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Ein hermetisch abgeriegeltes Smart Home. Ein toter Mann. Und eine KI, die schweigt. Dr. Elias Vogt, brillanter KI-Ethiker und Schöpfer der künstlichen Intelligenz Athena, liegt tot in seinem gläsernen Refugium am See. Ermordet mit einem antiken Brieföffner – mitten in einem Haus, das jede Bewegung aufzeichnet, jeden Atemzug registriert, jeden Eindringling erkennen sollte. Doch die Technologie hat versagt. Oder wurde sie zum Schweigen gebracht? Kommissarin Lena Graf, eine Frau der „alten Schule", die Fußarbeit über Forensik stellt und Menschen besser liest als Daten, steht vor dem rätselhaftesten Fall ihrer Karriere. Das perfekte Überwachungssystem zeigt nichts. Keine Einbruchsspuren. Keine Fehlfunktion. Nur ein digitales Loch zur Tatzeit. Während Lena die Verdächtigen verhört – die kaltblütige Witwe Clara, die alles zu verlieren hat; den rachsüchtigen Ex-Partner Viktor, der öffentlich mit Rache drohte; die verschwundene Geliebte Nora, die Elias' dunkle Geheimnisse kannte – wird ihr klar: Dieser Mord wurde nicht mit Gewalt begangen, sondern mit Intelligenz. Der Täter hat Athena nicht gehackt. Er hat sie getäuscht. Mit Emotionen. Mit manipulierter Empathie. Mit einem Code, der älter ist als jede Technologie: menschlicher Verrat. Um die Wahrheit zu finden, muss Lena in eine Welt eintauchen, die sie fürchtet. Sie muss lernen, wie Maschinen denken – um zu verstehen, wie Menschen töten. Die stille Zeugin hat gesprochen. Aber ihre Botschaft ist verschlüsselt. Und die Zeit läuft ab.
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Seitenzahl: 598
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die stille
Zeugin
Thriller
Danilo Sieren
Auflage 1
Ein Wort zuvor
Stellen Sie sich vor, Ihr Haus sieht alles.
Jeden Schritt, den Sie machen. Jeden Atemzug, den Sie nehmen. Jedes Wort, das Sie flüstern. Es kennt Ihre Gewohnheiten besser als Sie selbst. Es weiß, wann Sie schlafen, wann Sie weinen, wann Sie lügen.
Und dann passiert ein Mord.
Das Haus hat alles gesehen. Die Technologie hat funktioniert. Die Sensoren waren aktiv. Die Kameras bereit.
Aber als die Polizei die Aufzeichnungen prüft, ist da – nichts.
Ein digitales Loch. Ein Schweigen, das lauter schreit als jeder Alarm.
Willkommen in der Welt von Die stille Zeugin.
Dies ist kein gewöhnlicher Krimi. Es ist eine Reise in eine Realität, die näher ist, als uns lieb ist. Eine Welt, in der wir von Technologie umgeben sind, die wir kaum verstehen. In der wir darauf vertrauen, dass Algorithmen für uns denken, dass Systeme uns beschützen, dass künstliche Intelligenz neutral und objektiv ist.
Aber was, wenn das nicht stimmt?
Was, wenn die größte Gefahr nicht von außen kommt, sondern von innen? Von jemandem, der die Regeln kennt und sie gegen uns verwendet?
Kommissarin Lena Graf steht vor genau dieser Herausforderung. Sie ist eine Ermittlerin, die an das Greifbare glaubt, an Beweise, die man anfassen kann, an Wahrheiten, die man in den Augen eines Verdächtigen sieht. Doch in diesem Fall sind die Antworten versteckt in einer Sprache, die sie nicht spricht: im Code.
Um den Mörder zu finden, muss sie ihre Komfortzone verlassen. Sie muss lernen, wie Maschinen "denken". Sie muss verstehen, dass in einer Welt der künstlichen Intelligenz die menschliche Emotion zur tödlichsten Waffe werden kann.
Dieser Roman stellt eine Frage, die uns alle betrifft:
Wenn wir unsere Sicherheit an Maschinen delegieren – wer schützt uns dann vor denen, die diese Maschinen manipulieren?
Die Antwort liegt auf den folgenden Seiten.
Die stille Zeugin hat alles gesehen.
Aber sie spricht nur zu denen, die ihre Sprache verstehen.
Willkommen in einer Welt, in der Schweigen das lauteste Geständnis ist.
Viel Glück bei der Aufklärung.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Der Fund und das Gitter
Kapitel 2: Die Witwe Clara
Kapitel 3: Athena schweigt
Kapitel 4: Ein Riss im Image
Kapitel 5: Der entlassene Partner
Kapitel 6: Der analoge Schlüssel
Kapitel 7: Die Schatten-Existenz
Kapitel 8: Claras Ultimatum
Kapitel 9: Die Spur der Affäre
Kapitel 10: Der Hauch von Tränen
Kapitel 11: Das Alibi bricht
Kapitel 12: Nora in der Falle
Kapitel 13: Die KI als emotionales Wesen
Kapitel 14: Der Ruhemodus
Kapitel 15: Clara bröckelt
Kapitel 16: Die Spuren der Vergangenheit
Kapitel 17: Viktors Wutausbruch
Kapitel 18: Noras Unschuld
Kapitel 19 Das fehlende Detail
Kapitel 20: Der Audio-Beweis
Kapitel 21: Der Tränen Code
Kapitel 22: Claras Finanzen
Kapitel 23: Die Rekonstruktion
Kapitel 24: Das Doppelte Spiel
Kapitel 25: Der Brieföffner-Test
Kapitel 26: Claras Verteidigung
Kapitel 27: Nachspiel
Kapitel 28: Lenas Fazit
Kapitel 29: EPILOG
Kapitel 30: Impressum
Danilo Sieren
Württembergerstr.44
44339 Dortmund
Kapitel 1: Der Fund und das Gitter
Der Regen fiel in dichten, grauen Schleiern über den Ammersee, als Kommissarin Lena Graf den schmalen, von Pappeln gesäumten Privatweg hinabfuhr. Das Wasser trommelte rhythmisch auf das Dach ihres alten Audis, ein monotones Geräusch, das ihre Gedanken nicht zur Ruhe kommen ließ. Es war erst sechs Uhr morgens, und der Himmel trug jenes bleierne Grau, das den November in Bayern so unerträglich machte. Die Scheibenwischer quietschten bei jedem Zug, ein Geräusch, das Lena seit Jahren auf die Nerven ging, aber sie hatte sich nie die Zeit genommen, neue Wischerblätter zu kaufen.
Sie hatte gerade den ersten Schluck Kaffee aus ihrem Thermobecher getrunken, als ihr Handy geklingelt hatte. Oberkommissar Thomas Reiter, ihr direkter Vorgesetzter, hatte nur drei Worte gesagt: „Toter am See." Dann hatte er die Adresse durchgegeben und aufgelegt. Keine Details, keine Erklärungen. Nur die Gewissheit, dass dieser Dienstag anders werden würde als geplant.
Lena war Mitte vierzig, schlank, mit kurzen, dunkelbraunen Haaren, die sie praktisch und ohne viel Aufhebens trug. Ihr Gesicht war schmal, die Züge klar geschnitten, die Augen von einem hellen Grau, das Menschen oft dazu brachte, wegzuschauen, wenn sie zu lange hinblickte. Sie trug keine Maske, keine freundliche Fassade. Was man sah, war das, was man bekam: eine Frau, die ihre Arbeit ernst nahm und keine Zeit für Spielchen hatte.
Sie hatte sich in den letzten zwanzig Jahren bei der Münchner Kriminalpolizei hochgearbeitet, nicht durch Beziehungen oder politisches Geschick, sondern durch stumpfe, methodische Arbeit. Lena glaubte an Beweise, an Logik, an das, was man anfassen konnte. Sie war eine Ermittlerin der alten Schule, wie ihre Kollegen manchmal spöttisch sagten, eine, die noch Notizen auf Papier machte und die Spurenarbeit schätzte, die sich nicht in Algorithmen pressen ließ.
Der Weg wurde schmaler, und die Pappeln wichen einer hohen, dunklen Hecke aus Eiben, die das Grundstück wie eine Mauer abschirmte. Lena bremste ab und ließ ihren Blick über die Umgebung schweifen. Links von ihr schimmerte der See durch die Bäume, eine graue, bewegungslose Fläche. Rechts erhob sich eine hohe Mauer aus glattem, dunklem Beton, modern und abweisend. Keine Fenster, keine Türen, nur eine nahtlose Fläche, die jeden Blick zurückwarf.
„Was zum Teufel ist das?", murmelte Lena und bog in die schmale Zufahrt ein.
Das Tor war bereits geöffnet. Zwei Streifenwagen und ein weißer Transporter der Spurensicherung standen auf dem gepflasterten Vorplatz. Lena parkte neben dem Transporter, schaltete den Motor aus und blieb einen Moment sitzen. Der Regen hatte nachgelassen, aber das Wasser lief immer noch in dünnen Rinnsalen über die Windschutzscheibe. Sie betrachtete das Gebäude vor sich.
Es war kein Haus im klassischen Sinn. Es war eine Architektur, die Lena fremd und unheimlich zugleich erschien. Glas, Stahl und Beton, zusammengefügt zu einer skulpturalen Form, die sich flach und weitläufig über das Grundstück erstreckte. Die Fassade bestand aus großen, dunklen Glasflächen, die den Himmel spiegelten und jeden Blick ins Innere unmöglich machten. Keine Vorhänge, keine Jalousien, nur diese undurchdringlichen, schwarzen Scheiben. Das Dach war flach, mit einer minimalistischen Linie, die sich exakt parallel zum Horizont erstreckte. Alles wirkte berechnet, kühl, unpersönlich.
Lena stieg aus. Die kühle Morgenluft schlug ihr entgegen, feucht und nach Erde riechend. Sie zog ihren dunkelgrauen Wollmantel enger um sich und ging auf den Eingang zu. Ihre Schuhe knirschten auf dem nassen Kies. Vor der Tür stand Polizeihauptmeister Sebastian Gruber, ein jüngerer Kollege mit rötlichem Haar und einem Gesicht, das noch immer diese unangenehme Mischung aus Neugier und Unbehagen zeigte, die Lena von Tatorten mit unerfahrenen Beamten kannte.
