Atemübungen - Anne Tyler - E-Book

Atemübungen E-Book

Anne Tyler

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Beschreibung

»Atemübungen« schildert einen einzigen Tag im Leben von Maggie und Ira Moran, beide sind um die fünfzig und seit achtundzwanzig Jahren ein Ehepaar. Am frühen Morgen steigen sie ins Auto, um Maggies bester Freundin bei der Beerdigung ihres Mannes beizustehen, sie haben eine lange Fahrt vor sich. Auch wenn es kein Tag ist wie jeder andere, auch wenn er Erinnerungen weckt und sie ihn dazu nutzen, ihren gemeinsamen Lebensweg zu rekapitulieren, so bleibt er doch ganz im Rahmen dessen, was das Ehepaar für Normalität hält. Mit ihrer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe, psychologischem Feinsinn, Witz und erzählerischer Kraft fängt Anne Tyler Muster und Rituale dieser Ehe ein und spürt dabei Gesetzmäßigkeiten von verblüffender Allgemeingültigkeit auf.

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Seitenzahl: 531

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Anne Tyler

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» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Anne Tyler wurde in Minneapolis, Minnesota, geboren und ist »eine der erfolgreichsten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur« (ZEITmagazin). Sie ist Preisträgerin des Sunday Times Awards für ihr Lebenswerk. Bei Kein & Aber erschienen bisher Verlorene Stunden (2010), Abschied für Anfänger (2012), Im Krieg und in der Liebe, Dinner im Restaurant Heimweh (beide 2014), Die Reisen des Mr Leary, Der leuchtend blaue Faden (beide 2015) und zuletzt Kleine Abschiede und Atemübungen (beide 2016). Anne Tyler lebt in Baltimore.

ÜBER DAS BUCH

Atemübungen schildert einen einzigen Tag im Leben von Maggie und Ira Moran, beide sind um die fünfzig und seit achtundzwanzig Jahren ein Ehepaar. Am frühen Morgen stei­gen sie ins Auto, um Maggies bester Freundin bei der Beerdigung ihres Mannes beizustehen, sie haben eine lange Fahrt vor sich, die sie dazu nutzen, ihren gemeinsamen Lebens­weg zu rekapitulieren und in Erinnerungen zu schwelgen – was auch bisher Unausgesprochenes an die Oberfläche bringt.

»Anne Tyler, eine gnadenlose Feinmechanikerin ehelicher Betriebsschäden.«

Der Spiegel

Eins

1

Maggie und Ira Moran mussten zu einer Beerdigung nach Deer Lick in Pennsylvania. Maggies Jugendfreundin hatte ihren Mann verloren. Deer Lick lag an einer kleinen Landstraße ungefähr neunzig Meilen nördlich von Baltimore, und die Beerdigung sollte am Samstagmorgen um halb elf stattfinden; so hatte sich Ira ausgerechnet, dass sie um acht losfahren müssten. Das machte ihn mürrisch. (Er war kein Morgenmensch.) Außerdem war samstags im Geschäft am meisten zu tun, und er hatte niemanden, der ihn vertreten konnte. Und obendrein war ihr Wagen in der Karosseriewerkstatt. Er hatte eine gründliche Überholung gebraucht, und sie konnten ihn frühestens am Samstagmorgen Punkt acht abholen, wenn die Werkstatt öffnete. Ira meinte, es sei vielleicht besser, nicht zu fahren, aber Maggie meinte, sie müssten. Sie und Serena waren eine Ewigkeit miteinander befreundet, oder fast eine Ewigkeit: seit zweiundvierzig Jahren, seit der ersten Klasse bei Miss Kimmel.

Sie nahmen sich vor, um sieben aufzustehen, aber Maggie musste den Wecker falsch gestellt haben, und deshalb verschliefen sie. Sie mussten sich hastig anziehen und das Frühstück herunterschlingen, Nescafé mit warmem Wasser aus der Leitung und kalte Getreideflocken. Dann machte sich Ira zu Fuß auf den Weg zum Geschäft, um einen Zettel für die Kundschaft anzubringen, und Maggie ging zur Werkstatt. Sie trug ihr bestes Kleid – mit einem Zweigmuster in Blau und Weiß und weiten Ärmeln – und neue schwarze Pumps, wegen der Beerdigung. Die Schuhe hatten nur halbhohe Absätze, aber sie kam in ihnen langsamer voran als sonst; sie war eher an Kreppsohlen gewöhnt. Außerdem war ihr die Strumpfhose ziemlich weit nach unten gerutscht, und nun musste sie kurze, unnatürlich staksende Schritte machen, wie ein kleines, klobiges Aufziehspielzeug, das den Gehweg entlangholpert.

Zum Glück war die Werkstatt nur ein paar wenige Blocks entfernt. (In diesem Teil der Stadt war alles bunt gemischt – kleine Holzhäuser wie ihr eigenes standen zwischen Ateliers von Porträtfotografen, kleinen Schönheitssalons, Fahrschulen und Pediküre-Instituten.) Und das Wetter war wunderschön – ein warmer, sonniger Septembertag, es wehte ein Lüftchen, das gerade ausreichte, ihr das Gesicht zu kühlen. Sie strich sich den Pony glatt, wo er sich zu einer Stirnlocke kräuseln wollte. Ihre modische Handtasche, passend zum Kleid, hatte sie unter den Arm geklemmt. Sie bog links um die Ecke, und gleich dahinter lag »Harbors Karosseriewerkstatt«, die abblätternden grünen Werkstatttore waren schon hochgezogen, und aus dem höhlenartigen Inneren drang stechender Farbgeruch hervor, der sie an Nagellack erinnerte.

Sie hatte den Scheck schon ausgefüllt, und der Meister sagte ihr, die Schlüssel seien im Wagen, sodass sie im Nu fertig war. Der Wagen war im hinteren Teil der Halle abgestellt, ein älterer, graublauer Dodge. Seit Jahren hatte er nicht mehr so gut ausgesehen. Sie hatten die hintere Stoßstange gerichtet, den kaputten Kofferraumdeckel ersetzt, an verschiedenen Stellen ein halbes Dutzend Beulen ausgebügelt und Rostflecken an den Türen überstrichen. Ira hatte recht: eigentlich unnötig, einen neuen Wagen zu kaufen. Sie setzte sich hinter das Lenkrad. Als sie den Zündschlüssel drehte, tönte das Radio los – AM Baltimore mit Mel Spruce, eine Talkshow, bei der die Hörer anrufen konnten. Sie stellte nicht gleich ab. Sie schob den Sitz zurecht, den jemand zurückgestellt hatte, der größer als sie war, bog den Rückspiegel nach unten. Ihr Gesicht blitzte ihr entgegen, rund und leicht glänzend, die blauen Augen an den Innenwinkeln zusammengekniffen, als würde sie sich wegen irgendetwas Sorgen machen, während sie sich in Wirklichkeit nur bemühte, im Halbdunkel etwas zu erkennen. Sie legte den Gang ein und rollte langsam aus der Halle hinaus. Draußen stand der Meister vor seinem Büro und blickte mit gerunzelter Stirn auf einen Schreibblock.

Die heutige Frage in AM Baltimore lautete: »Was macht die ideale Ehe aus?« Gerade hatte eine Frau angerufen und verkündet, gemeinsame Interessen seien das Wichtigste. »Zum Beispiel, wenn beide die gleichen Sendungen im Fernsehen mögen«, erläuterte sie. Es war Maggie völlig gleichgültig, was die ideale Ehe ausmacht. (Sie war seit achtundzwanzig Jahren verheiratet.) Sie kurbelte ihr Fenster herunter und rief: »Tschüss denn!«, und der Meister sah von seinem Block hoch. Sie glitt an ihm vorüber – eine ausnahmsweise einmal selbstständige Frau, mit geschminkten Lippen und halbhohen Absätzen, in einem Auto ganz ohne Beulen.

Im Radio sagte eine sanfte Stimme: »Ja, also ich heirate jetzt zum zweiten Mal. Beim ersten Mal war es rein aus Liebe. Es war echte, wahre Liebe, und es hat überhaupt nicht funktioniert. Nächsten Samstag heirate ich aus Sicherheit.«

Maggie blickte auf die Senderskala des Radios und sagte: »Fiona?« Sie wollte bremsen, aber stattdessen beschleunigte sie und schoss aus der Werkstatteinfahrt direkt auf die Straße. Ein von links kommender Pepsi-Lastwagen krachte ihr in den linken vorderen Kotflügel, die einzige Stelle, an der bisher noch nie das Geringste kaputt gewesen war.

