge überzeugend. Die Zöllnerin nickte wieder und fügte eine Zeile auf ihrem Papier hinzu.

»Ich werde Ihnen jetzt Fragen stellen, auf die Sie mit Ja oder Nein antworten. Haben Sie vor, einer verbrecherischen Organisation beizutreten, sobald Sie in Hyperborea sind?«

Arka war ratlos. Was bezweckte sie mit dieser Frage?

»Nein«, antwortete sie.

»Gedenken Sie sich fremden Eigentums zu bemächtigen oder unrechtmäßig bei Privatpersonen einzudringen?«, fuhr die Zöllnerin fort, nachdem sie ein Kästchen auf dem Blatt angekreuzt hatte.

»Nein.«

»Haben Sie die Absicht, das Wasser der Stadt zu vergiften oder einen der Türme zu zerstören?«

»Nein.«

»Planen Sie einen Anschlag auf Leib und Leben hoher Würdenträger der Stadt, beginnend beim Basileus?«

»Nein.«

»Sind Sie eine Amazone?«

Arka konnte nicht sofort antworten, so verwirrt war sie. Beunruhigt stellte sie fest, dass diese Frage auf dieselbe Stufe gestellt wurde wie die anderen. So, als wäre allein die Tatsache, eine Amazone zu sein, ein ausreichender Grund, zurückgewiesen zu werden. Die Zöllnerin blickte von ihrem Formular auf.

»Eine reine Routinefrage. Antworten Sie.«

»Nein, ich bin keine Amazone«, entgegnete Arka wahrheitsgemäß.

»Name und Alter?«, fragte die Zöllnerin, nachdem sie den letzten Punkt auf der Liste abgehakt hatte.

»Arka, dreizehn Jahre«, antwortete sie schnell.

»Arka, dreizehn Jahre, blond, grau-braune Augen«, murmelte die Beamtin, während sie schrieb. »Ganz schön jung, um allein zu reisen«, sagte sie, ohne die Nase von ihrem Dokument zu heben.

Arka wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie hätte auch gerne Gesellschaft gehabt, aber die Umstände hatten ihr keine andere Wahl gelassen. Der argwöhnische Blick der Zöllnerin richtete sich abschätzend auf sie.

»Also gut, lassen wir Sie rein«, sagte sie nach kurzem Schweigen. »Ihr Formular ist ausgefüllt. Der Eintritt in die Stadt kostet Sie einen Hyper, wie Sie sicher auf dem Schild über der Tür gelesen haben. Sie haben doch die Mittel, dies zu bezahlen, oder?«

Arka verzog enttäuscht das Gesicht. Die Zöllnerin musste von Anfang an bezweifelt haben, dass sie so viel Geld besaß. Bestimmt hatte sie sich köstlich dabei amüsiert, ihr die ganzen Fragen zu stellen und ihr damit Hoffnung auf den Einlass in die Stadt zu machen. Verlegen kratzte sie sich am Kopf und stammelte:

»Öh, genau, ich wüsste gerne … sagen wir, es gibt da ein kleines Problem …«

Plötzlich ertönte hinter ihr ein Krachen. Es war Zwerg, der mit den Hufen ausschlug, um sich von der großen Eisscholle zu befreien, die vom Dach des Zollamts heruntergerutscht war. Lachend beobachteten die Umstehenden das Spektakel. Die Zöllnerin schnalzte mit der Zunge.

»Also, wo liegt das Problem?«, fragte sie ungeduldig.

Arka zog drei dreieckige Münzen aus ihrer Tasche, eine aus Gold, eine aus Silber, eine aus Kupfer.

»Ich kenne mich noch nicht so gut mit der hiesigen Währung aus und weiß daher nicht genau, was ein Hyper ist. Ist es das hier vielleicht?«, fragte sie mit Unschuldsmiene, während sie der Beamtin ein großes Goldstück hinhielt, das das Bildnis eines Mannes zierte.

Die nahm es mit misstrauischem Blick und legte es auf eine kleine Waage, um seine Echtheit zu überprüfen.

