Schwarze Donau - Danilo Sieren - E-Book

Schwarze Donau E-Book

Danilo Sieren

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Schwarze Donau – Budapest Protokolle Band 1 Budapest, Herbst 2025: Unter der glänzenden Oberfläche der Donaumetropole brodelt ein Netz aus Korruption, Verrat und Machtspielen. Als während einer Opernaufführung ein EU-Diplomat stirbt, geraten der ehemalige Polizeipsychologe Miklós Varga und seine Tochter Anna, eine unbequeme Journalistin, in einen Strudel aus politischen Intrigen, dunkler Vergangenheit und tödlichen Geheimnissen. Während Varga gegen seine eigene Geschichte als DDR-Verhörspezialist kämpft, stößt Anna auf ein geheimes Netzwerk, das seit Jahrzehnten die Geschicke Europas lenkt – und vor nichts zurückschreckt, um seine Macht zu sichern. Gemeinsam geraten sie ins Fadenkreuz von Gegnern, die keine Fehler verzeihen. Zwischen den Ufern der Donau, in den Schatten Budapests und den Machtzentren Europas kämpfen sie um Wahrheit, Gerechtigkeit – und ihr Überleben. „Schwarze Donau“ ist ein atmosphärischer Politthriller über Schuld, Verrat und die Frage, was es heute bedeutet, ein Mensch zu sein.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 507

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Ouvertüre in Blut

Kapitel 2 – Der Mann im Schatten

Kapitel 3 – Die Rückkehr

Kapitel 4 – Die erste Spur

Kapitel 5 – Die Tochter

Kapitel 6 – Der zweite Mord

Kapitel 7 – Die Einladung

Kapitel 8 – Der Mann mit dem Regenschirm

Kapitel 9 – Die Akte Szalai

Kapitel 10 – Verfolgung unter der Erde

Kapitel 11 – Der Junge mit dem Code

Kapitel 12 – Das Verhör

Kapitel 13 – Die Villa in Buda

Kapitel 14 – Die Liste

Kapitel 15 – Der Verrat

Kapitel 16 – Die Tochter verschwindet

Kapitel 17 – Die Stimme aus dem Thermalbad

Kapitel 18 – Die Ministerin

Kapitel 19 – Die Vergangenheit

Kapitel 20 – Der Finanzier

Kapitel 21 – Die Entscheidung

Kapitel 22 – Der Austausch

Kapitel 23 – Der Drahtzieher

Kapitel 24 – Die Wahrheit

Kapitel 25 – Die Tochter spricht

Kapitel 26 – Die letzte Nacht

Kapitel 27 – Der Abschied

Kapitel 28 – Das Dossier

Kapitel 29 – Die Donau

Kapitel 30 – Schwarze Donau

Kapitel 31: Impressum

Danilo Sieren

Württembergerstr.44

44339 Dortmund

Prolog – Nullpunkt

Budapest, Winter 1943.

Ein Keller unter dem Innenministerium. Die Wände feucht, die Luft schwer. Drei Männer sitzen an einem Tisch, der aus rohem Holz besteht. Kein Papier. Kein Licht. Nur ein Emblem, eingeritzt in die Tischplatte: ein Kreis mit einem vertikalen Strich. Kein Name. Kein Protokoll. Nur ein Satz, der nicht laut gesprochen wird:

„Was nicht existiert, kann nicht verraten werden.“

Der Mann in der Mitte trägt keinen Rang, keine Uniform. Aber er spricht. Und die anderen hören zu. Es geht nicht um Krieg. Es geht um Struktur. Um das, was bleibt, wenn Systeme fallen. Um das, was spricht, wenn niemand mehr spricht.

Budapest, Herbst 2025.Die Stadt ist dieselbe. Und doch nicht. Die Fassaden glänzen, die Cafés sind voll, die Oper spielt Verdi. Aber unter der Oberfläche: Risse. Stimmen. Bewegungen, die nicht registriert sind. Ein Mann stirbt in der Staatsoper. Kein Blut. Kein Schrei. Nur ein Symbol unter seinem Schuh.

Ein Kreis. Ein Strich.Ein Nullpunkt

„Die Wahrheit beginnt nicht mit Licht.Sie beginnt mit Schweigen.“

Kapitel 1 – Ouvertüre in Blut

Die Staatsoper von Budapest roch nach altem Samt und neuer Macht. Katalin Németh atmete beides ein, während sie durch den Marmorkorridor zum Foyer schritt, die Absätze ihrer Schuhe ein rhythmisches Staccato auf dem polierten Stein. Das Gebäude selbst schien zu atmen – ein Organismus aus Stuck und Schatten, aus Habsburg-Gold und LED-Beleuchtung, aus Geschichte und dem verzweifelten Versuch, sie zu vergessen.

Die Premiere von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg" war ein gesellschaftliches Ereignis. Nicht wegen der Musik – die kannten die wenigsten der geladenen Gäste –, sondern wegen der Gästeliste. EU-Diplomaten in italienischen Anzügen. Ungarische Minister mit ihren deutlich jüngeren Begleiterinnen. Journalisten, die sich als Kulturinteressierte tarnten. Und Geschäftsleute, deren Gesichter man aus den Wirtschaftsnachrichten kannte, deren Namen aber nie in offiziellen Dokumenten auftauchten.

Katalin gehörte zur letzten Kategorie.

Sie trug ein schwarzes Kleid von einem Designer, dessen Namen sie sich nie merken konnte, und eine Perlenkette, die echt genug aussah, um Fragen zu vermeiden. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten gebunden, ihr Lächeln einstudiert und dosiert. Sie war vierundvierzig Jahre alt und sah aus wie achtunddreißig – nicht durch Chirurgie, sondern durch die Disziplin einer Frau, die gelernt hatte, dass Kontrolle die einzige Währung war, die niemals an Wert verlor.

„Frau Németh." Ein Mann in Uniform – Security, privat, nicht staatlich – nickte ihr zu und öffnete eine Tür zum VIP-Bereich. Sie dankte nicht. Dankbarkeit war eine Form der Schwäche.

Das Foyer füllte sich. Champagner wurde gereicht, Gespräche geführt, Allianzen geknüpft. Katalin nahm ein Glas, trank nicht davon, beobachtete. Ein Spiel, das sie beherrschte. Sie erkannte den deutschen Botschafter im Gespräch mit einem ungarischen Staatssekretär – beide lächelnd, beide lügend. Sie sah einen österreichischen Geschäftsmann, der vor drei Monaten eine Softwarefirma in Budapest aufgekauft hatte, und neben ihm eine Frau, die zu jung war, um seine Tochter zu sein, und zu teuer gekleidet, um seine Assistentin zu sein.

Und dann sah sie ihn.

Marcus Hellwig. EU-Sonderbeauftragter für regionale Entwicklungsprogramme. Ein Titel, der nach Bürokratie klang und nach Langeweile, aber Katalin wusste es besser. Hellwig war ein Schleusenwärter. Er entschied, welche Projekte finanziert wurden, welche Firmen Zugang bekamen, welche Namen in den Verträgen auftauchten. Er war nicht mächtig im klassischen Sinne – er hatte keine Armee, keine Partei, keinen Wahlkreis. Aber er hatte etwas Wertvolleres: Zugang zu Informationen und die Fähigkeit, sie zu ignorieren.

Er stand am Rand des Foyers, ein Glas Sekt in der Hand, und unterhielt sich mit einer Gruppe von Menschen, die Katalin nicht kannte. Hellwig war Ende fünfzig, schlank, mit einem Gesicht, das jemand einmal als „intellektuell" beschrieben hatte, was eigentlich nur bedeutete, dass er eine Brille trug und selten lächelte. Sein Anzug war teuer, aber nicht auffällig. Seine Bewegungen präzise, aber nicht steif.

Katalin beobachtete ihn für einen Moment länger, als professionell gewesen wäre. Dann wandte sie sich ab.

Die Glocke läutete. Erster Akt.

Der Zuschauerraum der Staatsoper war eine Kathedrale des Sehens und Gesehenwerdens. Die Ränge stiegen steil an, jede Loge ein eigener Palast aus rotem Samt und vergoldetem Holz. Die Decke prangte mit Fresken – Götter, Musen, allegorische Figuren, die niemand mehr identifizieren konnte, aber alle bewunderten. Das Licht dimmte sich, und mit ihm verstummten die Gespräche. Nicht sofort, nicht vollständig, aber genug, um die Illusion von Kultur zu wahren.

Katalin saß in der vierten Reihe des Parketts. Gute Sicht, aber nicht zu exponiert. Hellwig saß drei Reihen weiter vorn, rechts außen, in einer Loge, die für diplomatische Gäste reserviert war. Sie konnte seinen Hinterkopf sehen, die Art, wie er sich gelegentlich zu seiner Begleiterin – einer blonden Frau, wahrscheinlich vom österreichischen Kulturministerium – hinüberbeugte und etwas flüsterte.

Die Ouvertüre begann.

Bartók. Düster, dissonant, eine Musik, die nicht gefallen wollte, sondern verstören, die nicht tröstete, sondern bloßstellte. Die Geschichte von Blaubart und Judith, von verschlossenen Türen und blutigen Geheimnissen, von einer Frau, die wissen wollte, was ihr Mann verbarg, und von einem Mann, der sie warnte – und ihr trotzdem die Schlüssel gab. Eine Oper, die Budapest liebte, weil sie ungarisch war, und hasste, weil sie die Wahrheit sagte.

Katalin schloss die Augen. Sie hörte nicht wirklich zu. Sie dachte an das Treffen morgen früh. An die Verträge, die unterschrieben werden mussten. An die Namen, die auftauchen würden, und die Namen, die verschwinden mussten. An die Balance zwischen Diskretion und Effizienz. An das, was ihr Vater ihr beigebracht hatte, bevor er starb: In Budapest gibt es keine Geheimnisse. Nur unterschiedlich teure Informationen.

Auf der Bühne öffnete Judith die erste Tür.

Der Mord geschah während des zweiten Akts.

