Die störrische Braut - Anne Tyler - E-Book
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Die störrische Braut E-Book

Anne Tyler

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Beschreibung

Eine turbulente Komödie um eine moderne Frau, die nicht gezähmt, sondern überzeugt werden will

Kate Battista ist frustriert. Während sie ihrem exzentrischen Vater brav den Haushalt führt, hat ihre jüngere Schwester Bunny nur Flausen im Kopf. Und auch in ihrem Kindergartenjob gibt es immer nur Ärger. Professor Battista hat derweil andere Sorgen. Die Aufenthaltsgenehmigung seines brillanten weißrussischen Laborassistenten Pjotr läuft bald ab. Der Professor heckt einen Plan aus und verlässt sich dabei wie immer auf seine ältere Tochter. Doch Kate sieht rot.

In ihrer furiosen Neuinterpretation von Shakespeares Komödie »Der Widerspenstigen Zähmung« stellt Anne Tyler das Verhältnis zwischen Vätern, Töchtern und Ehemännern auf den Kopf – herrlich turbulent und voller Situationskomik.

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Seitenzahl: 285

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Über das Buch

Kate Battista ist frustriert. Wie kommt es eigentlich, dass sie ihrem exzentrischen Vater brav den Haushalt führt und sich um ihre jüngere Schwester Bunny kümmert, die nur Flausen im Kopf hat? Auch in ihrem Kindergartenjob gibt es immer nur Ärger. Professor Battista hat andere Sorgen. Mit seiner jahrzehntelangen Forschungsarbeit steht er kurz vor dem Durchbruch, wenn, ja wenn sein brillanter Assistent Pjotr nicht des Landes verwiesen wird. Die Aufenthaltsgenehmigung des Weißrussen läuft bald ab. Doch Professor Battista hat einen Plan, und wie immer verlässt er sich auf seine ältere Tochter. Doch diesmal sieht Kate rot.

Eine herrlich turbulente Komödie um einen manipulativen Vater, eine sich heftig zur Wehr setzende Tochter und einen Bräutigam, in den sich die Braut wider Willen zu guter Letzt doch noch verliebt.

Über die Autorin

Anne Tyler, Jahrgang 1941, hat zahlreiche Bestseller geschrieben, von denen mehrere verfilmt wurden. Ihr zuletzt erschienener Roman Der leuchtend blaue Faden war für den Baileys Women’s Prize for Fiction sowie den Man Booker Prize 2015 nominiert.

Die Frage, warum das wegen seiner Frauenverachtung bereits zu Shakespeares Zeit umstrittene Stück Der Widerspenstigen Zähmung immer noch so beliebt ist (Kiss me Kate; 10 Dinge, die ich an Dir hasse), beschäftigt Anne Tyler schon lange: »Katharinas Verwandlung von einer selbstbewussten jungen Frau in eine lammfromme Ehegattin muss doch einen tieferen Grund haben. Den wollte ich herausfinden und die Geschichte neu erzählen.«

Anne Tyler

Die störrische Braut

Roman

Aus dem Englischen von Sabine Schwenk

Knaus

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Vinegar Girl« bei Hogarth, einem Imprint der Penguin Random House Group, LondonDieser Roman ist Teil der Reihe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage© der Originalausgabe Anne Tyler 2016© der deutschsprachigen Ausgabe 2016 beim Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Sabine KwaukaUmschlagmotiv: Bridgeman Images, Natural History MuseumSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-18279-3V002www.knaus-verlag.de

Die störrische Braut

1

Kate Battista arbeitete hinten im Garten, als in der Küche das Telefon klingelte. Sie richtete sich auf und horchte. Ihre Schwester war im Haus, aber vielleicht noch nicht wach. Wieder klingelte es, dann noch ein Mal und ein viertes Mal, und als sie schließlich die Stimme ihrer Schwester hörte, war es nur die Ansage auf dem Anrufbeantworter. »Hallöchen, wir sind’s! Sieht so aus, als wären wir nicht da … Sprechen Sie uns doch eine Nachricht – «

Kate marschierte bereits auf die Hintertreppe zu und warf mit einem entnervten Tsss! ihr Haar zurück. Sie wischte die Hände an ihrer Jeans ab, riss die Fliegentür auf. »Kate«, hörte sie ihren Vater sagen, »geh ran.«

Sie nahm den Hörer ab. »Was ist?«

»Ich habe mein Mittagessen vergessen.«

Ihr Blick fiel auf die Arbeitsfläche neben dem Kühlschrank, und da lag es, genau an der Stelle, wo Kate es abends hingelegt hatte. Für das Lunchpaket ihres Vaters benutzte sie die durchsichtigen Obst- und Gemüsebeutel aus dem Supermarkt, in denen der Inhalt gut zu erkennen war: eine Tupperdose und ein Apfel. »Hm«, sagte sie.

»Kannst du es mir bringen?«

»Jetzt?«

»Genau.«

»Mensch, Vater. Ich bin doch nicht der Ponyexpress.«

»Was hast du denn sonst zu tun?«, fragte er.

»Heute ist Sonntag! Ich jäte gerade die Christrosenbeete.«

»Ach, Kate, sei doch nicht so. Spring einfach ins Auto und komm kurz rüber. Sei ein braves Mädchen.«

»Himmelherrgott!« Kate knallte den Hörer auf und nahm die Tüte.

Einiges an diesem Gespräch war merkwürdig. Zunächst einmal, dass es überhaupt stattgefunden hatte; ihr Vater misstraute dem Telefon als solchem. Tatsache war, dass es in seinem Labor nicht mal eins gab; er musste also mit dem Handy telefoniert haben. Und auch das war ungewöhnlich, denn er besaß nur deshalb eins, weil seine Tochter darauf bestanden hatte. Die Anschaffung hatte zwar zunächst eine kurze Kauforgie ausgelöst – hauptsächlich wissenschaftliche Taschenrechner-Apps –, doch bald hatte er das Interesse an dem Gerät verloren, und inzwischen mied er es komplett.

Merkwürdig war außerdem, dass er sein Lunchpaket ungefähr zwei Mal pro Woche vergaß, es bisher aber noch nie bemerkt zu haben schien. Im Grunde aß dieser Mann nicht. Wenn Kate von der Arbeit nach Hause kam und seine Lunchtüte wieder einmal neben dem Kühlschrank lag, musste sie am Abend trotzdem drei oder vier Mal nach ihm rufen, bis er zum Essen kam. Er hatte immer etwas Besseres zu tun, eine Fachzeitschrift zu lesen oder irgendwelche Aufzeichnungen durchzugehen. Hätte er allein gelebt, wäre er wahrscheinlich verhungert.

Im Übrigen hätte er, wenn ihm jetzt wirklich der Magen knurrte, auch einfach vor die Tür gehen und sich etwas kaufen können. Zum Campus der Johns Hopkins University war es nicht weit, und da gab es Läden zuhauf, die Sandwiches und Fertiggerichte anboten.

Mal ganz zu schweigen davon, dass noch gar nicht Mittag war.