Früher, wenn Maggie mit ihren Brüdern Baseball spielte, tat sie sich oft weh, aber sie sagte immer, es sei alles in Ordnung, aus Angst, sie würden sie sonst nicht mehr mitspielen lassen. Sie riss sich dann zusammen und rannte, ohne zu humpeln, weiter, auch wenn ihr das Knie ganz schrecklich wehtat. Jetzt fiel es ihr wieder ein, denn als der Meister herbeigelaufen kam und rief: »Was zum …? Ist alles in Ordnung?«, da blickte sie höchst würdevoll geradeaus und sagte ihm: »Gewiss doch. Warum fragen Sie?«, und fuhr davon, bevor noch der Pepsi-Fahrer aus seinem Wagen steigen konnte, was in Anbetracht der Miene, die er aufgesetzt hatte, vielleicht auch das Beste war. Aber ihr Kotflügel gab wirklich ein sehr beunruhigendes Geräusch von sich, es klang wie ein Stück Blech, das über Kies schleift, und sobald sie um die Ecke gebogen war und die beiden Männer – der eine sich am Kopf kratzend, der andere winkend – aus ihrem Rückspiegel verschwunden waren, hielt sie an. Fiona war nicht mehr im Radio. Stattdessen stellte eine Frau mit einem rauchigen Tenor Vergleiche zwischen ihren fünf Ehemännern an. Maggie schaltete den Motor ab und stieg aus. Sie sah, wo das Problem lag. Der Kotflügel war nach innen gegen den Reifen gedrückt worden; es wunderte sie, dass sich das Rad überhaupt noch drehen konnte. Sie hockte sich an den Bordstein, packte die Unterkante des Kotflügels mit beiden Händen und zog. (Jetzt fiel ihr ein, wie sie sich dann in das hohe Gras im Außenfeld geduckt und heimlich und vorsichtig ihre Jeans über die blutige Stelle am Knie hochgekrempelt hatte.) Graublaue Lacksplitter fielen ihr in den Schoß. Auf dem Gehweg ging jemand vorüber, aber sie tat so, als würde sie nichts bemerken, und zog noch einmal. Diesmal ruckte der Kotflügel, aber nicht so weit, dass der Reifen frei gewesen wäre. Sie stand auf und klopfte sich den Staub von den Händen. Dann stieg sie wieder in den Wagen, aber eine Minute lang saß sie bloß da. »Fiona!«, sagte sie noch einmal. Als sie den Motor wieder anließ, brachte das Radio Reklame für Bankdarlehen, und sie schaltete ab.

Ira wartete vor seinem Laden, er wirkte fremd und seltsam elegant in seinem marineblauen Anzug. Ein Schwall borstiger, von grauen Strähnen durchzogener schwarzer Haare hing ihm in die Stirn. Über ihm schwang ein Blechschild in der leichten Brise: sam’s rahmenladen. bilderrahmung. zierrahmen. ihre handarbeit professionell präsentiert. Sam war Iras Vater, der mit dem Geschäft nichts mehr zu tun hatte, seit sich vor dreißig Jahren herausgestellt hatte, dass er ein »schwaches Herz« hatte. Maggie setzte dieses »schwache Herz« immer in Anführungszeichen. Sie hatte es sich zum Prinzip gemacht, nicht zu den Fenstern der Wohnung über dem Laden hinaufzusehen, wo Sam seine Tage in beengter und von Nörgelei erfüllter Untätigkeit zusammen mit Iras beiden Schwestern verbrachte. Wahrscheinlich stand er auch jetzt dort oben und sah hinunter. Sie parkte neben dem Bordstein und schob sich hinüber auf den Beifahrersitz.

Wie sich der Ausdruck auf Iras Gesicht veränderte, während er sich dem Wagen näherte, war sehenswert. Zunächst war er erfreut und hochzufrieden, dann bog er um den Kühler und hielt kurz inne, als er den linken Kotflügel erblickte. Sein langes, hageres, olivbraunes Gesicht wurde länger. Seine Augen, die ohnehin so schmal waren, dass man kaum sagen konnte, ob sie schwarz oder nur dunkelbraun waren, verwandelten sich in verständnislos dreinblickende, schräge Schlitze. Er öffnete die Tür, stieg ein und warf ihr einen bekümmerten Blick zu.

»Es gab eine unerwartete Situation«, erklärte Maggie.

»Auf dem Weg zwischen hier und der Werkstatt?«

»Ich habe Fiona im Radio gehört.«

»Das sind fünf Blocks! Bloß fünf oder sechs Blocks!«

»Ira, Fiona heiratet.«

Mit Erleichterung stellte sie fest, dass er von den Gedanken an den Wagen abließ. Irgendetwas auf seiner Stirn klarte auf. Er sah sie einen Augenblick an und sagte dann: »Fiona – und wie noch?«

»Deine Schwiegertochter Fiona, Ira. Wie viele Fionas kennen wir denn? Fiona, die Mutter deines einzigen Enkelkindes, und jetzt will sie einen wildfremden Mann heiraten, bloß aus Sicherheit.«

Ira rückte den Sitz weiter nach hinten und fuhr los. Er schien auf irgendetwas zu hören – vielleicht auf das Schleifgeräusch des Rades. Aber offenbar hatte sie es mit dem Ruck am Kotflügel geschafft. Er sagte: »Wo hast du das gehört?«

»Im Radio, beim Fahren.«

»Melden sie so etwas jetzt im Radio?«

»Sie hat dort angerufen.«

»Kommt mir, ehrlich gesagt, irgendwie … wichtigtuerisch vor«, versetzte Ira.

»Nein, sie war schon richtig – und sie hat gesagt, dass Jesse der Einzige gewesen ist, den sie je wirklich geliebt hat.«

»Das hat sie im Radio gesagt?«

»Es war eine Talkshow, Ira.«

»Also, ich weiß nicht, warum heutzutage jeder seine Privatangelegenheiten in der Öffentlichkeit breittreten muss.«

»Glaubst du, dass Jesse es vielleicht auch gehört hat?«, fragte Maggie. Der Gedanke war ihr gerade gekommen.

»Jesse? So früh? Wenn der vor Mittag aufsteht, ist er gut.«

Maggie widersprach ihm nicht, obwohl sie gekonnt hätte. In Wirklichkeit war Jesse ein Frühaufsteher, und außerdem arbeitete er samstags. Ira wollte nur sagen, dass er träge und faul sei. (Ira war viel strenger mit ihrem Sohn als Maggie. Er konnte an ihm nicht einmal halb so viele gute Seiten entdecken wie sie.) Sie blickte nach vorn und achtete auf die vorübergleitenden Läden und Häuser, die wenigen Fußgänger mit ihren Hunden. Es war der trockenste Sommer seit Menschengedenken gewesen, und die Gehwege sahen aus wie mit Kalk bestäubt. Die Luft hing wie dicker Mull. Vor einem Lebensmittelsupermarkt putzte ein Junge die Speichen seines Fahrrads zärtlich mit einem Tuch.

»Du bist also in die Empry Street eingebogen«, sagte Ira.

»Was?«

»Wo die Karosseriewerkstatt ist.«

»Ja, die Empry Street.«

»Und dann bei Daimler vorbei.«

Er war wieder beim Thema Kotflügel. Sie sagte: »Es war, als ich aus der Werkstatt herausfuhr.«

»Soll das heißen, direkt dort? Direkt an der Karosseriewerkstatt?«

»Ich wollte bremsen, aber ich trat auf das Gaspedal.«

»Wie konnte das passieren?«

»Da war plötzlich Fiona im Radio, und das hat mich aus der Fassung gebracht.«

»Aber Bremsen ist doch nichts, worüber man nachdenkt, Maggie. Du fährst Auto, seit du sechzehn bist. Wie kannst du da Bremse und Gaspedal verwechseln?«

»Ich habe es eben getan, Ira. Verstehst du? Ich war aus der Fassung, und da ist es passiert. Lass es jetzt gut sein, ja?«

»Ich meine, Bremsen ist doch mehr oder weniger ein Reflex.«

»Wenn dir so viel daran liegt, dann zahle ich es eben von meinem Gehalt.«

Jetzt konnte er nichts mehr sagen. Sie sah, wie er noch einmal ansetzte, sich dann aber anders entschied. (Ihr Gehalt war lachhaft. Sie betreute alte Leute in einem Pflegeheim.)

Wenn sie früher Bescheid gewusst hätten, dachte sie, dann hätte sie den Wagen vor der Fahrt innen sauber gemacht. Das Armaturenbrett war mit Parkscheinen übersät. Auf dem Boden zu ihren Füßen lagen leere Getränkeschachteln und Papiertaschentücher herum. Und unter dem Handschuhfach quoll ein Geschlinge aus schwarzen und roten Drähten hervor; wenn man die Beine übereinanderschlug und zufällig daran stieß, ging das Radio aus. Sie fand, das war Iras Sache. Irgendwie fabrizierten Männer überall, wo sie auftauchten, Drähte und Schnüre und elektrischen Kram. Vielleicht merkten sie es nicht einmal.

Sie fuhren jetzt auf der Belair Road nach Norden. Auf beiden Seiten der Straße zog sich jetzt eine wirre Kulisse hin. Lange Strecken mit Spiel- oder Sportplätzen und Friedhöfen und dann plötzlich Ansammlungen kleiner Läden – Spirituosengeschäfte, Pizzerias, kleine, dunkle Bars und Gasthäuser, die unter den riesigen Parabolantennen auf ihren Dächern noch kleiner wirkten. Und noch ein Sportplatz. Außerdem nahm der Verkehr jeden Augenblick zu. Maggie war überzeugt, dass alle zu irgendetwas Fröhlich-Geselligem, das zu einem Samstagmorgen passte, unterwegs waren. Auf den meisten Rücksitzen drängten sich Kinder. Um diese Zeit begannen die Turnstunden und das Baseball-Training.

»Neulich«, erzählte Maggie, »fiel mir das Wort ›Fahrgemeinschaft‹ nicht ein.«

»Warum musst du es denn behalten?«, fragte Ira.

»Das ist es ja gerade.«

»Wie bitte?«

»Man sieht daran, wie die Zeit vergeht – weißt du? Ich wollte einer Patientin erklären, dass ihre Tochter nicht zu Besuch kommen würde. Ich sagte: ›Heute ist ihr Tag bei der – hm‹, und dann fehlten mir die Worte. Mir fiel das Wort ›Fahrgemeinschaft‹ nicht ein. Aber es kommt mir so vor, als wäre es letzte Woche gewesen, dass Jesse ein Spiel hatte oder zum Hockey-Training musste und dass Daisy ein Wichteltreffen bei den Pfadfindern hatte … Oje, damals habe ich den ganzen Samstag hinter dem Lenkrad verbracht!«

»Apropos Lenkrad«, meinte Ira, »bist du eigentlich mit einem anderen Fahrzeug zusammengestoßen? Oder war es bloß ein Telefonmast?«

Maggie grub in ihrer Handtasche nach der Sonnenbrille. »Es war ein Lastwagen«, antwortete sie.