Später, als die Polizei die Videoaufnahmen analysierte, würde sie feststellen, dass der entscheidende Moment zwischen Minute 37 und Minute 39 stattgefunden haben musste. Aber das war später. In dem Moment, als es passierte, bemerkte es niemand.

Marcus Hellwig saß still in seiner Loge. Er atmete. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Seine Hand lag auf der Armlehne. Seine Augen waren geöffnet. Er sah aus wie jemand, der der Musik zuhörte – konzentriert, aber nicht fasziniert. Seine Begleiterin neben ihm tippte diskret auf ihr Smartphone, ein Verhalten, das kulturell inakzeptabel, aber politisch notwendig war.

Niemand schrie. Niemand stand auf. Die Musik spielte weiter.

Es gab keinen Knall, kein Geräusch, keine Unterbrechung. Nur einen Mann, der da saß, und dann, nach einer Zeit, die niemand genau bestimmen konnte, nicht mehr atmete.

Die Entdeckung erfolgte erst nach der Pause.

Katalin stand im Foyer, das Champagnerglas immer noch in der Hand, immer noch unangetastet. Die Pause war ein Ritual – Gespräche wurden fortgesetzt, Kontakte geknüpft, Meinungen ausgetauscht. Sie unterhielt sich mit einem Vertreter des polnischen Außenministeriums über ein Infrastrukturprojekt, das beide für sinnlos hielten, aber aus unterschiedlichen Gründen unterstützten.

„Na jó, wir sprechen morgen weiter", sagte der Pole in gebrochenem Ungarisch und lächelte höflich.

Katalin nickte. Dann hörte sie die Stimme.

Erst leise, dann lauter. Nicht Panik, aber Dringlichkeit. Ein Sicherheitsmann sprach in sein Funkgerät. Ein anderer bewegte sich schnell, aber kontrolliert in Richtung der Logen. Katalin sah, wie sich Köpfe drehten, wie Gespräche stockten. Etwas war falsch.

Sie stellte ihr Glas ab und ging zur Treppe. Niemand hielt sie auf. Sie gehörte zu den Menschen, die überall hingehen konnten, weil niemand genau wusste, wer sie war, aber alle spürten, dass sie wichtig war.

Die Loge war abgesperrt. Ein Vorhang, hastig zugezogen. Zwei Sicherheitsleute standen davor, Gesichter angespannt. Katalin blieb in angemessener Entfernung stehen, nahe genug, um zu sehen, weit genug, um nicht aufzufallen.

Durch einen Spalt im Vorhang sah sie ihn.

Marcus Hellwig saß immer noch auf seinem Platz. Die Haltung unverändert. Die Augen offen. Aber etwas an ihm war anders. Nicht seine Position, nicht seine Kleidung. Es war die Abwesenheit – von Bewegung, von Spannung, von Leben.

Etwas in Katalins Brustkorb zog sich zusammen. Keine Panik. Kein Schock. Nur eine körperliche Reaktion – ein Ruck, kurz und unwillkürlich, als hätte jemand an einem unsichtbaren Faden gezogen. Ihre Hand umfasste die Handtasche fester. Sie spürte, wie ihre Fingernägel in das Leder drückten.

Dann atmete sie aus. Langsam. Kontrolliert.

Sie drehte sich um und ging zurück ins Foyer.

Die Polizei traf innerhalb von zwölf Minuten ein. Keine Sirenen – das war eine Anweisung von oben. Keine Panik, keine Aufmerksamkeit, keine internationalen Schlagzeilen. Die Gäste wurden gebeten, den Saal zu verlassen. Höflich, aber bestimmt. Ein medizinischer Notfall, hieß es. Niemand glaubte es, aber alle taten so.

Katalin verließ die Oper zusammen mit den anderen. Draußen, auf der Andrássy-Straße, war es kühl, und die Luft trug jenen eigenartigen Geruch, der Budapest im Herbst prägte – eine Mischung aus Regen, der noch nicht gefallen war, aus Abgasen der wartenden Taxis und dem fernen, süßlichen Aroma von Kastanien, die jemand am Straßenrand röstete. Menschen standen in Gruppen, rauchten, flüsterten. Einige wirkten schockiert. Die meisten wirkten genervt.

Katalin ging zu Fuß. Ihr Hotel war nicht weit, aber sie brauchte die Bewegung, den Raum zum Denken, die Distanz zwischen dem, was sie gesehen hatte, und dem, was sie daraus machen musste. Die Stadt um sie herum war laut – Straßenbahnen ratterten vorbei, Gespräche in verschiedenen Sprachen überlappten sich, Musik drang aus offenen Fenstern. Aber in ihrem Kopf war es still.

Hellwig war tot. Das bedeutete etwas. Sie wusste nur noch nicht, was.

Als sie ihr Hotel erreichte – ein diskretes Haus in einer Seitenstraße, keine internationale Kette, kein Name über der Tür –, blieb sie einen Moment vor dem Eingang stehen. Sie sah zurück in Richtung Oper, obwohl das Gebäude von hier aus nicht zu sehen war. Nur die Lichter der Stadt, die sich gegen den Nachthimmel drückten. Nur die Schatten zwischen den Fassaden.

Sie dachte an Hellwigs Gesicht. An die Art, wie er dagesessen hatte – aufrecht, präsent, tot. Und sie dachte an etwas, das ihr Vater einmal gesagt hatte, kurz bevor er starb: In dieser Stadt stirbt niemand zufällig.

Katalin atmete aus, öffnete die Tür und ging hinein.

Am anderen Ufer der Donau, in einer stillen Wohnung mit Blick auf den Fluss, saß ein Mann und las.

Die Nachricht erreichte Dr. Miklós Varga um 23:47 Uhr.

Er saß in seiner Wohnung am Donauufer, ein Glas Rotwein in der Hand, und las. Dasselbe Buch, das er seit Wochen las und nicht beenden konnte – Pessoa, „Das Buch der Unruhe". Eine Lektüre für Menschen, die zu viel Zeit hatten und zu wenig Frieden.

Neben dem Buch lag ein Foto. Varga hatte es heute Nachmittag aus einer Schublade genommen – ohne Grund, ohne Plan. Es zeigte ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, mit dunklen Haaren und einem Lächeln, das zu groß für ihr Gesicht war. Anna. Seine Tochter. Das Foto war alt, die Farben verblasst. Er wusste nicht, warum er es heute angesehen hatte. Vielleicht, weil der Herbst begonnen hatte. Vielleicht, weil die Stadt stiller geworden war. Oder vielleicht, weil Erinnerungen keine Erlaubnis brauchten.

Das Telefon klingelte. Eine unbekannte Nummer. Varga überlegte, nicht abzunehmen. Dann tat er es doch.

„Varga."

„Jó estét, Herr Doktor." Die Stimme war männlich, jung, unsicher. „Hier spricht Hauptkommissar Török, Budapester Kriminalpolizei. Entschuldigen Sie die späte Stunde."

Varga sagte nichts. Er wartete, während draußen eine Straßenbahn vorbeifuhr und das Fenster leicht vibrierte.

„Es ist... es gab einen Vorfall heute Abend. In der Staatsoper. Ein Mann ist gestorben. EU-Diplomat. Die Umstände sind... unklar."

„Und was hat das mit mir zu tun?" Vargas Stimme war leise, beinahe gelangweilt, aber seine Augen hatten sich auf das Foto vor ihm verengt – auf das Gesicht seiner Tochter, das ihn ansah aus einer Zeit, die nicht zurückkam.

Török räusperte sich. „Mein Vorgesetzter, Kommissar Bálint, hat Ihren Namen genannt. Er meinte, Sie könnten... helfen."

„Ich bin im Ruhestand."

„Das ist uns bewusst. Aber Kommissar Bálint hat darauf bestanden, dass—"

„Gute Nacht, Hauptkommissar."

Varga legte auf.

Er ließ den Wein stehen, schob das Glas zur Seite, und sah hinaus auf die Donau. Der Fluss war schwarz in der Nacht, eine glänzende, bewegungslose Fläche, die das Licht der Stadt aufnahm und verschluckte. Auf der anderen Seite lag Buda, die Hügel dunkel, die Burg beleuchtet wie ein Denkmal für etwas, das niemand mehr verstand.

Sein Blick fiel wieder auf das Foto. Anna. Zehn Jahre alt, mit einem Lächeln, das zu groß für ihr Gesicht war und gleichzeitig zu echt, um je wiederzukommen. Heute war sie... wie alt? Dreißig? Einunddreißig? Er wusste es nicht genau. Er hatte den Kontakt verloren – oder aufgegeben, je nachdem, wie man es sah. Sie lebte irgendwo in dieser Stadt. Vielleicht in Pest, vielleicht in einem der neuen Viertel. Vielleicht hatte sie eine Wohnung mit Balkon, vielleicht einen Freund, vielleicht einen Beruf, der sie erfüllte. Oder vielleicht nicht.

Er wusste es nicht. Und das war seine Schuld.

Es gab Dinge, die man nicht begraben konnte. Varga hatte das gelernt – nicht durch Bücher, nicht durch Gespräche, sondern durch die stille, beharrliche Art, mit der die Vergangenheit zurückkam. Nicht laut. Nicht dramatisch. Nur präsent. Wie ein Schatten, der sich auch bei geschlossenen Augen auf die Innenseite der Lider legte.

Varga kannte diesen Blick auf die Donau. Er hatte ihn jeden Abend gesehen, seit er zurückgekommen war. Seit er sich geschworen hatte, nie wieder in das alte Leben zurückzukehren.

Das Telefon klingelte erneut.

Varga sah auf das Display. Dieselbe Nummer.

Er nahm nicht ab.

Aber er wusste, dass er es bald tun würde.

Am nächsten Morgen würde die Stadt anders riechen. Nach Druckerschwärze und Gerüchten.

Am nächsten Morgen stand die Nachricht in allen Zeitungen.

„EU-Diplomat stirbt während Opernaufführung – Polizei ermittelt"

Die Details waren spärlich. Name, Funktion, Todeszeitpunkt. Keine Todesursache. Keine Verdächtigen. Nur die üblichen Phrasen: Die Ermittlungen laufen. Weitere Informationen folgen.