Doch es war ein sonniger, windiger, wenn auch frischer Tag – zum ersten Mal halbwegs annehmbares Wetter nach einem langen, bitterkalten Winter –, und eigentlich war dies doch ein guter Vorwand, um mal das Haus zu verlassen. Aber das Auto würde sie nicht nehmen; sie würde zu Fuß gehen. Ihn warten lassen. (Er selbst fuhr übrigens nie mit dem Auto, außer es gab irgendwelche Gerätschaften zu transportieren. Er hatte schon einen ziemlichen Gesundheitsfimmel.)

Betont laut zog Kate die Eingangstür hinter sich zu, denn es ärgerte sie, dass Bunny immer noch schlief. Die Bodendecker längs des Weges sahen verlottert aus; sie nahm sich vor, sie auf Vordermann zu bringen, sobald sie mit den Christrosen fertig war.

Die zugeschnürte Lunchtüte schaukelnd in der Hand, kam sie an den Häusern der Mintzs und der Gordons vorbei – imposante, großzügige Backsteingebäude im Kolonialstil wie das der Battistas, nur besser in Schuss – und bog um die Ecke. Mrs Gordon kniete gerade zwischen ihren Azaleen und verteilte Mulch um die Wurzeln. »Ach, Kate, hallo!«, flötete sie.

»Hi.«

»Sieht fast so aus, als wäre der Frühling im Kommen!«

»Ja.«

Ohne den Schritt zu verlangsamen, ging Kate mit wehender Wildlederjacke weiter. Vor ihr schlenderten zwei junge Frauen, wahrscheinlich Hopkins-Studentinnen, im Schneckentempo dahin. »Ich hab schon gemerkt, dass er mich fragen wollte«, sagte die eine. »Er hat sich ständig so geräuspert, weißt du? Dieses typische Räuspern. Und dann nicht reden.«

»Ich mag’s, wenn sie so schüchtern sind«, sagte die andere.

Kate schlug einen Bogen um die beiden und setzte ihren Weg fort.

An der nächsten Ecke ging sie nach links in eine durchmischtere Gegend mit Wohnungen, kleinen Cafés und Häusern, die in Büros unterteilt waren, bis sie ein weiteres Backsteingebäude im Kolonialstil erreichte. Es hatte einen kleineren Vorgarten als das Haus der Battistas, aber einen größeren, imposanteren Säulenvorbau. Neben der Eingangstür hing ein halbes Dutzend Schilder, auf denen diverse Namen von exotischen Vereinen und kleinen, unbekannten Zeitschriften standen. Ein Schild für Louis Battista gab es allerdings nicht. Im Lauf der Jahre hatte man ihn so oft umziehen lassen, ehe er in dieses völlig isolierte Gebäude abgeschoben wurde – in Uninähe zwar, aber meilenweit von den Räumlichkeiten der Mediziner entfernt –, dass er wahrscheinlich fand, ein Schild sei den Aufwand nicht wert.

Im Eingangsbereich reihte sich ein Aufgebot von Briefkästen an der Wand, und die wackelige Bank darunter war mit Stapeln von Flyern und Takeaway-Angeboten bedeckt. Kate ging an mehreren Büros vorbei, doch nur die Tür der »Christen für Buddha« war auf. Sie erhaschte einen Blick auf drei Frauen um einen Tisch, auf dem eine weitere Frau saß, die gerade mit einem Papiertaschentuch ihre Augen abtupfte. (Irgendwas war bei denen immer los.) Am Ende des Flurs öffnete Kate eine Tür und stieg eine steile Holztreppe hinab. Unten angekommen, blieb sie stehen, um den Code einzutippen: 1957, das Jahr, in dem Witebsky erstmals die Kriterien für Autoimmunerkrankungen definiert hatte.

Das Zimmer, in das sie gelangte, war klein und bis auf einen Tisch und zwei Klappstühle aus Metall leer. Auf dem Tisch stand eine braune Papiertüte, die sehr nach einem anderen Lunchpaket aussah. Kate legte den Beutel ihres Vaters daneben, ging zu einer weiteren Tür und klopfte mehrmals energisch an. Nach einer Weile streckte ihr Vater den Kopf heraus, die seidig schimmernde Glatze von einem schmalen, schwarzen Haarkranz umringt, olivenfarbener Teint, schwarzer Schnurrbart, randlose runde Brille. »Ah, Kate«, sagte er. »Komm rein.«

»Nein, danke.« Kate fand den Geruch in diesen Räumen unerträglich, sowohl den leicht stechenden Geruch des Labors als auch den aus dem Mäusezimmer wie von altem Papier. »Dein Mittagessen liegt auf dem Tisch«, sagte sie. »Tschüs.«

»Nein, warte!«

Er drehte sich zu jemandem um. »Pjoder? Kommen Sie, sagen Sie meiner Tochter guten Tag.«

»Ich muss gehen«, sagte Kate.

»Ich glaube, du hast meinen wissenschaftlichen Assistenten noch gar nicht kennengelernt.«

»Ist schon okay.«

Doch in diesem Moment ging die Tür ganz auf, und ein kräftiger, muskulöser Mann mit glattem, strohblondem Haar trat neben ihren Vater. Sein weißer Laborkittel war so schmuddelig, dass er farblich gut mit Dr. Battistas blassgrauem Overall harmonierte.

»Ochah!«, sagte er. So ähnlich klang es zumindest. Bewundernd blickte er Kate an. Wenn Männer sie das erste Mal sahen, machten sie häufig so ein Gesicht. Ursache war ein Haufen toter Zellen, ihre Haare, die von einem fast bläulichen Schwarz waren, gewellt und bis über die Taille reichten.

»Das ist Pjoder Scherbakow«, erklärte ihr Vater.

»Pjotr«, korrigierte ihn der Mann, ohne auch nur etwas Luft zwischen dem markigen T und dem rauen, rollenden R zu lassen. »Und Nachname Shcherbakov«, fügte er hinzu, ein einziger, explosiver Wust von Konsonanten.

»Pjoder, das ist Kate.«

»Hi«, sagte Kate und dann zu ihrem Vater: »Wir sehen uns später.«

»Ich dachte, du bleibst noch ein bisschen.«

»Wozu?«

»Na ja, du musst doch meine Brotdose wieder mitnehmen, oder?«

»Na ja, die kannst du doch selbst wieder mitbringen, oder?«

Ein plötzliches Johlen ließ beide in Pjotrs Richtung blicken. »Genauso wie die Mädchen in meine Land.« Er strahlte. »So grob.«

»Genauso wie die Frauen«, sagte Kate tadelnd.

»Ja, die auch, die Großmütter und die Tanten.«

Sie gab es auf. »Vater, kannst du Bunny sagen, dass sie nicht so ein Chaos hinterlassen soll, wenn sie Besuch bekommt? Hast du das Fernsehzimmer heute Morgen gesehen?«

»Ja, ja«, antwortete ihr Vater, während er im Labor verschwand. Einen hohen Drehhocker auf Rädern vor sich herschiebend, kam er zurück. Er parkte ihn neben dem Tisch. »Setz dich«, forderte er sie auf.

»Ich muss weiter im Garten arbeiten.«

»Bitte, Kate«, sagte er. »Du leistest mir nie Gesellschaft.«

Entgeistert sah sie ihn an. »Ich soll dir Gesellschaft leisten?«

»Setz dich, setz dich.« Er machte eine auffordernde Handbewegung. »Du kannst ein Stück von meinem Brot haben.«

»Ich habe keinen Hunger.« Trotzdem nahm sie etwas umständlich auf dem Hocker Platz und starrte ihren Vater dabei weiter an.