»Du meine Güte. Hast du ihn beschädigt?«

»Ich habe nicht darauf geachtet.«

»Du hast nicht darauf geachtet?«

»Ich habe nicht angehalten, um nachzusehen.«

Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und blinzelte. Alles wirkte jetzt gedämpft und eleganter.

»Du hast dich von einem Unfallort entfernt, Maggie?«

»Es war kein Unfall! Es war bloß eine von diesen, na ja, von diesen Kleinigkeiten, die eben vorkommen. Warum eine große Affäre daraus machen?«

»Also, nur damit ich da jetzt nichts falsch verstehe«, sagte Ira.

»Du kommst aus der Werkstatt gesaust, rammst einen Lastwagen und fährst einfach weiter?«

»Nein, der Lastwagen hat mich gerammt.«

»Aber du warst schuld.«

»Ja, vermutlich, wenn du unbedingt einen Schuldigen haben willst.«

»Und dann bist du einfach weitergefahren.«

»Genau.«

Er schwieg. Kein gutes Schweigen.

»Es war so ein riesig großer, schwerer Pepsi-Lastwagen«, sagte Maggie. »Praktisch ein Panzer! Ich wette, er hat nicht mal einen Kratzer abbekommen.«

»Aber nachgesehen hast du nicht.«

»Ich hatte Angst, ich würde zu spät kommen«, sagte Maggie. »Du warst es doch, der unbedingt so früh losfahren wollte, damit wir ein bisschen Zeitreserve hätten.«

»Dir ist klar, dass die Leute in der Werkstatt deinen Namen und deine Adresse haben, nicht wahr? Der Fahrer braucht bloß zu fragen. Wenn wir zurückkommen, wird vor der Haustür ein Polizist auf uns warten.«

»Ira, hörst du jetzt bitte auf damit?«, bat Maggie. »Siehst du denn nicht, was mir alles durch den Kopf geht? Ich bin unterwegs zum Begräbnis des Mannes meiner ältesten, liebsten Freundin; nicht auszudenken, was Serena jetzt durchmacht, und ich bin noch einen ganzen Bundesstaat weit von ihr entfernt. Da muss ich im Radio mit anhören, dass Fiona heiratet, wo doch vollkommen klar ist, dass sie und Jesse einander noch immer lieben. Sie haben sich immer geliebt und nie aufgehört, sich zu lieben; es ist bloß, dass, hm, dass irgendwie ein Draht fehlt. Und obendrein soll sich mein einziges Enkelkind mit einem Schlag an einen nagelneuen Stiefvater gewöhnen. Mir kommt es vor, als würde alles auseinanderfliegen! Alle meine Freunde und Verwandten fliegen davon, wie … wie das sich ausdehnende Universum oder so! Jetzt werden wir dieses Mädchen nie mehr sehen, ist dir das klar?«

»Wir haben es sowieso nie gesehen«, sagte Ira besänftigend. Er bremste vor einer roten Ampel.

»Und dieser neue Mann könnte ein Widerling sein«, meinte Maggie.

»Ach, Fiona wird sich bestimmt etwas Besseres suchen, Maggie.« Sie warf ihm einen raschen Blick zu. (Früher hatte er über Fiona nie etwas Gutes gesagt.) Er spähte zu der Ampel hinauf. Schräge Fältchen liefen wie Strahlen von seinen Augenwinkeln nach hinten. »Natürlich würde sie versuchen, eine gute Wahl zu treffen«, sagte Maggie bedächtig, »aber auch der einsichtigste Mensch auf Gottes weiter Erde kann nicht jedes Problem vorhersehen, nicht wahr? Vielleicht ist er aalglatt und nett. Vielleicht ist er einfach sehr lieb zu Leroy, bis er sich dann in der Familie festgesetzt hat.«

Die Ampel schaltete um. Ira fuhr weiter.

»Leroy«, sagte Maggie nachdenklich. »Glaubst du, dass wir uns jemals an diesen Namen gewöhnen werden? Klingt wie ein Jungenname. Klingt nach einem Football-Spieler. Und wie sie ihn aussprechen: Lee-roy. Provinziell.«

»Hast du die Karte mitgenommen, die ich auf dem Frühstückstisch hatte?«, fragte Ira.

»Manchmal denke ich, wir sollten einfach anfangen, ihn auf unsere Weise auszusprechen«, sagte Maggie. »Le-roy.« Sie überlegte. »Die Karte, Maggie. Hast du sie mitgenommen?«

»Ist in meiner Handtasche. Le Rwah«, sagte sie, wobei sie das R wie ein Franzose rollte.

»Eigentlich haben wir doch gar nichts mehr mit ihr zu tun«, sagte Ira.

»Wir könnten aber, Ira. Wir könnten sie noch heute Nachmittag besuchen.«

»Was?«

»Überleg mal, wo sie wohnen: Cartwheel, Pennsylvania. Es liegt praktisch an der Straße nach Deer Lick. Wir könnten also«, fuhr sie fort, während sie in ihrer Tasche kramte, »zu der Beerdigung fahren und … Oh, wo ist bloß diese Karte? Zu der Beerdigung fahren und zurück auf der Route Eins nach … Du, hör mal, ich glaube, ich habe die Karte gar nicht eingesteckt.«

»Großartig, Maggie.«

»Ich glaube, ich habe sie auf dem Tisch liegen lassen.«

»Ich habe dich gefragt, als wir losgingen, erinnerst du dich? Ich habe gesagt: ›Nimmst du die Karte mit, oder soll ich?‹ Und du hast gesagt: ›Ich stecke sie einfach in meine Handtasche.‹«

»Also, ich verstehe gar nicht, warum du solches Theater deswegen machst«, erwiderte Maggie. »Wir brauchen doch bloß auf die Wegweiser zu achten; das schafft doch jeder.«

»Ein bisschen komplizierter ist es schon«, erwiderte Ira.

»Außerdem haben wir die Angaben von Serena, die ich mir am Telefon notiert habe.«

»Maggie, glaubst du allen Ernstes, mit irgendwelchen Angaben von Serena würden wir je dort ankommen, wo wir hinwollen? Ha! Irgendwo in Kanada würden wir uns wiederfinden! In Arizona würden wir landen!«

»Also, du brauchst dich gar nicht so aufzuregen.«

»Wir würden unser Haus nie mehr wiedersehen«, fügte Ira hinzu. Maggie schüttelte ihre Handtasche, und es fielen eine Brieftasche und eine Packung Papiertaschentücher heraus.

»Serena war schuld, dass wir bei ihrem eigenen Hochzeitsempfang zu spät kamen, weißt du noch?«, sagte Ira. »In diesem komischen, kleinen Festsaal, nach dem wir eine Stunde lang gesucht hatten.« – »Wirklich, Ira. Du tust immer so, als wären alle Frauen vertrottelt«, sagte Maggie. Sie gab die Suche in ihrer Handtasche auf; offenbar hatte sie auch den Zettel mit den Angaben von Serena nicht dabei. Sie sagte: »Ich habe nur ihr Bestes im Sinn. Fiona wird uns als Babysitter brauchen.«

»Als Babysitter?«

»Während der Flitterwochen.«

Er warf ihr einen Blick zu, den sie nicht recht deuten konnte.

»Sie heiratet doch nächsten Samstag«, erklärte Maggie. »Eine Siebenjährige kann man nicht mit in die Flitterwochen nehmen.«

Er sagte immer noch nichts.

Sie waren jetzt außerhalb der Stadtgrenze, und die Häuser wurden spärlicher. Sie kamen an einem Gebrauchtwagenplatz vorüber, dann ein struppiges Waldstück, ein Einkaufszentrum inmitten einer Betonwüste, auf der die abgestellten Wagen von ein paar Frühaufstehern verstreut standen. Ira begann zu pfeifen. Maggie hörte auf, mit den Riemen ihrer Handtasche zu spielen, und wurde still. Es gab Zeiten, da sprach Ira den ganzen Tag lang keine zehn Wörter, und selbst wenn er etwas sagte, konnte man nicht erraten, was er dachte. Er war ein verschlossener Mann, der sich gern abkapselte – sein größter Fehler. Aber was ihm nie auffiel: Sein Pfeifen sagte oft alles. Ein unerfreuliches Beispiel: Nach einem furchtbaren Streit in der ersten Zeit ihrer Ehe hatten sie alles wieder einigermaßen ins Lot gebracht, und dann ging er zur Arbeit und pfiff dabei ein Lied, das sie nicht identifizieren konnte. Erst später fiel ihr der Text ein: I wonder if I care as much, as I did before – Einst lag sie mir am Herzen, doch wo liegt sie jetzt …

Oft kam die Gedankenverbindung auch durch irgendeine Belanglosigkeit oder Nebensächlichkeit zustande – This Old House, wenn er sich anschickte, irgendeine kleinere Reparatur am Haus zu erledigen, oder Leinen los, jetzt geht’s auf Fahrt, wenn er ihr half, die Wäsche hereinzutragen. Rosen an der Côte d’Azur … pfiff er, ohne es zu merken, wenn er fünf Minuten vorher auf dem Fußweg einem Haufen Hundekot ausgewichen war. Und natürlich kam es auch vor, dass man einfach nicht wusste, was er pfiff. Wie jetzt gerade zum Beispiel: Irgendetwas Schmalziges, etwas, das sie vielleicht bei der Radiostation WLIF spielen würden. Vielleicht hat er es auch nur beim Rasieren gehört, und dann bedeutete es gar nichts.

Ein Schlager von Patsy Clyne; das war es, Crazy – Verrückt von Patsy Clyne.

Mit einem Ruck richtete sie sich auf und sagte: »Auch vollkommen normale Menschen passen auf ihre Enkelkinder auf, Ira Moran.«

Er sah sie verblüfft an.