Anna Varga las den Artikel auf ihrem Smartphone, während sie in der Straßenbahn zur Redaktion fuhr. Sie war Journalistin bei einer kleinen, unabhängigen Zeitung – dem Budapest Observer, einem Blatt, das zu wenig Leser hatte und zu viele Feinde. Anna schrieb über Korruption, über EU-Gelder, die verschwanden, über Verträge, die nie veröffentlicht wurden. Sie war gut in dem, was sie tat. Und sie hatte gelernt, misstrauisch zu sein.

Ein Diplomat stirbt während einer Opernaufführung. Keine Todesursache. Das war ungewöhnlich. Das war eine Geschichte.

Anna speicherte den Artikel und öffnete eine neue Notiz auf ihrem Handy.

Hellwig, Marcus. EU-Sonderbeauftragter. Tot. Staatsoper. Keine offizielle Todesursache → warum?

Wer war in der Loge? Wer hat ihn als Letztes lebend gesehen?

Kameraaufnahmen? Sicherheitsprotokolle?

Sie tippte schnell, präzise, gewohnt. Dann lehnte sie sich zurück und sah aus dem Fenster. Die Straßenbahn fuhr über die Margaretenbrücke. Die Donau glitzerte in der Morgensonne, ein täuschend friedliches Bild.

Anna dachte an ihren Vater. An den Mann, den sie für tot gehalten hatte. An den Mann, von dem sie jetzt wusste, dass er irgendwo in dieser Stadt lebte. Versteckt. Schweigend.

Sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Sie hatte aufgehört, nach ihm zu suchen.

Aber jetzt, in diesem Moment, mit diesem Artikel auf ihrem Handy und diesem Gefühl im Bauch – diesem Gefühl, das Journalisten hatten, wenn sie wussten, dass eine Geschichte größer war, als sie aussah –, dachte sie: Vielleicht ist es Zeit.

Die Straßenbahn hielt. Anna stieg aus und ging zur Arbeit.

Im Präsidium begann der Tag mit einem Bericht, der mehr Fragen stellte als beantwortete.

Das Polizeipräsidium von Budapest lag in einem brutalistischen Betonbau aus den Siebzigerjahren, ein Gebäude, das aussah wie ein Verwaltungsakt – funktional, seelenlos, grau. Kommissar Bálint saß in seinem Büro im dritten Stock und starrte auf den Bericht, den ihm die Gerichtsmedizin geschickt hatte.

Todesursache: Vorläufig unbestimmt. Keine äußeren Verletzungen. Keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Toxikologie ausstehend.

Bálint war zweiundfünfzig Jahre alt, hatte eine Tochter im Studium und eine Frau, die ihn nicht mehr liebte, aber auch nicht verließ. Er trug billige Anzüge und teure Uhren – ein Widerspruch, den er selbst nicht verstand. Er war kein schlechter Polizist. Aber er war auch kein mutiger.

Ein Diplomat tot. In der Staatsoper. Vor Hunderten von Zeugen. Und niemand hatte etwas gesehen.

Das war nicht normal.

Bálint griff zum Telefon und wählte eine interne Nummer.

„Török. Gyere be." Komm rein.

Zwei Minuten später stand der junge Hauptkommissar vor ihm. Török war dreißig, ehrgeizig, und hatte den Fehler gemacht, Jura zu studieren, bevor er zur Polizei ging. Das machte ihn gefährlich – er dachte zu viel nach.

„Der Mann aus dem Ruhestand", sagte Bálint. „Varga. Haben Sie ihn erreicht?"

„Er hat aufgelegt."

„Versuchen Sie es noch einmal."

„Er war ziemlich klar—"

„Török." Bálint sah ihn an. „Versuchen Sie es noch einmal. Und wenn er wieder auflegt, fahren Sie zu ihm. Persönlich."

Török nickte. „Darf ich fragen, warum ausgerechnet Varga?"

Bálint lehnte sich zurück. „Weil er Dinge sieht, die wir nicht sehen. Weil er Menschen lesen kann wie andere Akten lesen. Und weil..." Er zögerte. „Weil wir jemanden brauchen, der nicht Teil des Systems ist."

„Er war Teil des Systems."

„Igen", sagte Bálint leise. „Aber er ist ausgestiegen."

Und so kehrte ein Mann zurück, der nie hatte zurückkehren wollen.

Varga stand am Fenster und sah hinaus auf die Donau.

Die Sonne war aufgegangen, aber die Stadt lag noch im Halbschatten. Budapest war schön am Morgen – eine Schönheit, die täuschte, die verhüllte, was unter der Oberfläche lag. Varga kannte diese Stadt. Er hatte hier gelebt, gearbeitet, gelitten. Er hatte hier Menschen verhört, Akten gelesen, Wahrheiten aufgedeckt, die niemand hören wollte. Und dann war er gegangen.

Zwölf Jahre lang.

Jetzt war er zurück. Nicht freiwillig. Nicht triumphierend. Er war zurückgekehrt, weil es keinen anderen Ort mehr gab, an den er hätte gehen können. Weil die Vergangenheit keine Grenzen respektierte.

Das Telefon lag auf dem Tisch. Varga sah es an, als wäre es ein Tier, das jeden Moment springen könnte.

Er dachte an den Anruf gestern Nacht. An die Stimme des jungen Hauptkommissars. An den Namen, der gefallen war: Bálint.

Bálint. Ein Mann, den Varga kannte. Ein Mann, der damals – vor zwölf Jahren – noch Oberkommissar gewesen war und Varga nie gemocht hatte. Aber respektiert. Aus Distanz.

Wenn Bálint anrief, bedeutete das etwas.

Varga ging in die Küche, setzte Wasser auf, bereitete Kaffee zu. Ritualisierte Bewegungen. Kontrolle. Er trank den Kaffee schwarz, ohne Zucker, und setzte sich an den Tisch. Vor ihm lagen Bücher – Philosophie, Psychologie, Literatur. Keine Kriminalfälle. Keine Akten. Keine Vergangenheit.

Daneben lag immer noch das Foto von Anna. Er hatte es heute Morgen nicht weggeräumt. Ein Fehler. Oder eine Absicht.

Das Telefon klingelte.

Varga nahm ab.

„Varga."

„Herr Doktor. Török. Bocsánat, dass ich noch einmal—" Entschuldigung.

„Ich habe gestern Nacht Nein gesagt."

„Értem. Ich verstehe. Aber... dürfte ich vorbeikommen? Nur für ein Gespräch. Zehn Minuten."

Varga schwieg.

„Kommissar Bálint hat gesagt, es sei... dringend."

„Alles ist immer dringend", sagte Varga leise. „Bis es das nicht mehr ist."

„Kérem." Bitte.

Varga schloss die Augen. Er sah Anna vor sich. Seine Tochter. Die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die in dieser Stadt lebte, arbeitete, atmete. Die nicht wusste, dass er zurück war. Die ihn für tot hielt. Oder schlimmer – für lebendig, aber verschwunden.

„Geben Sie mir die Adresse des Präsidiums", sagte Varga schließlich.

„Sie kommen?"

„Ich komme vorbei. Einmal. Für zehn Minuten."

Er legte auf, bevor Török antworten konnte.

Die Fahrt zum Präsidium dauerte zwanzig Minuten. Varga nahm die Straßenbahn – er besaß kein Auto, und Taxis waren zu persönlich, zu sehr Gespräch, zu sehr Blickkontakt im Rückspiegel. Er saß am Fenster und beobachtete die Stadt, die an ihm vorbeizog wie ein Film, den er schon kannte, aber nie ganz verstanden hatte. Budapest im späten Vormittag: Touristen mit Stadtplänen, Geschäftsleute mit Smartphones, Rentner mit schweren Einkaufstaschen, die sich auf die Stufen der Trams mühten. Eine Stadt, die funktionierte, die lebte, die sich bewegte. Aber unter der Oberfläche – Varga kannte das – lag etwas anderes. Etwas, das nicht verschwunden war, nur weil die Mauer gefallen war. Etwas, das sich angepasst hatte, transformiert, weiterentwickelt. Wie ein Organismus, der gelernt hatte, im Verborgenen zu überleben.

Das Polizeipräsidium sah aus wie immer. Varga stieg aus, ging zur Eingangstür, zeigte seinen alten Ausweis – ein Relikt, das er nicht weggeworfen hatte, aus Gründen, die er sich selbst nicht erklären konnte. Der Wachmann sah ihn an, nickte, ließ ihn durch.

Török wartete im Foyer. Jung, nervös, zu gut gekleidet für einen Polizisten. Varga musterte ihn schweigend.

„Herr Doktor. Köszönöm, dass Sie gekommen sind." Danke.

Varga nickte. Keine Begrüßung. Keine Höflichkeit. Nur Präsenz.

„Kommissar Bálint erwartet Sie."

Sie gingen durch Korridore, die Varga kannte. Die Wände waren neu gestrichen, die Beleuchtung moderner. Aber die Struktur war dieselbe. Er hatte diese Wege hundertmal gegangen. Damals, als er noch hierhergehört hatte.

Bálints Büro lag im dritten Stock. Török klopfte, öffnete die Tür.

Bálint stand hinter seinem Schreibtisch. Er hatte zugenommen, Falten um die Augen, graue Haare. Aber sein Blick war derselbe – scharf, misstrauisch, müde.

„Varga."

„Bálint."

Ein Moment Stille. Dann deutete Bálint auf einen Stuhl.

„Ülj le." Setz dich.

Varga setzte sich. Bálint blieb stehen.

„Sie wissen, warum Sie hier sind."

„Ein toter Diplomat."

„Ein toter EU-Sonderbeauftragter. Während einer Opernaufführung. Vor Hunderten von Zeugen. Und niemand hat etwas gesehen."

„Herzinfarkt?"

„Toxikologie läuft. Vorläufig keine Todesursache. Keine äußeren Verletzungen. Keine Anzeichen von Gewalt."

„Dann ist es kein Fall."

Igen", sagte Bálint leise. Doch. „Es ist ein Fall. Weil die Kameraaufnahmen fehlen.

Varga hob den Blick. „Fehlen?"