»Setzen Sie sich, Pjoder. Sie bekommen auch etwas von meinem Brot, wenn Sie möchten. Kate hat es extra für mich gemacht. Erdnussbutter mit Honig auf Vollkornbrot.«

»Sie wissen, ich esse nicht Erdnussbutter«, antwortete Pjotr streng. Er klappte einen der Metallstühle auseinander und nahm schräg gegenüber von Kate Platz. Sein Stuhl war erheblich niedriger als ihr Hocker, und sie konnte sehen, dass sich sein oberes Kopfhaar zu lichten begann. »In meine Land Erdnüsse sind Schweinefutter.«

»Ha, ha«, lachte Dr. Battista. »Er ist lustig, Kate, nicht?«

»Wie bitte?«

»Die fressen sie mit Haut und Haaren«, fügte Pjotr hinzu.

Er hatte Probleme, das H auszusprechen; es klang bei ihm wie ein kehliges Ch. Und die Vokale waren zu kurz. Kate hatte wenig Nachsicht mit ausländischen Akzenten.

»Warst du überrascht, dass ich angerufen habe?«, fragte ihr Vater. Aus irgendeinem Grund stand er noch. Er zog sein Handy aus einer Tasche seines Overalls. »Ihr Mädels hattet recht, das Ding erweist sich wirklich als nützlich«, sagte er. »Ich werde es jetzt häufiger benutzen.« Stirnrunzelnd betrachtete er das Handy einen Moment lang, als müsste er sich in Erinnerung rufen, was es war. Dann tippte er auf den Bildschirm und hielt es sich vors Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen wich er ein paar Schritte zurück. Es gab ein mechanisches Klicken. »Siehst du? Es macht Fotos.«

»Sofort löschen«, befahl Kate.

»Ich weiß nicht wie«, sagte er, und das Handy klickte wieder.

»Verdammt noch mal, Vater, jetzt setz dich hin und iss. Ich muss noch im Garten arbeiten.«

»Schon gut, schon gut.«

Er steckte das Handy wieder ein und setzte sich. Pjotr hatte inzwischen seine Lunchtüte geöffnet. Er nahm zwei Eier heraus, dann eine Banane, und legte alles vor sich auf die glatt gestrichene Tüte. »Pjoder schwört auf Bananen«, sagte Dr. Battista. »Ich komme ihm immer mit Äpfeln, aber davon will er nichts wissen!« Auch er öffnete seinen Beutel und nahm den Apfel heraus. »Pektin! Pektin!«, rief er und wedelte mit dem Apfel vor Pjotrs Nase herum.

»Bananen sind Wundernahrung.« Pjotr hatte die Banane in die Hand genommen und begann seelenruhig, sie zu schälen. Sein Gesicht hatte, wie Kate bemerkte, quasi die Form eines Sechsecks: die breiten Wangenknochen, die zu beiden Seiten symmetrisch auf zwei Eckpunkte zuliefen, darunter die Punkte, von denen sich die Kiefer schräg zur Spitze des Kinns hinneigten, und oben die langen, sich über der Stirn teilenden Haarsträhnen, die die Spitze des Sechsecks bildeten. »Auch Eier«, sagte er. »Die Henne und das Ei! So kluges System.«

»Kate macht mir jeden Abend, bevor sie schlafen geht, für den nächsten Tag ein Brot«, sagte Dr. Battista. »Sie ist sehr häuslich.«

Kate blinzelte.

»Aber Erdnussbutter«, sagte Pjotr.

»Tja, sicher.«

Pjotr seufzte. Er warf Kate einen bedauernden Blick zu. »Aber ist schon hübsch.«

»Sie sollten erst mal ihre Schwester sehen.«

»Also wirklich, Vater!«

»Was denn?«

»Die Schwester ist wo?«, fragte Pjotr.

»Bunny ist erst fünfzehn. Sie geht noch zur Schule.«

»Okay.« Pjotr heftete seinen Blick wieder auf Kate, die abrupt den Rollhocker vom Tisch zurückschob und aufstand. »Vergiss die Tupperdose nicht«, ermahnte sie ihren Vater.

»Was? Du gehst? Warum denn jetzt schon?«

Doch Kate sagte nur »Tschüs« – was vor allem Pjotr galt, der sie prüfend ansah –, und marschierte zur Tür.

»Katherine, Liebes, nun renn doch nicht einfach weg!« Ihr Vater war aufgesprungen. »Oje oje, das läuft ja gar nicht gut. Sie ist einfach sehr beschäftigt, Pjoder. Ich kriege sie kaum dazu, sich mal hinzusetzen und ein bisschen zu verschnaufen. Habe ich schon erwähnt, dass sie unseren ganzen Haushalt schmeißt? Sie ist sehr häuslich. Ach, das sagte ich ja schon. Und dazu hat sie auch noch einen Ganztagsjob. Habe ich Ihnen auch schon gesagt, dass sie Erzieherin in einem Kindergarten ist? Sie kann ganz wunderbar mit kleinen Kindern umgehen.«

»Was redest du da?«, fuhr Kate ihn an. »Was ist los mit dir? Ich hasse kleine Kinder, das weißt du ganz genau.«

Pjotr grinste von seinem Stuhl zu ihr hoch. »Warum Sie hassen kleine Kinder?«

»Na ja, die sind einfach nicht besonders helle, falls Ihnen das schon mal aufgefallen ist.«

Er johlte. Mit der Banane in der Hand erinnerte er Kate an einen Schimpansen. Sie drehte sich um und stieg, nachdem sie die Tür laut hinter sich hatte zuknallen lassen, zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch.

Hinter ihr ging die Tür wieder auf. »Kate?«, rief ihr Vater. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe und ging weiter Richtung Hauseingang.

Seine Schritte wurden leiser, als er den Teppichboden erreichte. »Ich will dich doch nur hinausbegleiten, warum denn nicht?«, rief er hinter ihr her.

Sie hinausbegleiten?

An der Haustür blieb sie stehen. Sie drehte sich um und blickte ihm entgegen.

»Ich habe das eben falsch angepackt«, sagte ihr Vater. Er strich mit der flachen Hand über seine Kopfhaut. In seinem Overall, Marke Einheitsgröße, der sich in der Mitte blähte, sah er aus wie ein Teletubby. »Ich wollte dich nicht verärgern.«

»Ich bin nicht verärgert. Ich bin …«

Doch das Wort verletzt kam ihr nicht über die Lippen. Gut möglich, dass es ihr Tränen in die Augen getrieben hätte. »Ich bin es satt«, sagte sie stattdessen.

»Verstehe ich nicht.«

Was sie ihm ohne Weiteres abnahm. Ganz ehrlich, er hatte überhaupt keine Ahnung.

