Die Städte - Andreas Maier - E-Book

Die Städte E-Book

Andreas Maier

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Beschreibung

In der neuen Folge seiner Ortsumgehung nimmt uns Andreas Maier mit auf Reisen. Er zeichnet das Bild der vergangenen Jahrzehnte anhand der Städte und Landschaften, die die Urlaubsrouten einer mobilitätsbesessenen Gesellschaft flankierten. Mal ist er als siebenjähriges Kind mit den Eltern im Auto unterwegs zur verhassten Ferienwohnung in Brixen, mal trampt er als Sechzehnjähriger nach Südfrankreich und hört sich Nacktbusendiskurse am Strand an. Im Piemont klappt ein Selbstmord ganz und gar nicht, und schließlich, als der Billigfliegertourismus massenhaft über uns hereinbricht, fährt er lieber nach Weimar und sieht dort zu seiner Überraschung die neuen Rechten über den Frauenplan marschieren.
»Ach, vergeblich das Fahren!«, dichtete einstmals Gottfried Benn. Die Vergeblichkeit seines und womöglich unser aller Fahrens und Reisens schildert Andreas Maier in seiner ihm eigenen raffinierten und wie immer hochkomischen Art. Dabei gelingt ihm mit zauberhafter Leichtigkeit ein Gesellschaftsporträt über drei Jahrzehnte hinweg.

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Seitenzahl: 152

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Titel

Andreas Maier

Die Städte

Roman

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

NÜRNBERG

,

BRENNER

,

BRIXEN

ATHEN

BIARRITZ

OULX

BANGKOK

,

FRIEDBERG

,

MARRAKESCH

WEIMAR

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Die Städte kamen sich näher. Mein Heimatort Friedberg in der Wetterau wurde Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts durch die S-Bahn an Frankfurt angeschlossen. In den Achtzigern standen die Autofahrer schon längst alle im Stau auf der A5, wenn sie morgens nach Frankfurt wollten. Manchmal begleitete ich meinen Vater in die Metropole. Die Wagen blieben bereits Hunderte Meter vor der Auffahrt auf die A5 stecken. Unser Autobahnzubringer befand sich bei Rosbach vor der Höhe.

Manche Städte wuchsen regelrecht zusammen: Zwischen Friedberg und meinem Geburtsort Bad Nauheim lag bald nur noch ein unbebautes Stück von der Größe zweier Fußballfelder. In meiner Kindheit sah man auf der Straße zwischen den beiden Städten manchmal gar kein Auto und bei stärkerem Verkehr vielleicht drei oder vier. Zu meiner Studienzeit war die Straße bereits komplett ausgelastet. Inzwischen wird die seit Jahrzehnten geplante Ortsumgehungsstraße um beide Städte gebaut, die diesen Sommer (2009) eröffnet werden soll. Anschließend wird sie bis Frankfurt weitergeführt.

Als ich in meinem siebten Semester zum ersten Mal ins Altphilologische Institut in der Frankfurter Gräfstraße kam, hatte ich gerade eine Beziehung zu einer Frau aus dem Hunsrück hinter mir. Ich selbst war zweimal in ihre Heimatregion gefahren, in einem VW. Ich reiste zum Beispiel auch nach Innsbruck, weil ich eine Hausarbeit über einen österreichischen Autor schrieb und mir ein paar Sachen vor Ort vergegenwärtigen wollte. Nach dem Abitur war ich mit meiner damaligen Freundin Bettina nach Rom gefahren, im Zug. Dort hatten wir in der Nähe des Petersdoms bei Nonnen übernachtet. Manchmal war ich auch in Städte wie Wien oder Biarritz getrampt. Als Oberstufenschüler war ich in ein jüngeres Mädchen in Wasserburg am Inn verliebt, sie war zwölf. Dort trampte ich ebenfalls oft hin. Weitere Reisen: Als Kind nach Rom (Auto), nach Venedig (Auto) und an den Gardasee (Auto). Mit der Schulklasse nach Belgien an den Strand und einen Tag nach London, einen anderen Tag nach Luxemburg, jeweils mit Bus. Die beiden Flugreisen in meinem Leben: mit sieben Jahren nach Berlin und zurück, Flughafen Tempelhof. Mit dreizehn Jahren nach Athen und nach einer zehntägigen Busrundreise gemeinsam mit meinen Eltern von Athen wieder zurück.