»Ja«, bestätigte sie widerwillig, ehe sie den Hyper in das Kästchen tat. »Die Silbermünze ist ein Borion und die aus Kupfer ein Chalkos. Ein Hyper ist sechsunddreißig Borion wert und ein Borion zwölf Chalkos.«

Sie setzte den Stempel der Stadt unter das Formular, falzte es mithilfe ihres Fingernagels und legte es oben auf den Stapel unter das Kästchen.

»Sie dürfen sich jetzt offiziell in der Stadt aufhalten. Dies gilt ab heute für die Dauer eines Jahres, wenn Sie allerdings gegen das Gesetz verstoßen, können Sie ohne weiteres Verfahren ausgewiesen werden. Einen Prozess bekommen Sie nur für Verbrechen, auf die die Todesstrafe steht. Haben Sie verstanden?«

»Ja«, antwortete Arka.

Sie wollte nur noch eins: So schnell wie möglich in die Stadt kommen und sich endlich ihren Traum von einer warmen Mahlzeit erfüllen. Hastig steckte sie die übrigen beiden Münzen wieder ein und verließ das Zollamt. Draußen lachten die Leute immer noch. Arka rief nach Zwerg, der sofort mit würdevoller Miene und schwingendem Schweif zu ihr getrabt kam.

»Tut mir leid, Kumpel«, murmelte Arka und tätschelte ihm die Flanken.

Sie hatte dafür gesorgt, dass die Eisscholle auf seine Kruppe fiel. Und während die Zöllnerin und die Wachen abgelenkt waren, hatte sie die drei Münzen unbemerkt aus dem Kästchen und in ihre Tasche schweben lassen. Es war schon ein berauschendes Gefühl, dass sie sich den Zutritt zur Stadt auf deren Kosten verschafft hatte, dachte sie, während sie mit siegessicherem Schritt unter den Augen der Wachposten das riesige Bronzetor passierte.

Und zur Krönung des Ganzen hatte sie jetzt auch noch genug Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen.

2

Willkommen in Hyperborea

Arka

Während sie die weite, grasbewachsene Fläche überquerte, die die Stadtmauer von den ersten Türmen trennte, lastete eine feuchte Hitze drückend auf ihr. Die hyperboreische Atmosphäre, in der es keinen Wind gab, wirkte wie erstarrt. In ihrem Pelz fühlte Arka sich genauso fehl am Platz wie die Moschusochsen, die die Karwan-Baschis auf den Wiesen rundum grasen ließen. Sie zog ihre Fausthandschuhe und ihren Kapuzenmantel aus und trug jetzt nur noch ein Unterhemd, eine Hose aus Rentierfell und gefütterte Stiefel.

Den Mantel unter den Arm geklemmt, erreichte sie den Stadtrand und schlenderte staunend durch die Straßen. Die hyperboreischen Türme, die von Weitem so schlank und zierlich wie Rosenstängel erschienen, wirkten ganz anders, sobald man zu ihren Füßen stand. Hier und da von trapezförmigen Fenstern durchbrochen, ragten sie wie wuchtige, aus Stein gehauene Riesen in den Himmel empor. Untereinander waren sie durch hängende Wasserstraßen verbunden und durch die Wäscheleinen der Hausfrauen. An den Mauern sprossen vertikale Kräutergärten. Arka hörte eine Frau, die sich zwei Etagen über ihr aus dem Fenster lehnte, murren:

»Diese verdammten Vögel, sie haben schon wieder das Silphium ausgerissen, jetzt muss ich neues pflanzen.«

Im selben Moment flog ein Schwarm Tauben zwischen den Türmen unter einem Vorhang aus Lianen hindurch, die von einem der Luftkanäle hinunterrankten. Die Frau blickte ihnen düster hinterher und kippte dann den Inhalt eines Nachttopfs aus dem Fenster, der mit einem lauten Platsch in der tiefer liegenden Wasserstraße landete. Diese Szene holte Arka wieder in die Wirklichkeit zurück. Mit gerümpfter Nase nahm sie den Geruch der Straßen um sie herum wahr, die eng, düster und voller Fliegen waren. Der Mythos von Hyperborea und seinen goldenen Pflastersteinen fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Der Grund der Stadt, der im Schatten der Türme lag, war vor allem eins: schmutzig. Müllhaufen stapelten sich in jeder Ecke, und bräunliche Rinnsale ergossen sich in die Kanäle. Nicht weit von ihr sammelten Kinder große rosafarbene Pilze, die auf Exkrementen wuchsen. An manchen Stellen mussten die Bewohner den Müll beiseiteschieben, um ihre Türen öffnen zu können.