»Was sollte das eben?« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Warum warst du in Anwesenheit dieses Assistenten so … seltsam?«

»Er ist nicht dieser Assistent, er ist Pjoder Scherbakow, und ich bin sehr froh, dass ich ihn habe. Überleg doch mal: Er ist an einem Sonntag ins Labor gekommen! Und das macht er oft. Im Übrigen ist er schon seit fast drei Jahren bei mir, da hätte ich schon erwartet, dass du wenigstens seinen Namen kennst.«

»Seit drei Jahren? Was ist mit Ennis passiert?«

»Du meine Güte! Ennis! Das ist zwei Assistenten her.«

»Oh.«

Sie wusste nicht, warum er so gereizt reagierte. Als ob er je über seine Assistenten reden würde – oder überhaupt reden, um genau zu sein.

»Ich habe wohl etwas Mühe, sie zu halten«, erklärte er. »Für Außenstehende mag es so aussehen, als wäre mein Projekt nicht besonders erfolgversprechend.«

Dies war nun etwas, das ihr Vater noch nie zugegeben hatte; Kate hatte sich trotzdem manchmal so ihre Gedanken gemacht. Plötzlich tat er ihr leid. Sie ließ ihre Hände von den Hüften rutschen.

»Ich habe mir wirklich große Mühe gegeben, Pjoder in dieses Land zu holen«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob dir das bewusst ist. Er war damals erst fünfundzwanzig, aber jeder, der auf dem Gebiet der Autoimmunität einen Namen hatte, kannte ihn. Er ist brillant. Er hat sich für das O-1-Visum qualifiziert, und das ist heutzutage wirklich eine Seltenheit.«

»Ja, Vater, schön.«

»Das O-1-Visum wird für außergewöhnliche Fähigkeiten erteilt. Es bedeutet, dass er über ein außergewöhnliches Können oder Wissen verfügt, das hier in diesem Land niemand anders hat, und es bedeutet, dass ich ein außergewöhnliches Forschungsprojekt durchführe, für das ich jemanden wie ihn brauche.«

»Schön für dich.«

»O-1-Visa laufen drei Jahre.«

Sachte berührte Kate seinen Unterarm. »Natürlich machst du dir Sorgen um dein Projekt.« Sie hoffte, dass ihre Stimme aufmunternd klang. »Aber bestimmt wird alles gut.«

»Glaubst du?«

Sie nickte und tätschelte unbeholfen seinen Arm, womit er offenbar nicht gerechnet hatte, denn er sah etwas erschrocken aus. »Da bin ich mir sicher«, erwiderte sie. »Vergiss nicht, deine Brotdose wieder mitzubringen.«

Sie öffnete die Eingangstür und trat in die Sonne hinaus. Zwei der Christen-für-Buddha-Frauen saßen auf der Treppe und steckten die Köpfe zusammen. Über irgendetwas lachten sie so schallend, dass sie Kate erst nicht bemerkten, doch dann rückten sie rasch auseinander, um sie durchzulassen.

2

Die kleinen Mädchen in Raum 4 spielten Schlussmachen. Gerade machte die Ballerinapuppe mit der Matrosenpuppe Schluss. »Tut mir leid, John«, sagte sie mit energischer, geschäftsmäßig klingender Stimme, Jillys Stimme, »aber ich bin in jemand anders verliebt.«

»In wen?«, fragte der Matrose, gesprochen von Emma G., die ihn in seinem kleinen, blauen Matrosenhemd an der Taille hochhielt.

»Das kann ich dir nicht sagen, weil die Person dein bester Freund ist, und das würde dich verletzen.«

»Wie dumm ist das denn«, mischte sich Emma B. ein. »Jetzt weiß er’s doch, weil – du hast ja gesagt, es ist sein bester Freund.«

»Wieso, der kann doch ganz viele beste Freunde haben.«

»Nein, kann er nicht. Nicht beste.«

»Kann er wohl. Ich habe vier beste Freundinnen.«

»Dann bist du komisch im Kopf.«

»Kate! Hast du gehört, was die gesagt hat?«

»Kann dir doch egal sein«, antwortete Kate. Sie half gerade Jameesha dabei, ihren Malkittel auszuziehen. »Sag ihr, dass sie selbst komisch ist.«

»Du bist selbst komisch«, sagte Jilly zu Emma B.

»Bin ich nicht.«

»Wohl.«

»Gar nicht.«

»Kate hat gesagt, du bist komisch, also!«

Kate protestierte. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Wohl.«

Fast hätte Kate »Hab ich nicht« entgegnet, doch sie wandelte es um in: »Wie auch immer, ich habe jedenfalls nicht damit angefangen.«

Die Gruppe hatte sich in der Puppenecke versammelt – sieben kleine Mädchen und die beiden Samson-Zwillinge, Raymond und David. In einer anderen Ecke umringten die restlichen sechs Jungen den Sandtisch, den sie in eine Sportarena verwandelt hatten. Mit einem Plastiklöffel katapultierten sie Legosteine in eine gewellte Wackelpuddingform aus Metall, die am anderen Ende platziert war. Die meisten schossen daneben, doch sobald einer einen Treffer landete, brach Jubel aus, und dann wurde heftig um den Plastiklöffel gekämpft, weil jeder es noch mal versuchen wollte.

Kate hätte hingehen und für Ruhe sorgen sollen, doch das tat sie nicht. Die können sich ruhig mal ein bisschen austoben, dachte sie. Im Übrigen trug sie nicht die Verantwortung; sie war schließlich nicht Erzieherin, sondern nur Betreuerin, ein himmelweiter Unterschied.

Die Charles Village Little People’s School war vor fünfundvierzig Jahren von Mrs Edna Darling gegründet worden, die immer noch die Leitung der Kindertagesstätte innehatte. Sämtliche Erzieherinnen waren inzwischen so alt, dass sie Unterstützung brauchten und jeweils eine, in der arbeitsintensiveren Gruppe der Zweijährigen sogar zwei Betreuerinnen zugeteilt bekamen. In ihrem fortgeschrittenen Alter konnte ja wohl niemand mehr ernsthaft von ihnen erwarten, dass sie einer Horde kleiner Frechdachse hinterherrannten. Die Kita befand sich im Souterrain der Aloysious Church: sonnenhelle, freundliche Räume, von denen Doppeltüren direkt zum Außengelände führten. In dem vom Außenbereich am weitesten entfernten Teil war durch Trennwände ein Raum für die Erzieherinnen entstanden, in dem die älteren Damen viel Zeit damit zubrachten, Kräutertee zu trinken und die Details ihres körperlichen Verfalls zu erörtern. Manchmal wagten sich auch die Betreuerinnen hinein, um sich einen Tee zu machen oder die Toilette mit Waschbecken und WC in Erwachsenengröße zu benutzen; allerdings hatten sie dann immer das Gefühl, in ein privates Treffen hineinzuplatzen, weshalb sie meist nicht länger dort verweilten, auch wenn die Erzieherinnen nett zu ihnen waren.