Als ich ein Kind war, fuhren wir überdies in fast allen Ferien nach Tirol und später nach Südtirol in eine Ferienwohnung. Davon emanzipierte ich mich mit elf Jahren, seitdem konnte ich zu Hause bleiben. Ich schaffte es, indem ich alle terrorisierte.

Ein paarmal nahm ich einen Zug nach Turin, dort besuchte ich eine ehemalige Austauschschülerin, mit der ich im zwölften Schuljahr eine kurze Beziehung gehabt hatte. Einmal fuhr ich während der Semesterferien für zehn Wochen in ein Bergdorf im Piemont namens Oulx. Die kleine Wohnung dort hatte mir die ehemalige Austauschschülerin vermittelt. Ich wollte mich in Oulx umbringen. Ich brachte mich aber in Oulx nicht um, sondern fuhr von dort nach Turin, von da mit einigen Freunden meiner italienischen Austauschschülerin in einen kleinen Ort, den sie Barone nannten (vollständig hieß er Barone Canavese), dort hausten wir in einem heruntergekommenen Barock-Schloß, das einer ihrer Freunde geerbt hatte, einer Art Turm (ausgediente Billard- und Whisttische, riesige Kamine). Oder ich fuhr von Oulx nach Chambéry, eine Brieffreundin besuchen, die vormals Au-pair-Mädchen in Friedberg gewesen war. Oder nach Grenoble, dort wohnte ein algerischer Gastwirt, den ich seit meiner Kindheit kannte. Nachdem ich mich in Oulx nicht umgebracht hatte, konnte ich immerhin ein bißchen Italienisch.

Als Student reiste ich auch an den Lido. Dort besuchte ich eine mit uns befreundete Familie. Meine Mutter war im Alter von vierzehn Jahren mit ihrer Großmutter nach Venedig gefahren, dort hatte sich ein Venezianer in sie verliebt. Das war die Grundlage für unsere Beziehung zu Venedig. Der Bruder des Venezianers setzte einmal Papst Johannes XXIII. über die Lagune, der Erzählung nach nicht in einer Gondel, sondern in einem gewöhnlichen Ruderboot.

Hin und wieder fuhr ich mit dem Auto (ich rede jetzt wieder über meine Zeit als Student) nach Limburg, um dort einen weiteren Familienfreund zu besuchen, bei dem ich meistens übernachtete, einen Domkapitular namens Christian Meurer, damals Mitte Sechzig. Dieser wiederum hatte in Rom studiert, daher war die Hochzeitsreise meiner Eltern dorthin gegangen. Meine letzte Reise als eingeschriebener Student ging nach Weimar (ICE).

Weitere Reisen: München mit Bettina, Kassel mit Bettina (documenta 8), Fulda mit Bettina (Ausstellung ihres Vaters), Freiburg (Besuch einer ehemaligen Schulfreundin). Als Kind: Celle, weil mein Vater dort an irgendeinem Gericht zu tun hatte. Mit dem Auto in die DDR nach Freiberg und Dresden. Im elften Schuljahr bin ich für zehn Tage nach Berlin getrampt (und lernte dort das Wasserburger Mädchen kennen). Auf der Transitstrecke hatte mich eine Frau der Alternativen Liste in einem R5 mitgenommen. Während der Fahrt verliebte ich mich natürlich auch in sie.

Weitere Bewegungen: Ab dem siebten, achten Schuljahr trampte ich wie viele andere in einem Umkreis von ca. zwanzig Kilometern um Friedberg herum von Ort zu Ort, um Freunde zu besuchen. Als ich mit siebzehn mit einer viel älteren Frau in Echzell zusammen war, trampte ich jeden Tag von ihr zur Schule nach Friedberg. Als Student in den ersten zwei Semestern: fast jeden Tag die Strecke Friedberg–Frankfurt und zurück, entweder mit der S-Bahn oder mit einem Regionalzug. Keine Ahnung, an wie vielen Menschen ich vorbeigekommen bin, ohne etwas von ihnen zu wissen.