„Manipuliert. Professionell. Die Aufnahmen aus der Loge existieren nicht. Die Aufnahmen aus dem Korridor zeigen nichts. Es ist, als hätte jemand... geplant."

Varga schwieg.

Bálint setzte sich. „Ich brauche Sie, Varga. Nicht als Beamten. Als... Berater."

„Ich bin im Ruhestand."

„Das haben Sie gestern Nacht auch gesagt."

„Und es stimmt immer noch."

Bálint lehnte sich zurück. „Sie kennen diese Stadt. Sie kennen die Menschen. Sie wissen, wie die Dinge hier funktionieren. Und Sie haben kein Interesse daran, niemandem zu gefallen."

„Das stimmt."

„Also helfen Sie mir."

Varga sah ihn an. Lange. Dann sagte er: „Zeigen Sie mir die Akte."

Kapitel 2 – Der Mann im Schatten

Die Akte lag auf dem Tisch wie ein geschlossenes Urteil.

Varga saß in Bálints Büro und starrte auf den braunen Umschlag, der zwischen ihnen lag – ungeöffnet, schwer, als wöge er mehr als nur Papier. Draußen, hinter den Fenstern, lag Budapest unter einem grauen Oktoberhimmel, der weder Regen versprach noch Sonne, nur diese unentschlossene Helligkeit, die nichts verbarg und nichts offenbarte. Die Stadt atmete weiter, gleichgültig gegenüber dem, was in diesem Raum geschah.

Bálint lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Hände gefaltet, und betrachtete Varga mit der Geduld eines Mannes, der gelernt hatte, dass Schweigen manchmal mehr sagte als Worte. Das Büro war klein, funktional, ohne persönliche Akzente. Keine Familienfotos auf dem Schreibtisch, keine Auszeichnungen an der Wand, keine Pflanzen am Fenster. Nur Aktenordner, ein Computer, der aussah, als stammte er aus einer anderen Dekade, und eine Kaffeemaschine, die leise vor sich hin gurgelte.

„Sie müssen es nicht lesen", sagte Bálint schließlich. Seine Stimme war ruhig, ohne Druck, aber auch ohne Nachgiebigkeit. „Sie können aufstehen und gehen. Niemand wird Sie aufhalten."

Varga sah nicht auf. Seine Augen blieben auf dem Umschlag gerichtet, auf die Aufschrift, die in nüchterner Druckschrift darauf prangte: Hellwig, Marcus. Vorfall 07.10.2025. Staatsoper Budapest.

„Aber wenn Sie die Akte nicht lesen", fuhr Bálint fort, „dann werden Sie sich fragen, was darin stand. Und Sie werden sich fragen, ob Sie hätten helfen können. Und diese Fragen..." Er machte eine Pause. „Diese Fragen beantwortet Ihnen niemand."

Varga atmete langsam aus. Er kannte dieses Gefühl – diese Schwere, die sich in der Brust ausbreitete, wenn man vor einer Entscheidung stand, die keine war. Weil die Entscheidung bereits getroffen worden war, lange bevor man in diesem Raum gesessen hatte. Lange bevor das Telefon geklingelt hatte.

„Erzählen Sie mir zuerst, was Sie wissen", sagte Varga leise. „Bevor ich lese. Damit ich weiß, ob es sich lohnt."

Bálint nickte. Er hatte mit dieser Antwort gerechnet. Er öffnete eine Schublade, zog eine zweite, dünnere Mappe hervor und legte sie auf den Tisch. Kein Umschlag diesmal. Nur lose Blätter, zusammengehalten von einer Büroklammer.

„Marcus Hellwig. Siebenundfünfzig Jahre alt. Deutscher Staatsbürger, wohnhaft in Brüssel. EU-Sonderbeauftragter für regionale Entwicklungsprogramme in Mittel- und Osteuropa. Verheiratet, zwei Kinder, beide erwachsen. Keine bekannten gesundheitlichen Probleme. Keine Vorstrafen. Keine Schulden." Bálint las die Fakten monoton ab, als würde er eine Einkaufsliste vorlesen. „Er war gestern Abend in der Staatsoper. Premiere von Bartóks 'Herzog Blaubarts Burg'. Diplomatische Veranstaltung, etwa dreihundert Gäste. Hellwig saß in Loge sieben, rechts, zweiter Rang. Begleitung: Dr. Ingrid Meier, österreichisches Kulturministerium."

„Und?" Varga hob den Blick.

„Und während des zweiten Akts hört er auf zu atmen."

„Herzinfarkt."

„Toxikologie sagt nein. Herz sagt nein. Lunge sagt nein. Gerichtsmedizin sagt..." Bálint machte eine Pause, als koste ihn das nächste Wort Mühe. „Unbestimmt."

Varga runzelte die Stirn. „Unbestimmt."

„Keine äußeren Verletzungen. Keine Einstichstellen. Keine Würgemale. Keine Anzeichen von Gift, zumindest nichts, was bei den ersten Tests aufgetaucht ist. Keine Spuren von Gewalt. Nur ein Mann, der aufhört zu leben."

„Das gibt es nicht."

„Doch", sagte Bálint leise. „Das gibt es. Und es wird noch seltsamer."

Er schob ein Foto über den Tisch. Varga nahm es in die Hand. Es zeigte Hellwig in seiner Loge, von der Seite aufgenommen – wahrscheinlich von einer Überwachungskamera. Der Mann saß aufrecht, die Hände auf den Armlehnen, den Blick zur Bühne gerichtet. Eine Position, die natürlich aussah, beinahe entspannt. Nur dass seine Augen offen waren. Zu offen.

„Dieses Foto", sagte Bálint, „wurde um 21:14 Uhr aufgenommen. Vier Minuten nach Beginn des zweiten Akts. Hellwig lebt noch. Seine Begleiterin sitzt neben ihm, tippt auf ihrem Handy. Niemand in der Loge bemerkt etwas Ungewöhnliches."

Er schob ein zweites Foto herüber. Dasselbe Bild. Derselbe Winkel. Aber die Zeitanzeige in der Ecke zeigte 21:16 Uhr.

„Zwei Minuten später. Hellwig sitzt immer noch da. Dieselbe Position. Aber wenn man genau hinsieht..." Bálint tippte auf das Foto. „Sehen Sie den Unterschied?"

Varga betrachtete das Bild lange. Dann nickte er langsam. „Sein Brustkorb bewegt sich nicht mehr."

„Exakt. Irgendwann zwischen diesen zwei Minuten hört er auf zu atmen. Niemand bemerkt es. Auch seine Begleiterin nicht. Sie sitzt direkt neben ihm und merkt nichts." Bálint lehnte sich zurück. „Die Entdeckung erfolgt erst in der Pause. Zwanzig Minuten später. Eine Platzanweiserin kommt in die Loge, um leere Gläser einzusammeln. Sie spricht Hellwig an. Er reagiert nicht. Sie berührt seine Schulter. Und dann beginnt sie zu schreien."

Varga legte das Foto ab. „Die Kameraaufnahmen."

„Fehlen." Bálints Stimme wurde härter. „Die Aufnahmen aus der Loge zwischen 21:00 und 21:30 Uhr sind korrupt. Die Dateien existieren, aber sie sind nicht abspielbar. IT sagt, das könnte ein technischer Defekt sein. Oder eine gezielte Manipulation."

„Und Sie glauben an Letzteres."

„Ich glaube an nichts", sagte Bálint. „Aber ich traue niemandem."

Varga schwieg. Er dachte nach – nicht über die Fakten, die waren klar genug, sondern über die Lücken dazwischen. Über das, was nicht gesagt wurde. Über das, was Bálint ihm nicht zeigte.

„Wer war noch in der Loge?" fragte Varga schließlich.

„Niemand. Nur Hellwig und Meier. Loge sieben ist klein, zwei Sitze. Mehr nicht."

„Wer saß in den angrenzenden Logen?"

Bálint zog eine Liste aus der Mappe. „Loge sechs: Ein britischer Geschäftsmann mit seiner Frau. Loge acht: Ein ungarischer Staatssekretär, allein. Beide haben nichts bemerkt. Beide wurden befragt. Beide haben Alibis für die gesamte Aufführung."

„Und Meier?"

„Dr. Ingrid Meier. Zweiundfünfzig Jahre alt. Kultur Attachée. Seit fünfzehn Jahren im Dienst. Verheiratet, keine Kinder. Sie sagt, sie habe nichts bemerkt, bis die Platzanweiserin geschrien hat. Sie habe auf ihr Handy gesehen, E-Mails beantwortet. Sie habe gedacht, Hellwig würde der Musik zuhören."

„Sie glauben ihr nicht."

Bálint zögerte. „Ich weiß es nicht. Sie wirkt ehrlich. Aber..." Er schüttelte den Kopf. „Es gibt da etwas. Etwas in ihrer Aussage. Sie sagt, Hellwig habe kurz vor Beginn des zweiten Akts etwas zu ihr gesagt. Etwas Seltsames."

„Was?"

„'Die Stadt spricht wieder.' Das war alles. Dann hat er sich zurückgelehnt und geschwiegen. Meier hat ihn gefragt, was er damit meine. Er hat nicht geantwortet."

Varga spürte, wie sich etwas in ihm anspannte. Ein Gefühl, das er lange nicht mehr gespürt hatte – oder zu spüren versucht hatte. Eine Resonanz. Ein Echo.

„Die Stadt spricht wieder", wiederholte er leise.

„Bedeutet Ihnen das etwas?"

Varga schüttelte den Kopf. Aber das war eine Lüge. Und beide Männer wussten es.

In einem anderen Teil der Stadt begann jemand, Fragen zu stellen.

Anna Varga saß in der Redaktion des Budapest Observer und starrte auf ihren Bildschirm. Um sie herum herrschte das übliche Chaos – Telefone klingelten, Kollegen diskutierten, jemand fluchte über eine verpasste Deadline. Die Redaktion befand sich im dritten Stock eines heruntergekommenen Gebäudes im siebten Bezirk, zwischen einem vietnamesischen Restaurant und einem Copyshop. Die Räume waren klein, die Decken niedrig, die Luft abgestanden. Aber es war ihr Raum. Ihr Chaos.