Vorsichtig ausgedrückt, war es nie Kates Plan gewesen, in einem Kindergarten zu arbeiten. Doch im zweiten Studienjahr hatte sie ihren Botanikprofessor darauf hingewiesen, dass seine Erklärung der Photosynthese »dilettantischer Scheiß« sei, worauf die Dinge ihren Lauf nahmen und man ihr schließlich nahelegte, das College zu verlassen. Sie hatte Angst vor der Reaktion ihres Vaters gehabt, aber als er die ganze Geschichte hörte, sagte er: »Nun ja, du hattest recht, es war wirklich dilettantischer Scheiß«, und damit war die Sache für ihn erledigt. So kam es, dass Kate plötzlich wieder zu Hause war und vollkommen beschäftigungslos, bis ihre Tante Thelma einschritt und ihr eine Stelle in der Kindertagesstätte besorgte. (Tante Thelma war im Vorstand. Sie war in vielen Vorständen.) Theoretisch hätte Kate im darauffolgenden Jahr ihre Wiederaufnahme ins College beantragen können, aber irgendwie tat sie es nicht. Ihrem Vater war diese Option vermutlich entfallen, und sicher war es auch leichter für ihn, mit Kate jemanden bei sich zu haben, der Dinge erledigte und nach der kleinen Schwester sah, die erst fünf war, aber schon damals die alte Haushälterin an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit brachte.

Die Erzieherin, der Kate zur Hand ging, hieß Mrs Chauncey. (Für die Betreuerinnen hießen alle Erzieherinnen »Mrs«.) Sie war eine gemütliche, extrem übergewichtige Frau, die schon Vierjährige gehütet hatte, als Kate noch gar nicht auf der Welt war. Normalerweise begegnete sie den Kindern mit freundlicher Zerstreutheit, doch wenn sich eins schlecht benahm, hieß es »Connor Fitzgerald, ich sehe genau, was du im Schilde führst!« oder »Emma Gray, Emma Wills: Augen geradeaus!«. Sie fand Kate zu lax. Wenn sich ein Kind zur Mittagsruhe nicht hinlegen wollte, begnügte sich Kate damit, »Na schön, dann halt nicht« zu sagen und beleidigt abzuziehen. Dann bedachte Mrs Chauncey sie mit einem vorwurfsvollen Blick und rügte das Kind: »Jemand tut hier nicht, was Miss Kate gesagt hat.« In solchen Momenten empfand sich Kate als Hochstaplerin. Wer war sie, einem Kind zu befehlen, mittags ein Schläfchen zu halten? Sie hatte keinerlei Autorität, und das wussten die Kinder; in ihren Augen war Kate eigentlich nur eine außergewöhnlich große, besonders aufmüpfige Vierjährige. Nicht ein einziges Mal in ihren sechs Jahren in dieser Kita hatte ein Kind sie mit »Miss Kate« angesprochen.

Hin und wieder spielte Kate mit dem Gedanken, sich eine andere Arbeit zu suchen, doch daraus wurde nie etwas. Um ehrlich zu sein, gehörten Vorstellungsgespräche nicht zu ihren Stärken. Und außerdem hatte Kate nicht den leisesten Schimmer, wofür sie überhaupt geeignet sein könnte.

Im College hatte sie sich im Gemeinschaftsraum einmal in eine Partie Schach hineinziehen lassen. Kate war nicht besonders gut, aber sie spielte mutig, draufgängerisch und unkonventionell, und so schaffte sie es, ihren Gegner zunächst in die Defensive zu drängen. Eine kleine Gruppe von Kommilitonen hatte sich als Zuschauer um das Schachbrett versammelt, was Kate nicht groß kümmerte, bis sie aufschnappte, was ein Junge hinter ihr seinem Nachbarn zuflüsterte: »Sie hat – keinen – Plan.« Genau so war es. Kurz danach verlor Kate die Partie.

Diese Bemerkung ging ihr nun häufig durch den Kopf, wenn sie sich morgens zur Arbeit aufmachte. Wenn sie dort Kindern beim Schuheausziehen half, wenn sie Knete unter Fingernägeln hervorpulte oder Pflaster auf Knie klebte; wenn sie wieder beim Schuheanziehen half.

Sie hat – keinen – Plan.

Zum Mittagessen gab es Nudeln mit Tomatensauce. Wie immer betreute Kate den einen Tisch und Mrs Chauncey auf der anderen Seite des Speiseraums den anderen. Bevor die Kinder an ihre Plätze gingen, mussten sie die Hände vorzeigen, Handflächen nach oben, dann nach unten, damit Kate oder Mrs Chauncey sie begutachten konnten. Danach setzten sich alle, und Mrs Chauncey schlug mit der Gabel gegen ihr Milchglas. »Zeit fürs Gebet!«, rief sie. Die Kinder zogen die Köpfe ein. »Lieber Gott«, sagte Mrs Chauncey mit laut tönender Stimme, »danke für dieses Essen, das du uns geschenkt hast, und danke für all diese frischen, süßen Gesichter. Amen.«

Sofort richteten sich die Kinder an Kates Tisch wieder auf.

»Kate hatte die Augen nicht zu«, sagte Chloe zu den anderen.

»Na und?«, erwiderte Kate. »Na und, Frau Oberlehrerin?«

Die Samson-Zwillinge kicherten. »Frau Oberlehrerin«, wiederholte David, als wollte er sich die Worte für einen späteren Gebrauch einprägen.

»Wenn du beim Beten die Augen auflässt«, sagte Chloe, »dann denkt Gott, du bist nicht dankbar.«

»Okay, das bin ich auch nicht«, antwortete Kate. »Ich mag nämlich keine Nudeln.«

Schockiertes Schweigen.

»Wie, du magst keine Nudeln?«, fragte Jason schließlich.

»Die riechen nach nassem Hund«, erklärte ihm Kate. »Ist dir das noch nie aufgefallen?«

»Bääh!«, machten alle.

Schnüffelnd hielten sie ihre Gesichter über die Teller.

»Und?«, fragte Kate.

Die Kinder sahen sich an.

»Stimmt«, sagte Jason.

»Als ob die meinen Hund, den Fritz, in einen alten Krabbenkorb gesteckt und gekocht hätten«, sagte Antwan.

»Bääh!«

»Aber ich glaube, die Möhren sind okay.« Allmählich begann Kate zu bereuen, dass sie überhaupt damit angefangen hatte. »Los, Leute, jetzt esst.«

Einige der Kinder griffen nach ihren Gabeln. Die meisten nicht.

Kate schob eine Hand in ihre Jeanstasche und zog einen Streifen Trockenfleisch heraus. Das hatte sie immer dabei, falls das Mittagessen nichts für sie war; Kate konnte ziemlich wählerisch sein. Mit den Zähnen riss sie ein Stück ab und begann zu kauen. Trockenfleisch mochte glücklicherweise keins der Kinder bis auf Emma W., aber die schaufelte schon die Pasta in sich rein, sodass Kate nicht teilen musste.

»Einen fröhlichen Montag, ihr Jungen und Mädchen«, sagte Mrs Darling, die an ihrem Aluminiumstock zum Tisch gehumpelt kam. Während des Mittagessens tauchte sie bei jeder Gruppe irgendwann im Speiseraum auf und schaffte es dann immer, den jeweiligen Wochentag in ihre Begrüßungsfloskel einzubauen.

»Einen fröhlichen Montag, Mrs Darling«, nuschelten die Kinder, während Kate verstohlen das angekaute Trockenfleisch in ihre linke Wangentasche schob.

»Warum essen nur so wenige?«, fragte Mrs Darling. (Ihr entging nichts.)

»Die Nudeln riechen nach nassem Hund«, sagte Chloe.