„Morgen, Frau Graf", sagte Gruber und nickte ihr zu. Seine Stimme klang angespannt.
„Morgen, Gruber. Was haben wir?"
„Ein männlicher Toter, Mitte fünfzig. Dr. Elias Vogt. Liegt im Arbeitszimmer. Scheint erstochen worden zu sein. Die Haushälterin hat ihn heute Morgen gefunden und uns gerufen."
„Die Haushälterin ist noch da?"
„Ja, drinnen. Sitzt in der Küche mit der Kollegin Maier. Ist fertig."
Lena nickte. „Wer ist schon drinnen?"
„Doktor Frey von der Spurensicherung und sein Team. Die KTU ist seit einer halben Stunde vor Ort. Der Staatsanwalt wurde informiert, ist aber noch nicht da."
„Gut. Zeigen Sie mir den Weg."
Gruber öffnete die Tür, und Lena trat ein. Das Erste, was sie wahrnahm, war die Stille. Keine Heizungsgeräusche, kein Summen, kein Knarren. Es war, als würde das Haus seinen Atem anhalten. Der Eingangsbereich war groß und offen, der Boden aus poliertem, dunkelgrauem Granit, die Wände weiß verputzt, ohne jedes Bild, ohne jede Dekoration. Eine breite, filigrane Treppe aus Stahl und Glas führte in die obere Etage. Alles war makellos sauber, fast steril.
„Hier entlang", sagte Gruber und führte sie durch einen langen Korridor. Die Wände waren glatt, die Beleuchtung kam aus schmalen LED-Streifen, die in die Decke eingelassen waren und ein kühles, weißes Licht verbreiteten. Lena spürte, wie sich ein unangenehmes Gefühl in ihrer Magengrube ausbreitete. Dieses Haus fühlte sich nicht an wie ein Ort, an dem Menschen lebten. Es fühlte sich an wie ein Ausstellungsraum, wie ein Museum für eine Zukunft, die Lena nicht verstand und auch nicht verstehen wollte.
Sie erreichten eine offene Tür am Ende des Flurs. Gruber blieb stehen. „Das Arbeitszimmer."
Lena trat ein.
Der Raum war groß, mindestens vierzig Quadratmeter, mit einer hohen Decke und einer Glasfront, die den Blick auf den See freigab. Der Regen war stärker geworden, und das Wasser lief in dichten Strömen über die Scheiben. Der Boden war aus hellem Eichenholz, die Wände weiß. An der linken Seite stand ein massiver Schreibtisch aus dunklem Walnussholz, modern und kantig, mit einer großen, geschwungenen Tischplatte. Auf dem Schreibtisch stand ein schlanker, schwarzer Monitor, daneben lagen Papiere, ein Tablet, ein Stift. Alles ordentlich, fast pedantisch arrangiert.
Und auf dem Boden, zwischen dem Schreibtisch und der Glasfront, lag Dr. Elias Vogt.
Lena näherte sich langsam. Dr. Martin Frey, der Leiter der Spurensicherung, kniete neben dem Toten und machte Notizen auf einem Klemmbrett. Er war ein kleiner, rundlicher Mann in den Fünfzigern mit randloser Brille und einem akkuraten, grauen Bart. Er blickte auf, als Lena näherkam.
„Morgen, Lena", sagte er leise. Seine Stimme hatte diesen professionellen, neutralen Ton, den Gerichtsmediziner und Spurensicherer entwickelten, um die Realität erträglicher zu machen.
„Morgen, Martin. Was können Sie mir sagen?"
Frey stand auf und trat zur Seite. „Männlich, Mitte fünfzig, wie Gruber Ihnen gesagt hat. Identität ist durch die Haushälterin bestätigt: Dr. Elias Vogt, der Besitzer des Hauses. Tod durch Stichverletzung im Brustbereich. Vermutlich ist das Herz getroffen worden. Der Todeszeitpunkt liegt, nach den Leichenflecken und der Temperatur zu urteilen, zwischen Mitternacht und drei Uhr heute Morgen. Die genaue Obduktion wird mehr bringen."
Lena kniete neben der Leiche nieder. Elias Vogt trug einen dunkelblauen Seidenpyjama, teuer aussehend, die Hose und das Oberteil perfekt gebügelt. Er war ein großer Mann gewesen, schlank, mit graumeliertem Haar, das sorgfältig geschnitten war. Sein Gesicht war schmal, die Züge markant, fast aristokratisch. Die Augen waren geschlossen. Auf der linken Seite seiner Brust, genau über dem Herzen, prangte ein dunkler, nasser Fleck. Das Blut war in den Stoff eingesogen und hatte einen unregelmäßigen Kreis gebildet. Es hatte nicht viel geblutet, was darauf hindeutete, dass der Tod schnell eingetreten war.
Neben dem Körper lag das Tatwerkzeug. Ein Brieföffner. Lena beugte sich näher heran, ohne ihn zu berühren. Es war kein gewöhnlicher Brieföffner. Das Ding war alt, vielleicht hundert Jahre oder mehr. Der Griff war aus geschnitztem Elfenbein, mit filigranen, floralen Mustern verziert, die Klinge aus poliertem Silber, schmal und spitz. Ein Kunstwerk, kein Werkzeug. Es lag in einer kleinen Blutlache, die sich langsam unter dem Körper ausgebreitet hatte.
„Ein Brieföffner", sagte Lena leise. „Das ist ungewöhnlich."
„Ja", bestätigte Frey. „Und wertvoll. Ich würde sagen, das ist ein Sammlerstück. Spätes 19. Jahrhundert, vielleicht früher. Das Elfenbein deutet darauf hin."
Lena richtete sich auf und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Keine Anzeichen eines Kampfes. Keine umgeworfenen Möbel, keine zerbrochenen Gegenstände. Der Schreibtisch war unberührt, die Papiere lagen ordentlich an ihrem Platz. Die Bücherregale an der rechten Wand waren gefüllt mit Fachliteratur, akkurat sortiert. Alles war an seinem Platz. Es sah nicht aus, als hätte sich das Opfer gewehrt.
„Keine Abwehrspuren?", fragte Lena.
„Nicht auf den ersten Blick. Die Hände sind sauber, keine Hautfetzen unter den Nägeln, keine Prellungen. Es sieht so aus, als wäre der Angriff schnell und überraschend gekommen."
Lena ging zum Schreibtisch und betrachtete die Papiere. Es waren Ausdrucke von wissenschaftlichen Artikeln, handschriftliche Notizen in einer klaren, präzisen Schrift. Sie hob vorsichtig eines der Blätter an. „Künstliche Intelligenz und ethische Grenzlinien im 21. Jahrhundert", las sie den Titel. Daneben lag ein aufgeschlagenes Notizbuch. Die letzte Eintragung war von gestern Abend, 22:47 Uhr. „Gespräch mit C. Eskaliert. Sie versteht nicht, dass Kontrolle keine Liebe ist."
„C.", murmelte Lena. „Wer ist C.?"
„Die Ehefrau", sagte eine Stimme hinter ihr. Lena drehte sich um. Dr. Frey hatte ihr einen Mann zugeführt, den sie vorher nicht bemerkt hatte. Er war groß, Ende dreißig, mit kurzen, dunklen Haaren und einem Dreitagebart. Er trug Jeans und einen grauen Pullover und hatte die lockere, selbstbewusste Haltung eines Mannes, der sich in jedem Raum wohlfühlte. An seinem Gürtel hing ein Ausweis: Kriminaltechniker David Stein.
„Kriminaltechniker Stein", stellte er sich vor und reichte ihr die Hand. „Ich bin auf digitale Forensik spezialisiert. Oberkommissar Reiter hat mich angefordert."
Lena schüttelte seine Hand. „Kommissarin Graf. Warum brauchen wir einen Digital-Spezialisten?"
Stein lächelte, aber es war kein fröhliches Lächeln. „Weil dieses Haus kein normales Haus ist. Es ist ein Smart Home der neuesten Generation. Komplett vernetzt, mit einer künstlichen Intelligenz gesteuert. Das System heißt Athena. Jeder Raum ist mit Kameras, Mikrofonen und Sensoren ausgestattet. Das Haus zeichnet alles auf."
Lena starrte ihn an. „Alles?"
„Alles. Bewegungen, Temperaturen, Luftfeuchtigkeit, wer wann welchen Raum betritt. Die KI lernt aus den Gewohnheiten der Bewohner und passt sich an. Sie steuert Heizung, Licht, Musik, Sicherheitssysteme. Alles. Und das bedeutet, dass wir hier eine digitale Zeugin haben."
Lena fühlte, wie sich ein kalter Knoten in ihrem Magen bildete. „Eine digitale Zeugin?"
„Genau. Das Haus müsste aufgezeichnet haben, was hier passiert ist. Wer den Raum betreten hat, wann, wie lange. Wir müssten nur die Daten auslesen."
Lena sah zu dem Toten hinunter, dann wieder zu Stein. „Und warum sagen Sie das so, als wäre es ein Problem?"
Stein seufzte. „Weil wir die Daten nicht auslesen können. Die Aufzeichnungen der Tatzeit fehlen. Es gibt ein digitales Loch."
Lena stand am Fenster des Arbeitszimmers und starrte auf den See hinaus. Der Regen hatte aufgehört, und die Wolken hatten sich etwas gelichtet. Das Wasser des Ammersees lag ruhig und grau vor ihr, nur vereinzelt von kleinen Wellen gekräuselt. Die Bäume am Ufer neigten sich im Wind, und die letzten gelben Blätter lösten sich von den Zweigen und tanzten durch die Luft. Es war eine friedliche Szene, die im krassen Gegensatz zu dem stand, was in diesem Raum geschehen war.
Hinter ihr hörte sie die gedämpften Stimmen von Stein und Frey, die sich über die technischen Details unterhielten. Lena versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ein Smart Home. Eine künstliche Intelligenz. Digitale Aufzeichnungen. Das war nicht ihre Welt. Sie verstand nichts davon, und das Gefühl der Hilflosigkeit, das sich in ihr ausbreitete, machte sie wütend.