»Sie nehmen sie monatelang zu sich. Ganze Sommer lang«, fügte sie hinzu.

»Aber sie kommen nicht unangemeldet zu Besuch.«

»Gewiss tun sie das!«

»Ann Landers sagt, Besuche ohne Anmeldung seien taktlos«, sagte er.

Ann Landers, seine höchstpersönliche Heldin.

»Und blutsverwandt sind wir ja nun auch nicht«, meinte er. »Wir sind nicht mal mehr Fionas Schwiegereltern.«

»Wir sind und bleiben Leroys Großeltern, bis wir sterben«, entgegnete Maggie.

Darauf wusste er keine Antwort mehr.

Die Straße führte jetzt durch eine grauenhaft durcheinandergeratene Gegend. Niemand hatte irgendwie eingegriffen – hier war ein Grill-Lokal aus dem Boden geschossen, dort eine Swimmingpool-Ausstellung. Ein kleiner Lieferwagen voller Kürbisse parkte am Straßenrand: soviel sie tragen können für $ 1,50 stand auf dem mit der Hand gemalten Schild. Die Kürbisse erinnerten Maggie an den Herbst, aber es war inzwischen so heiß geworden, dass ein wenig Schweiß auf ihrer Oberlippe stand. Sie kurbelte ihr Fenster herunter, schauderte vor der heißen Luft zurück und kurbelte es wieder hoch. Der Luftzug, der von Iras Seite herüberkam, reichte ohnehin aus. Er lenkte mit einer Hand, der linke Ellbogen hing aus dem offenen Fenster. Die Ärmel seines Anzugs waren hochgerutscht, und seine Handgelenke schauten hervor.

Serena hatte immer gesagt, Ira sei ein Rätsel. Damals war das ein Kompliment gewesen. Dabei ging Maggie noch nicht einmal mit ihm, sie war mit einem anderen Jungen liiert, aber Serena sagte immer wieder: »Wie kannst du ihm bloß widerstehen? Er ist so ein Rätsel. So geheimnisvoll.« – »Ich brauche ihm nicht zu widerstehen. Er will nichts von mir«, hatte Maggie geantwortet. Aber auch sie hatte sich schon Gedanken gemacht. (Serena hatte recht. Er war ein Rätsel.) Serena selbst jedoch hatte sich den offenherzigsten Jungen von der Welt ausgesucht. Den alten, lustigen Max! Von Geheimnis keine Spur. »Und das ist meine glücklichste Erinnerung«, hatte er einmal gesagt. (Er war damals zwanzig und schloss gerade sein erstes Jahr an der Universität von North Carolina ab.) »Ich und diese beiden Brüder aus der Verbindung, wir machen eine Tour. Aber ich hatte ein bisschen zu viel getankt, und auf dem Heimweg sacke ich hinten auf dem Rücksitz weg, und als ich aufwache, da haben sie mich raus nach Carolina Beach gefahren und dort am Strand gelassen. Hatten mir einen Streich gespielt: Ha-ha. Sechs Uhr morgens, ich sitze da und sehe bloß Himmel, dunstigen Himmel, eine Schicht hinter der anderen, und ganz hinten gehen sie irgendwie einfach ins Meer über, ohne die geringste Trennungslinie. Ich stehe also auf, reiße mir die Kleider vom Leib und renne in die Brandung, ganz allein. War der glücklichste Tag meines Lebens.«

Und wenn ihm damals jemand erzählt hätte, dass er dreißig Jahre später an Krebs sterben würde und dass dieser Morgen am Ozean das deutlichste Bild war, das Maggie von ihm in Erinnerung behalten hatte? Der Dunst, die warme Luft an der nackten Haut und der Schock des ersten kalten, salzig riechenden Brechers – es kam Maggie so vor, als wäre sie dabei gewesen. Sie war plötzlich dankbar für das sonnenbeschienene Durcheinander von Reklametafeln, das draußen vorbeizog; sogar für die stickige Vinylpolsterung, die an ihren Unterarmen klebte.

Ira sagte: »Wen will sie eigentlich heiraten, möchte ich mal wissen.«

»Was?«, fragte Maggie. Sie war nicht ganz da.

»Fiona.«

»Ach so«, meinte Maggie, »das hat sie nicht gesagt.«

Ira versuchte, einen Tanklastzug zu überholen. Er bog den Kopf nach links und hielt Ausschau nach Gegenverkehr. Im nächsten Augenblick sagte er: »Wundert mich, dass sie das nicht auch verkündet hat, wo sie schon einmal dabei war.«

»Sie hat nur gesagt, sie würde aus Sicherheit heiraten. Einmal habe sie aus Liebe geheiratet, und es habe nicht funktioniert.«

»Liebe!«, meinte Ira. »Sie war siebzehn. Sie kannte nicht mal die Grundlagen der Liebe.«

Maggie sah zu ihm hinüber. Was denn die Grundlagen der Liebe seien, wollte sie fragen. Aber er schimpfte gerade vor sich hin, wegen des Tanklasters.

»Vielleicht ist es diesmal ein älterer Mann«, sagte sie. »Ein irgendwie väterlicher Typ. Wenn sie doch aus Sicherheit heiratet.«

»Dieser Kerl merkt ganz genau, dass ich ihn überholen will, aber er schert andauernd auf meine Spur rüber«, sagte Ira.

»Vielleicht heiratet sie bloß, damit sie nicht mehr arbeiten gehen muss.«

»Wusste gar nicht, dass sie arbeitet.«

»Sie hat eine Stelle, Ira. Das weißt du ganz genau! Sie hat es uns erzählt! Sie hat in einem Kosmetiksalon angefangen, als Leroy in den Kindergarten kam.«

Ira hupte den Tanklastzug an.

»Ich weiß gar nicht, warum du dich überhaupt mit Leuten zusammensetzt, wenn du dir nicht die Mühe machst, auch mal hinzuhören«, sagte sie.

Ira erwiderte: »Maggie, stimmt heute irgendetwas nicht mit dir?«

»Wieso?«

»Warum bist du gleich immer so aufgebracht?«

»Ich bin nicht aufgebracht«, sagte sie und schob ihre Sonnenbrille höher. Sie konnte ihre eigene Nase sehen – die kleine, abgerundete Spitze, die unter dem Nasenbügel hervorschaute.

»Es liegt an Serena.«

»Serena?«

»Wegen Serena bist du so aufgeregt, und deshalb reißt du mir den Kopf ab.«

»Natürlich bin ich aufgeregt«, sagte Maggie. »Aber deswegen reiße ich dir noch lange nicht den Kopf ab.«

»Doch, das tust du, und deshalb redest du auch ununterbrochen von Fiona, wo du jahrelang überhaupt nicht an sie gedacht hast.«

»Das ist nicht wahr! Woher weißt du, wie oft ich an Fiona denke?« Ira wechselte auf die andere Spur und überholte endlich den Tanklaster.

Jetzt waren sie tatsächlich auf dem Land. Von einem schwarz glänzenden Hund bewacht, spalteten zwei Männer auf einer Lichtung Holz. Die Bäume hatten ihre Farbe noch nicht verändert, aber sie machten schon diesen leicht abgetragenen Eindruck, der anzeigte, dass es nicht mehr lange dauern würde. Maggie starrte auf einen verwitterten Holzzaun, der ein Feld umgrenzte. Komisch, wie sich ein Bild in der Erinnerung festsetzen kann, ohne dass man es bemerkt. Und dann sieht man das Original und denkt: Ach! Die ganze Zeit über war es da, wie ein Traum, der einem den halben Morgen lang stückchenweise einfällt. Dieser Zaun zum Beispiel. Sie waren immer noch auf der Straße, die auch nach Cartwheel führte, sie hatte diesen Zaun auf ihren Spähtouren gesehen und sich unbewusst eingeprägt. »Rickrack«, sagte sie zu Ira.

»Hm?«

»Nennen sie diese Art von Zäunen nicht ›Rickrack‹?«

Er sah auch hinaus, aber es war schon vorüber.

Sie saß in ihrem Wagen, den sie in einiger Entfernung vom Haus von Fionas Mutter abgestellt hatte, und wartete, ob sie Leroy für einen kurzen, winzigen Augenblick zu Gesicht bekommen würde. Ira hätte mit ihr gestritten, wenn er davon gewusst hätte. Es war damals, als Fiona gerade weggezogen war, nach einer Szene, an die sich Maggie nie gern erinnerte. (Für sie war es »Dieser scheußliche Morgen«, und sie ließ ihn aus ihrer Erinnerung verschwinden.) Oh, in dieser Zeit war sie wie besessen gewesen; Leroy war damals noch ein Baby, und was verstand denn Fiona von Babys? Immer hatte sie Maggies Hilfe gehabt. So fuhr Maggie an einem freien Nachmittag nach Cartwheel, stellte ihren Wagen ab und wartete, und tatsächlich, bald kam Fiona mit Leroy auf dem Arm heraus und ging in der anderen Richtung davon. Ihr Gang war lebhaft, ihr langes, blondes Haar schwang wie ein Vorhang vor und zurück, während das Gesicht des Babys als kleiner, heller Knopf über ihrer Schulter hing. Maggies Herz machte einen Satz, als wäre sie verliebt. Und in gewisser Weise war sie auch verliebt – in Leroy und in Fiona und sogar in ihren eigenen Sohn, wie er dastand und seine Tochter unbeholfen an seiner schwarzen Lederjacke wiegte. Aber sie wagte es nicht, sich zu zeigen – jedenfalls noch nicht. Stattdessen fuhr sie nach Hause und erzählte Jesse: »Ich war heute in Cartwheel.«

Er machte große Augen. Einen verwirrten, verwirrenden Augenblick lang sah er sie an, bevor er sich abwendete und murmelte: »So?«

»Ich habe nicht mit ihr gesprochen, aber ich bin mir sicher, dass sie dich vermisst. Sie ging ganz allein mit Leroy spazieren. Sonst niemand.«

»Glaubst du, das interessiert mich?«, fragte Jesse. »Wieso denkst du, dass mich das interessiert?«

Aber am nächsten Morgen lieh er sich den Wagen. Maggie war erleichtert. (Er war ein liebenswürdiger, freundlicher, warmherziger Junge mit einer fast unheimlichen Begabung, andere Menschen für sich einzunehmen. Die Sache würde im Nu geregelt sein.) Er blieb den ganzen Tag weg – sie rief jede Stunde zu Hause an, um es zu prüfen – und kam erst zurück, als sie schon das Abendessen machte. »Na?«, fragte sie.