»Nach was? Du meine Güte!« Mrs Darling presste eine ihrer runzeligen, fleckigen Hände an ihre sackartigen Brüste. »Also, für mich klingt das so, als hättet ihr die Nichts-Nettes-Regel vergessen«, sagte sie. »Kinder? Wer kann mir die Regel sagen?«

Keiner gab einen Mucks von sich.

»Jason?«

»Wenn man nichts Nettes zu sagen hat«, murmelte Jason, »soll man den Mund halten.«

»Soll man den Mund halten. Richtig. Wer hat denn etwas Nettes über unser heutiges Essen zu sagen?«

Schweigen.

»Miss Kate? Haben Sie etwas Nettes zu sagen?«

»Also, das Essen ist heute … glänzend«, sagte Kate.

Mrs Darling sah ihr fest in die Augen. »Gut, Kinder«, sagte sie schließlich. »Lasst es euch schmecken.« Worauf sie sich umdrehte und zu Mrs Chaunceys Tisch stelzte.

»So glänzend wie ein nasser Hund«, flüsterte Kate den Kindern zu, die in kreischendes Gelächter ausbrachen. Mrs Darling blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich auf ihren Stock gestützt um.

»Ach, übrigens, Miss Kate«, sagte sie. »Könnten Sie heute während der Mittagsruhe bei mir im Büro vorbeischauen?«

»Klar«, antwortete Kate.

Sie schluckte ihr Trockenfleisch herunter.

Die Kinder sahen sie mit großen Augen an. Selbst Vierjährige wussten, dass es nicht gut war, ins Büro zitiert zu werden.

»Wir mögen dich«, erklärte ihr Jason nach einer Weile.

»Danke, Jason.«

»Wenn wir groß sind, mein Bruder und ich«, sagte David Samson, »heiraten wir dich.«

»Ich danke euch.«

Dann klatschte sie in die Hände. »Wisst ihr was? Als Nachtisch gibt’s heute Cookie-Dough-Eis von Ben & Jerry’s.«

»Mmm«, machten die Kinder leise, doch ihre Mienen blieben besorgt.

Kaum waren sie mit dem Eis fertig, tauchten die Fünfjährigen schubsend und aus der Reihe tanzend in der Tür des Speiseraums auf. In ihrer kleinen Welt empfand Kate diese Kinder als grobschlächtige, einschüchternde Riesen, dabei war es letztes Jahr noch ihre eigene Vierergruppe gewesen. »Los, wir gehen, Kinder!«, rief Mrs Chauncey und hievte sich von ihrem Stuhl. »Wir halten den Betrieb auf. Bedankt euch bei Mrs Washington.«

»Dan-ke-Mi-sses-Wa-shing-ton«, skandierten die Kinder. Mrs Washington, die neben der Tür zur Küche stand, nickte und lächelte hoheitsvoll, die Hände in ihre Schürze gewickelt. (In der Little People’s School war man sehr auf gute Manieren bedacht.) Die Vierer schoben sich mehr oder weniger im Gänsemarsch, in respektvoll geduckter Haltung und mit Kate als Nachhut an den Fünfern vorbei. Als Kate an Georgina, der Betreuerin von Raum 5, vorbeikam, flüsterte sie ihr »Ich muss ins Büro« zu.

»Iiih«, machte Georgina. »Na, dann viel Glück.« Sie war eine junge Frau mit rosigen Wangen, sympathischem Gesicht und hochschwanger mit ihrem ersten Kind. Kate hätte wetten können, dass sie noch nie ins Büro musste.

In Raum 4 schloss Kate die Gerätekammer auf, um die gestapelten Alu-Bettchen für den Mittagsschlaf herauszuholen und im Zimmer zu verteilen. Dann gab sie die Decken und kleinen Kissen aus, die die Kinder in ihren Regalfächern verwahrten, und vereitelte den Plan der vier geschwätzigsten Mädchen, zusammen in einer Ecke zu schlafen. Mrs Chauncey verbrachte die Mittagsruhe normalerweise im Zimmer der Erzieherinnen, doch heute war sie nach dem Essen in Raum 4 zurückgekehrt, wo sie sich an ihrem Tisch niederließ und eine Ausgabe der Baltimore Sun aus ihrer Tasche zog. Offenbar war ihr nicht entgangen, dass Mrs Darling Kate in ihr Büro geordert hatte.

Liam D. sagte, er sei nicht müde. Das behauptete er jeden Tag und war dann derjenige, den Kate, wenn die Mittagsruhe vorbei war, aus einem totengleichen Tiefschlaf reißen musste. Sie stopfte, wie er es gern hatte, die weiße Flanelldecke mit den beiden gelben Streifen um ihn fest, die er, wenn die anderen Jungs außer Hörweite waren, immer noch »Decki« nannte. Anschließend musste Jillys Pferdeschwanz aufgemacht werden, damit nichts pikste, wenn sie sich hinlegte. Kate schob das Gummi unter Jillys Kissen. »Vergiss nicht, wo es ist, damit du’s beim Aufstehen wiederfindest.« Bis dahin wäre Kate sicher längst zurück und könnte Jilly daran erinnen, aber wenn nicht? Was wäre, wenn man sie auffordern würde, ihre Sachen zu packen und zu gehen? Mit gespreizten Fingern kämmte sie durch Jillys weiches, braunes Haar; es fühlte sich an wie Seide und roch nach Babyshampoo und Buntstiften. Kate wäre auch nicht mehr da, um Antwan bei seinem kleinen Mobbingproblem zu helfen. Und sie würde nie erfahren, wie Emma B. mit der neuen Schwester klarkam, die im Juni aus China erwartet wurde.

Es stimmte nicht, dass Kate Kinder hasste. Ein paar von ihnen fand sie ziemlich okay. Sie mochte eben nur nicht alle Kinder – als ob Kinder gleichförmige Vertreter einer Pflanzengattung wären.

Als Kate Mrs Chauncey »Bin gleich wieder da!« zurief, schlug sie bewusst einen fröhlichen Ton an.

Mrs Chauncey lächelte ihr zu (nichtsahnend? Mitleidig?) und blätterte eine Seite ihrer Zeitung um.

Mrs Darlings Büro befand sich neben Raum 2, wo die Kinder noch so klein waren, dass sie nicht in Betten, sondern auf ausgelegten Matten schliefen, aus denen keiner herausfallen konnte. Der Raum war abgedunkelt, wie Kate durch die Scheibe in der Tür sah, und strahlte entschlossene Ruhe aus.

Durch die Scheibe der nächsten Tür war Mrs Darling zu sehen, die an ihrem Schreibtisch telefonierte und dabei in einem Papierstapel blätterte. Als Kate anklopfte, verabschiedete sie sich rasch und legte auf. »Kommen Sie rein!«, rief sie.

Das tat Kate und ließ sich auf den Stuhl mit der geraden Rückenlehne sinken, der vor dem Schreibtisch stand.

»Wir haben endlich einen Kostenvoranschlag für die Erneuerung des fleckigen Teppichbodens bekommen«, verkündete Mrs Darling.

»Hm«, sagte Kate.

