Die Stimmen aus der Unterwelt - Heinrich Detering - E-Book

Die Stimmen aus der Unterwelt E-Book

Heinrich Detering

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Beschreibung

Mit "Love and Theft", Liebe und Klauen, dem Album von 2001, begann Bob Dylans Spätwerk. Die darauf und den dann folgenden Alben versammelten Songs deuten die Gegenwart nicht nur als apokalyptischen Totentanz, sondern brachten Dylan auch den Vorwurf des Plagiats ein: Waren die Texte nicht allesamt zusammengeklaut, montiert aus Versatzstücken, die er der amerikanischen Musiktradition und der Weltliteratur von Homer und Ovid über Shakespeare bis F. Scott Fitzgerald entnommen hatte, ohne auch nur ein einziges davon nachzuweisen? Was als Inspirationsmangel eines alternden Künstlers erscheinen könnte, bildet, wie der Literaturwissenschaftler und Dylan-Experte Heinrich Detering zeigt, das Kernstück einer zeitgenössischen, ungeheuer produktiven Poetik. Bei Dylan hat Ovid den Blues. Und der Blues hallt durch die Gewölbe der Antike, vernehmbar bis in die Gegenwart. Mit literarischem Einfühlungsvermögen und detektivischer Beobachtungsenergie führt Detering ins Zentrum von Bob Dylans einzigartiger Kunst, der wiederholt als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wurde. Und er öffnet den Blick für die erstaunlichen schöpferischen Möglichkeiten einer Songpoesie, ja von Poesie generell im 21. Jahrhundert.

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Heinrich Detering

Die Stimmen aus der Unterwelt

Bob Dylans Mysterienspiele

C.H.Beck

Zum Buch

«Meine Songs gleichen Mysterienspielen, wie Shakespeare sie sah, als er ein Kind war.»Bob Dylan

Mit literarischem Einfühlungsvermögen und detektivischer Beobachtungsenergie führt uns Heinrich Detering ins Zentrum der einzigartigen Kunst von Bob Dylan, der seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gilt. Er öffnet den Blick für die erstaunlichen schöpferischen Möglichkeiten einer Songpoesie, ja von Poesie überhaupt im 21. Jahrhundert: «Bei Dylan hat Ovid den Blues. Und der Blues hallt durch die Gewölbe der Antike.»

Über den Autor

Heinrich Detering, geb. 1959, lehrt Neuere deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen. Als Literaturwissenschaftler und als Lyriker ist er vielfach ausgezeichnet worden. Dieses Buch schrieb er als Fellow der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München.

Inhalt

1. Mysterienspiele: Dylans Spätwerk

Menetekel und Plagiat

Tausendundeine Stimme

Vorspiele und Übergänge

2. Der Gesang des Nachtvogels: Workingman’s Blues #2

Rollenwechsel

Im Wilden Westen, auf hoher See: Erinnerung und Halluzination

Working Man Blues: Der Song als Gegenrede

Am Ende der Welt: Chaplins Moderne und Ovids Exil

Apokalypse und «Ars amatoria»

Das kollektive Ich

Totenbeschwörung und Kunstreligion

3. Prosperos Alptraum, Shakespeares Blues: Tempest

Mörder, Moritat und Märchen

Pop-Shakespeare und Mock-Shakespeare

Liebe, Diebstahl und Minstrel Shows

Prosperos Alptraum

4. Heldenlied und Totenklage: Roll On John

Totenklage

Odyssee

Schmerzensmann

Outlaws, Tiger in der Nacht

Zeitverlust

Athene

5. Die Mysterien der Minstrels: Masked and Anonymous

Ein Film als Programm

Vexierspiele

Mystery Play, Morality Play

«Hey, Prospero. What’s happening?»: Shakespeare

Minstrelsy

Totentanz

6. Mystik und Minne: Stay With Me

Nachtschatten

Frank und der Schlüssel

Sehnsucht und Metrum

Bitten und Gebete

Laura

«Queen of my flesh» und «Covenant Woman»

Von Petrarca zu Sinatra

7. Nachwort: Resonanzen

Dank

Anmerkungen

1. Mysterienspiele: Dylans Spätwerk

2. Der Gesang des Nachtvogels: Workingman’s Blues #2

3. Prosperos Alptraum, Shakespeares Blues: Tempest

4. Heldenlied und Totenklage: Roll On John

5. Die Mysterien der Minstrels: Masked and Anonymous

6. Mystik und Minne: Stay With Me

7. Nachwort: Resonanzen

Diskographie und Filmographie

Alben von Bob Dylan

Filme von und mit Bob Dylan

Bibliographie

Bücher und Texte von Bob Dylan

Weitere literarische Quellen

Zitierte Sekundärliteratur

Nachweis der Abbildungen

Personenregister

Werke von Bob Dylan

1. Mysterienspiele

Dylans Spätwerk

Menetekel und Plagiat

Es sah aus wie ein Menetekel. Genau an jenem elften September des Jahres 2001, an dem die politische Weltlage sich mit den Ereignissen in New York schlagartig und alptraumhaft änderte, begann das, was man Bob Dylans ‹Spätwerk› nennen kann. An diesem Tag erschien sein lang erwartetes Album «Love And Theft», wie in New York, so in aller Welt. Dylan hatte es in den Tagen um seinen sechzigsten Geburtstag herum eingespielt, mit seiner exzellenten Tourband und als sein eigener Produzent (unter dem spaßhaften Pseudonym «Jack Frost»). Was als Markierung eines lebensgeschichtlichen Einschnitts und einer werkgeschichtlichen Neuorientierung gedacht war, hörte sich in den Ohren mancher Fans plötzlich an wie eine prophetische Warnung. Waren diese neuen Songs nicht, inmitten ihrer Aneignungen amerikanischer Songtraditionen, erfüllt von den unheilvollen Zeichen von Gewalt, Zerstörung, Zusammenbruch, von genau jenen Tell Tale Signs, die dann sieben Jahre später einer Sammlung von Material unter anderem auch zu diesem Album den unheimlich Poe’schen Titel gaben?[1]

Wer so fragte, übersah, dass Dylans Alben schon von Anfang an, mit zunehmender Tendenz seit seiner Konversion um 1980 und erst recht seit seiner triumphalen Rückkehr mit Time Out Of Mind1997, mit dunkel apokalyptischen Andeutungen umgegangen waren. Eigentlich hätte man sich kaum eines seiner großen Alben denken können, dessen Veröffentlichung am 11. September 2001nicht als Menetekel empfunden worden wäre. Neu an «Love And Theft» war im Vergleich dazu viel eher der sonderbar spielerische Charakter, der auch den Szenen von Gewalt und Grausamkeit, Verfall und Tod anhaftete: als sei dies alles eben gerade nicht von der Vehemenz des vertrauten prophetischen Pathos bestimmt, sondern vielmehr von der Indirektheit des Zitats.