»Was, na?«, versetzte er, stapfte die Treppe hinauf und schloss sich in seinem Zimmer ein.

Da wusste sie, dass es ein bisschen länger dauern würde, als sie erwartet hatte.

Dreimal – an Leroys drei ersten Geburtstagen – waren Maggie und Ira ganz regulär zu Besuch gewesen, vorher abgesprochene Großelternbesuche mit Geschenken; aber für Maggie waren die wirklichen Besuche ihre Spähtouren, die sie fortsetzte, ohne sie eigentlich zu planen, so als ob lange, unsichtbare Fäden sie nach Norden zögen. Sie hatte geglaubt, zum Supermarkt unterwegs zu sein, aber plötzlich fand sie sich auf Route Eins wieder und schlug schon den Mantelkragen hoch, um nicht erkannt zu werden. Dann saß sie auf dem einzigen Spielplatz von Cartwheel herum und besah sich neben dem Sandkasten müßig ihre Fingernägel. Oder sie lauerte am Parkweg, auf dem Kopf die hellrote Perücke von Iras Schwester Junie. In manchen Augenblicken dachte sie, so würde es jetzt immer weitergehen, bis sie alt wäre. Vielleicht könnte sie eine Stelle als Schülerlotse annehmen, wenn Leroy in die erste Klasse kam. Vielleicht könnte sie als Pfadfinderführerin gehen und sich eine Pfadfinderinnenuniform ausleihen, wenn man eine haben musste. Vielleicht könnte sie Leroy auch zum College-Ball begleiten. Na also. Kein Grund, sich verrückt zu machen. Jesses düsteres Schweigen und die Lustlosigkeit, mit der Fiona die Babyschaukel auf dem Spielplatz anschubste, sagten ihr, dass die beiden bestimmt nicht lange getrennt bleiben würden. Oder?

Und dann folgte sie eines Nachmittags Fionas Mutter, die Leroys Sportwagen zur Main Street hinaufschob. Mrs Stuckey war eine schlampige, unförmige Frau, die Zigaretten rauchte. Maggie hatte nicht das geringste Vertrauen zu ihr, und mit Recht, denn jetzt stellte sie Leroy doch tatsächlich einfach draußen vor der Cure-Boy-Apotheke ab und ließ das Kind allein, während sie hineinging. Maggie war entsetzt. Jemand konnte Leroy entführen! Jeder Vorübergehende hätte sie entführen können. Maggie näherte sich dem Wagen und ging vor ihm in die Hocke. »Liebling?«, sagte sie. »Willst du mit zu Oma kommen?« Das Mädchen starrte sie an. Sie war damals, na, vielleicht achtzehn Monate, und ihr Gesicht wirkte überraschend erwachsen. Ihre Beine hatten die Rundlichkeit des Säuglingsalters verloren. Die Augen waren von demselben milchigen Blau wie die Fionas und blickten sie etwas stumpf und leer an, so als würde sie Maggie nicht erkennen. »Ich bin’s, Oma«, sagte Maggie, aber Leroy begann, sich zu winden und den Kopf zu verdrehen. »Mama?«, rief sie. Es war unverkennbar, sie sah nach der Tür, hinter der Mrs Stuckey verschwunden war. Maggie richtete sich auf und ging rasch davon. Sie spürte die Zurückweisung wie einen körperlichen Schmerz, wie eine Wunde in ihrer Brust. Von nun an machte sie keine Spähtouren mehr.

Als sie hier im Frühling entlanggefahren war, waren die Wälder mit weißen Hartriegel-Blüten übersät gewesen. Sie hatten das Grün der Berghänge aufgelockert, so wie ein paar Einsprengsel Schleierkraut einen Blumenstrauß auflockern. Und einmal hatte sie ein kleines Tier gesehen, eines, das man sonst nicht sah – kein Kaninchen und keinen Waschbären, sondern ein schlankeres, wendigeres –, und sie hatte scharf gebremst und den Rückspiegel verstellt, um es noch einmal zu sehen, aber es war schon ins Unterholz gehuscht.

»Serena macht immer alles so schwierig«, sagte Ira gerade. »Sie hätte doch telefonieren können, gleich nachdem Max gestorben ist, aber nein, sie wartet bis zur allerletzten Minute. Er stirbt am Mittwoch, und am Freitag spätabends ruft sie an. Zu spät, um vom Automobilclub noch eine Straßenauskunft zu bekommen.« Mit gerunzelter Stirn blickte er auf die Straße vor sich. »Ehm, du glaubst doch nicht, dass sie mich als Sargträger will oder so?«

»Sie hat nichts davon gesagt.«

»Aber sie hat gesagt, sie brauche unsere Hilfe.«

»Ich nehme an, sie meinte moralischen Beistand«, sagte Maggie.

»Vielleicht ist Sargtragen moralischer Beistand.«

»Wäre das nicht eher körperlicher Beistand?«

»Na ja, vielleicht«, sagte Ira.

Sie glitten jetzt durch eine kleine Stadt, wo verschiedene kleine Läden das gleichmäßige Bild des Weidelandes unterbrachen. Neben einem Briefkasten standen mehrere Frauen und unterhielten sich. Maggie drehte den Kopf und sah sich nach ihnen um. Sie fühlte sich ausgeschlossen und wäre gern bei ihnen gewesen, so als würde sie diese Menschen kennen.

»Wenn sie will, dass ich als Sargträger gehe, bin ich nicht richtig angezogen«, sagte Ira.

»Aber selbstverständlich bist du richtig angezogen.«

»Ich bin nicht im schwarzen Anzug«, meinte er.

»Du besitzt gar keinen schwarzen Anzug.«

»Ich bin in Marineblau.«

»Marineblau ist in Ordnung.«

»Außerdem habe ich diesen Knacks im Rücken.«

Sie warf ihm einen Blick zu.

»Und eigentlich habe ich ihm ja auch nie besonders nahegestanden«, sagte er.

Maggie ließ ihre Hand zum Steuerrad hinübergleiten und legte sie auf seine. »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich wette, sie will bloß, dass wir dabei sind.«

Er verzog die Backe zu einem kläglichen Grinsen.

Wie seltsam er war, wenn es um den Tod ging! Selbst mit harmlosen Krankheiten kam er nicht zurecht und hatte Gründe gefunden, nicht ins Krankenhaus zu kommen, als ihr der Blinddarm herausgenommen wurde; er behauptete, er habe sich erkältet und könnte sie anstecken. Jedes Mal, wenn eines der Kinder krank wurde, behauptete er, es sei nichts. Sie würde sich alles nur einbilden. Bei dem geringsten Hinweis darauf, dass er vielleicht nicht ewig leben würde – wenn es zum Beispiel um die Lebensversicherung ging –, setzte er eine starre Miene auf und wurde störrisch und reizbar. Maggie hingegen hatte manchmal fast Angst, dass sie ewig leben könnte – vielleicht wegen all dem, was sie zu Hause miterlebt hatte.

Und wenn sie als Erste sterben würde, würde er wahrscheinlich so tun, als ob auch das nicht geschehen wäre. Wahrscheinlich würde er mit seiner Arbeit fortfahren und ein Liedchen pfeifen, wie immer.

Welches Lied würde er wohl pfeifen?

Sie überquerten jetzt den Susquehanna River, und rechts ragte der viktorianisch aussehende, filigranartige Oberbau des Conowingo-Kraftwerks auf. Maggie kurbelte das Fenster herunter und lehnte sich hinaus. In der Ferne konnte sie das Rauschen von Wasser hören; es kam ihr vor, als würde sie Wasser einatmen, als tränke sie das zerstäubende Nass, das wie Rauch von tief unterhalb der Brücke aufstieg.

»Weißt du, was mir gerade eingefallen ist?«, sagte Ira und hob die Stimme. »Diese Malerin, wie heißt sie doch gleich? Sie wollte heute Morgen in den Laden kommen und einen Stapel Bilder bringen.«

Maggie schloss ihr Fenster. »Hast du denn den Anrufbeantworter nicht eingeschaltet?«

»Was würde das bringen? Es war ja schon verabredet.«

»Vielleicht können wir irgendwo halten und sie anrufen.«

»Ich habe ihre Nummer nicht dabei«, sagte Ira. Und dann: »Vielleicht könnten wir Daisy anrufen und sie bitten, es ihr zu sagen.« – »Daisy arbeitet jetzt«, sagte Maggie.

»Mist.«

Maggie musste an Daisy denken, adrett und hübsch, mit Iras dunklem Teint und Maggies zierlicher Figur. »Oje«, seufzte Maggie, »wie schade, dass ich ihren letzten Tag zu Hause verpasse.«

»Sie ist doch sowieso nicht zu Hause; du hast es gerade gesagt.«

»Aber später wird sie da sein.«

»Morgen siehst du noch genug von ihr«, brummte Ira. »Mehr als genug.«

Morgen wollten sie Daisy ins College fahren – ihr erstes Studienjahr, ihr erstes Jahr fern von zu Hause. Ira sagte: »Den ganzen Tag im Wagen, da wirst du sie am Ende gründlich satt sein.«

»Nein! Ich werde Daisy nie satt sein.«

»Darüber reden wir morgen«, sagte Ira.