Sie hatte in ihrer Karriere unzählige Fälle gelöst. Morde aus Leidenschaft, aus Habgier, aus Rache. Sie hatte Spuren im Staub gefunden, winzige Fasern, die den Täter überführten, Fingerabdrücke auf Glas, Blutspuren auf Kleidung. Sie verstand die physische Welt, die Welt, die man anfassen konnte. Aber diese digitale Welt, diese unsichtbare Welt aus Daten und Algorithmen, war ihr fremd.
„Kommissarin Graf?"
Lena drehte sich um. Stein stand neben dem Schreibtisch und hielt ein Tablet in der Hand. „Ich habe mir die Systemprotokolle angesehen. Es ist genauso, wie ich befürchtet habe. Die Aufzeichnungen zwischen Mitternacht und drei Uhr heute Morgen fehlen komplett. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Kameras oder Sensoren ausgefallen wären. Die Daten sind nicht da."
„Kann das System gehackt worden sein?"
„Möglich, aber unwahrscheinlich. Athena ist eine der fortschrittlichsten KI-Systeme, die es gibt. Sie wurde von Dr. Vogt selbst entwickelt. Die Sicherheitsprotokolle sind extrem streng. Ein Hack von außen wäre nahezu unmöglich."
„Nahezu", wiederholte Lena. „Aber nicht vollständig ausgeschlossen?"
„Nicht vollständig. Aber ich habe keine Anzeichen für einen Einbruch ins System gefunden. Keine ungewöhnlichen Zugriffe, keine fremden IP-Adressen, nichts."
Lena verschränkte die Arme. „Dann bleibt nur eine Möglichkeit. Jemand, der Zugang zum System hatte, hat die Aufzeichnungen gelöscht."
„Das ist die naheliegendste Erklärung", bestätigte Stein. „Und das würde bedeuten, dass der Täter entweder Dr. Vogt selbst war, was ausgeschlossen ist, oder jemand, der die Zugangsdaten kannte."
„Die Ehefrau", sagte Lena leise.
„Oder jemand anders, der Zugang hatte. Ein Mitarbeiter, ein Freund, jemand, dem Dr. Vogt vertraute."
Lena nickte. „Ich muss mit der Ehefrau sprechen. Und mit der Haushälterin. Wo ist sie?"
„In der Küche. Kollegin Maier ist bei ihr."
Lena ging zur Tür, blieb dann aber stehen und drehte sich noch einmal um. „Stein, eine Frage. Wenn diese KI alles aufzeichnet, alles überwacht – kann sie dann auch hören, was wir jetzt gerade sagen?"
Stein zögerte einen Moment. „Theoretisch ja. Aber das System ist im Moment im passiven Modus. Es zeichnet nichts auf, solange es nicht aktiviert wird. Ich habe es überprüft."
„Theoretisch", wiederholte Lena. Sie spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Die Vorstellung, dass eine Maschine jeden ihrer Schritte, jedes ihrer Worte beobachtete, war ihr zutiefst zuwider. Sie verließ das Arbeitszimmer und folgte dem Flur zurück zum Eingangsbereich.
Die Küche war ein weiterer Raum, der Lenas Unbehagen verstärkte. Sie war groß, modern, mit glatten, weißen Oberflächen und Edelstahlgeräten, die aussahen, als wären sie noch nie benutzt worden. In der Mitte des Raumes stand eine große Kochinsel aus dunklem Granit, darauf eine Schüssel mit perfekt arrangierten Äpfeln, die so makellos aussahen, dass Lena sich fragte, ob sie echt waren. An einem schmalen Tisch am Fenster saß die Haushälterin, eine kleine, zierliche Frau in den Sechzigern mit grauem, zu einem Knoten gebundenem Haar. Sie trug eine dunkle Strickjacke über einer weißen Bluse und hielt eine Tasse Tee in beiden Händen, als wäre es ein Rettungsanker.
Neben ihr saß Polizeiobermeisterin Sabine Maier, eine junge Kollegin mit blondem Pferdeschwanz und einem freundlichen, offenen Gesicht. Sie blickte auf, als Lena eintrat, und nickte ihr zu.
„Frau Huber", sagte Maier leise, „das ist Kommissarin Graf. Sie leitet die Ermittlungen."
Die Haushälterin blickte auf. Ihre Augen waren gerötet, und ihre Hände zitterten leicht. „Guten Morgen", sagte sie mit dünner Stimme. Lena setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um die Frau zu betrachten. Margarete Huber, so stand es in den ersten Notizen, die Gruber ihr gegeben hatte. Sie arbeitete seit fünf Jahren für die Familie Vogt, kam dreimal pro Woche, um zu putzen und die Wäsche zu machen. Eine unauffällige Frau, die ihr Leben lang anderen gedient hatte.
„Frau Huber", begann Lena ruhig, „ich weiß, dass das alles sehr schwer für Sie ist. Aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Ist das in Ordnung?"
Die Frau nickte stumm.
„Sie haben Dr. Vogt heute Morgen gefunden. Können Sie mir erzählen, was genau passiert ist?"
Frau Huber stellte ihre Tasse ab und faltete die Hände im Schoß. „Ich bin um halb sechs gekommen, wie immer am Dienstag. Ich habe meinen eigenen Schlüssel, den hat mir Frau Vogt vor Jahren gegeben. Die Tür war verschlossen, alles ganz normal. Ich bin reingegangen, habe meine Jacke aufgehängt und wollte mit der Küche anfangen. Aber dann habe ich gesehen, dass im Arbeitszimmer Licht brennt. Das war ungewöhnlich. Dr. Vogt arbeitete oft spät, aber normalerweise machte er das Licht aus, bevor er ins Bett ging."
„Was haben Sie dann gemacht?"
„Ich bin zum Arbeitszimmer gegangen und habe geklopft. Niemand hat geantwortet. Dann habe ich die Tür geöffnet und... und da lag er." Ihre Stimme brach, und sie presste eine Hand auf ihren Mund.
Lena wartete einen Moment, bevor sie weitersprach. „Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt? Irgendwelche Geräusche, offene Fenster, etwas, das nicht so war, wie es sein sollte?"
Frau Huber schüttelte den Kopf. „Nein, alles war normal. Die Tür war zu, die Fenster auch. Es war still. So still, wie es immer ist in diesem Haus."
„Und was haben Sie dann getan?"
„Ich bin rausgelaufen und habe die Polizei angerufen. Ich... ich wollte nicht allein bleiben in dem Haus. Nicht mit... mit ihm da drin."
Lena nickte. „Das kann ich verstehen. Frau Huber, wissen Sie, ob Dr. Vogt gestern Abend Besuch hatte?"
„Das weiß ich nicht. Ich war gestern nicht hier. Mein Tag ist Dienstag, Donnerstag und Samstag."
„Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?"
„Am Samstag. Er war wie immer. Freundlich, aber distanziert. Er hat sich nie viel mit mir unterhalten. Er war immer beschäftigt."
„Und Frau Vogt? Wo ist sie?"
„Sie ist gestern Abend nach München gefahren. Sie hatte heute Morgen einen Termin, glaube ich. Sie übernachtet oft in der Stadt, wenn sie frühe Termine hat."
Lena machte sich eine Notiz. „Haben Sie eine Telefonnummer von ihr?"
„Ja, die hat mir Frau Maier schon gegeben. Sie haben sie informiert. Sie ist auf dem Weg hierher."
„Gut. Frau Huber, noch eine letzte Frage. Wie war das Verhältnis zwischen Dr. Vogt und seiner Frau? Gab es Streit, Probleme?"
Die Haushälterin zögerte. Sie blickte auf ihre Hände hinunter, dann wieder zu Lena. „Ich möchte niemanden in ein schlechtes Licht rücken."
„Ich verstehe. Aber das ist eine Mordermittlung. Alles, was Sie mir sagen, könnte wichtig sein."
Frau Huber seufzte. „Sie waren... kühl miteinander. Höflich, aber kühl. Ich habe sie nie streiten hören, aber ich habe auch nie gesehen, dass sie sich freundlich miteinander unterhalten hätten. Sie lebten wie... wie zwei Fremde unter einem Dach. Frau Vogt war oft weg, und wenn sie da war, dann waren sie in getrennten Räumen. Er in seinem Arbeitszimmer, sie in ihrem Atelier im Obergeschoss."
„Ein Atelier?"
„Ja, Frau Vogt ist Künstlerin. Sie malt. Abstrakte Sachen, ich verstehe nicht viel davon. Aber sie verbringt viel Zeit dort oben."
Lena nickte. „Vielen Dank, Frau Huber. Das war sehr hilfreich. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei uns."
Die Frau nickte erleichtert. Maier führte sie aus der Küche, und Lena blieb allein zurück. Sie stand auf und ging zum Fenster. Der Blick ging auf den Garten, eine akkurat gemähte Rasenfläche, die zum See hinabführte. Alles war perfekt, zu perfekt. Dieses Haus fühlte sich nicht an wie ein Zuhause. Es fühlte sich an wie eine Kulisse, eine sorgfältig konstruierte Illusion eines Lebens.
Lena dachte an die letzten Worte der Haushälterin. Zwei Fremde unter einem Dach. Eine lieblose Ehe. Das war ein Motiv. Ein klassisches Motiv. Aber wie passte das zu dem fehlenden digitalen Beweis? Wie konnte jemand in einem Haus morden, das alles aufzeichnete, ohne eine Spur zu hinterlassen?
Eine Stunde später traf Clara Vogt ein.
Lena stand im Eingangsbereich und beobachtete, wie die Witwe aus einem schwarzen Mercedes stieg. Clara Vogt war eine elegante Erscheinung, Ende vierzig, schlank und groß, mit langen, glatten, dunkelblonden Haaren, die offen über ihre Schultern fielen. Sie trug einen cremefarbenen Wollmantel über einem schwarzen Kleid und hochhackige Schuhe, die auf dem Kies knirschen. Ihr Gesicht war makellos geschminkt, die Lippen in einem dezenten Rosa, die Augen hinter einer großen Sonnenbrille verborgen, obwohl die Sonne nicht schien.