Je länger man den zwölf Songs zuhörte, die Dylan zusammengestellt hatte, desto mehr Echos waren zu hören: Spuren des Delta Blues von Charlie Patton, dem einer der Songs ausdrücklich gewidmet ist, und des frühen Rock ’n’ Roll von Chuck Berry (dessen Gitarrenriff man nur im Hintergrund wahrnehmen konnte), Reminiszenzen an Blind Willie McTell und Robert Johnson, die Mississippi Sheiks, Sonny Boy Williamson und Victoria Spivey (mit denen der blutjunge Dylan noch zusammengearbeitet hatte), Entlehnungen aus frühen Swingnummern und einer alten Aufnahme des klassischen crooner Gene Austin und ungezählten weiteren Quellen der amerikanischen Musik.

Erst recht die lyrics erwiesen sich, je länger, je mehr, als randvoll von Übernahmen, ja passagenweise geradezu als Collagen aus fremdem Material. Aufmerksame Kritiker bemerkten, dass ganze Sätze auf «Love And Theft» mit minimalen Abwandlungen aus unterschiedlichen Buchvorlagen übernommen waren. So war in den 1991 in den USA erschienenen Confessions of a Yakuza von Jun’ichi Saga (in der Übersetzung von John Bester) der Satz zu lesen gewesen: «I’m not as cool or forgiving as I might have sounded» – in seinem Song Floater singt Dylan zehn Jahre später: «I’m not quite as cool or forgiving as I sound». Und so fort, allein dem Nachweis der aus diesem Buch zitierten Wendungen auf «Love And Theft» ist bis heute eine eigene Website gewidmet.[2]

Aber das war erst der Anfang. Dylans Album zitierte Shakespeare und Tennessee Williams, Lewis Carrolls Alice In Wonderland und F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby. Selbst kleine, beiläufige Wendungen wie «leaves are rustling in the woods», in denen niemand überhaupt irgendeinen literarischen Bezug vermutet hätte, erwiesen sich als Übernahmen aus Mark Twains Huckleberry Finn und standen unversehens neben Bibelanspielungen und alten Kinderreimen.

Dabei stießen gerade die in der Dylan-Deutung bevorzugten biographischen Deutungsmuster bei diesen Songs an ihre Grenzen. Nicht wenige der auf Bekenntnisse eingestellten Fans hatten sich schon beim ersten Hören darüber gewundert, wie in Po’ Boy von den Familienverhältnissen die Rede war. «My mother was a daughter of a wealthy farmer», singt Dylan, «My father was a travelin’ salesman, I never met him.» Auch dies ist fast wörtlich aus Sagas Buch entlehnt: «My mother», heißt es dort, «was the daughter of a wealthy farmer», «[she] died when I was eleven», dann: «my father was a traveling salesman … I never met him.»[3] Wenn dann der Sänger des Lonesome Day Blues2001 den Tod der Mutter beklagte («I wish my mother was still alive»), da klang es wie eine Reaktion auf den Tod von Dylans Mutter Beatty kurz zuvor; sogar der ansonsten gegen biographische Kurzschlüsse zuverlässig gewappnete amerikanische Historiker und Dylan-Kenner Sean Wilentz verstand es so.[4] Aber im selben Song wird auch ein im Krieg gefallener Bruder betrauert («my brother got killed in the war»), wo doch Dylans einziger Bruder David sich guter Gesundheit erfreute. Aber natürlich stammte auch diese Bemerkung aus Sagas Yakuza-Erinnerungen.

So machte bald halblaut, dann immer nachdrücklicher der Vorwurf die Runde, Dylan habe plagiiert. «Plagiarism» war das Schlagwort, das es 2003 bis auf die Titelseite des Wall Street Journal brachte. Es passte allerdings nicht recht zu dem Umstand, dass Dylan selbst mit einigem Nachdruck darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sein neues Album es auf eine grundlegende Weise mit Zitaten zu tun hatte. Schon die Schreibweise des Albumtitels gab das zu erkennen. Denn nicht Love And Theft hieß das Album ja, wenn man genau las, sondern «Love And Theft». Zum ersten Mal in Dylans langer Werkgeschichte gehörten die Anführungszeichen zum Text. Rasch war ermittelt, was da zitiert wurde: Eric Lotts gelehrte Abhandlung über die amerikanische Tradition der minstrel shows – davon wird hier im 3. Kapitel noch ausführlich die Rede sein – mit ihren mannigfaltigen Formen der Travestie, ihrer Umschreibung und Transformation literarischer und musikalischer Quellen, kurz: ihrer populären Kunst des Zitats. Lott beschrieb sie als komödiantisch-burleske Vermischung von high culture und popular culture, von Schwarz und Weiß, von Theater, Jahrmarkt und Musik. Diese Zusammenhänge waren es, nicht Anspielungen auf die Apokalypse, was Dylans Album am 11. September 2001 zuerst signalisieren sollte.

Kein Zweifel, die Anführungszeichen im Albumtitel waren so programmatisch wie nur möglich zu verstehen. So wurde denn der Vorwurf des Plagiats immer leiser, je mehr Zitate identifiziert wurden und je deutlicher sich Dylans Arbeit des Aus- und Zuschneidens, der fintenreichen Neukombination, der De- und Rekontextualisierung seines Materials erkennen ließ. Schließlich, so mussten auch die Kritiker zugeben, wäre es am Ende wohl doch sehr viel einfacher gewesen, ganz neue Songs zu verfassen, als diese überaus komplexen Collagen zu basteln. Kein Zweifel, Dylans Album setzte jenes Spiel mit Hoch und Tief, Klassisch und Populär, Alt und Neu, Aneignung und Transformation fort, das Lott an der Tradition der minstrelsy vorgeführt hatte.[5] Auf eine eigenwillige Weise trat «Love And Theft» vom ersten bis zum letzten Song in die Tradition ein, die Love & Theft beschrieb.