»Ich habe eine Idee«, sagte Maggie. »Wir sparen uns den Empfang.«

»Was für einen Empfang?«

»Oder wie man das nennt, wenn man nach einer Beerdigung zu jemandem nach Hause geht.«

»Von mir aus gern«, sagte Ira.

»So könnten wir früh zu Hause sein, auch wenn wir noch einen Abstecher zu Fiona machen.«

»Herrgott noch mal, Maggie, bist du immer noch bei dieser Schnapsidee mit Fiona?«

»Wenn die Beerdigung, sagen wir, gegen Mittag zu Ende wäre und wir von dort direkt nach Cartwheel führen –«

Ira schwenkte nach rechts ein, der Wagen neigte sich auf dem Schotter zur Seite. Einen Augenblick lang dachte sie, es sei ein Wutanfall. (Sie hatte oft das Gefühl, immer näher an den Rand seiner Geduld zu geraten.) Aber nein, er hatte an einer Tankstelle gehalten, einem altmodischen Gebäude mit weißen Schindeln, vor dem zwei Männer in Overalls auf einer Bank saßen. »Karte«, sagte er kurz und stieg aus.

Maggie kurbelte ihr Fenster herunter und rief ihm nach: »Guck doch mal, ob sie einen Snack-Automaten haben, ja?«

Er winkte und ging auf die Bank zu.

Jetzt, wo der Wagen stand, sickerte die Hitze wie schmelzende Butter durch das Dach. Sie spürte, wie es um ihren Kopf immer heißer wurde, und stellte sich vor, ihr braunes Haar würde sich verfärben und einen metallischen Ton annehmen, wie Messing oder Kupfer. Träge ließ sie ihre Finger aus dem Fenster hängen.

Wenn sie Ira nur bis zu Fiona lotsen konnte, dann war alles andere einfach. Schließlich war er nicht immun. Er hatte dieses Kind auf seinem Schoß gehalten. Er war auf Leroys Taubengurren in dem gleichen respektvollen Tonfall eingegangen, den er auch bei seinen eigenen Kindern, als sie klein waren, angeschlagen hatte. »So ist das also! Was du nicht sagst! Also ich glaube, jetzt, wo du es sagst – so etwas Ähnliches habe ich auch schon gehört.« Bis schließlich Maggie (immer leichtgläubig) fragen musste: »Wie? Was hat sie dir erzählt?« Er hatte ihr dann einen seiner schrägen, verschmitzten Blicke zugeworfen, und das Baby, so kam es Maggie manchmal vor, ebenfalls.

Nein, er war nicht immun, er würde Leroy sehen, und sofort würde ihm wieder einfallen, wie sie miteinander verbunden gewesen waren. Man musste die Menschen erinnern, das war alles. Wie es heute in der Welt zuging, war es so leicht, zu vergessen. Fiona musste vergessen haben, wie sehr sie am Anfang verliebt gewesen war, wie sehr sie hinter Jesse und seiner Rockband her gewesen war. Sie musste die Erinnerung absichtlich ausgelöscht haben, denn sie war genauso wenig immun wie Ira. Maggie war nicht entgangen, was für ein enttäuschtes Gesicht Fiona gemacht hatte, als sie zu Leroys erstem Geburtstag kamen und es sich herausstellte, dass Jesse nicht mitgekommen war. Jetzt war es eine Frage von Stolz, von verletztem Stolz. »Weißt du noch?«, würde Maggie sie fragen. »Weißt du noch, die erste Zeit, als ihr nichts weiter wolltet als zusammen sein? Weißt du noch, wie ihr überall zusammen unterwegs wart, jeder eine Hand in der Gesäßtasche des anderen?« Damals war es ihr irgendwie angeberisch vorgekommen, aber jetzt trieb es ihr Tränen in die Augen.

Ach, dieser ganze Tag war so furchtbar traurig, einer von diesen Tagen, an denen einem klar wird, dass am Ende jeder jeden verliert; und sie hatte Serena seit mehr als einem Jahr nicht geschrieben oder auch nur ihre Stimme gehört, bis sie gestern Abend anrief und dabei so heftig weinte, dass sie die Hälfte ihrer Wörter verschluckte. In diesem Augenblick (während sie einen Luftzug wie warmes Wasser zwischen ihren Fingern spielen ließ) hatte Maggie das Gefühl, das Vergehen der Zeit mit allem, was dazugehört, sei mehr, als sie ertragen könne. Serena, so wollte sie sagen, denk doch: All das, von dem wir uns versprochen haben, wir würden es nie, niemals so machen, wenn wir erwachsen wären. Wir würden nicht trippeln, wenn wir barfuß gehen. Wir würden nicht am Strand liegen und uns bräunen, sondern schwimmen, und wir würden nicht mit erhobenem Kinn schwimmen, um die Frisur vor Nässe zu schützen. Wir haben versprochen, wir würden das Geschirr nicht gleich nach dem Abendessen abspülen, weil wir dann nicht mit unserem Mann zusammensitzen könnten; erinnerst du dich? Wie lang ist es her, dass du das Geschirr bis zum Morgen stehen gelassen hast, um bei Max zu bleiben? Und wie lang ist es her, dass Max auffiel, dass du es nicht mehr tust?

Ira kam zurück, im Gehen faltete er eine Karte auf. Maggie nahm die Sonnenbrille ab und trocknete sich die Augen mit ihren Ärmeln. »Hast du gefunden, was du suchtest?«, rief sie ihm entgegen, und er sagte: »Oh …«, und verschwand wieder hinter der Karte, immer noch im Gehen. Die Rückseite des Blattes war mit Fotos von landschaftlichen Sehenswürdigkeiten bedeckt. Jetzt war er auf seiner Wagenseite angelangt, faltete die Karte zusammen und stieg ein. »Wenn ich bloß den Automobilclub hätte anrufen können«, sagte er und startete den Motor.

»Ach, ich würde mir keine Sorgen machen«, meinte sie. »Wir haben jede Menge Zeitreserve.«

»Eigentlich nicht, Maggie. Und sieh mal, der Verkehr wird immer dichter. Alle alten Damen machen jetzt ihre Wochenendtour.«

Eine unsinnige Bemerkung; denn es waren hauptsächlich Lastwagen unterwegs. Vor einem Möbelwagen und hinter einem Buick und einem anderen Tanklastzug fädelten sie sich wieder ein. Vielleicht war es auch derselbe Laster, den sie vor einer Weile überholt hatten. Maggie setzte wieder ihre Sonnenbrille auf.

versuch es mit jesus, du wirst es nicht bereuen, stand auf einer Reklametafel. Und dann bubba mcduffs kosmetikschule. Sie fuhren jetzt nach Pennsylvania hinein, und ein paar Hundert Meter war die Straße eben, wie ein guter Vorsatz, aber dann folgte wieder der gewohnte, elend holprige Straßenbelag. Man hatte weite Blicke in die sanft geschwungene, grüne Gegend – ein Kinderbild von einer Farmlandschaft. Vereinzelte schwarze Kühe grasten an den Hängen. meilenzähler-test. anfang, las Maggie. Sie setzte sich aufrecht. Im nächsten Augenblick blitzte ein winziges Schild auf: 0,1 M. Sie sah nach dem Meilenzähler im Wagen. »Genau null Komma acht«, sagte sie zu Ira.

»Hmm?«

»Ich teste unseren Meilenzähler.«

Ira lockerte sich den Krawattenknoten.

Zwei Zehntel Meilen. Drei Zehntel. Beim vierten Zehntel hatte sie das Gefühl, sie seien zurückgefallen. Vielleicht bildete sie es sich ja bloß ein, aber es kam ihr so vor, als würde die Zahl, während sie hochkletterte, etwas nachhinken. Bei fünf Zehnteln war sie sich fast sicher. »Wann hast du ihn das letzte Mal überprüfen lassen?«, fragte sie Ira.

»Wen überprüfen lassen?«

»Den Meilenzähler.«

»Noch nie«, erwiderte er.

»Noch nie? Kein einziges Mal? Und mir wirfst du vor, ich würde das Auto nicht in Schuss halten!«

»Sieh dir das an!«, sagte Ira. »Dass sie so eine neunzigjährige alte Tante überhaupt noch auf den Straßenverkehr loslassen! Kann nicht mal über ihr Steuerrad sehen.«

Er scherte aus und überholte den Buick, aber dadurch verpasste Maggie eines der Schilder mit den Meilenangaben. »Verdammt«, sagte sie, »du bist schuld, dass ich es nicht gesehen habe.«

Er reagierte nicht. Es schien ihm überhaupt nicht leidzutun. Sie heftete ihre Augen auf die Weite vor ihr und bereitete sich auf die Sieben-Zehntel-Markierung vor. Als sie auftauchte, sah sie auf den Meilenzähler, aber die Zahl kroch gerade erst hoch. Es machte sie nervös und unruhig. Seltsamerweise jedoch kam die nächste Zahl schneller. Fast zu schnell. Maggie sagte: »Oh-oh.«

»Was ist denn los?«

»Das macht mich ganz krank«, sagte sie. Sie achtete auf die Schilder an der Straße und gleichzeitig auf den Meilenzähler. Die Sechs im Zählwerk kletterte mehrere Sekunden vor dem Schild hoch, das hätte sie schwören können. Sie stieß ein Zischen aus. Ira sah zu ihr hinüber. »Fahr langsamer«, sagte sie.