Vor ihr auf dem Bildschirm: drei offene Tabs.

Der erste zeigte den offiziellen Polizeibericht über Hellwigs Tod. Spärlich, vage, nichtssagend. Todesursache ungeklärt. Ermittlungen laufen. Der zweite Tab zeigte Hellwigs LinkedIn-Profil – eine sterile Zusammenfassung seines Lebenslaufs, gespickt mit Schlagworten wie nachhaltige Entwicklung, Infrastrukturpartnerschaften, grenzüberschreitende Kooperation. Worte, die viel sagten und nichts bedeuteten.

Der dritte Tab zeigte eine Liste von EU-Projekten, die Hellwig in den letzten fünf Jahren betreut hatte. Straßen in Polen, Brücken in Rumänien, Solaranlagen in der Slowakei. Milliarden von Euro, verteilt über Dutzende von Ländern, Hunderte von Firmen.

Und Budapest. Immer wieder Budapest.

Anna lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Sie hatte die halbe Nacht wachgelegen, hatte Artikel gelesen, Berichte durchsucht, Namen notiert. Hellwig war kein Unbekannter. Er war kein kleiner Beamter, den niemand kannte. Er war jemand, der Geld bewegte. Und Menschen, die Geld bewegten, starben nicht einfach während einer Opernaufführung.

„Du siehst scheiße aus."

Anna hob den Blick. Neben ihr stand Péter, ihr Kollege, ein Mann Mitte vierzig mit Bart, schütterem Haar und einer permanenten Skepsis, die ihm ins Gesicht gemeißelt war. Er trug denselben Pullover wie gestern – oder vielleicht einen ähnlichen, Anna konnte es nicht mehr unterscheiden.

„Guten Morgen, Péter."

„Es ist Nachmittag."

Anna sah auf die Uhr. 14:37. „Scheiße."

„Hast du überhaupt geschlafen?"

„Wenig."

Péter stellte eine Tasse Kaffee auf ihren Schreibtisch – schwarz, ohne Zucker, so wie sie ihn mochte. „Der Diplomat?"

„Hellwig. Ja."

„Und? Was hast du?"

Anna zögerte. Sie mochte Péter. Er war ein guter Journalist, einer der wenigen in dieser Redaktion, die nicht aufgegeben hatten. Aber sie arbeitete nicht gerne mit anderen zusammen. Nicht, weil sie niemanden vertraute – obwohl das auch eine Rolle spielte –, sondern weil sie es gewohnt war, allein zu sein. Allein zu denken. Allein zu recherchieren.

„Ich habe Fragen", sagte sie schließlich.

„Fragen sind gut. Antworten sind besser."

„Die bekomme ich nicht. Nicht von der Polizei. Die sagen nichts."

„Natürlich sagen die nichts. Ein EU-Diplomat stirbt in der Staatsoper. Das ist politisch. Das ist heikel. Die werden sich Zeit lassen."

„Zu viel Zeit." Anna tippte auf den Bildschirm. „Sieh dir das an. Hellwig war für Infrastrukturprojekte zuständig. Er hat Gelder verwaltet. Milliarden. Und er war oft in Budapest. Sehr oft."

Péter beugte sich über ihren Bildschirm. „Und?"

„Und die Frage ist: Warum?"

„Weil Budapest ein Knotenpunkt ist. Weil hier Projekte laufen."

„Welche Projekte?" Anna öffnete ein neues Fenster, zeigte eine Liste. „Hier. Die letzten drei Jahre. Acht offizielle Besuche. Jedes Mal ohne große Ankündigung. Jedes Mal ohne Pressekonferenz. Er kommt, er trifft Leute, er geht."

„Wen trifft er?"

„Das weiß ich nicht. Es gibt keine offiziellen Protokolle. Keine Pressemitteilungen. Nur..." Anna scrollte weiter. „Nur Gerüchte."

Péter richtete sich auf. „Was für Gerüchte?"

Anna zögerte. Sie hatte die Gerüchte in verschiedenen Foren gefunden, in Blogs, in verschlüsselten Chatgruppen. Nichts Handfestes. Nichts, was man veröffentlichen konnte. Aber genug, um misstrauisch zu werden.

„Leute sagen, Hellwig sei in Geschäfte verwickelt gewesen. Geschäfte, die nicht in offiziellen Berichten auftauchen. Immobilien. Firmenübernahmen. Konsortien."

„Das ist nichts Neues. Korruption gibt es überall."

„Ja. Aber..." Anna sah ihn an. „Die Leute, die darüber sprechen, verschwinden."

Péter schwieg. Dann lachte er – ein kurzes, trockenes Geräusch. „Verschwinden. Anna, das klingt nach einer schlechten Netflix-Serie."

„Vielleicht. Aber schau dir das an." Sie öffnete einen weiteren Tab. Ein Forum, ein Thread, der vor drei Monaten begonnen hatte. Der Titel lautete: Hellwig und die Budapester Verbindung.

Péter las. Der Thread war lang, chaotisch, voller Spekulationen. Aber zwischendurch tauchten Namen auf. Firmen. Adressen. Einer der User hatte eine Liste erstellt – Unternehmen, die in den letzten Jahren EU-Gelder erhalten hatten, alle mit Sitz in Budapest, alle mit undurchsichtigen Eigentümerstrukturen.

„Okay", sagte Péter langsam. „Das ist interessant. Aber es ist nicht genug. Du brauchst Beweise."

„Ich weiß."

„Und du brauchst Zugang. Zu den Akten. Zu den Verträgen."

„Ich weiß."

Péter sah sie an. „Und wie willst du das machen?"

Anna lächelte dünn. „Ich kenne jemanden bei der Polizei."

„Wer?"

„Ein Kontakt. Jemand, der mir schon mal geholfen hat."

„Ein Kontakt." Péter klang skeptisch. „Anna, wenn du mit der Polizei redest, dann—"

„Ich weiß, was ich tue."

„Das hast du schon mal gesagt. Und dann warst du drei Wochen im Krankenhaus."

Anna stand auf. „Das war etwas anderes."

„War es nicht."

Sie griff nach ihrer Jacke, stopfte ihr Handy in die Tasche. „Ich bin in ein paar Stunden zurück."

„Wohin gehst du?"

„Recherchieren."

Péter seufzte. „Pass auf dich auf."

„Immer."

Sie ging zur Tür, blieb dann stehen und drehte sich um. „Péter?"

„Ja?"

„Wenn ich in zwei Tagen nicht zurück bin..."

„Du kommst zurück."

Anna nickte. Dann ging sie.

Während Anna die Redaktion verließ, saß Varga immer noch in Bálints Büro und las. Und was er las, ließ die Vergangenheit auferstehen.

Die Akte war dünn. Zu dünn.

Varga blätterte durch die Seiten – Fotos, Zeugenaussagen, forensische Berichte, Protokolle. Alles ordentlich abgeheftet, alles korrekt formuliert, alles... leer. Es waren die Lücken, die ihm auffielen. Die Dinge, die nicht darin standen. Die Fragen, die nicht gestellt wurden.

„Wo ist die Liste der anderen Gäste?" fragte Varga, ohne aufzusehen.

„Im Anhang", sagte Bálint.

Varga schlug um. Die Liste war lang – Namen, Funktionen, Sitznummern. Er überflog sie, suchte nach Mustern, nach Auffälligkeiten. Die meisten Namen kannte er nicht. Diplomaten, Geschäftsleute, Politiker. Die üblichen Verdächtigen. Aber dann blieb sein Blick an einem Namen hängen.

Németh, Katalin. Reihe 4, Platz 12.

Varga hielt inne. Der Name bedeutete ihm nichts. Aber da war etwas. Ein Gefühl. Eine Ahnung.

„Wer ist Katalin Németh?" fragte er.

Bálint sah auf. „Warum?"

„Sie saß im Parkett. Gute Sicht auf die Loge. Vierte Reihe."

Bálint griff nach einer weiteren Mappe, blätterte darin. „Németh, Katalin. Vierundvierzig Jahre alt. Geschäftsfrau. Import-Export, soweit wir wissen. Sie wurde befragt. Kurze Aussage. Sie hat nichts Ungewöhnliches bemerkt. Sie hat Hellwig nicht gekannt."

„Import-Export", wiederholte Varga. „Das sagt alles und nichts."

„Sie ist sauber. Keine Vorstrafen. Keine Verbindungen zu Hellwig. Keine Auffälligkeiten."

„Haben Sie sie selbst befragt?"

„Nein. Török hat das übernommen."

Varga nickte langsam. Dann machte er sich eine Notiz auf einem der losen Blätter. Németh, Katalin. Überprüfen.

Er las weiter. Die Zeugenaussagen waren monoton. Niemand hatte etwas gesehen. Niemand hatte etwas gehört. Niemand hatte etwas bemerkt. Es war, als wäre Hellwig in einem Vakuum gestorben – umgeben von Menschen, aber völlig isoliert.

„Die Begleiterin", sagte Varga. „Meier. Wann haben Sie sie befragt?"

„Gestern Nacht. Direkt nach der Entdeckung."

„Und?"

„Sie war in Schock. Weinte. Konnte kaum sprechen. Wir haben ihr Zeit gegeben. Heute Morgen haben wir sie noch einmal befragt. Diesmal ruhiger. Kohärenter."

„Und sie sagt, sie habe nichts bemerkt."

„Richtig."

„Das ist unmöglich."

Bálint lehnte sich vor. „Warum?"

„Weil man merkt, wenn jemand neben einem stirbt. Man merkt, wenn die Atmung stoppt. Man merkt, wenn sich die Körperspannung verändert. Auch wenn man nicht hinsieht, auch wenn man abgelenkt ist – der Körper registriert es. Unbewusst."

„Vielleicht war sie zu abgelenkt."

„Oder", sagte Varga leise, „sie lügt."

Bálint schwieg. Dann sagte er: „Warum sollte sie lügen?"

„Das weiß ich nicht. Aber es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie hat wirklich nichts bemerkt, was bedeutet, dass Hellwigs Tod extrem schnell und extrem leise geschehen ist. Oder sie hat etwas bemerkt und verschweigt es."