»Allerdings stellt sich immer noch die Frage, woher die Flecken kommen. Da ist eindeutig etwas ausgelaufen, und so lange wir die Ursache nicht kennen, macht ein neuer Teppichboden keinen Sinn.«

Dem hatte Kate nichts hinzuzufügen, also tat sie es auch nicht.

»Nun ja«, sagte Mrs Darling. »Lassen wir das.«

Sie justierte die Kanten ihres Papierstapels und heftete ihn in einen Ordner. Dann griff sie nach einem anderen Ordner. (Dem von Kate? Hatte Kate einen Ordner? Was in aller Welt mochte darin sein?) Mrs Darling schlug ihn auf und vertiefte sich in die Lektüre des obersten Blattes. Dann blickte sie Kate über den Rand ihrer Brille hinweg prüfend an. »Also«, sagte sie. »Kate. Ich frage mich, wie Sie selbst Ihre Leistung einschätzen würden.«

»Meine was?«

»Ihre Arbeitsleistung an der Little Peoples’s School. Ihre pädagogischen Fähigkeiten.«

»Oh«, sagte Kate. »Das weiß doch ich nicht.«

Sie hoffte, dass dies als Antwort durchgehen würde, doch weil Mrs Darling sie erwartungsvoll fixierte, fügte sie lieber noch hinzu: »Ich meine, ich bin ja eigentlich keine Erzieherin. Ich bin Betreuerin.«

»Ja?«

»Ich betreue nur.«

Mrs Darlings Blick ruhte weiter auf ihr.

»Aber ich glaube, ich mache das ganz gut«, sagte Kate schließlich.

»Ja«, erwiderte Mrs Darling. »Ja, das stimmt, jedenfalls größtenteils.«

Kate versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.

»Ich würde sogar sagen, dass die Kinder ziemlich angetan von Ihnen sind.«

Stumm schwebten die Worte aus irgendeinem unerfindlichen Grund in der Luft.

»Ich fürchte nur, dass die Eltern das anders sehen.«

»Oh«, sagte Kate wieder.

»Das Thema hatten wir ja schon, Kate. Sie erinnern sich?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Wir haben darüber einige Gespräche geführt, Sie und ich. Einige sehr ernste Gespräche.«

»Stimmt.«

»Diesmal ist es Mr Crosby. Jameeshas Vater.«

»Was ist mit ihm?«, fragte Kate.

»Er sagt, er hätte Donnerstag mit Ihnen gesprochen.« Mrs Darling nahm das oberste Blatt hoch und rückte ihre Brille zurecht, um es zurate zu ziehen. »Donnerstagmorgen, als er Jameesha gebracht hat. Er hat Ihnen gesagt, dass er über Jameeshas Daumenlutschen mit Ihnen sprechen wollte.«

»Fingerlutschen«, stellte Kate richtig. Jameesha hatte die Angewohnheit, an ihren Ring- und Mittelfingern zu lutschen und dabei Daumen, Zeigefinger und den kleinen Finger seitlich abstehen zu lassen, was aussah wie das gebärdensprachliche Zeichen für »Ich mag dich«. Kate hatte das schon bei einigen Kindern erlebt, letztes Jahr bei Benny Mayo.

»Fingerlutschen, also gut. Er hat Sie gebeten, es Jameesha zu verbieten, wenn Sie sie dabei erwischen.«

»Ich erinnere mich.«

»Und Sie erinnern sich auch an Ihre Antwort?«

»Ich habe ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen.«

»War das alles?«

»Ich habe ihm gesagt, dass sie irgendwann von selbst damit aufhört.«

»Sie haben ihm gesagt …« Mrs Darling las von ihrem Blatt ab. »›Aller Wahrscheinlichkeit nach‹, haben Sie gesagt, ›wird sie spätestens dann damit aufhören, wenn ihre Finger so lang sind, dass sie sich damit die Augen aussticht.‹«

Kate lachte. Das war witziger, als ihr in dem Moment bewusst gewesen war.

»Was glauben Sie, wie sich Mr Crosby da gefühlt hat?«

»Woher soll ich wissen, wie er sich gefühlt hat?«

»Nun, Sie könnten eine Vermutung anstellen«, sagte Mrs Darling. »Aber egal, ich sag’s Ihnen einfach: Er fand, dass Sie …« Wieder las sie laut vor: »›… schnippisch und unhöflich‹ waren.«

»Oh.«

Mrs Darling legte das Blatt aus der Hand. »Ich könnte mir durchaus vorstellen«, fuhr sie fort, »dass eines Tages eine voll qualifizierte Erzieherin aus Ihnen wird.«

»Ja?« Kate war noch nie aufgefallen, dass es in dieser Einrichtung so etwas wie eine Karriereleiter gab. Wahrscheinlich hatte sie bis dato keinerlei Anzeichen dafür gesehen.

»Ich stelle Sie mir durchaus als pädagogische Gruppenleiterin vor, wenn Sie die nötige Reife dafür erlangt haben«, sagte Mrs Darling. »Und wenn ich Reife sage, Kate, meine ich damit nicht nur, dass Sie älter werden.«

»Ah.«

»Ich meine damit, dass Sie eine gewisse soziale Kompetenz entwickeln. Ein bisschen Feingefühl, ein bisschen Zurückhaltung, ein bisschen Diplomatie.«

»Okay.«

»Verstehen Sie überhaupt, wovon ich rede?«

»Feingefühl. Zurückhaltung. Diplomatie.«

Mrs Darling blickte ihr forschend ins Gesicht. »Denn sonst kann ich Sie mir auf Dauer nicht in unserer kleinen Gemeinschaft vorstellen, Kate. Ich würde es mir gern vorstellen. Ich würde Sie mit Rücksicht auf Ihre liebe Tante gern weiterbeschäftigen, aber Sie bewegen sich hier auf sehr dünnem Eis. Ich möchte, dass Sie das wissen.«

»Hab’s kapiert«, sagte Kate.

Mrs Darling wirkte alles andere als beruhigt, doch nach einer längeren Pause sagte sie: »Also gut, Kate. Lassen Sie bitte die Tür auf, wenn Sie gehen.«

»Na klar, Mrs Darling«, antwortete Kate.

»Ich glaube, ich bin jetzt auf Bewährung«, sagte sie zu Natalie, der Betreuerin der Dreiergruppe. Draußen auf dem Spielplatz überwachten sie gemeinsam die Wippen, damit niemand zu Tode kam.

»Warst du nicht eh schon auf Bewährung?«, fragte Natalie.

»Oh«, sagte Kate. »Da hast du vielleicht recht.«

»Was hast du diesmal angestellt?«

»Ich habe einen Vater beleidigt.«

Natalie schnitt eine Grimasse. Über die Eltern dachten alle gleich.

»Es war dieser geistesgestörte Kontrollfreak, der immer versucht, eine Miss Perfect aus seiner Tochter zu machen.«

Just in diesem Moment tauchte Adam Barnes mit einigen seiner Zweijährigen auf, und Kate brach das Thema ab. (In Adams Nähe versuchte sie immer, netter rüberzukommen, als sie eigentlich war.) »Na, was gibt’s?«, fragte er, und Natalie antwortete »Och, so ziemlich gar nichts«, während Kate ihn nur töricht angrinste und die Hände in ihre Jeanstaschen klemmte.