»Was ist los?«

»Fahr langsamer! Ich bin mir nicht sicher, ob wir es schaffen. Guck mal, da kommt die Sieben, höher und immer höher … und wo ist das Schild? Wo ist das Schild? Los, Schild, komm! Wir verlieren! Wir haben zu viel Vorsprung! Wir –«

Das Schild tauchte ganz plötzlich auf. »Ah«, sagte sie. Und genau im gleichen Augenblick schob sich die Sieben an die richtige Stelle, so präzise, dass Maggie es fast klicken hörte.

»Puh!«, machte sie. Sie sank in den Sitz zurück. »Das ist gerade noch mal gutgegangen.«

»Alle unsere Messinstrumente werden vom Werk eingestellt, weißt du«, sagte Ira.

»Ja, aber das war vor vielen, vielen Jahren«, versetzte sie. »Ich bin erschöpft.«

Ira sagte: »Ich frage mich, wie lange wir auf der Route Eins bleiben sollen.«

»Wie durch den Wolf gedreht komme ich mir vor«, stöhnte Maggie und zupfte vorn an ihrem Kleid herum.

In unregelmäßigen Abständen tauchten jetzt Rudel von Lastwagen und Wohnmobilen auf, die auf Waldlichtungen abgestellt waren – aber es hatte keine Menschen und auch keinerlei sichtbare Indizien, die erklärt hätten, warum hier irgendjemand anhielt. Maggie war das schon auf früheren Fahrten aufgefallen, und sie hatte es nie verstanden. Waren die Fahrer angeln oder jagen gegangen, oder was? Führte die Landbevölkerung ein geheimes Leben?

»Und dann auch ihre Banken«, sagte sie zu Ira. »Alle diese Städtchen haben Banken, die aussehen wie klitzekleine Ziegelhäuser, ist dir das schon mal aufgefallen? Mit Gärten drum herum und Blumenbeeten. Würdest du so einer Bank vertrauen?«

»Warum denn nicht?«

»Ich hätte nicht das Gefühl, dass mein Geld dort sicher ist.«

»Du mit deinen gewaltigen Reichtümern«, stichelte Ira.

»Ich finde, es wirkt nicht professionell.«

»Also, nach der Karte zu urteilen«, sagte er, »könnten wir noch ein gutes Stück über Oxford hinaus auf der Route Eins bleiben. Serena meinte, wir sollten in Oxford abbiegen, wenn ich dich richtig verstanden habe, aber … Sieh doch mal bitte für mich nach, ja?«

Maggie nahm die Karte von dem Sitz zwischen ihnen und öffnete sie, ein Quadrat nach dem anderen. Sie hoffte, dass sie die Karte nicht ganz ausbreiten müsste. Ira würde meckern, wenn sie sie nachher nicht richtig zusammenfaltete. »Oxford«, sagte sie, »liegt das in Maryland oder in Pennsylvania?«

»In Pennsylvania, Maggie. Wo der Highway Zehn nach Norden abgeht.«

»Ach so! Ich kann mich genau erinnern, dass sie sagte, wir sollten den Highway Zehn nehmen.«

»Ja, aber wenn wir … Hast du denn überhaupt nicht zugehört, was ich gesagt habe? Wenn wir auf der Route Eins bleiben würden, verstehst du, dann könnten wir Zeit sparen, und ich glaube, es gibt weiter oben eine Abzweigung, die uns direkt nach Deer Lick bringt.«

»Aber Serena muss irgendeinen Grund dafür gehabt haben, Ira, dass sie uns den Highway Zehn nannte.«

»Einen Grund? Serena? Serena Gill soll einen Grund für irgendetwas haben?«

Mit einem Knacken schlug sie die Karte auseinander. Immer redete er so über ihre Freundinnen. Er war geradezu eifersüchtig auf sie. Sie vermutete, dass er glaubte, Frauen würden heimlich die Köpfe zusammenstecken und über ihre Ehemänner tratschen. Typisch: Er war so egozentrisch. Obwohl es manchmal natürlich wirklich vorkam.

»Hatten sie in der Tankstelle einen Snack-Automaten?«, fragte sie ihn.

»Nur Schokoriegel und solches Zeug, das du nicht magst.«

»Ich sterbe vor Hunger.«

»Ich hätte dir einen Schokoriegel mitbringen können, aber ich dachte, du isst ihn nicht.«

»Hatten sie keine Kartoffelchips oder so was? Ich verhungere.«

»Baby Ruths, Fifth Avenues.«

Sie zog eine Grimasse und wendete sich wieder der Karte zu.

»Also, ich würde sagen, wir nehmen den Highway Zehn«, erklärte sie.

»Ich könnte schwören, dass ich eine spätere Abzweigung gesehen habe.«

»Eigentlich nicht«, sagte sie.

»Eigentlich nicht? Was soll das heißen? Entweder es ist eine Abzweigung da, oder es ist keine da.«

»Na ja«, meinte sie, »ehrlich gesagt, ich habe Deer Lick noch gar nicht richtig gefunden.«

Er schaltete das Blinklicht ein. »Wir suchen irgendwas, wo du essen kannst, und ich sehe mir noch mal die Karte an«, sagte er.

»Essen? Ich will nicht essen!«

»Du hast doch eben noch gesagt, du würdest vor Hunger sterben.«

»Ja, aber ich mache eine Diät. Ich will bloß einen Snack!«

»Schön. Dann besorgen wir dir einen Snack«, sagte er.

»Wirklich, Ira, ich kann es nicht leiden, wie du immer meine Diätkuren torpedierst.«

»Dann bestell dir eine Tasse Kaffee oder irgendetwas. Ich muss mir die Karte ansehen.«

Er fuhr jetzt eine gepflasterte Straße entlang, die von lauter neuen, völlig gleichen Ranch-Häusern gesäumt war. Hinten war an jedes Haus ein Geräteschuppen aus Blech angebaut, der wie eine winzige rote, mit weißen Kanten verzierte Scheune aussah. Maggie hätte nicht vermutet, dass man in einer solchen Gegend irgendwo etwas essen könnte, aber schon hinter der nächsten Biegung fanden sie ein Holzhaus, vor dem ein paar Autos parkten. Ein staubiges Neonschild leuchtete im Fenster: nell’s lebensmittel & cafe. Ira parkte neben einem Jeep mit einem Judas-Priest-Aufkleber auf der Stoßstange. Maggie öffnete die Tür und stieg aus, wobei sie verstohlen ihre Strumpfhose hochzog.

Im Laden roch es nach Fabrikbrot und Wachspapier. Es erinnerte sie an den Essraum in einer Grundschule. Hier und da standen Frauen und musterten Konserven. Das Café lag im hinteren Teil – eine lange Theke und dahinter an der Wand eine ganze Reihe verblichener Farbfotos von orangefarbenen Spiegeleiern und beigen Würstchen. Maggie und Ira ließen sich nebeneinander auf zwei Hockern nieder, und Ira breitete seine Karte auf der Theke aus. Maggie sah der Kellnerin zu, die gerade einen Rost säuberte. Sie besprühte ihn mit irgendetwas, kratzte mit einem Spachtel eine dicke, klebrige Masse ab und sprühte noch einmal. Von hinten sah sie wie ein großes weißes Rechteck aus, der graue Haarknoten war mit schwarzen Nadeln festgesteckt. »Was darfs sein?«, fragte sie schließlich, ohne sich umzudrehen.

Ira sagte: »Für mich bloß Kaffee, bitte«, ohne von seiner Karte aufzublicken. Maggie fiel die Entscheidung schwerer. Sie nahm die Sonnenbrille ab und warf einen Blick auf die Farbfotos. »Ach ja, ich denke, ich nehme auch einen Kaffee«, sagte sie, »und außerdem, Moment mal, vielleicht einen Salat oder so was, aber –«

»Salate haben wir nicht«, erklärte die Kellnerin. Sie stellte ihre Sprayflasche beiseite und kam, während sie sich die Hände an ihrer Schürze abwischte, zu Maggie herüber. Ihre von zahlreichen Fältchen umgebenen Augen waren von einem unheimlichen Hellgrün, wie altes Glas am Strand. »Das Einzige, was ich zu bieten hätte, ist grüne Salatblätter und Tomate von einem Sandwich.«

»Dann vielleicht einfach eine Tüte von den Taco-Chips aus dem Regal da«, sagte Maggie fröhlich. »Obwohl ich ja eigentlich nicht darf.« Sie sah zu, wie die Kellnerin zwei Tassen Kaffee eingoss. »Bis Thanksgiving will ich zehn Pfund abnehmen. An diesen zehn Pfund arbeite ich schon immer, aber diesmal bin ich wild entschlossen.«

»Unsinn! Sie brauchen doch nicht abzunehmen«, sagte die Frau und stellte ihnen die Tassen hin. Auf ihrer Brusttasche war in Rot Mabel eingestickt. Seit ihrer Kindheit hatte Maggie diesen Namen nicht mehr gehört. Was war wohl aus all den Mabels geworden? Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn man heute ein Neugeborenes so nennen würde. Unterdessen sagte die Frau zu ihr: »Ich finds ja furchtbar, dass heutzutage jeder wie ein Zahnstocher aussehen will.«

»Das sagt Ira auch; er mag mich mit dem Gewicht, das ich habe«, sagte Maggie. Sie warf einen Blick zu Ira hinüber, aber der war in seine Karte vertieft oder tat jedenfalls so. Es war ihm immer irgendwie peinlich, wenn sie sich mit fremden Leuten einließ. »Aber jedes Mal, wenn ich mir ein Kleid kaufe, sitzt es nicht richtig, wissen Sie? Als wenn sie davon ausgingen, dass ich keinen Busen habe. Fehlende Willenskraft, das ist mein Problem. Ich habe so große Lust auf salzige Sachen. Saure Sachen. Scharfe Gewürze.« Sie nahm die Tüte mit den Taco-Chips und hielt sie demonstrativ hoch.