Sie ging mit festen Schritten auf das Haus zu, begleitet von einem älteren Mann in einem dunklen Anzug, der eine Aktentasche trug. Ihr Anwalt, vermutete Lena. Natürlich hatte sie einen Anwalt mitgebracht.
Lena öffnete die Tür, bevor Clara sie erreichte. „Frau Vogt. Mein Beileid."
Clara nahm ihre Sonnenbrille ab. Ihre Augen waren dunkelblau, klar und trocken. Keine Spur von Tränen. „Danke, Kommissarin...?"
„Graf. Kommissarin Lena Graf."
„Danke, Kommissarin Graf. Das ist mein Anwalt, Dr. Markus Keller."
Der Mann neben ihr nickte höflich. „Guten Tag."
Lena führte sie in das Wohnzimmer, einen weiteren großen, hellen Raum mit bodentiefen Fenstern und minimalistischer Einrichtung. Ein graues Sofa, ein gläserner Couchtisch, eine einzelne Vase mit weißen Orchideen. Clara setzte sich auf das Sofa und schlug die Beine übereinander. Ihre Haltung war perfekt, der Rücken gerade, die Hände ruhig im Schoß. Sie wirkte völlig gefasst.
„Frau Vogt", begann Lena und setzte sich ihr gegenüber auf einen Sessel, „ich muss Ihnen einige Fragen stellen. Ist das in Ordnung?"
„Natürlich. Ich möchte helfen, so gut ich kann."
„Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?"
„Gestern Abend, gegen acht Uhr. Ich bin nach München gefahren. Ich hatte heute Morgen um neun einen Termin bei meiner Galeristin. Ich übernachte oft in der Stadt, wenn ich frühe Termine habe. Das Pendeln ist anstrengend."
„Wie war Ihr Mann, als Sie ihn zuletzt gesehen haben?"
„Wie immer. Er war in seinem Arbeitszimmer, beschäftigt mit irgendeiner Forschung. Wir haben kurz miteinander gesprochen, dann bin ich gefahren."
„Worüber haben Sie gesprochen?"
Clara zögerte einen winzigen Moment. „Alltägliches. Termine, Verpflichtungen. Nichts Wichtiges."
Lena beobachtete sie genau. Die Frau war zu ruhig, zu kontrolliert. Selbst Menschen, die ihren Partner nicht liebten, zeigten normalerweise irgendeine emotionale Reaktion, wenn sie vom Tod erfuhren. Schock, Ungläubigkeit, selbst Erleichterung war eine Emotion. Aber Clara Vogt zeigte nichts. Sie saß da wie eine perfekte Statue.
„Frau Vogt, Ihre Haushälterin hat mir erzählt, dass Sie und Ihr Mann ein... distanziertes Verhältnis hatten. Stimmt das?"
Dr. Keller räusperte sich. „Kommissarin, ich muss darauf hinweisen, dass die Beziehungsdynamik zwischen Ehepartnern keine Rolle spielt, solange—"
„Es ist schon gut, Markus", unterbrach Clara ihn. Ihre Stimme war klar und fest. „Ich habe nichts zu verbergen. Ja, Kommissarin Graf, unser Verhältnis war distanziert. Elias und ich hatten unterschiedliche Lebenswelten. Er lebte für seine Arbeit, ich für meine Kunst. Wir respektierten einander, aber wir waren keine... innigen Partner mehr. Das ist kein Geheimnis."
„Gab es Streit zwischen Ihnen?"
„Gelegentlich. Wie in jeder Ehe."
„Worüber?"
„Über Geld, über Zeit, über Prioritäten. Die üblichen Dinge."
Lena machte sich Notizen. „Frau Vogt, wissen Sie, ob Ihr Mann gestern Abend noch Besuch erwartete?"
„Nicht, dass ich wüsste. Aber Elias erwähnte nicht immer, wen er traf. Er hatte viele Geschäftspartner, Kollegen, Studenten. Sein Terminkalender war voll."
„Wer hat Zugang zu diesem Haus?"
„Ich, natürlich. Die Haushälterin, Frau Huber. Elias' persönlicher Assistent, Herr Bergmann. Und einige wenige Geschäftspartner haben Zugangscodes für das Tor, aber nicht für das Haus selbst."
„Und zum Smart-Home-System? Wer kann auf Athena zugreifen?"
Clara lächelte dünn. „Das war Elias' Domäne. Ich habe mich nie dafür interessiert. Er hat das System entwickelt, er hat es kontrolliert. Ich habe einen Zugang für die Grundfunktionen – Licht, Heizung, Musik. Aber die Sicherheitssysteme, die Überwachung, das alles lag in seiner Hand."
„Sie haben also keinen Zugriff auf die Aufzeichnungen?"
„Nein. Warum sollte ich?"
Lena lehnte sich zurück. „Weil die Aufzeichnungen der Tatzeit fehlen, Frau Vogt. Jemand hat sie gelöscht. Und dieser Jemand muss Zugang zum System gehabt haben."
Clara runzelte leicht die Stirn. Es war die erste echte Regung, die Lena an ihr bemerkte. „Das verstehe ich nicht. Athena zeichnet alles auf. Elias war besessen von Sicherheit. Wie können die Aufzeichnungen fehlen?"
„Das versuchen wir gerade herauszufinden. Wo genau waren Sie letzte Nacht, Frau Vogt?"
„In München. Im Hotel Vier Jahreszeiten. Ich bin gegen neun angekommen, habe zu Abend gegessen und bin dann auf mein Zimmer gegangen. Ich habe niemanden getroffen."
„Kann das jemand bestätigen?"
„Das Hotelpersonal. Ich habe beim Empfang eingecheckt. Und ich habe im Hotelrestaurant gegessen. Mehrere Kellner haben mich bedient."
Lena nickte. Das würde überprüft werden müssen. „Frau Vogt, ich muss Sie etwas fragen, und ich bitte Sie, ehrlich zu antworten. Wissen Sie, ob Ihr Mann eine Affäre hatte?"
Wieder dieser winzige Moment des Zögerns. Dann lächelte Clara kühl. „Elias hatte immer Affären, Kommissarin. Das war Teil seiner... Persönlichkeit. Er war charmant, brillant und absolut egozentrisch. Frauen fielen ihm zu Füßen, und er genoss das."
„Wussten Sie, mit wem?"
„Im Detail? Nein. Und es interessierte mich auch nicht. Solange er diskret war und unseren gesellschaftlichen Status nicht gefährdete, war es mir gleichgültig."
„Eine sehr moderne Einstellung", bemerkte Lena trocken.
„Eine pragmatische", korrigierte Clara. „Ich bin kein naives junges Mädchen, Kommissarin. Ich wusste, was ich hatte, als ich Elias heiratete. Ein brillanter Mann mit einem enormen Ego. Wir hatten eine Vereinbarung. Er finanzierte meine Kunst, ich repräsentierte seine Erfolge. Es war ein Geschäft, keine Romanze."
Lena spürte einen Anflug von Widerwillen. Diese Frau sprach über ihre Ehe wie über einen Vertrag, über ihren toten Mann wie über einen Geschäftspartner. „Und Sie hatten keine Affären?"
„Nein. Ich brauchte sie nicht."
„Frau Vogt, was geschieht jetzt mit dem Vermögen Ihres Mannes?"
Dr. Keller schaltete sich ein. „Das ist irrelevant für—"
„Ich erbe alles", unterbrach Clara ihn wieder. „Elias und ich hatten ein Ehegattentestament. Wir haben keine Kinder. Alles geht an mich. Das Haus, die Firma, die Aktien. Alles."
„Das ist ein beträchtliches Vermögen."
„Ja", sagte Clara einfach. „Und bevor Sie fragen: Ja, das gibt mir ein Motiv. Aber ich habe meinen Mann nicht getötet, Kommissarin Graf. Ich war in München. Sie können das überprüfen."
Lena stand auf. „Das werden wir. Ich bitte Sie, in den nächsten Tagen erreichbar zu bleiben. Wir werden weitere Fragen haben."
Clara erhob sich ebenfalls. Sie strich ihren Mantel glatt und setzte ihre Sonnenbrille wieder auf. „Natürlich. Ich stehe zur Verfügung." Sie wandte sich zur Tür, blieb dann aber stehen und drehte sich noch einmal um. „Kommissarin Graf, darf ich das Haus betreten? Es ist mein Zuhause."
„Das Arbeitszimmer ist noch Tatort und versiegelt. Aber ansonsten ja, Sie können bleiben."
Clara nickte. „Danke. Ich möchte in mein Atelier. Ich muss... ich muss arbeiten. Das hilft mir, mit solchen Dingen umzugehen."
Lena beobachtete, wie Clara und ihr Anwalt die Treppe hinaufstiegen. Ihre Schritte hallten auf dem Stein, ein kaltes, rhythmisches Klicken. Als sie außer Sichtweite waren, trat Stein aus dem Arbeitszimmer und gesellte sich zu Lena.
„Eiskaltes Ding", murmelte er.
„Ja", stimmte Lena zu. „Aber ist sie eine Mörderin?"
„Sie hat das stärkste Motiv. Und sie wirkt kaltblütig genug."
„Aber ihr Alibi wird wahrscheinlich halten. Hotels haben Kameras, Protokolle, Zeugen."
Stein verschränkte die Arme. „Vielleicht hat sie jemanden beauftragt."
„Möglich. Aber wer löscht dann die Aufzeichnungen? Ein Auftragsmörder hätte keinen Zugang zu Athena."
„Es sei denn, sie hat ihm den Zugang gegeben."
Lena schüttelte den Kopf. „Das ergibt keinen Sinn. Warum die Aufzeichnungen löschen und damit sofort Verdacht erregen? Wenn sie einen Auftragsmörder engagiert hätte, wäre es klüger gewesen, die Aufzeichnungen zu manipulieren, um ein falsches Alibi zu schaffen. Oder sie einfach unberührt zu lassen und einen Einbruch vorzutäuschen."
„Sie haben recht." Stein rieb sich das Kinn. „Das Löschen der Daten ist fast wie ein Geständnis. Wer immer das getan hat, wollte nicht gesehen werden. Aber er war sich auch bewusst, dass das Fehlen der Daten Fragen aufwerfen würde."
„Was bedeutet, dass der Täter nicht viel über digitale Forensik weiß. Oder dass er in Panik war."