»Unser Gregory hier hofft auf einen Platz auf einer Wippe«, sagte Adam. »Ich habe ihm gesagt, vielleicht lässt ihn ja einer von den Großen mal vor.«

»Natürlich!«, sagte Natalie. »Donny!«, rief sie, »könntest du Gregory mal ein bisschen auf die Wippe lassen?«

Für einen anderen als Adam hätte sie das nie getan. Schließlich sollten die Kinder lernen, sich anzustellen, auch schon die Zweijährigen. Kate sah sie aus schmalen Augen an, während Donny »Aber ich bin doch selbst gerade erst drangekommen!« rief.

»Ach, dann lass«, schaltete sich Adam sofort ein. »Das wäre ungerecht. Du willst doch nicht unfair zu Donny sein, Gregory, oder?«

Gregory schien durchaus das Gefühl zu haben, dass er unfair sein wollte. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und sein Kinn begann zu zittern.

»Ich weiß was!«, rief Natalie in superbegeistertem Ton. »Gregory, du kannst doch mit Donny wippen! Donny kann ein großer Junge sein und dich zu sich auf die Wippe nehmen!«

Kate hätte sich am liebsten übergeben. Fast wäre sie so weit gegangen, sich pantomimisch einen Finger in den Hals zu stecken, doch sie verkniff es sich. Zum Glück sah Adam gerade in die andere Richtung. Er setzte Gregory vor Donny, der die Regelung immerhin tolerierte, und ging auf die andere Seite der Wippe, um Jasons Sitz mit aufgestützter Hand nach unten zu drücken.

Adam war der einzige Betreuer der ganzen Kita, ein schlaksiger, etwas weltfremder Typ mit freundlichem Gesicht, wirrem, dunklem Haar und einem krausen Bart. Mrs Darling schien es für außergewöhnlich mutig zu halten, dass sie ihn eingestellt hatte, dabei hatten die meisten Kitas inzwischen schon mehrere Männer im Team. Anfangs hatte sie ihn der Fünfergruppe zugewiesen, in der sich Kinder befanden, meist Jungs, bei denen man der Meinung war, dass sie für ihre Sozialisierung ein zusätzliches Jahr benötigten, ehe sie ihren weiteren Weg durchs Schulsystem antreten durften. Ein Mann würde für Struktur und Disziplin sorgen, glaubte Mrs Darling. Adam hatte sich jedoch als ein Mensch von so sanftem Wesen erwiesen, so behutsam und besorgt, dass er nach einem halben Jahr gegen Georgina ausgetauscht worden war. Seitdem betreute er gut gelaunt die Zweijährigen, putzte Nasen, linderte gelegentlich auftretende Fälle von Heimweh, und jeden Tag hörte man ihn am Anfang der Mittagsruhe zu den einschläfernden Klängen seiner Gitarre mit vernuschelter, etwas belegter Stimme Wiegenlieder singen.

Im Gegensatz zu den meisten Männern überragte er Kate deutlich, und dennoch kam sie sich in seiner Gegenwart zu groß vor, zu bohnenstangengleich. Wie gern wäre sie weicher, anmutiger, fraulicher gewesen; ihre eigene Reizlosigkeit beschämte sie.

Sie wünschte sich, sie hätte eine Mutter gehabt. Natürlich hatte sie eine Mutter gehabt, aber sie wünschte sich, es wäre eine Mutter gewesen, die ihr beigebracht hätte, erfolgreicher durchs Leben zu gehen.

»Ich habe dich eben in der Mittagsruhe vorbeikommen sehen«, rief ihr Adam von der Wippe aus zu. »Hattest du Ärger mit Mrs Darling?«

»Nein …«, sagte sie. »Ach, wir haben nur über ein Kind geredet, um das ich mir ein bisschen Sorgen gemacht habe.«

Natalie gab ein schnaubendes Geräusch von sich. Kate funkelte sie an, worauf Natalie ein übertriebenes Oh-Entschuldigung-Gesicht aufsetzte. Dermaßen durchschaubar, diese Natalie; alle wussten, dass sie in Adam verknallt war.

Letzte Woche war im ganzen Kindergarten zu hören, dass Adam Sophia Watson einen seiner handgemachten Traumfänger geschenkt hatte. »Oho!«, sagten alle. Aber Kate hielt es für möglich, dass er es nur deshalb getan hatte, weil Sophia seine Kobetreuerin in Raum 2 war.

Feingefühl, Zurückhaltung, Diplomatie. Was war eigentlich der Unterschied zwischen Feingefühl und Diplomatie? Vielleicht bedeutete »Feingefühl«, etwas höflich zu sagen, während »Diplomatie« bedeutete, gar nichts zu sagen. Aber umfasste »Zurückhaltung« das nicht auch? Umfasste »Zurückhaltung« nicht alle drei?

Menschen neigten dazu, verschwenderisch mit Sprache umzugehen; das hatte Kate längst bemerkt. Sie benutzten viel mehr Wörter als notwendig.

Auf dem Heimweg ließ sie sich Zeit, weil so schönes Wetter war. Morgens war es ausgesprochen kalt gewesen, doch inzwischen war die Luft wärmer, und Kate hatte sich ihre Jacke über die Schulter gehängt. Vor ihr schlenderte gemächlich ein junges Pärchen; das Mädchen erzählte eine lange Geschichte über ein anderes Mädchen namens Lindy. Kate hatte keine Lust, die beiden zu überholen.

In einem Garten sah sie Wilde Stiefmütterchen und fragte sich, ob diese Sorte auch im Garten hinter ihrem Haus blühen würde. Leider gab es dort nämlich viel zu viel Schatten.

Hinter ihr rief jemand ihren Namen. Als sie sich umdrehte, sah sie einen hellhaarigen Mann mit erhobenem Arm, wie um ein Taxi zu rufen, herbeieilen. Im ersten Moment begriff sie nicht, was er von ihr wollte, doch dann erkannte sie den Assistenten ihres Vaters. Der fehlende Laborkittel hatte sie verwirrt; er trug jetzt eine Jeans und einen schlichten grauen Pullover. »Hi!«, sagte er, als er sie erreicht hatte. (Wieder dieses gutturale Ch.)

»Peter«, sagte sie.

»Pjotr.«

»Wie geht’s?«

»Ich fürchte, ich habe Erkältung«, verkündete er. »Nase läuft, und ich niese sehr viel.«

»Wie dumm«, sagte sie und setzte ihren Weg fort. Im Gleichschritt ging er neben ihr her. »Es war ein guter Tag in Kindergarten?«, fragte er.

»Es war okay.«

Inzwischen klebten sie dem jungen Pärchen an den Fersen. Lindy solle den Typ einfach abservieren, sagte das Mädchen; er mache sie doch nur unglücklich. »Ach, ich weiß nicht, mir kommt er ganz okay vor«, widersprach der Junge. »Hast du keine Augen im Kopf?«, entgegnete das Mädchen. »Wenn die beiden zusammen sind, sucht sie ständig seinen Blick, und er guckt ständig weg. Das fällt doch jedem auf – Patsy, Paula und Jane Ann haben’s auch gesagt –, und meine Schwester ist irgendwann damit rausgeplatzt. Sie hat ihr gesagt – «