Und das Spiel setzte sich auf den folgenden Alben fort. «Love And Theft» markierte, so zeigte sich nun, erst den Beginn einer Schaffensphase, die zu Dylans produktivster Zeit seit den sechziger Jahren werden sollte. So flammten die Debatten über Plagiat und Originalität, Autorschaft und Authentizität bei der Veröffentlichung der folgenden Alben wieder auf, wenn auch mit allmählich nachlassender Heftigkeit. Auf Modern Times2006 war es der weithin vergessene Südstaatenpoet Henry Timrod (1829–1867), der in der Reihe der Bestohlenen den Platz Jun’ichi Sagas einnahm; Gedichte wie seine Two Portraits, A Vision of Poesy oder A Rhapsody of a Southern Winter Night wurden von Dylan zweckmäßig bearbeitet, zugeschnitten und pointiert[6] und fanden sich, wie zuvor die japanische Autobiographie, in höchst unerwarteter Nachbarschaft wieder – aber wieder dauerte es einige Zeit, ehe findige Hörer die Spuren entdeckt und identifiziert hatten – mit Dichtungen des klassischen Rom, mit Melville und Mark Twain, mit alten Filmen und neuen Countrysongs. Das 2009 folgende Together Through Life, dessen Texte Dylan überwiegend zusammen mit dem befreundeten Grateful-Dead-Textautor Robert Hunter schrieb, überblendete antike und Western-Szenerien im Tex-Mex-Sound, und Tempest weckte 2012 schon im Titel Shakespeare-Erwartungen, mit denen das Album dann allerdings bei näherem Hinhören auf sehr eigenartige Weise umging (davon mehr im dritten Kapitel). Die dreiteilige Dokumentation Tell Tale Signs, die 2008 – als 8. Folge der Bootleg Series – Varianten bekannter und noch unbekannter Songs aus den vorangegangenen Jahren präsentierte, zeigte, dass Dylan offenbar auch seine eigenen Einfälle auf dieselbe Weise zerlegte und neu kombinierte, wie er das mit dem so heterogenen Traditionsmaterial tat, ja dass er sie überhaupt genauso behandelte wie diese diversen Quellen.[7] Und schließlich waren da noch die Alben Christmas in the Heart im Jahr 2010 und Shadows in the Night2015, die von vornherein nur vorgefundenes Songmaterial wiederbelebten, aus bei Dylan so unerwarteten Archiven wie dem großen amerikanischen Weihnachtsliederbuch und dem frühen Repertoire Frank Sinatras.

Dylan zitierte also, er montierte und collagierte, dass seinen Hörern und Lesern Hören und Sehen verging. Die Entdeckung, dass er sich auch in seinem vielgerühmten autobiographischen Bericht – oder, wie man angesichts der hochgradigen Fiktivität vieler Passagen sagen müsste: seinem autobiographischen Roman – Chronicles Vol. 1, erschienen in New York 2004, aus diversen literarischen Quellen bediente, von Marcel Proust bis zu Jack London und Mark Twain, war danach nicht einmal mehr sonderlich überraschend. Dass aber auch eine ganze Reihe von scheinbar spontanen Äußerungen in Interviews der letzten Jahre wörtlich aus Romanen Jack Londons oder aus den antiken Satiren des Juvenal übernommen sind (nach neuen und darum unauffällig-zeitgenössisch klingenden Übersetzungen) – das deutete an, mit welcher unheimlichen Konsequenz Dylan sein Verfahren durchhielt.

An die Stelle der langsam verstummenden Plagiatsvorwürfe trat nun ein zweiter, nicht weniger empfindlicher Vorwurf: Dylans neue Schreibweise verrate ein Versiegen der Schöpferkraft eines alternden Autors. So vehement einige Kritiker das rühmten, was sie als neuen künstlerischen Aufbruch erlebten, so enttäuscht, ja empört zeigten sich andere. Um hier nur zwei der gewichtigsten Stimmen zu zitieren: Sean Wilentz hat, in einem Buch, dem das hier vorliegende sehr viel verdankt, emphatisch erklärt (und im großen Schlussteil ausführlich begründet), «Love And Theft» sei «das abwechslungsreichste aller Dylan-Alben seit den Basement Tapes». Gerade im souveränen Spiel mit Zeiten und Stilen («Dylan reist nach Belieben durch Zeit und Raum») habe er «etwas Neues und Originales» geschaffen.[8] Genau umgekehrt argumentierte Dylans bester Biograph und Song-Historiker, der Brite Clinton Heylin, der nach «Love And Theft», Modern Times und Together Through Life argwöhnte: «was immer seine Absicht war, er verlor das Gefühl dafür, wo der Einfluss endet und das Plagiat beginnt.» Das führt Heylin zu einer rigorosen Abwertung dieser späten Alben: «die Songs, die dabei herauskamen und die seine letzten drei Alben umfassen, legen nahe, dass Dylan selbst den Prozess nicht mehr unter Kontrolle hat oder sein Material mit der nötigen Gewissenhaftigkeit behandelt».[9] Plagiat aus Inspirationsmangel also, und schlimmer noch: ein zunehmender Kontrollverlust des alternden Künstlers.

Was beide übersahen, war die Beharrlichkeit, mit der Dylan selbst sein Verfahren teils vor, teils während der Veröffentlichung dieses Spätwerks schon offengelegt und begründet hatte. Und da ging es um ganz andere Kategorien als nur das Spiel mit Traditionen oder die Kompensation eigener Einfallslosigkeit.

Tausendundeine Stimme

Schon kurz nach «Love And Theft» gab Dylan die auffälligste Begründung einer Kunst der Pastiches und Montagen, der Collagen und Découpagen. Er gab sie explizit selbstkritisch und, ebenso explizit, zeit- und kulturkritisch in einem dies alles auch selber exemplifizierenden Film, den er etwa gleichzeitig mit der Arbeit an dem Album begonnen hatte und der dann 2003 sehr viel schneller wieder aus den Kinos verschwand, als Dylan zu seiner Konzeption gebraucht hatte. In der Tat war Masked and Anonymous, geschrieben und gedreht in Kooperation mit dem Regisseur Larry Charles, am Ende wohl wirklich missglückt und darum in der Filmkritik zu Recht verrissen worden. Aber wer das Neuartige an Dylans Song Poetry seit 2001, das Neuartige an der Poetik dieses Spätwerks verstehen will, kommt um ihn, ganz unabhängig von Gelingen oder Scheitern, schlechterdings nicht herum.[10] Ihm wird darum im Folgenden ein eigenes Kapitel gewidmet sein. Denn es ist der umfangreichste Versuch, heterogene amerikanische und weltliterarische Traditionen zugleich aufzurufen und aufs Spiel zu setzen, um mit einer amerikanischen Gegenwart zurande kommen zu können, die als Zerfall aller bislang verbindlichen Ordnungsvorstellungen erschien und die im Zitat repräsentiert und reflektiert werden sollte als apokalyptischer Totentanz und als travestierendes Satyrspiel in eins.