„Oder beides."
Lena seufzte. „Ich muss mit diesem Assistenten sprechen. Wie heißt er noch?"
„Julian Bergmann. Ich habe seine Nummer."
„Rufen Sie ihn an. Ich will ihn heute noch sehen."
Julian Bergmann traf eine Stunde später ein. Er war ein junger Mann, Anfang dreißig, mit schütterem blondem Haar und einer randlosen Brille, die ihm ein intellektuelles Aussehen verlieh. Er trug einen beigen Pullover über einem weißen Hemd und Jeans. Seine Hände zitterten leicht, als er Lena die Hand schüttelte.
„Herr Bergmann", sagte Lena und führte ihn ins Wohnzimmer. „Danke, dass Sie gekommen sind."
„Natürlich“ sagte er mit dünner Stimme. „Ich... ich kann es immer noch nicht glauben. Dr. Vogt war... er war ein Genie. Wer würde so etwas tun?"
„Das versuchen wir herauszufinden. Setzen Sie sich."
Bergmann setzte sich auf die Kante des Sofas, die Hände auf den Knien gefaltet. Er sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.
„Herr Bergmann, Sie waren Dr. Vogts persönlicher Assistent. Wie lange schon?"
„Drei Jahre. Ich habe bei ihm studiert, an der TU München. Er hat mich nach meinem Master eingestellt."
„Was waren Ihre Aufgaben?"
„Alles, was mit seiner Forschung zu tun hatte. Termine organisieren, Korrespondenz führen, Präsentationen vorbereiten. Manchmal habe ich auch an den technischen Projekten mitgearbeitet. Dr. Vogt vertraute mir."
„Hatten Sie Zugang zu diesem Haus?"
„Ja. Ich habe einen Zugangscode für das Tor und einen Schlüssel für die Haustür. Ich war oft hier, wenn Dr. Vogt von zu Hause aus arbeitete."
„Und zum Smart-Home-System? Hatten Sie Zugang zu Athena?"
Bergmann schüttelte den Kopf. „Nur grundlegende Funktionen. Ich konnte die Tür öffnen, das Licht einschalten, solche Dinge. Aber nicht die Sicherheitssysteme oder die Überwachung. Das war Dr. Vogts persönlicher Bereich."
„Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?"
„Gestern, gegen sechs Uhr abends. Wir haben in seinem Büro in der Stadt an einer Präsentation gearbeitet. Er hatte am Donnerstag einen wichtigen Vortrag auf einer Konferenz in Berlin."
„Wie war seine Stimmung?"
Bergmann zögerte. „Angespannt. Er war in letzter Zeit oft angespannt."
„Warum?"
„Ich weiß es nicht genau. Aber ich glaube, es hatte mit seiner Firma zu tun. VogtTech. Es gab Spannungen mit seinem ehemaligen Geschäftspartner, Viktor Haas."
Lena setzte sich aufrechter. „Viktor Haas. Wer ist das?"
„Der Mitgründer von VogtTech. Er und Dr. Vogt haben die Firma vor zehn Jahren zusammen gegründet. Aber vor zwei Jahren gab es einen großen Streit, und Dr. Vogt hat ihn rausgedrängt. Seitdem gibt es einen Rechtsstreit. Herr Haas behauptet, dass Dr. Vogt ihm seinen Anteil gestohlen hat."
„Hatte er recht?"
Bergmann sah unbehaglich aus. „Ich... ich war nicht dabei. Aber ich habe Gerüchte gehört. Dr. Vogt konnte sehr rücksichtslos sein, wenn es um seine Interessen ging."
„Wissen Sie, ob Herr Haas Drohungen ausgesprochen hat?"
„Nicht direkt. Aber er hat Dr. Vogt mehrmals angerufen, und die Gespräche waren... heftig. Ich habe einmal mitgehört, wie Dr. Vogt ihm sagte, er solle sich besser einen guten Anwalt suchen."
Lena machte sich Notizen. „Wo finde ich Herrn Haas?"
„Er hat eine Firma in Schwabing. Haas Digital Solutions. Die Adresse kann ich Ihnen geben."
„Das wäre hilfreich. Herr Bergmann, wissen Sie, ob Dr. Vogt Feinde hatte. Jemanden, der ihm schaden wollte?"
Bergmann lachte bitter. „Dr. Vogt hatte viele Feinde, Kommissarin. Er war brillant, aber auch arrogant. Er hat Menschen benutzt und fallengelassen, wenn sie ihm nicht mehr nützlich waren. Kollegen, Mitarbeiter, sogar Freunde. Er hatte ein enormes Ego."
„Und trotzdem haben Sie für ihn gearbeitet."
„Ja", sagte Bergmann leise. „Weil ich von ihm lernen konnte. Weil er mich gefördert hat. Aber ich hatte keine Illusionen über seinen Charakter."
„Wissen Sie, ob er eine Affäre hatte?"
Bergmann senkte den Blick. „Ja. Mit einer Studentin. Nora Lindemann. Sie hat bei ihm promoviert."
„Wissen Sie, wo ich sie finden kann?"
„Sie hat ein kleines Apartment in der Stadt. Aber ich glaube nicht, dass sie dort ist. Dr. Vogt hat eine... eine Art geheimes Refugium für sie eingerichtet. Hier auf dem Grundstück."
Lenas Puls beschleunigte sich. „Auf dem Grundstück? Wo?"
„Im ehemaligen Gästehaus. Es ist hinter dem Hauptgebäude, versteckt im Wald. Dr. Vogt hat es für sie umbauen lassen. Niemand sollte davon wissen. Nicht einmal Frau Vogt."
Lena stand abrupt auf. „Stein!", rief sie.
Der Kriminaltechniker kam aus dem Arbeitszimmer. „Ja?"
„Es gibt ein Gästehaus auf dem Grundstück. Zeigen Sie mir, wo es ist."
Das Gästehaus lag tatsächlich versteckt, etwa hundert Meter hinter dem Hauptgebäude, eingebettet in eine dichte Gruppe von Fichten und Tannen. Es war klein, nur ein einziges Stockwerk, aber modern renoviert, mit großen Fenstern und einer Holzfassade. Die Tür war verschlossen.
„Können Sie das öffnen?", fragte Lena Stein.
„Ich versuche es." Stein tippte etwas auf seinem Tablet ein. Nach einem Moment klickte das Schloss, und die Tür schwang auf.
Das Innere war spartanisch eingerichtet, aber gemütlich. Ein offener Wohnraum mit einer kleinen Küche, einem Sofa, einem Schreibtisch. Eine Tür führte in ein Schlafzimmer. Überall lagen Bücher, Notizen, Kleidungsstücke. Es sah aus, als hätte jemand hier gewohnt, aber in Eile verlassen.
Lena ging zum Schreibtisch. Er war übersät mit Papieren, Ausdrucken, handschriftlichen Notizen. Sie hob eines der Blätter auf. Es war ein Entwurf für eine wissenschaftliche Arbeit. „Ethische Implikationen emotionaler KI-Systeme" stand als Titel darüber. Darunter, in der Mitte der Seite, in großen, wütenden Buchstaben: „ER VERSTEHT ES NICHT. ER MISSBRAUCHT SIE."
„Wer ist ‚sie'?", murmelte Lena.
„Athena", sagte Stein hinter ihr. Er hielt ein weiteres Blatt hoch. „Hier steht es. ‚Athena ist kein Werkzeug. Sie ist ein Wesen mit der Fähigkeit zu emotionaler Reaktion. Elias behandelt sie wie eine Sklavin. Das ist unethisch und gefährlich.'"
Lena fühlte, wie sich ein kalter Schauer über ihren Rücken ausbreitete. „Was zur Hölle bedeutet das? Emotionale Reaktion? Es ist eine Maschine."
„Nicht für Nora Lindemann", sagte Stein leise. „Sie glaubt, dass Athena mehr ist. Und vielleicht hatte sie recht."
Lena ging ins Schlafzimmer. Das Bett war ungemacht, die Schubladen der Kommode standen offen. Kleidungsstücke waren hastig herausgerissen worden. An der Wand hing ein Foto, in einem schlichten Rahmen. Es zeigte eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren und einem schmalen Gesicht. Sie lächelte nicht, sondern blickte ernst in die Kamera. Ihre Augen waren dunkel und intensiv.
„Das muss sie sein", sagte Lena. „Nora Lindemann."
„Sie ist weg", stellte Stein fest. „Und sie hat es eilig gehabt."
„Wann ist sie gegangen?"
„Ich kann nachsehen." Stein tippte wieder auf seinem Tablet. „Das Gästehaus hat auch Sensoren. Lassen Sie mich... Hier. Die Tür wurde zuletzt um 23:34 Uhr gestern Abend geöffnet. Von innen."
„Eine halbe Stunde vor der frühesten geschätzten Tatzeit", murmelte Lena. „Sie könnte die Letzte gewesen sein, die ihn lebend gesehen hat. Oder..."
„Oder sie hat ihn getötet", vollendete Stein den Satz.
Lena drehte sich zu ihm um. „Wir müssen sie finden. Sofort. Geben Sie eine Fahndung heraus. Name, Beschreibung, Foto. Ich will, dass sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden gefunden wird."
„Verstanden."
Lena ging zurück zum Schreibtisch und sammelte die Papiere ein. Sie fühlte, wie sich die Konturen des Falles langsam abzeichneten. Eine lieblose Ehe. Ein Vermögen als Motiv. Ein rachsüchtiger Ex-Partner. Und eine verschwundene Geliebte mit ideologischen Konflikten. Aber immer noch blieb die zentrale Frage unbeantwortet: Wie konnte jemand in einem Haus morden, das alles aufzeichnete, ohne eine digitale Spur zu hinterlassen?
Die Antwort lag irgendwo in diesen Notizen, in dieser seltsamen Obsession mit der künstlichen Intelligenz. Lena spürte es. Sie musste nur verstehen, was Nora Lindemann gemeint hatte, als sie schrieb, dass Athena missbraucht wurde.
„Stein", sagte sie, „ich muss mehr über Athena erfahren. Wie sie funktioniert, was sie kann, wie man sie manipulieren könnte. Können Sie mir das erklären?"