„Und wenn sie es verschweigt – warum?"

Varga klappte die Akte zu. „Das ist die richtige Frage."

Er stand auf, ging zum Fenster, sah hinaus auf die Stadt. Budapest lag unter ihm, ausgebreitet wie eine Landkarte – die Donau, die Brücken, die Hügel von Buda, die flachen Dächer von Pest. Eine Stadt, die er kannte. Eine Stadt, die er verlassen hatte. Eine Stadt, die ihn zurückgerufen hatte.

„Sie haben etwas nicht gesagt", sagte Varga, ohne sich umzudrehen.

„Was?"

„Den wahren Grund, warum Sie mich gerufen haben."

Bálint schwieg lange. Dann sagte er: „,Weil ich Angst habe."

Varga drehte sich um. „Wovor?"

„Dass das erst der Anfang ist."

„Der Anfang wovon?"

Bálint griff nach einem weiteren Blatt Papier, schob es über den Tisch. Varga kam zurück, nahm es in die Hand. Es war ein Zeitungsausschnitt. Drei Jahre alt. Die Überschrift lautete: Ex-Stasi-Agent tot in Berliner Wohnung gefunden.

Varga las den Artikel. Ein ehemaliger Stasi-Offizier, gefunden erhängt in seiner Wohnung. Die Polizei ging von Selbstmord aus. Keine Anzeichen von Fremdeinwirkung.

„Und?" fragte Varga.

Bálint schob einen zweiten Ausschnitt herüber. Ehemaliger sowjetischer Diplomat stirbt bei Autounfall in Prag. Ein Jahr alt.

Dann ein dritter. Französischer Geschäftsmann tot in Hotelzimmer aufgefunden. Paris. Sechs Monate alt.

Varga las alle drei. Dann sah er Bálint an. „Was haben diese Männer gemeinsam?"

„Sie waren alle Teil eines Netzwerks. Eines Netzwerks, das in den Achtziger- und Neunzigerjahren aktiv war. Ost-West-Kontakte. Geschäfte, die nicht offiziell waren. Verbindungen, die nicht existieren sollten."

„Und Hellwig?"

„Hellwig war Teil dieses Netzwerks."

Varga spürte, wie sich etwas in ihm verhärtete. Eine alte Erinnerung. Ein alter Schmerz.

„Woher wissen Sie das?" fragte er leise.

Bálint sah ihn an, und in seinem Blick lag etwas, das Varga nicht sofort deuten konnte. Respekt. Oder Furcht.

„Weil Ihr Name auch auf der Liste steht", sagte Bálint.

Die Vergangenheit war kein Ort. Sie war ein Echo. Und sie wurde lauter.

Varga verließ das Präsidium, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Er ging durch die Straßen, ohne ein Ziel zu haben, ohne nachzudenken. Seine Beine trugen ihn automatisch – über den Andrássy út, vorbei an der Oper, die jetzt still und verschlossen dalag, vorbei an Cafés, die sich mit Touristen füllten, vorbei an Straßenhändlern, die Kastanien rösteten. Die Stadt lebte um ihn herum, gleichgültig, laut, unaufhaltsam.

Aber Varga hörte nichts davon.

Er dachte an die Liste. An die Namen. An die Toten.

Und an seinen eigenen Namen.

Es gab Dinge, die man nicht begraben konnte. Varga hatte das immer gewusst. Aber er hatte gehofft – töricht, verzweifelt –, dass die Vergangenheit ihn vergessen würde, wenn er sie lange genug ignorierte. Dass die Schatten verschwinden würden, wenn man nicht mehr hinsah.

Er war ein Narr gewesen.

Nach einer Stunde – oder vielleicht zwei, er hatte das Zeitgefühl verloren – fand er sich am Donauufer wieder. Er stand an der Balustrade, sah hinunter auf den Fluss. Das Wasser war dunkel, fast schwarz, und bewegte sich träge, als hätte es alle Zeit der Welt. Auf der anderen Seite lag Buda, die Burg thronte über der Stadt wie ein Denkmal für etwas, das niemand mehr verstand.

Varga zog sein Telefon aus der Tasche. Er starrte auf den Bildschirm, auf die Liste seiner Kontakte. Es gab nicht viele. Ein paar alte Kollegen, die er nie anrief. Sein Vermieter. Ein Arzt. Und ganz unten, fast vergessen: Anna.

Er hatte ihre Nummer seit Jahren nicht mehr angerufen. Er wusste nicht einmal, ob sie noch stimmte. Ob sie noch existierte. Ob Anna ihn überhaupt antworten würde, wenn er anrief.

Sein Daumen schwebte über dem Namen.

Dann steckte er das Telefon weg.

Nicht heute. Nicht so.

„Dr. Varga?"

Die Stimme ließ ihn herumfahren. Ein junger Mann stand hinter ihm – Török, der Hauptkommissar. Er trug immer noch denselben Anzug, sah aber müder aus als heute Morgen.

„Főnök hat mich geschickt", sagte Török. Főnök – Boss, Chef. Eine informelle Art, Bálint zu nennen. „Er meinte, Sie würden hierher gehen."

„Er kennt mich nicht gut genug, um das zu wissen."

„Vielleicht kennt er Sie besser, als Sie denken."

Varga schwieg.

Török trat näher, lehnte sich an die Balustrade. „Er hat mir von der Liste erzählt."

„Und?"

„Und ich soll Ihnen sagen, dass wir Sie schützen können."

Varga lachte – ein kurzes, bitteres Geräusch. „Schützen. Vor was? Vor Menschen, die sterben, ohne dass jemand sieht, wie es passiert? Vor einem Netzwerk, das offiziell nicht existiert? Vor der Vergangenheit?"

„Vor denen, die Sie töten wollen."

„Und wer sagt, dass jemand mich töten will?"

Török sah ihn an. „Ihr Name steht auf der Liste."

„Viele Namen stehen auf Listen."

„Aber nicht alle sind Psychologen, die Leute verhört haben. Nicht alle haben Dinge gesehen, die sie nicht sehen sollten. Nicht alle sind..." Török zögerte. „Nicht alle sind davongekommen."

Varga drehte sich zu ihm um. „Was wissen Sie über mich?"

„Nicht viel. Nur das, was Bálint mir erzählt hat. Sie haben in den Achtzigern in der DDR gearbeitet. Als Psychologe. Sie haben Verhöre geführt. Profiling. Sie waren gut. Zu gut. Und dann sind Sie verschwunden. Zwölf Jahre lang. Niemand wusste, wo Sie waren. Und jetzt sind Sie zurück."

„Ich bin nicht zurück. Ich bin hier. Das ist etwas anderes."

„Ist es das?"

Varga schwieg. Dann sagte er: „Warum hat Bálint Sie geschickt?"

„Weil er glaubt, dass Sie der Einzige sind, der das hier lösen kann."

„Das ist Unsinn."

„Vielleicht. Aber er glaubt es trotzdem."

Török griff in seine Tasche, zog einen USB-Stick hervor. „Das hier hat er mir gegeben. Für Sie. Er meinte, Sie sollten es sich ansehen."

„Was ist das?"

„Die Aufnahmen aus der Oper. Die, die nicht korrupt sind. Die Aufnahmen aus dem Foyer, aus den Korridoren. Und..." Török zögerte. „Und etwas anderes."

„Was?"

„Ein Video. Von Hellwig. Drei Tage vor seinem Tod. Jemand hat es auf seinem Laptop gefunden. Versteckt. Verschlüsselt. Unsere IT hat es entschlüsselt."

Varga nahm den USB-Stick. „Was ist auf dem Video?"

„Das weiß ich nicht. Bálint hat gesagt, Sie sollten es sich allein ansehen."

Varga steckte den Stick in seine Tasche. „Sonst noch etwas?"

Török schüttelte den Kopf. Dann sagte er: „Vigyázzon magára, Herr Doktor." Pass auf sich auf.

„Das tue ich seit zwölf Jahren."

„Dann tun Sie es weiter."

Török nickte ihm zu, drehte sich um und ging. Varga sah ihm nach, bis er in der Menschenmenge verschwunden war. Dann sah er wieder auf den Fluss.

Die Donau schwieg. Sie hatte immer geschwiegen.

In einem Café auf der Pester Seite traf Anna jemanden, der nicht reden wollte.

Das Café lag in einer Seitenstraße nahe der Großen Markthalle, ein kleiner Raum mit beschlagenen Fenstern und Tischen, die zu eng beieinanderstanden. Es roch nach Kaffee, nach Zigaretten – obwohl das Rauchen hier längst verboten war –, und nach etwas Süßem, das Anna nicht identifizieren konnte. Kürtőskalács vielleicht, Baumkuchen, von einem Straßenstand nebenan.

Anna saß an einem Tisch in der Ecke, den Rücken zur Wand, und wartete. Sie hatte diese Position bewusst gewählt – eine alte Gewohnheit, die sie nie abgelegt hatte. Immer den Ausgang im Blick. Immer den Überblick behalten.

Ihr Kontakt war zehn Minuten zu spät.

Anna trank ihren Kaffee langsam, beobachtete die anderen Gäste. Ein älteres Paar, das schweigend Kuchen aß. Ein junger Mann mit Laptop, der nicht tippte, sondern nur starrte. Eine Frau mit Kinderwagen, die nervös auf ihr Handy sah.

Niemand, der auffiel. Niemand, der gefährlich wirkte.

Aber Anna hatte gelernt, dass die gefährlichsten Menschen oft am unauffälligsten waren.

Die Tür öffnete sich. Ein Mann kam herein – Mitte dreißig, Jeans, dunkle Jacke, Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen. Er sah sich um, entdeckte Anna, nickte kurz. Dann kam er zu ihrem Tisch.

„Szia, Anna." Hallo.

„Szia, Gábor."

Gábor Kovács war Polizist. Nicht im Dienst – offiziell war er krank gemeldet, seit drei Wochen. Aber Anna wusste, dass er arbeitete. Nur nicht für die Polizei. Nicht mehr.