Eine zweite und knappere Begründung gab er fast gleichzeitig, aber an einem sehr viel weniger auffallenden Ort. Dafür ging es hier, deutlicher als irgendwo sonst, um die Ersetzung einer monologischen durch eine genuin dialogische, polyphone Song-Kunst: um einen selbstkritischen Umgang mit den bekenntnis- und bekehrungswütigen Songs seiner eigenen evangelikalen Vergangenheit in den Jahren um 1979 bis 1981. Denn niemals, auch nicht in den Anfangsjahren des politischen Engagements, hatte er sich zugleich so intertextuell und so monologisch geäußert wie in den Bibel-Adaptationen dieser Zeit, in der ganze Songs sich beschränkten auf die teils zitierende, teils paraphrasierende Umschreibung biblischer Textstellen (die auch Spannungen der Vorlagen noch harmonisierend ausglichen). So variierte In the Garden[11] Abschnitte aus dem 3. und dem 18. Kapitel des Johannesevangeliums, Are You Ready[12] apokalyptische Schilderungen aus verschiedenen Texten des Neuen Testaments, Watered-Down Love[13] Verse aus dem 13. Kapitel des 1. Briefes des Paulus an die Korinther – und so fort.

Eine Art evangelikaler Grundsatzerklärung hatte schon auf Slow Train Coming1979 die zweite Albumseite eröffnet: Gonna Change My Way of Thinking, das vehemente Bekenntnis zu einem strikten Inventar religiöser und moralischer Regeln. «Gonna change my way of thinking», so began der Song, «Make myself a different set of rules». Diese Anfangszeilen wurden immerhin beibehalten, als Dylan denselben Song 2003, zwei Jahre nach «Love And Theft», noch einmal neu aufnahm. Ansonsten aber blieb nun weder musikalisch noch textlich ein Stein auf dem anderen. Im Duett mit der befreundeten Soul- und Gospelsängerin Mavis Staples sang Dylan Gonna Change My Way of Thinking jetzt als eine Art persönliches Nachwort zu einer Sammlung von Neuinterpretationen anderer Musiker von The Gospel Songs of Bob Dylan.[14] Aus dem jazzgetönten funky Sound, den die Muscle Shoal Studios seinem missionarischen Blues damals unterlegt hatten, wurde nun ein harter, fast aggressiver Rocksong, den der Sänger mit bärbeißig heiserer Stimme fauchte und bellte. Vor allem die wenigen verbliebenen Verszeilen seines einstigen Songs aber überlagerte Dylan mit einem neuen Text, der fast ausnahmslos – und, wie jetzt fast immer, unmarkiert und nur für Kenner identifizierbar – aus alten Songtiteln des American Songbook bestand: Gonna Sit at the Welcome Table, When God Comes and Gathers His Jewels, The Sun Is Shining, The Storms Are On the Ocean.

Clinton Heylin, der diese Vorlagen detailliert nachgewiesen hat, kommentierte seinen Befund mit der ebenso ratlosen wie verständnislosen Bemerkung: «It is almost as if he cannot bring himself to sing a single original verse».[15] Nein, Dylan will offenkundig entschieden keinen neuen «originalen Vers» schreiben, weil er gerade diejenigen Strophen, in denen er selbst einst mit eiferndem Bekehrungsfuror gepredigt hatte, wieder eingehen lässt in die kollektiven Ursprünge, denen sie ebenso entstammten wie der Gestus dieser Bekenntnisse und Bekehrungsgottesdienste selbst, weil er hier wie überall in diesen späten Jahren das, was einmal Ich hieß, auflöst ins vielstimmige Orchester der Songtraditionen. Gewiss, er singt mit Verve die Zeile «Oh Lord, you know I have no friend but you». Aber er singt sie im Zitat, selbstironisch und solidarisch zugleich. Und das Programmatische daran wird hier ausnahmsweise an Ort und Stelle, und zwar auf dieselbe indirekt-zitathafte Weise, kommentiert.

Die Neuaufnahme ist nämlich eingebettet in einen durchaus improvisiert wirkenden gesprochenen Dialog Dylans mit der ‹überraschend› zur Studiotür hereinkommenden Mavis Staples. Beide spaßen ein bisschen miteinander, auf die Frage nach seinem Wohlergehen seufzt Dylan, er habe den Blues, und Mavis ermutigt ihn, Trost im gemeinsamen Musizieren zu suchen; sogleich geht der Song mit hohem Tempo los. Die Szene aber wiederholt Wort für Wort eine sehr alte Radionummer, in der einst der legendäre Countrysänger Jimmie Rodgers genau diese Scherze mit der Carter Family getrieben hatte. Wer davon nichts mehr wusste, den wies Dylan selbst wenig später unauffällig darauf hin, als er ebendiese alte Aufnahme in seiner eigenen Rundfunkserie Theme Time Radio Hour abspielte,[16] ohne ein einziges Wort, das auf seine eigene Adaptation hingewiesen hätte. Wer die Spur erkannt hatte, befand sich unversehens mitten im Konzert eines amerikanischen Überlieferungsgeschehens, aus dem Dylans Song 1979 hervorgegangen war und in das er nun, 2003, wieder einging.

Einen frühen Kommentar und die erste differenzierte Beschreibung dessen, was nach längerer Inkubationszeit mit «Love And Theft» öffentlich wurde, hatte Dylan schon vor einigen Jahren gegeben, an noch entlegenerer und darum noch häufiger übersehener Stelle als die lustige Selbstinszenierung und -kommentierung mit Mavis Staples. Im Jahr 1997 hatte Dylan als Sammler und Herausgeber ein Tributalbum für den Country-Pionier Jimmie Rodgers (1897–1933) initiiert: nach seinen ‹archäologischen› Alben Good As I Been to You von 1992 und World Gone Wrong von 1993 eine weitere demonstrative Rückkehr zur amerikanischen Tradition.[17] Für dieses Album verfasste er einen Begleittext, der sich heute nicht nur als Rückblick und Mahnung liest («we point you back there so you can feel it for yourself and see how far off the path we’ve come»), sondern vor allem als eine erste Ankündigung des Kommenden.

Denn an diesen klassischen Songs betont Dylan nun gerade nicht das Image, das den Klassikerstatus zuallererst begründete und das er auch selber zitiert. Nicht von Jimmie Rodgers’ Aufbrüchen spricht er, sondern vielmehr von seiner Herkunft. Nicht das Individuelle und Neue seiner Musik fasst er ins Auge, sondern das Alte, Kollektive und Anonyme – aus dessen Auswahl und Neuordnung das Neue, Individuelle dann erst hervorgegangen sei. Das beginnt mit der anderen Kritikern etwas peinlichen Heterogenität des Materials, mit dem Rodgers gearbeitet habe: Nicht nur seine eigenen «upbeat blues and railroading songs» habe er schließlich gesungen, sondern auch Erzeugnisse der amerikanischen Schlagerfabrik und Wiegenlieder für romantische Tenöre, «Tin Pan Alley trash and crooner lullabies». Dieses heterogene Material habe er erst durch den «refined style» seines Gesangs zu seinem Eigentum gemacht («He makes everything unmistakably his own and does it with piercing charm») – einen Stil, den Dylan nun als «an amalgamation of sources unknown» beschreibt, «too cryptic to pin down». Denn was macht den Stil und die Stimme dieses Sängers aus? Hier ist Dylan im Zentrum seines Arguments angekommen: «His is a thousand and one voices yet singularly his own.» Die Stimmen aus tausendundeiner Quelle – sie sind versammelt, kondensiert in der Stimme des einen Sängers, der sie sich zu eigen macht. Wer Jimmie Rodgers hört, hört auch diese Stimmen – selbst wenn er sie nicht identifizieren kann, ja selbst wenn er sie nicht einmal bemerkt. Das ist, bis hinein in die märchenhaft-mythische Überhöhung des «a thousand and one», die denkbar knappste Zusammenfassung dessen, was Dylan selbst ab «Love And Theft» tun wird. Es ist das Programm seines eigenen Spätwerks; und dass er es indirekt entwickelt, in der Beschreibung eines der Sänger, deren Stimmen von den Anfängen an auch in seine Songs und seine Stimme eingegangen sind, das illustriert, wovon er spricht.