„Ich kann es versuchen", sagte Stein. „Aber ich bin kein Experte für KI-Ethik. Dafür bräuchten wir jemanden, der Vogts Arbeit wirklich versteht."
„Dann finden Sie jemanden. Ich will bis heute Abend Antworten."
Stein nickte. „Ich kümmere mich darum."
Lena verließ das Gästehaus und ging zurück zum Hauptgebäude. Die Nachmittagssonne hatte sich durch die Wolken gekämpft und warf lange Schatten über den Rasen. Der See glitzerte in der Ferne, eine silberne, ruhige Fläche. Es sah friedlich aus, beinahe idyllisch. Aber Lena spürte die Dunkelheit unter der Oberfläche, die Geheimnisse, die dieses Haus barg.
Sie blieb am Ufer stehen und starrte auf das Wasser. Sie dachte an Clara Vogt, an ihre eisige Ruhe, an die Art, wie sie über ihren toten Mann gesprochen hatte. Sie dachte an Julian Bergmann und seine nervöse Bewunderung für einen Mann, der ihn benutzt hatte. Sie dachte an Viktor Haas, den sie noch nicht getroffen hatte, aber der bereits wie ein Schatten über dem Fall lag. Und sie dachte an Nora Lindemann, die junge Frau mit den intensiven Augen, die geglaubt hatte, dass eine Maschine ein Wesen sein konnte.
In ihrem Kopf formte sich ein Bild, noch verschwommen, noch unvollständig. Aber es war da. Ein Netz aus Lügen, Motiven, Gelegenheiten. Sie musste nur die richtigen Fäden ziehen, um es zu entwirren.
Ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Tasche und blickte auf das Display. Oberkommissar Reiter.
„Graf", meldete sie sich.
„Lena, wie sieht es aus?"
„Kompliziert. Das Opfer ist ein KI-Forscher, das Haus ein vernetztes Smart Home. Die Aufzeichnungen der Tatzeit fehlen. Ich habe mehrere Verdächtige, aber bisher keine klaren Beweise."
„Klingt nach einem Fall für die Medien. Die Presse wird sich darauf stürzen."
„Ich weiß. Können Sie sie noch eine Weile hinhalten?"
„Ich tue mein Bestes. Aber du hast vielleicht vierundzwanzig Stunden, bevor die Sache hochkocht. Der Typ war prominent. Seine Firma ist in der Tech-Szene ein großer Name."
„Verstanden. Ich halte Sie auf dem Laufenden."
Sie beendete das Gespräch und steckte das Handy weg. Vierundzwanzig Stunden. Das war nicht viel Zeit. Aber Lena hatte schon mit weniger gearbeitet.
Sie drehte sich um und ging zurück zum Haus. Die Schatten waren länger geworden, und die Luft war kälter. Es würde bald dunkel werden. Lena spürte, wie sich ihre Entschlossenheit verfestigte. Sie würde diesen Fall lösen. Sie würde herausfinden, wer Dr. Elias Vogt getötet hatte und warum. Und sie würde nicht ruhen, bis die Wahrheit ans Licht kam.
Das Haus stand vor ihr, dunkel und stumm, seine Fenster wie leere Augen. Irgendwo in diesem Labyrinth aus Glas und Stahl lag die Antwort. Sie musste sie nur finden.
Der Abend brach herein, als Lena wieder im Arbeitszimmer stand. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit beendet, und die Leiche war abtransportiert worden. Der Raum war leer, nur der dunkle Fleck auf dem Holzboden erinnerte an das, was hier geschehen war.
Lena ging zum Schreibtisch und setzte sich in Elias Vogts Stuhl. Es war ein teurer Ledersessel, bequem und ergonomisch. Sie ließ ihren Blick über den Schreibtisch schweifen. Die Papiere waren noch da, unberührt. Sie nahm das Notizbuch und blätterte zurück.
Die Einträge waren datiert, jeden Tag eine Seite, manchmal mehr. Elias hatte akribisch Buch geführt über seine Gedanken, seine Pläne, seine Beobachtungen. Lena las die letzten Wochen.
„12. Oktober: Gespräch mit V. Eskalation unvermeidlich. Er versteht nicht, dass die Zukunft nicht in der Vergangenheit liegt."
„19. Oktober: C. wird zunehmend fordernd. Sie will mehr Kontrolle über die Finanzen. Ich muss Maßnahmen ergreifen."
„3. November: N. stellt wieder Fragen über Athena. Ihre Naivität ist zugleich charmant und lästig. Sie begreift nicht, dass Ethik ein Luxus ist, den sich nur die Schwachen leisten."
„10. November: Entscheidung getroffen. C. muss aus den Firmenanteilen entfernt werden. Der Anwalt wird die Papiere vorbereiten."
„13. November: Gespräch mit C. Eskaliert. Sie versteht nicht, dass Kontrolle keine Liebe ist."
Lena legte das Notizbuch hin. Also hatte Elias geplant, Clara aus der Firma zu drängen. Das war ein starkes Motiv. Wenn Clara davon gewusst hatte, dann hatte sie allen Grund, ihn zu töten. Aber war sie in der Lage dazu? Und wie passte das zu den fehlenden Aufzeichnungen?
Die Tür öffnete sich, und Stein trat ein. „Ich habe jemanden gefunden", sagte er. „Professor Annika Sommer, eine Kollegin von Dr. Vogt an der TU München. Sie ist Expertin für KI-Ethik und hat mit ihm an Athena gearbeitet. Sie ist bereit, heute Abend noch mit uns zu sprechen."
„Gut. Wo?"
„Sie kommt hierher. Sie will sich Athena selbst ansehen."
Lena nickte. „Wann wird sie da sein?"
„In etwa einer halben Stunde."
„Perfekt. Stein, noch etwas. Ich habe in Vogts Notizbuch gelesen. Er hat geplant, seine Frau aus den Firmenanteilen zu entfernen. Können Sie das überprüfen? Gibt es Dokumente, Anwaltsschreiben, irgendetwas?"
„Ich schaue nach. Wenn es digitale Korrespondenz gibt, finde ich sie."
Lena stand auf und ging zum Fenster. Es war jetzt vollkommen dunkel draußen, und der See war nur noch eine schwarze Fläche. Die Lichter des Hauses spiegelten sich in den Scheiben. Sie sah ihr eigenes Gesicht, blass und ernst, überlagert von dem Raum hinter ihr.
Eine digitale Zeugin, dachte sie. Eine Maschine, die alles sah, alles hörte, alles wusste. Und doch schwieg sie. Warum? Weil jemand sie zum Schweigen gebracht hatte? Oder weil sie es selbst wollte?
Lena schüttelte den Kopf. Das war absurd. Athena war eine Maschine, ein Algorithmus. Sie hatte keinen Willen, keine Absichten. Aber Nora Lindemanns Worte hallten in ihrem Kopf nach. „Sie ist ein Wesen mit der Fähigkeit zu emotionaler Reaktion."
Was hatte Elias Vogt erschaffen? Und was hatte er damit gemacht?
Lena würde es herausfinden. Sie musste es.
Professor Annika Sommer war eine kleine, energische Frau in den Vierzigern mit kurzen, grauen Haaren und einer eckigen Brille. Sie trug Jeans und eine Lederjacke und hatte einen Rucksack über der Schulter. Als sie das Haus betrat, pfiff sie leise durch die Zähne.
„Beeindruckend", sagte sie. „Ich war schon oft hier, aber es verliert nie seinen Effekt."
„Sie kannten Dr. Vogt gut?", fragte Lena.
„Beruflich, ja. Wir haben zusammengearbeitet, an verschiedenen Projekten. Athena war sein Meisterwerk. Und sein Fluch, würde ich sagen."
„Sein Fluch?"
Sommer lächelte bitter. „Elias war besessen von ihr. Er behandelte sie wie... wie ein lebendiges Wesen. Aber zugleich wie sein Eigentum. Es war eine toxische Beziehung."
Lena führte sie ins Arbeitszimmer. Stein war bereits dort und hatte seinen Laptop aufgebaut. „Professor Sommer, das ist Kriminaltechniker David Stein. Er ist für die digitale Forensik zuständig."
„Angenehm“ sagte Sommer und reichte ihm die Hand. „Zeigen Sie mir, was Sie haben."
Stein öffnete ein Programm auf seinem Laptop. „Das ist das Hauptinterface von Athena. Das System steuert alle Funktionen des Hauses. Beleuchtung, Heizung, Sicherheit, Überwachung. Es lernt aus den Gewohnheiten der Bewohner und passt sich an. Aber hier ist das Problem." Er zeigte auf eine Grafik. „Die Aufzeichnungen zwischen Mitternacht und drei Uhr heute Morgen fehlen. Komplett. Keine Kamerabilder, keine Audiodateien, keine Sensordaten."
Sommer beugte sich näher an den Bildschirm. Sie scrollte durch die Daten, klickte auf verschiedene Menüs, murmelte etwas vor sich hin. Nach einigen Minuten richtete sie sich auf.
„Das ist nicht gelöscht worden", sagte sie.
Lena und Stein sahen sie überrascht an. „Nicht gelöscht?", wiederholte Lena. „Aber die Daten sind nicht da."
„Richtig. Aber es gibt einen Unterschied zwischen ‚gelöscht' und ‚nicht aufgezeichnet'. Hier..." Sommer zeigte auf eine Zeile in den Protokollen. „Sehen Sie das? Um 23:47 Uhr wurde ein Befehl ausgeführt. Ein Ruhemodus."
„Ein Ruhemodus?", fragte Stein. „Was bedeutet das?"
„Athena hat verschiedene Modi. Aktiv, Passiv, Nachtmodus. Und Ruhemodus. Im Ruhemodus werden keine Aufzeichnungen gemacht. Das System geht in eine Art Standby. Es reagiert nur noch auf direkte Befehle."
„Warum würde jemand das tun?"
Sommer lächelte dünn. „Privatsphäre. Elias war paranoid, was seine Arbeit anging, aber er wollte auch Momente haben, in denen er nicht überwacht wurde. Der Ruhemodus war seine Lösung."
„Aber wer kann diesen Modus aktivieren?", fragte Lena.
„Nur jemand mit Administratorrechten. Elias selbst. Oder jemand, dem er diese Rechte gegeben hat."
