Die Statistin - Sérgio Sant'Anna - E-Book

Die Statistin E-Book

Sérgio Sant'Anna

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Beschreibung

Sérgio Sant'Anna gilt als Begründer der urbanen Literatur des modernen Brasiliens. In »Die Statistin« beleuchtet er in bildhafter, nuancenreicher Sprache die brasilianische Gesellschaft. Und irgendwie ist alles eine Frage der Perspektive. Sein Blick ist schonungslos, unverstellt, als würde im Hintergrund eine Kamera mitlaufen und er beschriebe als unbeteiligter Beobachter nur objektiv das Gesehene. Schlaglichtartig richtet sich der Blick auf ein Gemälde (»Einsamer Mann auf einem Bahnhof«) oder ein Foto (»Die Statistin«), und der Erzähler entspinnt eine Geschichte zu der Momentaufnahme - die so, aber auch ganz anders gewesen sein könnte. Er zoomt sich quasi an die Bilder und seine Gestalten heran, verleiht den Protagonisten ein Eigenleben, einen Kontext, eine Vergangenheit. Dann wieder offenbaren sich trostlose, ernüchternde, brutale Bilder: die Wanze in »Dämmerstunde«, die nur auf das Verlöschen der Kerze wartet, ehe sie einem Kind den tödlichen Stich versetzt; Liebe und Sexualität fernab von jeglicher Romantik, stattdessen nur Grausamkeit, Macht und Perversion (»Sex ist gar nicht so natürlich«). Ohnmächtig steht der Ich-Erzähler in »Der Tag, an dem ich Bertrand nicht getötet habe« seinem Chef gegenüber, so als existiere er gar nicht. Sind wir etwa alle nur Statisten? Sant'Annas Geschichten bewegen sich zwischen Fatalismus, Verzweiflung und Hoffnung. Virtuos beherrscht er das Spiel der Möglichkeiten und Wirklichkeiten, des Erzählens und Reflektierens, von Nähe und Distanz. All dies mit viel Fantasie und spannend erzählt - und mit dem Leser als Komplizen. Von Sérgio Sant'Anna außerdem in der Edition diá: Amazone. Roman Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Frank Heibert ISBN 978-3-86034-531-3 Das kosmische Ei. Drei Erzählungen Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Frank Heibert ISBN 978-3-86034-533-7 Die Wahrheit über den Fall Antônio Martins. Roman Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Enno Petermann ISBN 978-3-86034-534-4

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Über dieses Buch

Sérgio Sant’Anna gilt als Begründer der urbanen Literatur des modernen Brasiliens. In »Die Statistin« beleuchtet er in bildhafter, nuancenreicher Sprache die brasilianische Gesellschaft. Und irgendwie ist alles eine Frage der Perspektive. Sein Blick ist schonungslos, unverstellt, als würde im Hintergrund eine Kamera mitlaufen und er beschriebe als unbeteiligter Beobachter nur objektiv das Gesehene. Schlaglichtartig richtet sich der Blick auf ein Gemälde (»Einsamer Mann auf einem Bahnhof«) oder ein Foto (»Die Statistin«), und der Erzähler entspinnt eine Geschichte zu der Momentaufnahme – die so, aber auch ganz anders gewesen sein könnte. Er zoomt sich quasi an die Bilder und seine Gestalten heran, verleiht den Protagonisten ein Eigenleben, einen Kontext, eine Vergangenheit. Dann wieder offenbaren sich trostlose, ernüchternde, brutale Bilder: die Wanze in »Dämmerstunde«, die nur auf das Verlöschen der Kerze wartet, ehe sie einem Kind den tödlichen Stich versetzt; Liebe und Sexualität fernab von jeglicher Romantik, stattdessen nur Grausamkeit, Macht und Perversion (»Sex ist gar nicht so natürlich«). Ohnmächtig steht der Ich-Erzähler in »Der Tag, an dem ich Bertrand nicht getötet habe« seinem Chef gegenüber, so als existiere er gar nicht. Sind wir etwa alle nur Statisten?