Was aber ist es, dass diese Stimmen verbindet und das es erlaubt, als Einzelner im Namen, in Stellvertretung der Vielen zu sprechen? Immer noch am Beispiel von Jimmie Rodgers antwortet Dylan 1997:

He gets somehow into the mystery of life and death without saying too much … Times change and don’t change. The nature of humanity has stayed the same.

Dort also die Geschichte, in der tausendundeine Stimme nach und nach erklingen und verstummen – hier die Gegenwart eines «Mysteriums», das die Zeiten überdauert, weil es der Menschheit selbst angehört, der «nature of humanity».

Mysterien also, Menschheit, Zeitlosigkeit – große Worte, beiläufig eingespielt. Time Out Of Mind nennt Dylan das durchaus auf monumentale Wirkung angelegte Album, das er im selben Jahr wie diesen kleinen Essay veröffentlichte, diesem Jahr 1997, das ihn mit einer schweren Erkrankung in Lebensgefahr gebracht hatte und dann mit dem Album seine triumphale Wiederkehr einleitete. Der Titel war von kalkulierter Mehrdeutigkeit. Er bedeutet «vor unvordenklich langer Zeit», aber beim Wort genommen auch «Zeit außerhalb des Bewusstseins», Zeit, die sich nicht ändert, mythische Zeit. Tatsächlich erkundete das Album dann «the mystery of life and death without saying too much», «the nature of humanity».

Als Bob Dylan im Februar 2015, am Vorabend der jährlichen Grammy-Verleihungen, wieder einmal eine Auszeichnung für sein Lebenswerk erhielt, diesmal von der sozialen Initiative MusiCares, da nahm er das Wort von den «Mysterien» wieder auf, nun ausdrücklich im Blick auf sein eigenes Werk und in einer sehr grundsätzlichen Erklärung. «Die Rede» überschrieb die Süddeutsche Zeitung ihren Feuilletonaufmacher lapidar: «Er hat gesprochen.» Ja, fast vierzig Minuten lang hatte der notorische Schweiger gesprochen: über seine Songs und seine Kritiker, über seine musikalischen und literarischen Vorbilder, über die Countrymusic und den Blues und über Shakespeare. Den hatte Dylan gleich eingangs genannt. «These songs of mine», hatte er kategorisch erklärt, «I think of them as mystery plays, the kind Shakespeare saw when he was growing up.»[18]

Mysterienspiele also. Bedenkt man diesen an jenem Abend überraschenden, im Kontext der vorangegangenen Reflexionen aber ganz folgerichtigen Begriff, dann fasst er mindestens vier Grundsätze von Dylans später Kunst zusammen.

Erstens greift er demonstrativ weit aus in die Zeitentiefe, weit zurück hinter die amerikanischen Songs und Texte des 19. Jahrhunderts, deren Nennung man von Dylan nun schon erwartete, zurück bis in die Zeit vor Shakespeare. Noch vor ihm, dem lebenslangen Rollenmodell (darum wird es im dritten Kapitel gehen), steht das archaische und anonyme Volkstheater, aus dessen Traditionen dann auch die Menschheitsdichtung Shakespeares hervorging, time out of mind.

Zweitens bezieht sich Dylans Satz unter allen archaischen Kunstformen auf diejenige, die es am offensichtlichsten mit Themen zu tun hat, die über die Zeiten hinweg dieselben bleiben, anthropologischen Grundkonstellationen – eben dem, was er schon im Blick auf Jimmie Rodgers’ vielstimmige Countrysongs «the mystery of life and death» genannt hatte.

Drittens rückt er diese Themen mit dem Bezug ausgerechnet auf die Mysterienspiele in einen signifikant religiösen Zusammenhang ein. Die unter diesem Begriff zusammengefassten volkstümlichen Oster-, Passions- und Weltuntergangsspiele waren in den Kirchen und auf den Straßen des spätmittelalterlichen England und Europa ja aufgeführt worden, um zu heiligen Festzeiten den jeweiligen Aspekt des Heilsgeschehens im unterhaltsamen Spiel zu vermitteln, zu vergegenwärtigen; sie sind in emphatischem Sinne ‹heilige› Kunst – was keineswegs ausschließt, dass sich karnevaleske, histrionische Verfahren einschleichen und den Ernst und Geltungsanspruch der Stücke unterwandern, infiltrieren, aufmischen.

Und viertens schließlich fällt auf, dass Dylans Vergleich seiner eigenen Songpoesie mit ältester Tradition sich, wenn es schon um diese drei Aspekte gehen sollte, nicht etwa auf religiöse Songs bezieht, was doch weitaus nähergelegen hätte und leicht möglich gewesen wäre (mit seinem spätem Album My Mother’s Hymn Book hatte sein Freund Johnny Cash genau dies ja kurz zuvor getan), sondern stattdessen auf theatrale Texte, auf Mysterienspiele. Auch das erwies sich, hatte man Dylans Entwicklung in diesen späten Jahren verfolgt, als gut vorbereitet. «All the world’s a stage», hatte er in Can’t Escape from You gesungen[19] – keineswegs bloß als redensartlich gewordenes Bildungsgut; immerhin schon in seiner Radio Show hatte er diesen Shakespeare-Vers kurz zuvor rezitiert, und zwar mitsamt dem As-You-Like-It-Monolog, dem er entstammt. In Masked and Anonymous lautet derselbe Satz, in Dylans lakonischer Variante, 2003: «Are you aware, gentlemen, that this is all a play?»

Wirklich sind Dylans Songs seit «Love And Theft» in auffallender Konsequenz szenisch konzipiert, teils als Monologe von Rollen-Ichs (davon wird gleich im nächsten Kapitel ausführlich die Rede sein), teils als visuell geschilderte Szenenfolgen, die wie in Tin Angel (auf Tempest, 2012) komplett in unkommentierte Dialoge übergehen, aber auch durch eine Erzählinstanz vermittelt sein können – wie im Titelsong Tempest, dem das dritte Kapitel gewidmet ist. Viele von Dylans späten Songs sind Dramen, denen man erst auf den zweiten Blick ansieht, dass sie welche sind. Und «Mysterienspiele» im weiteren, den Jimmie-Rodgers-Essay und die Dankrede umspannenden Sinne sind sie alle.