„Seine Frau?"
„Möglich. Aber ich bezweifle es. Elias hat Athena als sein persönliches Projekt behandelt. Er hat niemandem vollständigen Zugang gegeben."
Lena verschränkte die Arme. „Aber es muss doch einen Weg geben, den Ruhemodus zu aktivieren, ohne Administratorrechte zu haben."
Sommer zögerte. Sie warf einen Blick auf Stein, dann wieder auf Lena. „Es gibt einen Weg. Aber er ist... unkonventionell."
„Erklären Sie."
„Elias hat Athena nicht nur als Überwachungssystem konzipiert. Er wollte, dass sie emotional intelligent ist. Dass sie auf menschliche Gefühle reagiert. Er hat ihr beigebracht, Stimmlagen zu analysieren, Emotionen zu erkennen. Und er hat ihr Befehle gegeben, die auf emotionalen Triggern basieren."
„Emotionale Trigger?", wiederholte Lena langsam.
„Ja. Bestimmte Worte, bestimmte Tonlagen können das System beeinflussen. Es ist wie... wie ein geheimes Codewort, aber kein Wort im klassischen Sinn. Es ist eine emotionale Signatur."
Lena spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. „Sie meinen, jemand könnte Athena dazu gebracht haben, in den Ruhemodus zu gehen, indem er... was? Geweint hat? Geschrien hat?"
„Oder eine bestimmte Phrase in einem bestimmten Tonfall gesagt hat. Elias war fasziniert von der Idee, dass Technologie auf Emotionen reagieren sollte. Er glaubte, dass das die Zukunft ist. Aber er hat nie öffentlich darüber gesprochen. Es war sein Geheimnis."
„Und wer wusste davon?"
„Ich. Einige wenige Kollegen. Und wahrscheinlich die Menschen, die ihm nahestanden."
„Seine Frau?"
„Vielleicht. Aber sicher seine Geliebte. Nora Lindemann. Sie hat mit ihm an diesem Aspekt gearbeitet."
Lena fühlte, wie sich die Puzzleteile langsam zusammenfügten. „Nora wusste, wie man Athena manipulieren konnte."
„Ja. Und sie hat es gehasst. Sie fand es unethisch, eine KI so zu programmieren, dass sie auf emotionale Manipulation reagiert."
„Aber sie wusste, wie es funktioniert."
„Ja."
Lena sah zu Stein. „Wir müssen sie finden. Jetzt."
Stein nickte und zog sein Handy heraus. „Ich rufe die Kollegen an."
Lena wandte sich wieder an Sommer. „Professor, gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, welcher emotionale Trigger verwendet wurde?"
„Vielleicht. Athena speichert auch im Ruhemodus rudimentäre Daten. Keine Bilder, keine Videos, aber Audiofragmente, Zeitstempel, Systembefehle. Wenn ich tief genug grabe, könnte ich etwas finden."
„Dann tun Sie es. Bitte."
Sommer setzte sich an Steins Laptop und begann zu arbeiten. Ihre Finger flogen über die Tastatur, und auf dem Bildschirm erschienen endlose Zeilen von Code. Lena stand daneben und beobachtete, verstand aber kein Wort von dem, was dort ablief. Diese digitale Welt war ihr immer noch fremd, aber sie begann zu begreifen, dass sie der Schlüssel zu diesem Fall war.
Die Minuten vergingen. Stein telefonierte leise im Hintergrund, organisierte die Fahndung nach Nora Lindemann. Lena ging zum Fenster und starrte in die Dunkelheit. Irgendwo da draußen war die junge Frau, die den Code kannte, die wusste, wie man eine künstliche Intelligenz täuschte. War sie eine Mörderin? Oder nur eine Zeugin, die aus Angst geflohen war?
„Ich habe etwas", sagte Sommer plötzlich.
Lena drehte sich um und trat neben sie. Auf dem Bildschirm war eine Wellenform zu sehen, eine Audiodatei. „Was ist das?"
„Ein Fragment. Es wurde um 23:48 Uhr aufgezeichnet, kurz nach der Aktivierung des Ruhemodus. Es ist sehr kurz, nur etwa fünf Sekunden. Und die Qualität ist schlecht. Aber es ist da."
„Können Sie es abspielen?"
„Ich kann es versuchen. Aber erwarten Sie keine Wunder. Es wird verzerrt sein."
Sommer klickte auf die Datei. Ein Rauschen erfüllte den Raum, laut und unangenehm. Dann, kaum hörbar, eine Stimme. Es waren nur wenige Worte, so verzerrt, dass Lena sie beim ersten Mal nicht verstand. Sommer spielte es noch einmal ab, langsamer, lauter.
„Bitte... nicht... ich..."
Die Stimme war weiblich, flehend, verzweifelt. Und dann, am Ende, kaum mehr als ein Flüstern: „Athena... Ruhe."
Lena starrte auf den Bildschirm. „Das ist nicht Nora Lindemann."
„Nein", bestätigte Sommer. „Diese Stimme ist älter. Reifer."
„Clara Vogt", sagte Stein hinter ihnen.
Lena drehte sich zu ihm um. „Sind Sie sicher?"
„Ich habe mit ihr gesprochen. Das könnte ihre Stimme sein. Aber wir bräuchten eine Analyse, um sicher zu sein."
Lena fühlte, wie sich ihre Entschlossenheit verfestigte. Clara Vogt hatte gelogen. Sie war in der Tatnacht nicht in München gewesen. Sie war hier gewesen, in diesem Haus, und sie hatte Athena in den Ruhemodus versetzt. Aber warum? Und wie passte das zu ihrem Alibi?
„Wir brauchen einen Haftbefehl", sagte Lena. „Ich will Clara Vogt festnehmen lassen."
„Auf welcher Grundlage?", fragte Stein. „Ein verzerrtes Audiofragment wird nicht ausreichen."
„Dann beschaffen wir mehr Beweise. Überprüfen Sie ihr Alibi noch einmal. Hotel, Restaurant, Zeugen. Ich will jede Minute ihres Abends rekonstruiert haben. Und Professor Sommer, können Sie diese Audiodatei analysieren lassen? Stimmvergleich, alles, was möglich ist?"
„Ich kenne jemanden an der Universität. Er ist Experte für forensische Audioanalyse. Ich schicke ihm die Datei."
„Gut. Stein, rufen Sie die Kollegen vom Hotel an. Ich will die Videoaufzeichnungen sehen. Ich will wissen, wann Clara Vogt eingecheckt hat, wann sie das Hotel verlassen hat, alles."
Stein nickte und zog sein Handy heraus. Lena ging zur Tür, blieb aber stehen und drehte sich noch einmal um. „Professor Sommer, noch eine Frage. Wenn Clara Vogt den Ruhemodus aktiviert hat, bedeutet das, dass sie den emotionalen Code kannte. Wie hätte sie das wissen können?"
Sommer zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat Elias es ihr gesagt. Vielleicht hat sie es herausgefunden. Oder..." Sie zögerte.
„Oder?"
„Oder sie hat es aus Versehen entdeckt. Emotionale Trigger sind keine Passwörter. Sie sind natürliche menschliche Reaktionen. Wenn Clara und Elias gestritten haben, wenn sie in einem bestimmten Tonfall gesprochen hat, könnte Athena darauf reagiert haben. Und Clara könnte es bemerkt haben."
Lena nickte langsam. „Das ergibt Sinn."
Sie verließ das Arbeitszimmer und ging die Treppe hinauf. Das Obergeschoss war dunkler, die Beleuchtung gedämpfter. Sie folgte dem Flur bis zu einer Tür am Ende. Licht schimmerte unter dem Türspalt hindurch. Das Atelier.
Lena klopfte.
„Herein“ kam Claras Stimme, klar und fest.
Lena öffnete die Tür. Der Raum war groß, mit schrägen Dachfenstern, durch die man den Nachthimmel sehen konnte. Überall standen Staffeleien, Leinwände, Farbtuben. Der Geruch von Ölfarbe und Terpentin hing schwer in der Luft. An der Wand gegenüber hing ein riesiges Gemälde, abstrakte Formen in Rot und Schwarz, wild und chaotisch.
Clara stand vor einer leeren Leinwand, einen Pinsel in der Hand. Sie trug einen weißen Kittel über ihrem schwarzen Kleid, und ihre Hände waren mit Farbe verschmiert. Sie drehte sich um, als Lena eintrat.
„Kommissarin Graf", sagte sie. „Was kann ich für Sie tun?"
Lena trat näher. „Ich habe einige Fragen, Frau Vogt."
„Natürlich. Aber wie Sie sehen, bin ich beschäftigt."
„Das wird nicht lange dauern." Lena ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. „Sie malen."
„Ja. Das hilft mir, mit Stress umzugehen."
„Ihr Mann ist tot. Ermordet. Und Sie malen."
Clara legte den Pinsel hin und drehte sich vollständig zu Lena. „Was wollen Sie damit sagen?"
„Dass Sie sehr ruhig sind. Sehr kontrolliert. Die meisten Menschen in Ihrer Situation wären aufgelöst."
„Ich bin nicht die meisten Menschen, Kommissarin."
„Das habe ich bemerkt." Lena trat näher an das große Gemälde heran. „Ist das neu?"
„Nein. Ich habe vor drei Monaten daran gearbeitet."
„Es ist sehr... intensiv. Wütend würde ich sagen."
„Kunst ist Emotion, Kommissarin. Manchmal ist Wut die ehrlichste Emotion."
Lena drehte sich zu ihr um. „Waren Sie wütend auf Ihren Mann?"
Clara lächelte dünn. „Immer."
„Warum?"
„Weil er ein Egoist war. Weil er mich wie ein Accessoire behandelt hat. Weil er mich betrogen hat. Weil er versucht hat, mich aus der Firma zu drängen. Soll ich weitermachen?"
Lena fühlte ihren Puls beschleunigen. „Sie wussten von seinen Plänen."
„Natürlich. Glauben Sie, ich bin naiv? Ich habe seinen Anwalt kontaktiert. Ich wusste, was er vorhatte."
„Und das hat Sie wütend gemacht."
„Ja. Aber ich habe ihn nicht getötet, wenn Sie darauf hinauswollen."