Er setzte sich, ohne etwas zu bestellen, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Du solltest nicht hier sein."

„Ich bin Journalistin. Ich bin überall."

„Du bist rücksichtslos."

„Das auch." Anna lächelte dünn. „Danke, dass du gekommen bist."

Gábor seufzte. „Was willst du?"

„Informationen."

„Natürlich."

„Über Hellwig."

Gábor verzog das Gesicht. „Natürlich. Der tote Diplomat. Jeder will über ihn reden. Keiner will über ihn reden."

„Was bedeutet das?"

„Das bedeutet, dass die Akte versiegelt ist. Von oben. Niemand darf reden. Niemand darf lecken. Totale Funkstille."

„Warum?"

„Weil es politisch ist. Weil es heikel ist. Weil niemand will, dass das in der Presse landet." Er sah sie an. „Vor allem nicht in deiner Zeitung."

Anna lehnte sich vor. „Gábor, ich brauche das. Ich brauche Informationen. Irgendetwas. Wer ermittelt? Was haben sie gefunden?"

„Bálint ermittelt. Persönlich. Mit einem kleinen Team. Török, ein paar andere. Und..." Er zögerte. „Sie haben jemanden von außen geholt."

„Wen?"

„Einen Berater. Einen Psychologen, glaube ich. Jemand, der früher bei der Polizei war. Vor langer Zeit."

Anna spürte, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog. Ein Gefühl, das sie nicht greifen konnte. „Wie heißt er?"

„Keine Ahnung. Ich habe nur gehört, dass Bálint jemanden aus dem Ruhestand geholt hat. Jemand, der die alten Zeiten kennt."

„Die alten Zeiten."

„Ost-West. DDR. Stasi. Du weißt schon. Die Zeiten, über die niemand redet."

Anna schwieg. Ihr Kopf arbeitete. Ein Psychologe. Aus dem Ruhestand. Jemand, der die alten Zeiten kennt.

Es konnte nicht sein. Es war unmöglich.

Aber das Gefühl in ihrer Brust wurde stärker.

„Was weißt du über Hellwigs Tod?" fragte sie.

„Nicht viel. Toxikologie ist noch nicht durch. Aber es gibt Gerüchte."

„Was für Gerüchte?"

Gábor sah sich um, als würde er sicherstellen wollen, dass niemand zuhörte. Dann beugte er sich vor und senkte die Stimme. „Gerüchte, dass es kein natürlicher Tod war. Dass jemand nachgeholfen hat."

„Gift?"

„Vielleicht. Oder etwas anderes. Etwas, das keine Spuren hinterlässt."

„Das gibt es nicht."

„Doch. Das gibt es." Gábors Augen wurden ernst. „Anna, es gibt Methoden. Substanzen. Dinge, die man nicht sieht, die man nicht nachweisen kann. Nicht mit den üblichen Tests."

„Und woher weißt du das?"

„Weil ich Polizist bin. Weil ich Dinge gesehen habe. Dinge, über die man nicht spricht."

Anna nickte langsam. „Was noch?"

„Die Kameraaufnahmen sind manipuliert. Das weißt du wahrscheinlich schon."

„Ja."

„Aber was du vielleicht nicht weißt, ist, dass die Manipulation professionell war. Sehr professionell. Wer auch immer das gemacht hat, kennt sich aus. Mit Technik. Mit Sicherheitssystemen. Mit der Oper."

„Jemand aus dem Inneren?"

„Möglich. Oder jemand, der Zugang hatte. Oder jemand, der Zugang gekauft hat."

Anna machte sich Notizen in ihrem Kopf. Keine schriftlichen Notizen – zu riskant. Sie hatte gelernt, sich auf ihr Gedächtnis zu verlassen.

„Noch etwas?" fragte sie.

Gábor zögerte. Dann sagte er: „Es gibt da eine Frau. Eine Geschäftsfrau. Sie war auch in der Oper. Sie wurde befragt, aber... da ist etwas. Etwas, das nicht stimmt."

„Wer?"

„Németh. Katalin Németh. Sie sagt, sie kannte Hellwig nicht. Aber..." Er schüttelte den Kopf. „Mein Instinkt sagt mir, dass sie lügt."

„Warum?"

„Weil ihre Aussage zu glatt war. Zu perfekt. Als hätte sie sie einstudiert."

Anna nickte. Sie kannte dieses Gefühl. Sie hatte es oft genug selbst gehabt.

„Danke, Gábor."

„Wofür? Ich habe dir nichts gesagt."

„Genau."

Er stand auf, warf einen letzten Blick auf sie. „Anna, sei vorsichtig. Das hier ist nicht irgendeine Geschichte. Das ist... anders."

„Das weiß ich."

„Weißt du es wirklich?"

Sie sah ihn an. „Ja."

Gábor nickte. Dann ging er, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Anna blieb sitzen. Sie dachte nach. Über Hellwig. Über Németh. Über den Psychologen aus dem Ruhestand.

Über ihren Vater.

Es konnte nicht sein. Es war zu abwegig. Zu unwahrscheinlich.

Aber sie musste es herausfinden.

Während Anna ihre Recherchen fortsetzte, saß Varga in seiner Wohnung und sah sich das Video an, das Török ihm gegeben hatte. Und was er sah, ließ die Vergangenheit nicht nur sprechen – sie schrie.

Die Wohnung war dunkel. Varga hatte die Vorhänge zugezogen, das Licht ausgeschaltet. Nur der Bildschirm seines Laptops leuchtete, ein kaltes, bläuliches Licht, das seinen Schatten an die Wand warf.

Er hatte den USB-Stick eingesteckt, die Dateien geöffnet. Zuerst die Aufnahmen aus der Oper – Foyer, Korridore, Treppen. Menschen, die kamen und gingen, die sich unterhielten, die lächelten. Alles normal. Alles unauffällig.

Bis auf eine Person.

Varga spulte zurück, fror das Bild ein. Eine Frau im schwarzen Kleid, Perlenkette, Haar zu einem strengen Knoten gebunden. Sie stand im Foyer, ein Champagnerglas in der Hand, und beobachtete jemanden. Varga konnte nicht sehen, wen – die Kamera erfasste nur ihr Profil. Aber die Art, wie sie dastand, die Spannung in ihrer Haltung, die Konzentration in ihrem Blick – das war nicht zufällig.

Er überprüfte die Gästeliste, die Bálint ihm gegeben hatte. Reihe 4, Platz 12. Katalin Németh.

Varga machte einen Screenshot, speicherte ihn.

Dann öffnete er die zweite Datei. Das versteckte Video von Hellwigs Laptop.

Der Bildschirm wurde schwarz. Dann erschien ein Bild – verwackelt, körnig, aufgenommen mit einer Handykamera. Hellwig saß in einem Raum, der wie ein Hotelzimmer aussah. Unpersönlich, steril, mit beigen Wänden und einem Bett im Hintergrund. Er trug ein weißes Hemd, keine Krawatte, und sah müde aus. Älter, als er auf den offiziellen Fotos aussah.

Er sprach.

„Mein Name ist Marcus Hellwig. Falls Sie das hier sehen, bin ich wahrscheinlich tot."

Die Worte hingen in der Luft wie eine Drohung.

Varga lehnte sich vor.

„Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt", fuhr Hellwig fort. Seine Stimme war ruhig, kontrolliert, aber Varga hörte die Angst darunter. „Aber ich muss das aufnehmen. Für den Fall, dass etwas passiert. Für den Fall, dass sie mich finden."

„Sie."

Hellwig sah direkt in die Kamera. „Ich war Teil von etwas. Etwas, von dem ich dachte, es sei längst vorbei. Etwas, das in den Neunzigern hätte sterben sollen, als die Mauer fiel. Aber es ist nicht gestorben. Es hat sich nur... verändert. Angepasst. Überlebt."

Er machte eine Pause, rieb sich die Augen.

„Es begann in den Achtzigern. Ost-West-Geschäfte. Handel über die Grenzen hinweg. Offiziell illegal, aber alle haben es getan. Alle, die Geld machen wollten, die Macht wollten. Wir haben Kontakte geknüpft. Netzwerke aufgebaut. Menschen zusammengebracht, die sich nie hätten treffen sollen. Stasi-Offiziere, sowjetische Beamte, westliche Geschäftsleute. Wir haben Verträge gemacht, die nie unterschrieben wurden. Geschäfte, die nie existierten. Geld, das nie geflossen ist – offiziell."

Hellwig lachte bitter. „Aber das Geld ist geflossen. Milliarden. Und nach dem Fall der Mauer... war es zu spät, um auszusteigen. Wir waren zu tief drin. Wir wussten zu viel. Und die Leute, die das Netzwerk kontrollieren... sie lassen niemanden gehen."

Varga spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten.

„Budapest ist das Zentrum", sagte Hellwig leise. „Immer gewesen. Eine Stadt zwischen Ost und West. Perfekt gelegen. Perfekt korrupt. Perfekt... vergessen. Niemand schaut genau hin. Niemand stellt Fragen. Und wenn doch, dann verschwinden die Fragen. Oder die Leute, die sie stellen."

Er beugte sich näher zur Kamera.

„Ich habe versucht auszusteigen. Vor drei Monaten. Ich habe mit jemandem gesprochen. Jemandem, dem ich vertraute. Ich habe ihm alles erzählt. Namen, Daten, Verträge. Ich dachte, er könnte helfen. Ich dachte..." Hellwig schluckte. „Eine Woche später war er tot. Autounfall in Prag. Offiziell. Aber ich weiß, dass es kein Unfall war. Und ich weiß, dass ich der Nächste bin."

„Wenn Sie das hier sehen, dann hatten sie Erfolg. Dann bin ich tot. Aber..." Er griff nach etwas außerhalb des Bildes, hielt ein Notizbuch in die Kamera. „Ich habe alles aufgeschrieben. Namen. Firmen. Konten. Alles. Und ich habe es versteckt. An einem Ort, den nur eine Person kennt."

„Wer auch immer Sie sind – finden Sie diese Person. Finden Sie das Notizbuch. Und..." Hellwig sah müde aus, verzweifelt. „Und bringen Sie die Wahrheit ans Licht. Bevor noch mehr Menschen sterben."