In der Vielstimmigkeit des Zitatengestöbers und der Collagenkunst setzt Dylan die Identitätsspiele, die sein Werk und seine Selbstinszenierungen von Beginn an bestimmt haben, auf einem veränderten Schauplatz fort. Zu diesem Schauplatz gehört, wie die amerikanische Musik, die Weltliteratur mitsamt ihren spezifisch amerikanischen Anverwandlungen und Brechungen – und mitsamt Dylans bisherigem eigenen Werk, das in Zitaten und Anspielungen, Echos und Reminiszenzen allgegenwärtig ist und das nun selber eingeht in den Chor der Stimmen. Zugleich damit, und gewissermaßen im Gegenzug, macht er inmitten von Zitatengestöber und Collagenkunst etwas kenntlich, das man ‹anthropologische Grundsituationen› nennen könnte: Einsamkeit und Verlust, Lebensverlangen und Todesangst, Hoffnung und Trauer und so fort. Und in der einen, der mit den Identitäten spielenden, wie der anderen, der auf menschliche Grunderfahrungen zielenden Hinsicht sind Zitatengestöber und Collagenkunst nicht nur Mittel, sondern selber schon Teil dessen, worum es geht. Wovon die Songs erzählen, das wird durch ihre Textur beglaubigt: Im Gesang eines jeweils Einzelnen spricht der Chor der vielen mit, die in den wechselnden Jahrhunderten und Kulturen Ähnliches erfahren haben. Er redet in Zungen, in ihren Zungen.

«Dylans Genie», hat Sean Wilentz in der Einleitung zu seinem Buch geschrieben, «beruht nicht einfach auf der Kenntnis all dieser Zeitalter nebst ihren Klängen und Bildern, sondern auch auf seiner Fähigkeit, in mehr als einer Ära gleichzeitig zu schreiben und zu singen.»[20] Weniger mit den alten Identitätsfragen, den romantischen und den postmodernen, hat es das vielfarbige Textgewebe von Dylans Spätwerk darum zu tun als mit einer religiösen, einer kunstreligiösen Aufladung von Songs, in denen auch die Stimmen der Untoten endlich Gehör und am Ende vielleicht auch Ruhe finden. Seine Form der minstrelsy ist das mystery play, im Dialog seiner Songpoesie mit der Weltliteratur – aber eben wie dort im gewollten Durch- und Miteinander von high culture und popular culture, von Schwarz und Weiß, von Theater, Jahrmarkt und Musik.

Denn mit den Grenzen der Epochen und Kulturen verschwimmen auch diejenigen von Bildungs- und Popularkultur. Der Shakespeare des elisabethanischen Theaters und der Shakespeare der wandernden Jahrmärkte in den USA um 1900: sie sind in Dylans später Songwelt ein und derselbe, so wie die Herrscher und Poeten des augusteischen Rom bei ihm aussehen können wie amerikanische Präsidenten und Sänger des 19. Jahrhunderts (und umgekehrt). Der Westernheld, der sich in einem dieser späten Dylan-Songs unverhofft in der Nachbarschaft, nein: in der Haut eines antiken Dichters wiederfindet, dürfte darüber ebenso verblüfft sein wie dieser – bis beide erkennen, dass sie womöglich ein und dieselbe Gestalt verkörpern.

In den sechziger und vor allem den siebziger Jahren hatte Dylan sich, wie die meisten seiner Mitstreiter in der counter culture, für C. G. Jungs Archetypenlehre begeistert und die Schriften des jungianischen Mythendeuters Joseph Campbell gelesen. Was er seit 2001 betreibt, zeigt manchmal noch die Nachwirkungen dieser Interessen. Aber die historische Neugier hat ungleich schärfere Konturen gewonnen – oder wiedergewonnen, wenn man dem verklärten Selbstbild des Autobiographen Dylan glauben will, der – seinen Chronicles zufolge – schon in seinen frühen Jahren ausgiebig und gleichzeitig alte amerikanische Zeitungen des 19. Jahrhunderts und die Schriften des Thukydides durchgeblättert haben will.

«I’m listening to Billy Joe Shaver», singt Dylan auf Together Through Life2009, «And I’m reading James Joyce».[21] Dieser Satz über den irischen Erzähler und den texanischen Countrysänger könnte erweitert werden durch eine lange Reihe ähnlicher Paarungen. Und er wird im Laufe der folgenden Kapitel um einige ähnliche Paarungen erweitert werden, Ausschnitte einer vielleicht unabschließbaren Reihe: Merle Haggard und Ovid, Shakespeare und Jerry Lee Lewis, Shakespeare und die Carter Family, Shakespeare und die Mafiafilme, die Beatles und Homer, Petrarca und Sinatra; Allianzen voller Dramatik und Komik, Travestie und Tragödie, Diebstahl und Liebe. Und immer bezeichnen die Namenspaare nur vorläufige Knotenpunkte in einem Netz der Bezüge, dessen Anfang und Ende sich im Offenen verlieren.

In einem 2001 geführten Interview bezeichnete Dylan «Love And Theft» als «completely autobiographical».[22] Das war ironisch wie so viele seiner Repliken auf die Fan-Erwartung persönlicher Bekenntnisse. Aber es war auch vollkommen zutreffend, insofern dieses und die folgenden Alben – und sogar die vorgeblichen Lebenserinnerungen Chronicles – ein Ich zeigen, das die (durchaus vorläufige und fluktuierende) Summe der Vielen ist.

Es scheint, als habe Dylan, der notorische shape shifter, seine jahrzehntelang betriebenen Spiele mit den eigenen Rollenwechseln gewissermaßen ausgelagert in die kollektive Stimmenvielfalt seiner Songs. In einem Interview 2009 fügte er den bei näherem Hinsehen ziemlich rätselhaften Satz hinzu: «The people in my songs are all me.» Was für ein Wechsel, in der Tat! Einst hatte er Rimbaud zitiert und die Maxime «Ich ist ein Anderer» – jetzt erklärt er, alle Anderen seien er selbst. Jedenfalls für die Dauer eines Songs, in dem die Stimmen der Toten und der Lebenden, der Entfernten und der Nahen, der Namhaften und der Unbekannten sich auf unvorhersehbare Weise vermischten.