Würde ich jetzt, im Jahr der Fertigstellung der Ortsumgehung, eine Karte meiner Lebensbewegungen von den ersten Jahren bis zum Ende meiner Studienzeit anfertigen, hätte sie folgende Eckpunkte: Hamburg, London, Biarritz, Barcelona, Neapel, Athen, Wien, Bautzen, Berlin.

NÜRNBERG, BRENNER, BRIXEN

Autofahren war zu Beginn vollkommen natürlich. Seit ich denken konnte, hatten wir zwei Autos, den Dienstwagen meines Vaters und das Auto meiner Mutter. Sie übernahm alle paar Jahre den abgelegten Wagen meines Vaters. In meiner Kindheit stammten beide Automobile in unserer Garage immer von Mercedes Benz. Zugfahrten habe ich mit meinen Eltern keine erlebt.

An die Kindheits-Autofahrt nach Rom kann ich mich nicht erinnern, oder sie ist überlagert von den zahllosen Fahrten, die wir nach Innsbruck und nach Südtirol machten. Sie verliefen immer gleich. Am Vorabend wurde gepackt, die Koffer wurden neben die Eingangstür postiert und der Wecker auf eine so frühe Uhrzeit gestellt, daß wir noch vor dem Berufsverkehr das Autobahnkreuz Nürnberg passiert hatten. Dann war das Unternehmen strategisch schon so gut wie gewonnen.

Ich saß also, quasi noch betäubt, morgens um halb vier in unserer kahlen Küche am Frühstückstisch und nahm ein Glas Milch oder Tee zu mir, mein Vater fuhr das Auto aus der Garage und bepackte nach einem bestimmten System den Kofferraum. Dinge mußten auch im Innenraum untergebracht werden, zum Beispiel auf der Rückfensterablage. Provianttüten kamen nach vorn in den Fußraum des Beifahrersitzes, auf dem meine Mutter saß. Auf der Rückbank nahmen wir drei Kinder Platz und würden dort die nächsten Stunden auf engstem Raum miteinander verbringen. Bei Dunkelheit wurde das Haus abgeschlossen, im Regelfall fuhren wir für mehrere Wochen. Aus der Ausfahrt heraus, meine Mutter schiebt das Hoftor zu, und dann beim Losfahren auf den ersten Kilometern die Überlegung: Haben wir nichts vergessen, ist alles dabei? Ausweise? Schecks?

Die erste Zeit fühlte sich an wie dunkles, schweres Blei. Neben mir Schwester oder Bruder, drei Kinder auf eineinhalb Metern. Da ich später lesen wollte, durfte ich an einem der Fensterplätze sitzen. Noch aber ist schwarze Nacht. Die Müdigkeit lähmt dir alle Glieder, du kannst kaum denken. Draußen ziehen Dunkelheit und Lichter vorbei, noch fast keine Autos, es ist gegen vier Uhr morgens. Schlafen geht nicht. Von vorn macht die Mutter Versorgungsversuche, sie hat die Beutel zu ihren Füßen, Kaffee, Tee, geschmierte Brote, alles in Butterbrotpapier verpackt, in späteren Jahren in Zellophan oder in Alufolie, am Ende der Fahrt wird sich einer der Beutel in einen Müllbeutel für die benutzten Verpackungsmaterialien verwandelt haben. Dieser wandert am Ankunftsort in den Mülleimer (von dort geht seine Reise dann weiter).

Noch aber ist es schwarz, und das einzige, was ich tun kann, ist, mich nicht zu rühren (so hält man die Müdigkeit besser aus) und darauf zu starren, wie die Lichter vor meinem Fenster vorbeisausen. Landstraße, noch eine Tankstelle an der Landstraße, dann bei Florstadt auf die Autobahn, beschleunigen, der Vater tritt für mich nur als Schulterpartie in Erscheinung, sein Kopf ist von der Kopfstütze verborgen. Schon arbeitet die Mutter mit den Beinen, weil ihr das Sitzen schnell unangenehm wird und ihre Beine sowieso Durchblutungsprobleme haben.