Beim ersten Straßenhändler, an dem sie vorbeikam, kaufte Arka Gerste und ein Gemüsebrot. Danach hatte sie nur noch zehn Chalkos übrig. Sie setzte sich ans Ufer eines Kanals und verschlang ihr Mahl, dicht an ihrer Seite Zwerg, der die Gerste fraß. Nachdem sie den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, leckte sie sich die Finger ab und streckte sich mit einem wohligen Seufzer auf dem Boden aus.

Noch nie hatte sie das Gefühl eines vollen Magens so zu schätzen gewusst wie nach diesen vier Tagen des Fastens.

Moskitos umschwärmten sie, während sie auf dem Rücken lag und die Spitzen der Türme betrachtete, die im Sonnenlicht badeten, und, hinter ihnen, die glitzernden Reflexionen der Kuppel.

Lianen, so dick wie Baumstümpfe, wuchsen aus der Straße und kletterten bis zu den Turmspitzen hinauf. Wie viele Etagen sie wohl haben mochten? Dreißig oder vielleicht vierzig? Dort oben verschwand das Mauerwerk hinter farbigen Malereien. Jedes Sims, jedes Basrelief, jede Einfassung war mit bunten geometrischen Formen geschmückt. Auf den unteren Etagen dagegen hatte sich der nackte Stein vom Rauch der Verkaufsbuden schwarz gefärbt, wenn er nicht mit Schimmel bedeckt war. Es war offensichtlich, dass die höhergelegenen Ebenen die wohlhabenden Einwohner beherbergten. Das Wasser der Stadt, das durch ein ausgetüfteltes Verfahren hinaufgepumpt wurde, erreichte klar und sauber die Turmspitzen und floss dann durch hängende Aquädukte bis in den unteren Teil Hyperboreas, wo es übelriechend, grünlich und voller Moskitolarven ankam.

Arka stützte sich auf die Ellbogen, ein aufgedunsener Hühnerkadaver dümpelte vor ihr im Wasser. Die Kloake einer ganzen Stadt floss an ihr vorbei.

Plötzlich kreuzte eine riesige, bestimmt drei Schritt lange Schildkröte, die mit Fässern beladen war, ihr Blickfeld.

Auf ihrem alten verbeulten Panzer aus grünem und braunem Schildpatt wuchs bereits Moos. Vorne saß ein Mann, der sie mithilfe eines an ihrem Kopf befestigten Zaumzeugs lenkte. Verblüfft sah Arka diesem seltsamen Gefährt dabei zu, wie es an ihr vorüberglitt und sich dann langsam entfernte.

Es folgten immer mehr Schildkröten in verschiedenen Größen, mit mehr oder weniger schönen Panzern, aber stets gleichmütig, die mit Lebensmitteln oder Personen beladen den Kanal heraufkamen.

»Wir werden hier wohl noch einige Überraschungen erleben«, sagte Arka zu Zwerg, der mit großem Interesse die Flussreittiere von Hyperborea betrachtete.

Sobald sie genug Geld dafür zusammen hätte, würde sie selbst einmal ausprobieren, eine Schildkröte zu reiten. Doch zuerst musste sie dringend welches verdienen. Und ihren Vater finden, sofern dieser noch lebte. Und zusehen, dass sie endlich Fortschritte in Magie machte.

Arka erhob sich und gähnte. Die Hitze und die Mahlzeit hatten sie schläfrig gemacht. Als sie, gefolgt von Zwerg, weiterging, wurde ihr klar, dass sie alle drei Ziele miteinander verbinden konnte. Sie wusste nicht viel über ihren Vater, außer, dass er in Napoca gelebt hatte und ein hyperboreischer Magier war. Sobald sie ihn gefunden hätte, könnte er sie in Magie unterrichten und ihr eine Schildkröte zahlen. Alles fügte sich perfekt zusammen.

Arka war zu stolz auf ihren Plan, um sich einzugestehen, dass er gewisse Schwachstellen hatte. Angefangen mit der Frage, wie ihr Vater sie empfangen würde, falls es ihr überhaupt gelänge, ihn zu finden.

Sie kam an eine Kreuzung zweier Kanäle, auf der sich die Schildkröten stauten und in deren Mitte sich ein gelblicher Wasserfall ergoss. Er entsprang einem etwa zwanzig Schritt höher gelegenen Aquädukt, das zwischen zwei Türmen plötzlich endete, als wäre es nicht fertiggestellt worden. Eine Art Seilzug war dort angebracht, und ein durch ölige Taue an den Zugrollen befestigtes Netz trieb im Wasser des Kanals.

Im nächsten Moment paddelte eine Schildkröte, gelenkt durch ihren Fahrer, in das Netz, Maschinisten setzten die Zugrollen in Bewegung, die Taue strafften sich, und das Tier wurde unter großem Wasseraufwirbeln angehoben. Die Winde rollte die Seile ohne menschliches Zutun auf, als wäre Magie am Werk, was sicherlich auch der Fall war. Fasziniert beobachtete Arka, wie sich die riesige Schildkröte in die Luft erhob und entlang des Wasserfalls nach oben schwebte, während ihre Flossen im Freien baumelten. Als das Tier den oberen Kanal erreicht hatte, schwenkte der Flaschenzug um und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Kurz darauf tauchte das Netz, beladen mit einer anderen Schildkröte, wieder aus dem Kanal auf.

Arka saß am Ufer und sah dabei zu, wie die Maschine die Reptilien hinauf und hinab beförderte, während Zwerg Gräser äste, die zu Füßen der Türme zwischen den Steinen wuchsen. Sie zuckte zusammen, als einer der Reiter seine Schildkröte neben ihr zum Stehen brachte. Der Panzer des Tiers war blau angemalt.

»Wollen Sie zur zweiten Ebene?«

Offensichtlich hatte sie es mit einem Kutscher zu tun.

»Was ist die zweite Ebene?«

Der Kutscher deutete zu dem Aquädukt.

»Das ist da oben. Und dann kommt die dritte Ebene und dann die vierte …«

»Ich suche einen Magier«, entgegnete Arka. »Wo wohnen denn die Magier?«

»Die Magier? Die sind alle droben in der siebten.«

Arka blickte zu den Spitzen der Türme hinauf, die bestimmt zweihundert Schritt über ihr in den Himmel ragten. Da oben war also ihr Vater. Schwebend konnte sie höchstens drei oder vier Schritt überwinden, und um mit ihrem Flügelarmband einen derartigen Steigflug zustande zu bringen, war sie nicht geübt genug, selbst wenn sie Zwischenhalte einlegen würde. Ihre Finger spielten mit dem Münzgeld in den Tiefen ihrer Tasche. Vielleicht könnte sie den Schildkrötentransfer bezahlen, nachdem sie ihren Pelz verkauft hätte.

»Wie viel kostet eine Fahrt zur siebten Ebene?«

»Die Gebühr für den Aufzug sind immer so viele Hyper wie die Zahl der Ebenen, zu denen er führt, also muss man zwei plus drei plus vier plus fünf plus sechs plus sieben rechnen … macht siebenundzwanzig Hyper eben.«

Arka schluckte.

»Was? Was ist das denn für eine Stadt? Eine Räuberhöhle?«

»Plus zwei Borion für den Transport.«

»Das ist ja Abzocke!«

Der Kutscher lachte.

»Das hier ist Hyperborea, nicht irgendein Bergdorf. Bei jedem Ebenenwechsel zahlt man Wegegeld, so ist das halt.«

Arka verzog das Gesicht. Die Hände tief in den Taschen vergraben, blickte sie auf die stinkenden Abfälle, die im Kanal vorbeitrieben. Der erbärmliche Zustand des Viertels überraschte sie nicht mehr. Nur die wirklich Reichen konnten es sich leisten, ganz oben in den Türmen zu leben.