»Was soll ich denn da sagen?«, meinte Mabel. »Der Doktor sagt, ich hätte so viel Übergewicht, dass mir die Beine kaputtgehen.«

»Aber das stimmt doch gar nicht. Das möchte ich sehen, wo Sie Übergewicht haben!«

»Er sagt, es wäre nicht so schlimm, wenn ich was anderes täte als Kellnern; es geht einem auf die Venen.«

»Unsere Tochter arbeitet auch als Kellnerin«, erzählte Maggie. Sie riss die Tüte mit den Chips auf und biss in einen hinein. »Manchmal ist sie volle acht Stunden auf den Beinen, ohne Pause. Zuerst hat sie mit Sandalen angefangen, aber ist dann ganz schnell zu Kreppsohlen übergewechselt, das kann ich Ihnen sagen, obwohl sie geschworen hatte, sie würde es nicht tun.«

»Sie sind doch gar nicht alt genug, dass Sie so eine große Tochter haben können«, meinte Mabel.

»Oh, sie ist noch ein Teenager; es war ein Ferienjob. Morgen geht sie ins College.«

»College. Eine von den ganz Schlauen, wie?«, sagte Mabel.

»Also, ich weiß es nicht«, sagte Maggie. »Sie hat jedenfalls ein volles Stipendium bekommen.« Sie hielt ihr die Tüte hin. »Wollen Sie?«

Mabel nahm eine Handvoll. »Meine sind alles Jungs«, erzählte sie Maggie. »Lernen war für die so selbstverständlich wie Fliegen.«

»Ja, mit unserem Jungen war es dasselbe.«

»›Warum macht ihr eure Hausaufgaben nicht?‹, frage ich sie. Aber sie kommen mit allen möglichen Ausreden. Meistens hieß es, der Lehrer hätte nichts aufgegeben, aber das war natürlich erstunken und erlogen.«

»Genau wie bei Jesse«, sagte Maggie.

»Und dann ihr Daddy!«, fuhr Mabel fort. »Immer hat er ihnen die Stange gehalten. Als wenn sie alle unter einer Decke stecken täten, und ich steh draußen im Kalten. Ich hätte was gegeben für eine Tochter, das kann ich Ihnen sagen!«

»Na ja, Töchter haben auch ihre Nachteile«, sagte Maggie. Sie konnte sehen, dass Ira mit einer Frage dazwischenkommen wollte (er hatte einen Finger auf die Karte gelegt und sah Mabel erwartungsvoll an), aber wenn er seine Antwort hatte, würde er aufbrechen wollen, und deshalb hielt sie ihn noch ein bisschen hin. »Töchter haben zum Beispiel mehr Geheimnisse. Also, man denkt, sie sprechen mit einem, aber es ist nur Gerede. Daisy zum Beispiel. Immer war sie so still und gehorsam. Und auf einmal kommt sie mit diesem Plan heraus, will weggehen auf eine Schule ganz woanders. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so was im Schilde führt! Ich sagte: ›Daisy? Gefällt es dir denn zu Hause nicht mehr?‹ Ich wusste natürlich, dass sie aufs College wollte, aber für die Kinder von anderen Leuten ist die Universität von Maryland doch auch gut genug. ›Weshalb denn nicht näher bei Baltimore?‹, fragte ich sie, aber sie sagte: ›Oh, Ma, du hast doch immer gewusst, dass ich vorhatte, an eines von diesen Klasse-Colleges im Norden zu gehen.‹ Überhaupt nichts wusste ich! Ich hatte keine Ahnung! Und seit sie dieses Stipendium hat, ist sie einfach nicht wiederzuerkennen. Ist es nicht so, Ira? Ira sagt –«, beeilte sie sich hinzuzufügen (sie bedauerte schon, Ira in das Gespräch hineingebracht zu haben), »Ira sagt, sie würde eben wachsen. Er sagt, es seien einfach Wachstumsprobleme, die würden sie so nörgelig und kritisch machen, und nur ein Dummkopf würde sich das so zu Herzen nehmen. Aber es ist schwierig! Es ist wirklich schwierig! Da kommt alles auf einmal, jede Kleinigkeit, was wir auch tun, alles ist falsch; als ob sie krampfhaft nach Gründen suchte, warum sie uns nicht zu vermissen braucht, wenn sie weggeht. Mein Haar ist zu lockig, und ich rede zu viel, und ich esse zu viele gebratene Sachen. Und Iras Anzug ist schlecht geschnitten, und er versteht nichts vom Geschäft.«

Mabel, ganz Mitgefühl, nickte, aber Ira fand natürlich, dass Maggie viel zu emotional war. Er sagte es nicht, aber er rutschte auf seinem Sitz hin und her; daran erkannte sie es. Aber sie achtete nicht auf ihn. »Wissen Sie, was sie neulich zu mir gesagt hat?«, fragte sie Mabel. »Ich probierte so ein Thunfischrezept in der Kasserolle aus. Ich servierte es zum Abendessen und sagte: ›Ist es nicht köstlich? Sag mal ehrlich, wie du es findest.‹ Und Daisy sagte –«

Kleine Tränen hingen an ihren Wimpern. Sie atmete tief. »Daisy saß einfach da und sah mich unendlich lange an«, erzählte sie, »mit diesem irgendwie … faszinierten Ausdruck im Gesicht, und dann sagte sie: ›Ma? Gab es irgendeinen Punkt in deinem Leben, an dem du dich ganz bewusst entschlossen hast, dich damit abzufinden, ganz normal zu sein?‹«

Sie wollte weitersprechen, aber ihre Lippen bebten. Sie legte die Chips beiseite und kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Mabel gab ein besorgtes Schnalzen von sich. Ira sagte: »Um Gottes willen, Maggie.«

»Tut mir leid«, sagte sie zu Mabel. »Es kam einfach über mich.«

»Ja, sicher«, beschwichtigte Mabel sie. Sie schob Maggies Kaffeetasse näher zu ihr hin. »Ist doch klar!«

»Also, in meinen Augen bin ich nicht ›ganz normal‹.«

»Wirklich nicht!«, sagte Mabel. »Sie sind ein Schatz. Aber sagen Sie ihr das mal! Sagen Sie ihr mal anständig Bescheid. Sagen Sie ihr, sie soll aufhören, so zu denken. Wissen Sie, was ich zu meinem Bobby gesagt habe, meinem Ältesten? Es ging auch um ein Thunfischgericht, stellen Sie sich vor! Ist das ein Zufall? Er verkündete, Gerichte, bei denen die Sachen durcheinandergemischt seien, würden ihm bis hier stehen. Ich sage: ›Junger Mann‹, sage ich, ›du kannst gleich von diesem Tisch hier aufstehen. Verlasse dieses Haus, wenn du so weitermachen willst. Such dir was, wo du bleiben kannst‹, sage ich, ›koch dir dein verdammtes Essen selbst, und sieh zu, wie du dir jeden Abend Rinderfilet leisten kannst.‹ Und es war mir ernst. Er dachte, ich würde nur so rumtönen, aber der hat bald begriffen, dass es mir ernst war; ich habe ihm alle Kleider auf den Kühler von seinem Wagen gepackt. Jetzt wohnt er mit seiner Freundin auf der anderen Seite der Stadt. Er glaubte nicht, dass ich ihn wirklich und wahrhaftig vor die Tür setzen würde.«

»Aber das ist es ja gerade; ich will nicht, dass sie auszieht«, sagte Maggie. »Ich habe sie gern zu Hause. Genau wie mit Jesse: Er brachte seine Frau und das Baby mit, und sie wohnten bei uns, und ich fand es wunderbar! Ira hält Jesse für einen Versager. Er sagt, durch eine einzige Freundschaft sei Jesses ganzes Leben ruiniert worden, aber das ist Unsinn. Don Burnham hat nur eines getan, er hat Jesse gesagt, er hätte Talent als Sänger. Nennt man so was: ein Leben ruinieren? Ein Junge wie Jesse, der in der Schule nicht gerade glänzt und dessen Vater ständig wegen seiner Versäumnisse hinter ihm her ist; dem sagt plötzlich jemand, dass er auf einem ganz bestimmten Gebiet wirklich gut ist – ja, was erwartet man da? Glaubt denn einer, dass er die Achseln zuckt und es vergisst?«

»Natürlich nicht!«, sagte Mabel entrüstet.

»Natürlich nicht. Er fing an zu singen, bei einer Hard-rock-Band. Er ging von der Highschool ab und sammelte einen ganzen Schwarm von Mädchen um sich, und am Ende war es ein ganz bestimmtes Mädchen, und das heiratete er dann, ist doch nicht verkehrt. Brachte sie mit, und sie wohnten bei uns, weil er nicht viel verdiente. Ich fand es entzückend. Sie hatten ein süßes, kleines Baby. Dann zog seine Frau mit dem Baby weg, wegen dieser scheußlichen Szene, einfach auf und davon. Es war eigentlich bloß ein Streit, aber Sie wissen ja, wie sich solche Sachen auswachsen können. Ich sagte: ›Ira, geh ihr nach; du bist schuld, dass sie gegangen ist.‹ (Ira hat bei dieser Szene kräftig mitgemischt, das werfe ich ihm bis heute noch vor.) Aber Ira sagte, nein, soll sie tun, was sie für richtig hält. Er sagte, lass sie doch, sollen sie doch gehen, aber mir kam es so vor, als hätte sie mir dieses Kind aus meinem eigenen Leib gerissen, und als wäre da jetzt eine große blutige Stelle.« – »Enkelkinder«, sagte Mabel. »Also, ich könnte Ihnen Sachen erzählen.«

Ira schaltete sich ein: »Ich will nicht vom Thema ablenken, aber –« – »Oh, Ira«, fuhr Maggie auf, »nimm einfach den Highway Zehn und hör auf damit!«