Wortlosigkeit hat sich eingestellt. Keiner spricht. Das Nichtsprechen wird der Mutter irgendwann zur Last, dann sagt sie etwas. Nur um zu sprechen und sich zu versichern, daß der andere, der am Steuer, noch da ist und ebenfalls mit ihr spricht. Meistens sind es immer noch Vergegenwärtigungsversuche des eben verlassenen Hauses. Hast du Frau Eiler den Briefkastenschlüssel gegeben? Haben wir den Küchenrolladen herabgelassen? Hast du den Termin mit dem Herrn Buresch verschoben?

Oder mein Vater: Hast du den Schriftsatz Möller noch gemacht?

Sie hat den Schriftsatz Möller noch nicht gemacht, aber das läßt sich auch von Italien aus erledigen. Denn vorausgesetzt, es handelt sich um eine Fahrt in die Ferienwohnung nach Südtirol, steht dort ja eine Schreibmaschine.

Dann wieder Schweigen, Fahren, Vor-sich-hinDämmern, der Schwester ist langweilig, sie kann sich nicht einkapseln in ihre Müdigkeit, vielleicht ist sie auch gar nicht müde. Wahrscheinlich freut sie sich sogar auf den bevorstehenden Bühnenwechsel. An dem Ort, zu dem wir fahren, sind zwar ihre Freundinnen nicht vorhanden, aber es gibt andere Kinder, mit denen sie anbandeln kann. Oder Jugendliche. Zum Beispiel auf dem Tennisplatz unten vor unserem Wohnblock. Sie fragt, wann kommt eine Tankstelle, wann können wir mal aussteigen usw.

Bevor aber getankt wird, muß Nürnberg geschafft sein. Getankt wird immer erst hinter Nürnberg, meist sogar erst in der Gegend um München. Dennoch muß vorher mindestens die Schwester einmal hinaus, meist auch die Mutter, wegen des Morgenkaffees.

Aber es ist immer noch dunkel. Nur die Autos werden langsam mehr um uns herum. Endlos zieht sich die Zeit. Wenige Gliederungspunkte unterwegs. Kreuz soundso, Kreuz soundso. Bald sind wir am nächsten Kreuz, und der Vater kündigt es an: Bald sind wir am Kreuz soundso. Vielleicht ist es der einzige Satz, der in einer Zeitspanne von zwanzig, dreißig Minuten fällt. Wie aus dem Nichts wird er in die Dunkelheit gesagt. Der Satz kommt von der im Schummerlicht der Instrumente erahnbaren Schulterpartie, die da vorn das Auto steuert, den schwer bepackten Mercedes Benz. Jeder kleinste Winkel ist ausgenutzt, ein Auto quasi zum Bersten voll, und dazu noch fünf Menschen darin. So könnte man auch von zu Hause flüchten, wenn Krieg ausgebrochen wäre. Als würde es ums Überleben gehen. Nehmt, was ihr tragen könnt, alles andere ist verloren! Um uns herum immer mehr von diesen Flüchtlingen mit ihren Habseligkeiten, die sie in allen Winkeln ihres jeweiligen Automobils verstaut haben. Aus den verschiedensten deutschen Städten (man sieht es an den Nummernschildern) flüchten sie in den Süden und müssen noch vor Sonnenaufgang Nürnberg erreichen. Als Schwarm rasen sie dahin, hundertsechzig, hundertachtzig Stundenkilometer, leben dann wochenlang von ihrem Flüchtlingsgut und kommen anschließend zurück in ihre Häuser und packen ihr Flüchtlingsgut wieder aus, dann wäscht die Mutter erst einmal fünf Ladungen Wäsche, um sich von der Flucht zu erholen und alles wieder in Ordnung zu haben, bis die nächste Flucht ansteht in den nächsten Schulferien.

Ich weiß, daß ich diese Dunkelheit aussitzen muß. Ich weiß auch, daß sie vorbeigehen wird. Aber erst bei Nürnberg. Denn bei Nürnberg geht die Sonne auf. Kommt der erste Streif am Horizont zu weit vor Nürnberg, denkt der Vater, er muß noch schneller fahren. Dann aber sagt die Mutter: Rase nicht so!