Eben darum bleibt auch die Deutungsoffenheit seiner Mysterienspiele gesichert, an der Dylan von jeher so gelegen ist. Dieser «moderne Minstrel-Stil», schreibt Wilentz, sei eben ein Stil, lange erarbeitet und sich immer noch weiter entwickelnd; er habe keine message, «keine Doktrin oder Ideologie».[23] Gerade weil es so viele Stimmen und so viele Zeiten sind, die hier wie aus einem Munde, die hier aus seinem Munde sprechen, und gerade weil die Situationen, von denen und aus denen heraus sie sprechen, so abgründig sind: gerade darum lässt sich zwar ziemlich genau beschreiben, wer hier wie und wovon spricht. Aber worauf dies alles hinauslaufen könnte, das entscheidet sich in den Hörern. Und vielleicht entscheidet es sich bei jedem neuen Hören neu.

Vorspiele und Übergänge

Natürlich: gestohlen, gestrichen und neu kombiniert wurde in der mündlichen Songpoesie nicht nur der amerikanischen Traditionen jederzeit und nach Herzenslust. Schon in den frühen Gedichten von 11 Outlined Epitaphs (1964) verteidigte Dylan die «Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums», die den jungen Brecht-Bewunderer mit seinem Vorbild verband, mit Sätzen wie dem neuerdings wieder oft zitierten Vers «Yes I am a thief of thoughts». Und bis heute hat Dylan alle Diebstahls- und Plagiatsvorwürfe immer wieder mit der Bemerkung abgewehrt, so gehe es eben zu in der Volkspoesie seit elisabethanischen Zeiten und in den Folksongs der Moderne, in der populären Musik nicht anders als auf den Bühnen der minstrel shows:

Quotation is something that happens a lot in the music world. Merle Haggard can mimic Johnny Cash and Willie Nelson perfectly. The Beatles, in Back in the USSR, mimic the Beach Boys. Quotation is a phrase that is used all the time in jazz solos. It happens a lot in old-time string band music, too. One song is always using a line from another song to brace it. But then goes on to another tangent. Minstrels did it all the time. Weird takes on Shakespearean plays, stuff like that.[24]

Und in der Tat, die Kritiker, die nach dem Hören der Bluesnummern von Modern Times triumphierend auf die Muddy-Waters-Titel verwiesen, die Dylan plagiiert habe, mussten sich daran erinnern lassen, dass Muddy Waters die Vorlagen seinerseits von anderen Bluessängern übernommen und abgewandelt hatte, die sie wieder von anderen aufgegriffen hatten; Ursprung und ‹Original› verloren sich in der Zeitentiefe.

So ist denn auch angesichts der späten Alben immer wieder geltend gemacht worden, Dylan habe seine Songs schließlich immer schon aus den Traditionen des Blues, der Country- und Folksongs, der Arbeiter- und Kinderlieder, des Bluegrass und des frühen Jazz entwickelt; in den erst lange nach ihrer spielerischen Entstehung veröffentlichten Basement Tapes und in ‹archäologischen› Alben von Self Portrait1970 bis zu seinen Hommagen an Jimmie Rodgers, die frühen SUN-Aufnahmen[25] oder Hank Williams[26] habe er diese Beziehungen ja auch mit Lust und Liebe offengelegt. Und spätestens seit seiner jugendlichen Begeisterung für Brecht, dessen Seeräuber-Jenny er, wie in Chronicles lebhaft geschildert, 1964 zu When the Ship Comes In umgeschrieben hatte, habe ja gerade seine Songpoesie, mehr als diejenige seiner Alters- und Zunftgenossen, auch literarische Anregungen und Vorbilder aufgenommen, von Chaucer bis zu Keats, von Lord Byron bis zu Allen Ginsberg.

Das alles ist unbestreitbar richtig. Aber gerade im Kontrast zu Dylans früherem Umgang mit literarischen Quellen zeigt sich, was sich mit «Love And Theft»2001 grundlegend geändert hat, innerhalb des Dylan’schen Song-Kosmos, vielleicht auch innerhalb der zeitgenössischen Song Poetry überhaupt. Diese Behauptung verlangt noch einen letzten Rückblick – den Leser, die nur an diesen späten Songs interessiert sind, getrost überblättern können, um ihre Lektüre mit dem nächsten Kapitel fortzusetzen.

Wenn in Ballad of a Thin Man1965 Fitzgerald erwähnt wird, dann geschieht das explizit, mit den höhnischen Worten «You’ve been to all of F. Scott Fitzgerald’s books/You’re very well-read, it’s well-known». Fast vierzig Jahre später, in der Rockabilly-Nummer Summer Days auf «Love And Theft», singt Dylan den komisch-überlangen Vers: «She says, ‹You can’t repeat the past›, I say, ‹You can’t? what do you mean, you can’t? Of course you can!›» Auch das ist Fitzgerald; die Zeile stammt aus einem Dialog in The Great Gatsby. Diesmal aber fehlt jeglicher Hinweis auf Autor und Text; wer die Anspielung nicht bemerkt, muss die Passage für Dylans Erfindung halten. Sie ist ebenso vollständig eingeschmolzen in den Zusammenhang des Songs wie gleich daneben ein Zitat aus einer Rede von Abraham Lincoln, das erst Sean Wilentz identifizierte,[27] und die Entlehnungen aus frühen Rockabilly-Songs.

So wie in Ballad of a Thin Man geht es im früheren Werk fast immer zu. Wo zitiert wird, da sind Autoren, Titel von Werken und Figuren freigebig beim Namen genannt oder so auffallend markiert, dass sie leicht wiederzuerkennen sind: «Shakespeare he’s in the alley»;[28] «Ezra Pound and T. S. Eliot are fighting in the captain’s tower»;[29] «Relationships have all been bad/Mine have been like Verlaine’s and Rimbaud».[30] In den Zeilen «The bridge at midnight trembles/The country doctor rambles» ist Kafkas Landarzt ebenso leicht zu identifizieren wie, im selben Song, in den Versen «My love she’s like some raven/At my window with a broken wing», Edgar Allen Poes The Raven,[31] in «the wasteland of your mind» T. S. Eliot.[32] Und selbst wenn Dylan in Desolation Row1965 unmarkierte Formulierungen aus Jack Kerouacs im selben Jahr erschienenen Desolation Angels übernimmt, dann muss der Songtitel angesichts der Nähe zwischen dem Roman des alten und dem Song des neuen Beat Poet eher wie ein Quellenhinweis wirken denn als Camouflage.[33] Diskrete Zitate hingegen bleiben Ausnahmen und fallen oft so kurz aus, dass nicht leicht zu entscheiden ist, ob es sich überhaupt um Zitate handelt oder lediglich um Koinzidenzen.