Sant’Annas Geschichten bewegen sich zwischen Fatalismus, Verzweiflung und Hoffnung. Virtuos beherrscht er das Spiel der Möglichkeiten und Wirklichkeiten, des Erzählens und Reflektierens, von Nähe und Distanz. All dies mit viel Fantasie und spannend erzählt – und mit dem Leser als Komplizen.

»Ein Artist der Ironie.« (Neue Zürcher Zeitung)

Der Autor

Sérgio Sant’Anna, geboren 1941 in Rio de Janeiro, ist Autor von mehreren Romanen, Erzählbänden, Theaterstücken und Geschichten. Seine Schriftstellerkarriere begann in den sechziger Jahren mit der Gründung einer (später von der Militärdiktatur verbotenen) Zeitschrift für experimentelle Literatur; in den siebziger Jahren zählte er zur literarischen Avantgarde Brasiliens, die das Formexperiment mit dem revolutionären Engagement zu verbinden suchte. Sant’Anna war lange Dozent für Kommunikationswissenschaft an der Universität von Rio de Janeiro. Für seine Werke erhielt er mehrere brasilianische Literaturpreise, darunter 1986 den Prêmio Jabuti für »Amazone«.

Die Übersetzer

Marianne Gareis wurde 1957 in Süddeutschland geboren. Seit 1989 übersetzt sie Literatur aus dem Portugiesischen und Spanischen, darunter Autoren wie José Saramago, Gonçalo Tavares, Machado de Assis, Andréa del Fuego, Paulo Scott und Sergio Álvarez. 2014 erhielt sie – zusammen mit Michael Kegler – den Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW. Sie lebt in Berlin.

Frank Heibert, geb. 1960, übersetzt vor allem aus dem Englischen und Französischen, u. a. Don DeLillo, Richard Ford, Lorrie Moore, Tobias Wolff, Neil Labute und, zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel, Yasmina Reza. 2006 erschien sein erster Roman »Kombizangen«. 2012 erhielt er den Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis für sein Gesamtwerk.

Barbara Mesquita, geb. 1959 in Bremen, studierte Romanische Philologie und im Zweitstudium Journalistik und Politikwissenschaft. Sie lebt als freie Übersetzerin, Dolmetscherin und Autorin in Hamburg. Aus dem Portugiesischen übersetzte Autoren: Patrícia Melo, Luís Fernando Veríssimo, Pepetela, Ricardo Adolfo, Pedro Rosa Mendes u. a.

Enno Petermann, geb. 1964 in Berlin, studierte Lateinamerikanistik und Germanistik. Aus dem Spanischen und Portugiesischen übersetzte er u. a. Romane von Sylvia Iparraguirre, Eduardo Belgrano Rawson und Adriana Lisboa. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Sérgio Sant’AnnaDie Statistin

Fünf Erzählungen

Aus dem brasilianischen Portugiesisch vonMarianne Gareis, Frank Heibert, Barbara Mesquita und Enno Petermann

Edition diá

Inhalt

DämmerstundeEinsamer Mann auf einem BahnhofDer Tag, an dem ich Bertrand nicht getötet habeSex ist gar nicht so natürlichDie Statistin

QuellenImpressum

Dämmerstunde

Durch den kleinen Spalt des angelehnten Fensters dringt plötzlich ein leichter Wind. Ziemlich schwach, aber stark genug, um die Flamme des Kerzenstummels zum Flackern zu bringen, fast zum Erlöschen. Dann jedoch, wie in einem zuckenden Todeskampf, erholt sich die Flamme, bereit, sich bis aufs Letzte zu verzehren. Und in diesem Sich-Verzehren beleuchtet sie wie in einem letzten Aufbäumen:

die Lehmwand im Hintergrund, wo hoch auf ihrem Posten die Chagas-Wanze lauert, die ihre Beute bereits durch die löchrigen Balken hindurch gewittert hat. Denn unten, auf dem Lehmboden, schlafen auf einer lumpenbedeckten Matratze drei Kinder. Sobald die Flamme, die die Wanze in Schach hält, erloschen ist, wird sie sich auf die Matratze fallen lassen und eines der Kinder stechen. Nur eines, der Zufall trifft die Wahl. Dieses Kind wird dann mit ungefähr dreißig Jahren an einem Brustleiden sterben, zur Erleichterung der Angehörigen, denn es taugte nicht zur Arbeit. Von den beiden anderen:

wird eines Maurer werden und ein eher kärgliches Dasein fristen, mit Frau und Kindern, vielleicht in einer Hütte wie dieser, wo auch eines Tages eine Kerze leuchtet;

das andere, vom rechten Wege abgekommen, wird zum kleinen Gauner und später zum Verbrecher werden. Einer von denen, die anfangs nur kurz, später länger im Gefängnis sitzen und sich immer mehr auf das Verbrechen einlassen. Bis er zu Füßen schwer bewaffneter Polizisten stirbt, nach einem letzten Gedanken, der vielleicht genau um diese Hütte kreist, in der der Kerzenstummel beleuchtet:

auf dem inneren Fenstersims ein Glas mit Medizin gegen Würmer, auf dem äußeren, angestrahlt von den Lichtern der Stadt, eine Heiligenfigur, die bei den heftigen Tobereien der Kinder geköpft, wieder geklebt und erneut geköpft wurde. Sie beschützt das Haus vor den Passanten, die sich vor der Figur ohne Kopf bekreuzigen und denken: »Hier muss ein starker Schutzheiliger (oder Dämon) walten.« Aber so stark ist er nicht, denn auch die Chagas-Wanze liegt auf der Lauer, wartet auf das Erlöschen der Flamme, die derzeit jedoch noch schwach beleuchtet:

im Vordergrund des einzigen Raumes die dunklen Schatten unter den Decken, von wo keuchendes Stöhnen zu vernehmen ist; nicht laut genug, um die Aufmerksamkeit der schlafenden Kinder zu erregen, und nicht leise genug, um die Lust derer zu schmälern, die sie gerade verspüren,

die beiden, die dort liegen, haben sich die Decke über den Kopf gezogen, als könnten sie, die selbst nichts sehen, auch nicht gesehen – oder wahrgenommen – werden. Aber zuvor hat der Mann im matten Kerzenlicht noch eine welke Brust und die beiden Zahnlücken der Frau erblickt, und ihm missfällt:

dass ihr zwei Schneidezähne fehlen, obgleich ihm selbst alle fehlen. Aber sich kann er nicht sehen, sie schon. Auch stört ihn, dass er nur seine Gefühle spürt, die in diesem Augenblick nicht mehr sind als die Lust, seine eigene Lust zu entladen,

während sie ihre Lust – und ihre Gefühle – gar nicht kennen kann. Sie würde nicht einmal antworten, wenn man sie danach fragte, denn was sie gerade fühlt, ist nichts oder besser:

Im Stillen rechnet sie und weiß, wie gefährlich es an diesen Tagen ist und wie wahrscheinlich, dass es in einem Jahr nicht mehr nur drei Kinder sein werden in dieser Hütte mit dem einen Raum, belauert von der gefährlichen Chagas-Wanze, die nur darauf wartet, dass die Flamme endlich ganz erlischt,

die Flamme des Kerzenstummels (auf dem alten Fernseher, der abgestellt wurde wie der Strom, wegen nicht bezahlter Rechnungen, und auf dessen Bildschirm mit farbiger Kreide – in der Schule geklaut – die Helden aufgemalt sind, die die Kinder nicht mehr sehen können),

der jetzt, wo sich die Flamme verzehrt, fast nur noch Docht ist und in einem letzten Aufflackern das Zimmer und die Krümel auf dem ungehobelten, von vier Kisten umgebenen Tisch beleuchtet (der Jüngste braucht keine, er sitzt auf dem Schoß der Mutter),

bis ein erneuter Windstoß durch die löchrigen Balken dringt

(genau in dem Moment, als die Flamme erlischt und auch der Mann sein Begehren auslöscht – und die Chagas-Wanze sich befriedigt auf ihren langsamen Fall vorbereitet)

und den kleinen Spalt des angelehnten Fensters schließt …

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis

Einsamer Mann auf einem Bahnhof