Nun der erste Lichtstreif. Ich kann zusehen, wie er breiter wird, schöner, über den Wäldern. Aus dem dunklen Nichts, durch das bislang bloß Leuchten sausten, schälen sich nun schwarze Massen heraus, die über die Straße jagen, die Autos werden auch außerhalb der Scheinwerferkegel sichtbar, wenn auch zunächst nur wie Schatten ihrer selbst. Als schwarze Schattenklumpen sehen sie bedrohlich und unförmig aus. Ich sitze selbst in einem solchen Schattenklumpen, unsichtbar, hinter Glas im Nichts, und werde von meinem Vater, der Schulterpartie, an den anderen Klumpen auf der Gegenfahrbahn vorbeigerast. Ein Huschen in ihren Augenwinkeln, kaum eine Zehntelsekunde. Unsere Familie. Ein identisches Huschen mit allen anderen Schwarzklumpenhuschenden. Die einen auf Nürnberg zu, die anderen von Nürnberg weg.

Meine Schwester ist unruhig, bald wird sie quengelig werden, mein Bruder programmiert etwas auf seinem Hewlett-Packard-Taschenrechner. Offenbar geht das in der Dunkelheit infolge der Leuchtanzeige. Ich verstehe von dem, was er tut, nichts, er erinnert mich aber an Mr. Spock mit seinem Tricorder. In einer halben Stunde, vielleicht erst in einer Dreiviertelstunde wird mein Bruder Perry Rhodan lesen und ich Asterix. Oder er wird weiterprogrammieren. Ich werde aber Asterix lesen. Für meine Asterixhefte habe ich ein kleines Köfferchen aus fester Pappe. Außen habe ich es mit einer braungeblümten Folie beklebt. Das Köfferchen besitzt einen Griff und ein richtiges mechanisches Schloß. Die Hefte passen genau hinein, und bei jeder Fahrt liegt es hinter mir auf der Ablage, sonst darf da nichts an diesen Platz, das wissen alle Beteiligten. Wenn diese Fahrt nach 1975 stattfindet, dann ist bereits das eine fehlende Asterixheft ersetzt, das mir Grenzpolizisten beim Übertritt in die DDR abgenommen haben. Meine Eltern hatten damals das Köfferchen nicht erlaubt, sie hatten nur ein einziges Asterixheft erlaubt, es lag auf der Rückbank und führte dazu, daß quasi das ganze Auto in seine Einzelteile zerlegt wurde. Stundenlang hielten sie uns fest. Danach kaufte ich das Heft in Friedberg auf der Kaiserstraße neu, beim sogenannten Hörzu-Laden. Er hieß so, weil er ein großes Hörzu-Werbeschild zur Straße hin hängen hatte. Das war ein Zeitschriftengeschäft, in dessen Schaufenster viele Zeitschriften mit völlig nackten Frauen darauf zu sehen waren, etwas, dessen Zweck ich damals noch nicht begriff. Der Inhaber war kinderlieb und spielte abends auf der Seewiese mit Freunden Fußball. Tagsüber verkaufte er Süßigkeiten, Zigaretten, Asterix und vor allem Pornomagazine.

Wir aber sind auf dem Weg auf das Autobahnkreuz Nürnberg zu, und ich habe alle Hefte dabei und werde sie in den kommenden Wochen kontinuierlich durchlesen. Wenn wir in Urlaub fahren, ist meine Hauptbeschäftigung immer, Asterixhefte zu lesen. Nicht schnell, sondern möglichst langsam und portioniert, damit sie lange genug vorhalten, denn der Urlaub ist lang, und ich fürchte mich schon im voraus vor ihm, wie vor jedem Urlaub. Ich fürchte mich davor, wochenlang das Haus und mein Zimmer verlassen zu müssen und an einen anderen Ort zu kommen, wo ich mich zu anderen Menschen verhalten und mit ihnen reden soll und wo ich doch nur genauso schweigend herumstehen und -sitzen werde wie zu Hause, wenn dort Gesellschaft anwesend ist. Der hauptsächliche Halt im Urlaub ist mein Asterix-Köfferchen. Und noch immer bloß ein Lichtstreif am Horizont, auch wenn er schöner und immer schöner wird, heller, breiter, farbiger, und die Wälder darunter immer dunkler dagegen. Ich sitze stumm hinter dem Glas und starre hinaus wie ein Fisch aus dem Aquarium. Am Zielort werde ich in einem Zimmer mit meiner Schwester übernachten müssen. Besser, man denkt daran nicht. Mein Bruder hat wenigstens ein eigenes Zimmer.

Wenn ich nicht Asterix lesen werde, werde ich mit meinem Bruder auf seiner Bettkante sitzen und Singles hören. Das ist das Zweitbeste am Urlaub. Er hört z. ‌B. Bachman-Turner Overdrive. Das sind (weiß das Kind) dicke, bärtige Kerle, über die wir uns immer lustig machen, wenn wir die Single-Cover anschauen. Mein Bruder erzählt witzige Geschichten über sie. Sie kommen aus Kanada und wahrscheinlich aus dem Wald, denn sie sehen aus wie Holzfäller. Einer von ihnen ist aber dünn und stottert absichtlich auf einer Single. Auch lustig. Mein Bruder hört daneben Manfred Mann's Earth Band oder Thin Lizzy. Mir gefällt das alles sehr gut. Natürlich könnten wir das auch zu Hause im Mühlweg hören, aber wir müssen ja aus irgendwelchen Gründen in den Urlaub fahren.

Als Kind war für mich In-den-Urlaub-Fahren etwas, das man machte, weil man es eben machte. Wie man beim Mittagessen nicht die Ellbogen auf den Tisch legte, weil man nun einmal die Ellbogen nicht auf den Tisch legte beim Mittagessen, so fuhr man in Urlaub, weil man in den Ferien nun einmal in Urlaub fuhr. Inklusive Aufstehen früher als jede Armee, Vollbepackung des Autos und Erreichen des Nürnberger Kreuzes noch vor Sonnenaufgang. Und ich, das Kind auf der Rückbank, als transportierte Last unter anderen. Das Auto hatte seine eigenen Gesetze. Es war da und ermöglichte den Drei- oder Vierwochenumzug in den Urlaub, also wurde dieser Umzug gemacht.

Von vorn wird aufgepaßt, daß ich nicht zu früh zu lesen anfange, damit ich mir nicht »die Augen kaputtmache«. Zu Hause hätte ich jetzt noch geschlafen.

Die Mutter müht sich nach wie vor damit ab, alle Viertelstunde geschmierte Brote aus einer der beiden Tüten herauszuholen und uns, ihren Kindern, anzubieten. Sagt jemand auf der Rückbank ja, dann wickelt sie das betreffende Brot eigenhändig aus der Folie oder dem Papier, reicht es nach hinten, zerknüllt das übrigbleibende Material und wirft es in die eine Tüte, wodurch diese sich, noch im Status der Provianttüte, quasi gleichzeitig sukzessive in die Mülltüte verwandelt. Dann reicht sie Küchenpapier nach hinten, damit das betreffende Kind sich Mund und Hand abwischt. Das Kind reicht das Küchenpapier nach vorn, es wandert in die Tüte zu dem Zellophan oder dem Aluminium oder dem Butterbrotpapier. Wichtig ist zwar die permanente Versorgung der noch im Wachstum befindlichen Kinder, wichtig ist ebenso aber auch die des Fahrers, damit er nicht unterzuckert und infolgedessen unaufmerksam wird oder insgesamt an Fahrtüchtigkeit einbüßt bei einhundertsiebzig oder einhundertachtzig Stundenkilometer auf der Autobahn. Schliefe er ein, bedeutete das den Tod der Familie. Deutsche (hessische) Familie bei Urlaubsreise tödlich verunglückt. Deshalb bekommt mein Vater auch alle Viertelstunde eine Thermoskannenkappe mit gezuckertem Milchkaffee verabreicht. Ohne hinzusehen (weil er auf die Fahrbahn schaut), nimmt der Vater die Kappe aus der Hand der Mutter, seiner Gattin (er hat sie vor inzwischen ca. dreizehn Jahren geheiratet), dann nimmt ihm die Gattin die Kappe wieder ab, wischt sie mit einem Stück Küchenpapier trocken und schraubt sie zurück auf die Flasche. Das Papier wandert in die Tüte.

Willst du nicht noch ein Brot? Sonst bekommst du vielleicht wieder Kopfschmerzen.