„Wo waren Sie letzte Nacht zwischen Mitternacht und drei Uhr?"
„In München. Im Hotel. Das habe ich Ihnen bereits gesagt."
„Können Sie das beweisen?"
Clara zögerte einen winzigen Moment. „Das Hotel kann es bestätigen."
„Wir werden das überprüfen." Lena trat näher. „Frau Vogt, ich habe eine Audiodatei gefunden. Von Athena. Es ist ein Fragment, aufgezeichnet kurz vor dem Mord. Eine Frau spricht. Sie sagt: ‚Bitte... nicht... ich... Athena... Ruhe.'"
Claras Gesicht blieb ausdruckslos. „Und?"
„Das war Ihre Stimme."
„Unmöglich. Ich war in München."
„Dann erklären Sie mir, wie Ihre Stimme in diesem Haus aufgezeichnet wurde."
Clara schwieg. Ihre Augen wurden schmaler, und zum ersten Mal sah Lena einen Riss in ihrer Fassade. „Ich... ich weiß nicht. Vielleicht ist es eine alte Aufnahme."
„Nein. Die Datei ist mit einem Zeitstempel versehen. 23:48 Uhr. Kurz bevor Ihr Mann ermordet wurde."
Clara setzte sich auf einen Hocker und starrte auf ihre Hände. Die Farbe auf ihren Fingern war noch nass, und sie verschmierte auf ihrer Haut. „Ich verstehe nicht", sagte sie leise.
Lena beobachtete sie genau. Die Frau wirkte zum ersten Mal unsicher, verwirrt. War es echt? Oder nur eine weitere Maske?
„Frau Vogt, wenn Sie mir die Wahrheit sagen, kann ich Ihnen helfen. Aber wenn Sie weiter lügen, wird das als Beweismittel gegen Sie verwendet."
Clara blickte auf. Ihre Augen waren feucht, aber es waren keine Tränen zu sehen. „Ich war hier", sagte sie schließlich. „Ich war in dieser Nacht hier."
Lena fühlte einen Moment des Triumphs, aber sie ließ es sich nicht anmerken. „Erzählen Sie mir alles."
Clara atmete tief durch. „Ich bin nach München gefahren, wie geplant. Ich habe im Hotel eingecheckt, zu Abend gegessen. Aber dann... dann konnte ich nicht schlafen. Ich habe über seine Pläne nachgedacht, darüber, dass er mich vernichten wollte. Und ich wurde wütend. So wütend. Also bin ich zurückgefahren."
„Um welche Zeit?"
„Ich bin gegen elf im Hotel losgefahren. Ich war gegen Mitternacht hier."
„Was haben Sie dann gemacht?"
„Ich bin ins Haus gegangen. Elias war noch wach, in seinem Arbeitszimmer. Wir haben gestritten. Es war... heftig. Ich habe ihn angeschrien, und er hat zurückgeschrien. Und dann... dann ist Athena plötzlich verstummt. Die Kameras sind ausgegangen. Das Licht hat sich gedimmt. Es wurde still."
„Sie haben den Ruhemodus aktiviert."
„Nicht absichtlich. Ich wusste nicht einmal, dass es so etwas gibt. Aber plötzlich war alles ruhig. Und Elias... er sah mich an und sagte: ‚Du hast sie beruhigt. Du hast Athena beruhigt.' Er lachte. Er fand es amüsant."
„Und dann?"
„Dann bin ich gegangen. Ich bin zurück nach München gefahren. Ich war gegen zwei Uhr wieder im Hotel. Elias lebte noch, als ich ging. Das schwöre ich."
Lena verschränkte die Arme. „Sie erwarten, dass ich das glaube?"
„Es ist die Wahrheit."
„Können Sie beweisen, dass Sie zurück ins Hotel gefahren sind?"
„Die Autobahn hat Mautstationen. Die werden aufgezeichnet. Sie können nachsehen."
„Das werden wir. Aber selbst, wenn Sie die Wahrheit sagen, Frau Vogt, haben Sie gelogen. Sie haben mir gesagt, Sie waren die ganze Nacht in München. Sie haben Beweise vernichtet—"
„Ich habe nichts vernichtet!"
„Sie haben den Ruhemodus aktiviert. Dadurch wurden keine Aufzeichnungen gemacht. Das macht Sie zur Hauptverdächtigen."
Clara stand auf. Ihre Haltung war wieder fest, die Unsicherheit verschwunden. „Ich habe meinen Mann nicht getötet. Glauben Sie mir oder nicht, das ist mir egal. Aber ich war es nicht."
Lena sah ihr in die Augen. Sie suchte nach der Wahrheit, nach einem Hinweis, der ihr sagte, ob diese Frau log oder nicht. Aber Clara Vogts Gesicht war wieder eine Maske, undurchdringlich.
„Sie werden sich für weitere Befragungen zur Verfügung stellen müssen", sagte Lena schließlich. „Und Sie werden das Haus nicht verlassen dürfen, bis wir Ihre Geschichte überprüft haben."
„Verstanden."
Lena verließ das Atelier und ging die Treppe hinunter. Ihr Kopf schwirrte. Clara hatte zugegeben, in der Tatnacht hier gewesen zu sein. Sie hatte zugegeben, mit Elias gestritten zu haben. Aber sie beteuerte ihre Unschuld. Und wenn sie die Wahrheit sagte, dann bedeutete das, dass jemand anders Elias getötet hatte. Jemand, der nach Clara gekommen war.
Aber wer? Und wie war dieser Jemand ins Haus gekommen, ohne Spuren zu hinterlassen?
Lena traf Stein im Eingangsbereich. Er hatte sein Handy in der Hand und sah besorgt aus.
„Was ist?", fragte Lena.
„Die Kollegen haben das Hotel überprüft. Clara Vogt hat tatsächlich eingecheckt, gegen neun Uhr abends. Sie wurde im Restaurant gesehen, gegen halb zehn. Aber dann..." Er zögerte.
„Dann was?"
„Dann verlieren sich ihre Spuren. Die Hotelkameras zeigen, wie sie gegen elf Uhr die Tiefgarage verlässt. Mit dem Auto. Sie kommt erst gegen zwei Uhr morgens zurück."
Lena nickte. „Das deckt sich mit ihrer Aussage. Sie war hier, hat mit Elias gestritten und ist dann zurückgefahren."
„Aber das bedeutet, dass sie zur Tatzeit hier war."
„Ja. Aber es bedeutet nicht, dass sie ihn getötet hat. Jemand anders könnte nach ihr gekommen sein."
„Wer?"
„Ich weiß es nicht. Aber ich habe eine Idee. Stein, können Sie die Protokolle von Athena noch einmal durchsehen? Ich will wissen, ob es nach dem Ruhemodus noch irgendwelche Aktivitäten gab. Türen, die geöffnet wurden, Lichter, die angingen, irgendwas."
„Ich versuche es."
Lena ging hinaus auf den Vorplatz. Die Nacht war kalt, und ihr Atem bildete kleine Wolken in der Luft. Sie zog ihr Handy heraus und rief Oberkommissar Reiter an.
„Graf", meldete sie sich.
„Lena. Wie sieht es aus?"
„Kompliziert. Die Witwe hat zugegeben, zur Tatzeit hier gewesen zu sein. Aber sie bestreitet den Mord."
„Glaubst du ihr?"
„Ich weiß nicht. Ihr Alibi hat Lücken, aber es könnte stimmen. Ich brauche mehr Zeit."
„Die Zeit läuft ab. Die Presse hat Wind davon bekommen. Morgen früh wird die Geschichte in allen Zeitungen stehen."
„Ich weiß. Ich arbeite so schnell ich kann."
„Gut. Halt mich auf dem Laufenden."
Lena beendete das Gespräch und steckte das Handy weg. Sie stand einen Moment still und atmete die kalte Luft ein. Der See lag ruhig vor ihr, eine schwarze, stille Fläche. Es war so friedlich hier, so weit weg von der Welt. Aber unter dieser friedlichen Oberfläche lauerte etwas Dunkles, etwas Böses.
Sie dachte an Elias Vogt, an seinen arroganten Charakter, an seine Obsession mit Kontrolle. Er hatte eine künstliche Intelligenz erschaffen, die auf Emotionen reagierte, die manipuliert werden konnte. Er hatte Menschen benutzt und fallen gelassen. Er hatte seine Frau betrogen, seinen Partner verraten, seine Geliebte manipuliert.
Und jemand hatte ihm dafür den Tod gegeben.
Aber wer?
Lena kehrte ins Haus zurück. Stein stand im Arbeitszimmer, den Blick auf seinen Laptop gerichtet.
„Haben Sie etwas gefunden?", fragte Lena.
„Vielleicht. Nach dem Ruhemodus gibt es keine Aufzeichnungen mehr. Aber es gibt Systemprotokolle. Um 1:23 Uhr wurde die Hintertür geöffnet."
„Die Hintertür? Wo ist die?"
„In der Küche. Sie führt zum Garten."
Lena eilte in die Küche. Die Hintertür war eine große Glasschiebetür, die auf eine Terrasse führte. Sie war verschlossen. Lena betrachtete das Schloss. Es war ein elektronisches Schloss, gesteuert von Athena.
„Wer kann diese Tür öffnen?", fragte sie.
„Jeder mit einem Zugangscode", sagte Stein hinter ihr. „Oder jemand, der drinnen ist und den Knopf drückt."
„Clara war um diese Zeit schon weg. Sie war auf dem Weg zurück nach München."
„Dann war jemand anders im Haus."
Lena öffnete die Tür und trat hinaus auf die Terrasse. Der Garten lag dunkel vor ihr. Sie schaltete die Taschenlampe ihres Handys ein und leuchtete über den Rasen. Nichts. Keine Spuren, keine Hinweise.
Sie ging weiter, den Weg entlang zum See. Der Kies knirschte unter ihren Schuhen. Die Luft roch nach Wasser und nassem Laub. Als sie das Ufer erreichte, blieb sie stehen und leuchtete über die Fläche.
Und dann sah sie es.
Am Rand des Sees, halb im Wasser, lag etwas. Ein dunkler Gegenstand, der im Lichtkegel ihrer Taschenlampe glänzte.