Das Video endete abrupt.

Varga saß regungslos da. Der Bildschirm wurde schwarz, aber er starrte weiter darauf, als könnte er die Bilder zurückholen, als könnte er mehr sehen, mehr verstehen.

Hellwig hatte gewusst, dass er sterben würde. Er hatte es vorbereitet. Er hatte ein Notizbuch versteckt. Bei jemandem.

Bei wem?

Varga spielte das Video noch einmal ab. Und noch einmal. Er suchte nach Details, nach Hinweisen. Aber da war nichts. Nur Hellwigs Worte. Nur seine Angst.

Und ein Name, der immer wiederkehrte: Budapest.

Varga schloss den Laptop. Er stand auf, ging zum Fenster, öffnete die Vorhänge. Draußen lag die Stadt in der Dämmerung – Lichter, die sich anzündeten, Schatten, die sich ausbreiteten. Die Donau war ein schwarzes Band, das die Stadt in zwei Hälften teilte.

Er dachte an die Liste, die Bálint ihm gezeigt hatte. An die Namen der Toten. An seinen eigenen Namen.

Er dachte an Anna. An das Foto, das immer noch auf dem Tisch lag.

Und er dachte an das, was Hellwig gesagt hatte: Budapest ist das Zentrum.

Varga wusste, was er tun musste.

Er musste die Person finden, die das Notizbuch hatte.

Und er musste es finden, bevor sie ihn fanden.

In der Nacht begann die Stadt anders zu sprechen. In Zeichen, die nur wenige lesen konnten.

Es war nach Mitternacht, als Varga seine Wohnung verließ.

Die Straßen waren leer, bis auf ein paar Nachtschwärmer, die aus Bars taumelten, und ein paar Taxis, die langsam durch die Straßen glitten. Die Luft war kalt, trockener als am Tag, und trug den Geruch von Herbstlaub und fernem Regen.

Varga ging ziellos. Oder zumindest tat er so. In Wahrheit hatte er ein Ziel – er wusste nur noch nicht, was es war. Sein Körper führte ihn, seine Instinkte, seine Erinnerungen.

Er ging über die Kettenbrücke. Die Lichter der Stadt spiegelten sich im Wasser, tanzten und verschwammen. Die Brücke war leer, nur ein paar Touristen machten Fotos, lachten, küssten sich.

Varga ging weiter. Hinüber nach Buda. Hinauf zu den Hügeln.

Er wusste nicht, warum er hierherkam. Aber er wusste, dass er musste.

Nach zwanzig Minuten erreichte er eine stille Straße, gesäumt von alten Villen, die meisten dunkel, verlassen. Er blieb vor einer stehen – ein verfallenes Gebäude mit vernagelten Fenstern und einem verwilderten Garten. Ein Schild an der Tür warnte vor Betreten. Baufällig. Einsturzgefahr.

Aber Varga kannte dieses Haus.

Er war vor zwölf Jahren schon einmal hier gewesen. Damals hatte er hier jemanden verhört. Jemanden, der Dinge wusste, die niemand wissen sollte. Jemanden, der ihm Namen genannt hatte. Namen, die auf keiner offiziellen Liste standen.

Jemanden, der drei Tage später tot war.

Varga trat näher. Die Tür war verschlossen, aber das Schloss war alt, verrostet. Er drückte dagegen. Es gab nach.

Er zögerte. Dann ging er hinein.

Drinnen wartete die Vergangenheit. Und sie hatte Zähne.

Das Innere der Villa war dunkel, feucht, und roch nach Schimmel und verwesendem Holz. Varga zog eine kleine Taschenlampe aus seiner Jacke – eine Angewohnheit aus alten Zeiten – und leuchtete durch den Raum.

Der Eingangsbereich war leer. Keine Möbel, keine Bilder, nur leere Wände, die Farbe abgeblättert, das Parkett aufgequollen. Eine Treppe führte nach oben, aber die Stufen sahen brüchig aus.

Varga ging langsam weiter. Seine Schritte hallten in der Stille.

Er erinnerte sich. An den Raum rechts. An das Verhör. An den Mann, der dort gesessen hatte – ein ehemaliger Stasi-Offizier, der nach dem Fall der Mauer untergetaucht war, der in Budapest gelebt hatte, anonym, unsichtbar. Bis Varga ihn gefunden hatte.

Der Mann hatte ihm von einem Netzwerk erzählt. Von Menschen, die nach dem Mauerfall nicht verschwunden waren, sondern sich neu organisiert hatten. Von Geld, das aus dem Osten in den Westen geflossen war, und zurück. Von Firmen, die nicht existierten, aber Millionen bewegten. Von Namen, die niemand kannte, aber jeder fürchtete.

Und dann war der Mann gestorben. Offiziell: Herzinfarkt. Inoffiziell: Mord.

Varga hatte es nie beweisen können.

Er erreichte die Tür zum rechten Raum. Sie stand offen, hing schief in den Angeln. Er leuchtete hinein.

Der Raum war leer.

Bis auf eine Sache.

An der Wand, mit roter Farbe geschrieben, stand ein Satz:

DIE STADT SPRICHT WIEDER.

Varga erstarrte.

Das waren Hellwigs Worte. Die letzten Worte, die er gesagt hatte, bevor er starb.

Jemand wusste davon. Jemand wollte, dass Varga es sah.

Er trat näher. Die Farbe war frisch. Noch nicht ganz getrocknet. Jemand war vor kurzem hier gewesen.

Varga drehte sich um, leuchtete durch den Raum, suchte nach weiteren Hinweisen. Aber da war nichts. Nur die Wände, der Boden, die Stille.

Und dann hörte er es.

Ein Geräusch. Leise. Wie ein Schritt.

Von oben.

Varga hielt den Atem an. Er löschte die Taschenlampe, wartete. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit.

Ein weiteres Geräusch. Deutlicher diesmal. Jemand bewegte sich im oberen Stockwerk.

Varga ging zur Treppe, blieb am Fuß stehen. Er lauschte.

Stille.

Dann eine Stimme. Leise, kaum hörbar. Eine Frauenstimme.

„Dr. Varga?"

Sein Herz setzte einen Schlag aus.

„Kommen Sie nach oben. Allein. Langsam."

Varga zögerte. Jeder Instinkt in ihm schrie, dass das eine Falle war. Dass er gehen sollte. Jetzt. Sofort.

Aber er ging nicht.

Er ging die Treppe hinauf.

Kapitel 3 – Die Rückkehr

Die Treppe knarrte unter Vargas Schritten.

Jede Stufe war ein Risiko – das Holz morsch, brüchig, an manchen Stellen komplett durchgebrochen. Er tastete sich im Dunkeln vorwärts, eine Hand an der Wand, die andere um die Taschenlampe geklammert, die er nicht anschalten durfte. Nicht jetzt. Nicht, wenn jemand oben auf ihn wartete.

Die Villa atmete um ihn herum. Ein altes Gebäude, das zu lange leer gestanden hatte, zu viele Winter erlebt hatte, zu viele Geheimnisse in sich trug. Durch die Ritzen in den Wänden pfiff der Wind, ein leises, klagendes Geräusch, das sich mit dem Knarren der Dielen vermischte. Irgendwo tropfte Wasser – ein rhythmisches Plopp, plopp, plopp, das durch die Stille hallte.

Varga erreichte das obere Stockwerk.

Ein langer Korridor erstreckte sich vor ihm, gesäumt von Türen, die meisten geschlossen, manche offen und schief in den Angeln hängend. Das schwache Licht des Mondes fiel durch ein zerbrochenes Fenster am Ende des Ganges und warf lange, verzerrte Schatten auf den Boden.

„Hier entlang."

Die Stimme kam von rechts. Aus einem der Zimmer.

Varga ging langsam darauf zu, jeden Muskel angespannt, bereit zu fliehen oder zu kämpfen – wobei er weder das eine noch das andere gut konnte. Er war kein Polizist mehr. Er war ein Mann, der Bücher las und Wein trank und versuchte, die Vergangenheit zu vergessen.

Aber die Vergangenheit vergaß nicht.

Er erreichte die Tür. Sie stand einen Spaltbreit offen. Dahinter: Dunkelheit.

„Kommen Sie rein, Dr. Varga. Sie sind doch sonst nicht so zögerlich."

Er erkannte die Stimme nicht. Weiblich, ruhig, mit einem leichten Akzent, den er nicht zuordnen konnte. Nicht ungarisch. Nicht deutsch. Etwas dazwischen.

Varga drückte die Tür auf und trat ein.

Der Raum war größer als erwartet. Ein ehemaliges Schlafzimmer, vermutete er – hohe Decken, ein großes Fenster, durch das das Mondlicht hereinfiel und den Raum in ein gespenstisches Silber tauchte. Die Wände waren mit Graffiti übersät, unleserliche Zeichen und Symbole, die jemand vor langer Zeit hinterlassen hatte. In der Ecke stand ein alter Sessel, zerfetzt, die Füllung herausquellend.

Und darin saß eine Frau.

Sie war im Schatten, ihr Gesicht nicht zu erkennen, aber Varga konnte ihre Silhouette sehen – schlank, aufrecht, kontrolliert. Sie trug dunkle Kleidung, und ihre Hände lagen ruhig auf den Armlehnen des Sessels, als säße sie in einem Wartezimmer und nicht in einer verfallenen Villa mitten in der Nacht.

„Sie sind pünktlich", sagte sie. „Das schätze ich."

„Wer sind Sie?" Vargas Stimme war leise, aber fest.

„Jemand, der Ihnen helfen will."

„Das bezweifle ich."

Die Frau lachte leise. „Sie haben recht, das zu bezweifeln. Aber es stimmt trotzdem."

Sie lehnte sich vor, und das Mondlicht fiel auf ihr Gesicht. Varga erkannte sie sofort.

Katalin Németh.

Die Frau aus der Oper. Die Geschäftsfrau. Die, die angeblich nichts gesehen hatte.

„Sie waren dort", sagte Varga.

„Ja."

„Sie haben Hellwig gesehen."

„Ja."