Wie grundlegend sich Dylans Verhältnis zur weltliterarischen Tradition wandelt, zeigt sich vielleicht am drastischsten an seinem Verhältnis zur römischen Antike. 1971 interessieren ihn die Trümmer der alten Welt nur als Gegenbild zu den schönen Vergnügungen der neuen. Damals begann sein Song When I Paint My Masterpiece effektvoll und spöttisch in den Ruinen Roms:

Oh, the streets of Rome are filled with rubble

Ancient footprints are everywhere

You can almost think that you’re seein’ double

On a cold dark night on the Spanish Stairs

Gegen den europäischen Schutt und Schmutz hatte er damals die Wonnen der amerikanischen Gewöhnlichkeit gepriesen:

Sailin’ around the world in a dirty gondola

Oh! to be back in the land of Coca-Cola –

und das «Co-ca-Co-laaa» hatte er genussvoll auskostend in die Länge gezogen.

Dreißig, vierzig Jahre später hat sich die Wahrnehmung der römischen Antike ebenso radikal gewandelt wie die frappierende Aufmerksamkeit, die Dylan ihr nun lesend und schreibend entgegenbringt.[34] Jetzt liest Dylan die antiken Texte neu, und erst jetzt wird die Doppelperspektive, die 1971 in «that you’re seein’ double» bloß spaßhaft angedeutet war, zur produktiven Kraft. Wenn auf Modern Times2006 Figuren und Szenerien des Wilden Westens sich überlagern mit solchen aus dem augusteischen Rom, wenn Masked and Anonymous2003 die Orientierung des jungen Amerika am alten Rom ausführlich zum Thema macht, wenn auf Tempest2012 Szenen aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg sich mit den Bandenkriegen der verfallenden postindustriellen Metropolen vermischen, unter dem Titel Early Roman Kings und im Soundtrack des Chicago Blues: dann ist nicht mehr zu unterscheiden, wo die europäische Antike aufhört und die amerikanische Gegenwart beginnt.[35]

Wie ein Vorspiel zu den verkleideten Montagen und Collagen des Spätwerks erscheint im Rückblick Dylans Umgang mit Zitaten aus klassischen Kinofilmen in den siebziger und achtziger Jahren. Sean Wilentz hat ein wunderbares Kapitel darüber geschrieben, wie die Inszenierung von Dylans Rolling Thunder Revue1975 bis in die Gestaltung des Bühnenvorhangs und in Dylans Maskierung hinein dem Vorbild von Marcel Carnés und Jacques Préverts Les Enfants du Paradis (1945) folgt; Dylans aus dieser Minstrel-Tour hervorgegangenes eigenes Filmexperiment Renaldo & Clara setzt diese Aneignung fort.[36]

Schon von früh an hat das Kino zu den beliebten Sujets und Motivlieferanten von Dylans Songs gehört.[37] Verglichen mit diesen expliziten Bezugnahmen aber zeigt der Umgang mit einigen klassischen Humphrey-Bogart-Filmen der «Schwarzen Serie» auf dem Album Empire Burlesque (1985) bereits ein ganz neues Verfahren. Gleich die ersten Verse des ersten Songs klingen so dylanesk wie eh und je: «Well, I had to move fast/But I couldn’t with you around my neck», sie zitieren aber wörtlich einen Dialog aus Scirocco.[38] Nicht anders der Anfang der zweiten Strophe: «You want to talk to me/Go ahead and talk», der aus The Maltese Falcon entlehnt ist – was nur diejenigen Hörer bemerken, denen diese Filme so vertraut sind wie Dylan selbst.[39]

Denn der hat das unmarkierte und fast unbearbeitete Diebesgut so fugenlos mit den eigenen Formulierungen verbunden, dass es wie sein eigener Text erscheint und so, als habe es sich schon immer um metrisch geregelte und gereimte Verse gehandelt. Muss er das Zitierte zu diesem Zweck doch einmal abwandeln, tut er es mit minimalem Aufwand. In I’ll Remember You singt er: «There’s some people that/You don’t forget/Even though you’ve only seen them one time or two» – in The Big Sleep lautet der Satz fast genauso, nur endet er mit den Worten «even if you’ve only seen them once», was sich aber eben nicht auf «I’ll remember you» reimt.[40] Seeing The Real You At Last beginnt mit den Zeilen «I thought that the rain would cool things down/But it looks like it don’t» – in John Hustons Key Largo sagt Bogart das ein wenig kürzer («Think this rain would cool things off, but it don’t»). Dylan passt seinen Satz nur an das Metrum an, so wie er im selben Song den Bogart-Satz «I’ll have some rotten nights after I’ve sent you over – but that’ll pass» (in The Maltese Falcon) nur im Tempus an die Story seines eigenen Songs anpasst und rhythmisch reguliert: «Well, I have had some rotten nights/Didn’t think that they would pass». Die Rollenspiele des Films, die Bogart-Rollen: sie sind in Dylans Album nicht weniger dominant als in Woody Allens Play It Again, Sam. Nur bleiben sie knapp unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.[41]

So geschmeidig und unauffällig Dylan die Zitate in die Songs einarbeitet, so wenig sucht er ihre Quellen zu verbergen; nichts leichter, als Phrasen aus einigen der kanonischen films noirs des amerikanischen Kinos wiederzuerkennen – sofern man cineastische Vorkenntnisse besitzt. In dem Augenblick, in dem der Hörer sie tatsächlich wiedererkannt hat, bemerkt er in den Songs einen doppelten Boden aus Selbstironie und Entpersönlichung: Nicht ein individuelles Ich singt hier von Liebe und Einsamkeit und stoischem Aushalten, schon gar nicht jemand namens Bob Dylan, sondern ein amerikanisches Rollenmuster und eine in Amerika entwickelte Kunstform. (In einem Interview erklärt Dylan, der Film, und damit meint er zuerst den amerikanischen Film, sei «the ultimate art form».[42]) Was der Sänger in Seeing The Real You At Last singt, ist eine nachträgliche Liebeserklärung nicht nur an die verräterische Geliebte, sondern auch an dieses Kino und seine mythischen Plots und Gestalten – denen er selbst sich in dem späten Film Masked and Anonymous mit größter Aufmerksamkeit erneut zuwendet (dazu das vierte Kapitel): «At one time there was nothing wrong with me/That you could not fix.» Es sind Bogarts letzte Worte in The Big Sleep.[43]

Hier bereitet sich schon das Zitat- und Collagenspiel der späten Songs vor, die Dylan im Februar 2015 mit den mystery plays verglichen hat, «the kind Shakespeare saw when he was growing up», dieses Spiel, in dem die vielen Stimmen zu seiner Stimme werden. Wie ernsthaft er das Mysterien- als ein religiöses Spiel betreibt, das deutet sich schon in den noch tastend experimentierenden Kino-Reminiszenzen an. Am Ende seines Gedichtzyklus 11 Outlined Epitaphs notiert Dylan 1963 Verse, die im Rückblick beinahe prophetisch erscheinen. Da geht es um Truffauts Ne tirez pas sur le pianiste: