Die Strandräuberin - Ines Thorn - E-Book
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Ines Thorn

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Beschreibung

Von Liebe und Meer.

Sylt im Jahr 1711: Es ist die Zeit der Walfänger und Strandräuber. Das Leben ist hart auf Sylt – besonders für Frauen, die sich alleine durchschlagen müssen. Seit dem Tod ihrer Eltern ist für Jördis die Kate ihrer Großmutter Etta in Rantum ihr karges Zuhause. Die beiden leben von Strandräuberei und davon, dass sie Syltern heimlich die Zukunft weissagen – mit ihrem Runenorakel, denn sie hängen dem alten nordischen Glauben an. Misstrauisch vom Pfarrer des Ortes beäugt, geht Jördis ausgerechnet mit dessen Tochter Inge eine Freundschaft ein. Als sie gesteht, dass sie in Arjen, den jungen Schmied, verliebt ist, zerbricht die Freundschaft, denn auch Inge hofft, dass Arjen ihr die Ehe anträgt. Doch der Schmied gesteht Jördis seine Liebe. Sie beschließen, vor dem nächsten Biikebrennen zu heiraten. Aber alles kommt anders, als in der Kirche ein Kreuz von der Decke fällt und ein heftiger Sturm die Insel heimsucht. Der Pfarrer findet sofort die Schuldigen: Jördis und ihre Großmutter sollen Hexen sein ...

Dramatisch und schicksalhaft: der Kampf einer jungen Frau um ihr Glück.

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Über Ines Thorn

Ines Thorn wurde 1964 in Leipzig geboren. Nach einer Lehre als Buchhändlerin studierte sie Germanistik, Slawistik und Kulturphilosophie. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Zuletzt erschienen ihre Romane »Das Mädchen mit den Teufelsaugen«, »Teufelsmond« und »Wolgatöchter«.

Informationen zum Buch

Von Liebe und Meer

Sylt im Jahr 1711: Jördis lebt mit ihrer Großmutter auf Sylt, doch sie bleibt eine Außenseiterin, die sich als Strandräuberin durchschlagen muss. Ihre Vorfahren stammen aus Island, deshalb hängt sie noch dem alten nordischen Glauben an. Ihre einzige Gefährtin ist ausgerechnet die Tochter des Pfarrers, der Jördis für eine Hexe hält. Doch dann verlieben ihre Freundin Inge und sie sich in denselben Mann – und das Unglück nimmt seinen Lauf.

Es ist die Zeit der Walfänger und Strandräuber. Das Leben ist hart auf Sylt – besonders für Frauen, die sich alleine durchschlagen müssen. Seit dem Tod ihrer Eltern ist für Jördis die Kate ihrer Großmutter Etta in Rantum ihr karges Zuhause. Die beiden leben von Strandräuberei und davon, dass sie Syltern heimlich die Zukunft weissagen – mit ihrem Runenorakel, denn sie hängen dem alten nordischen Glauben an. Misstrauisch vom Pfarrer des Ortes beäugt, geht Jördis ausgerechnet mit dessen Tochter Inge eine Freundschaft ein. Als sie gesteht, dass sie in Arjen, den jungen Schmied, verliebt ist, zerbricht die Freundschaft, denn auch Inge hofft, dass Arjen ihr die Ehe anträgt. Doch der Schmied gesteht Jördis seine Liebe. Sie beschließen, vor dem nächsten Biikebrennen zu heiraten. Aber alles kommt anders, als in der Kirche ein Kreuz von der Decke fällt und ein heftiger Sturm die Insel heimsucht. Der Pfarrer findet sofort die Schuldigen: Jördis und ihre Großmutter sollen Hexen sein.

Dramatisch und schicksalhaft: der Kampf einer jungen Frau um ihr Glück.

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Ines Thorn

Die Strandräuberin

Historischer Roman

Inhaltsübersicht

Über Ines Thorn

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

I. Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

II. Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Epilog

Impressum

Sylt 1711

Prolog

Es war Herbst geworden. Die Frauen der Seefahrer stellten sich im Morgengrauen auf die Dünen und hielten Ausschau nach den Schmackschiffen, die von Amsterdam oder Hamburg her kamen und ihre Ehegatten, Brüder, Liebsten oder Väter an Bord hatten. Alles Männer, die auf Walfang gewesen waren. Im Februar, nach dem großen Biikefeuer und dem Petritag, waren sie aufgebrochen, waren den Sommer über bis nach Spitzbergen oder Grönland gesegelt und hatten Wale gefangen. Sie waren in Stürme geraten und in Packeis, sie waren auf kleinen Schaluppen nahe an die Riesen des Meeres herangerudert und hatten unter Einsatz ihres Lebens Harpunen auf die Wale geworfen, sie hatten die toten Tiere zum Mutterschiff gezogen und waren dann halsbrecherisch auf ihnen herumgeklettert, um den Speck von den riesigen Knochen zu lösen. Sie hatten gefroren, sie hatten geschwitzt, sie hatten gelacht und geflucht und waren nun froh, wieder nach Hause zu kommen. Es herrschte gute Stimmung auf den Schmackschiffen. Die Männer hatten die Taschen voller Geld, die Seemannskisten mit Geschenken gefüllt und freuten sich auf einen Winter, den sie mit Frauen und Kindern am warmen Ofen verbringen konnten.

Das zumindest hofften die Frauen, die auf den Dünen standen. Manch eine hatte die Bibel in der Tasche, umklammerte vielleicht auch ein kleines Holzkreuz, denn es war ungewiss, ob ausgerechnet ihr Mann nach Hause kommen würde. Brachen im Februar hundert Männer auf, so kamen nur siebzig von ihnen zurück, und jede Frau fürchtete, dass sie bald einen Sarg und eine Totenfeier in Auftrag geben musste.

***

Der Sturm, der sich schon durch kräftiges Wetterleuchten angekündigt hatte, war am Tag über die Insel gefegt, hatte den Sand wirbelnd durch die Luft geschleudert und das Dünengras niedergedrückt. Die kurzen Wogen trugen weiße Kappen, dann raste und schäumte das Meer und warf die hohen Wellen auf das Ufer hinauf bis zum Spülsaum und weiter bis zu den Fischerbooten, die am Fuße der Dünen lagen und mit Pflöcken und Stricken festgemacht worden waren.

Als die Dämmerung eingesetzt hatte und der Sturm so gewaltig brüllte, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte, zog sich Niels Taken, der Strandvogt von Rantum, seine Öljacke an, stülpte sich eine abgewetzte Seehundsmütze auf den Kopf, steckte sich ein Stück Brot und einen Apfel in die Tasche und begab sich zu seinem Nachbarn.

»Es wird schlimm werden heut Nacht«, erklärte er dem Nachbarn und sah besorgt zum Himmel hinauf. »Zwei Mann wenigstens sollten in den Dünen Wache halten.«

Everett, der Nachbar, kratzte sich im Nacken. »Bei dem Wetter kein Vergnügen«, knurrte er. »Es ist kalt, nass und dunkel. Und mein Weib ist weich und warm.«

Der Strandvogt nickte. »Recht hast du, aber bedenke: Wenn wirklich ein Schiff strandet, dann bist du der Erste vor Ort.«

Everett wiegte nachdenklich den Kopf, dann rief er seinen Hund, ein großes, schwarzzottiges Tier, zog sein Ölzeug an, und schon bald danach lagen die beiden Männer in den Dünen und suchten Schutz in einer Kuhle. Es war bitterkalt, der Wind biss in Wangen und Ohren, warf den Sand wie Spielzeug hin und her. Das Meer brüllte so laut, dass man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte, und der Sturm heulte wie ein hungriges Wolfsrudel.

Niels Taken zeigte mit dem Finger nach links. »Siehst du die dunkle Ecke dort, den Abhang, der so jäh bis zum Meer hinunter fällt? Nun, da ist schon manches Schiff zerbrochen. Ich habe in den letzten Nächten dort Lichter gesehen. Flackernde, tanzende Lichter. Du weißt, wenn die Lichter tanzen, wird ein Schiff zum Wrack. Nun, heute Nacht ist es wohl soweit. Am Mittag sah ich in Südwest eine gewaltige Brigg. Wenn sie mit dem Wind fährt, dann wird sie noch heute Nacht hier stranden.«

»Ich weiß schon, Strandvogt«, erwiderte Everett. »Man sagt von dieser Ecke, dass sie die Schiffe anzieht wie ein Magnet das Eisen. Und in den letzten Jahren hat sich das bestätigt. Wann immer ein Schiff gestrandet ist, so geschah es gerade hier. Mein Vater noch hat an dieser Stelle Korn angebaut, doch im Laufe der Jahre hat das Meer sein Land verschlungen. Aber das Meer ist gerecht; es wird mir und den Meinen den Schaden schon ersetzen. Wo es nimmt, da gibt es auch.«

Der Strandvogt warf Everett einen Blick zu. »Ja, das Meer ist gerecht. Und die Strandordnung ist es auch. Wer sich Strandgut aneignet, den trifft der Arm des Gesetzes.«

Everett lachte leise. »Der Arm des Gesetzes ist manchmal nicht sehr lang. Die meisten Strandräuber sind arm. Wenn man sie vor dem Winter ins Gefängnis setzt, so tanzen sie vor Freude, denn sie haben zu essen und zu trinken und einen trockenen Platz zum Schlafen.«

Plötzlich schlug der Hund an. Doch sein Gebell ging im Getöse des Sturmes unter.

»Es ist soweit«, erklärte der Strandvogt. Er erhob sich halb aus der Kuhle und spähte hinunter zum Strand. Dort sah er im letzten Schein des allmählich verblassenden Mondes, der sich nur hin und wieder hinter jagenden Wolkenfetzen verbarg, dunkle Gestalten über den Strand huschen. »Sie sind schon da, Nachbar. Sie wissen genauso gut wie wir, dass es heute eine Strandung geben wird.«

Everett hatte nach vorn geblickt, die Augen zusammengekniffen. Nun zeigte er mit dem Finger. »Da, da hebt sich was aus den Wellen. Da, inmitten des dunstigen Schaumes. Ich kann die Umrisse sehen. Es ist ein Schiff.«

Der Strandvogt spähte ebenfalls in die Dunkelheit. Er legte eine Hand hinter sein Ohr, suchte nach Geräuschen und fand sie. Eben krachte mit lautem Getöse ein Schiff gegen das Riff, ein einzelner Schrei stieg wie ein Vogel in die Luft. Die beiden Männer hörten Holz krachen und Segel ächzen, dann warf die nächste große Welle schon einzelne Wrackteile gegen den Strand.

Die finsteren Gestalten blieben stehen. Einer hatte eine Taurolle über dem Arm, um damit gegebenenfalls Gegenstände aus dem Wasser ziehen zu können. Erbarmungswürdige Schreie durchschnitten die Nacht, gellende Rufe von höchster Dringlichkeit. Der zweite Mann hielt den ersten am Ärmel, als der weitergehen wollte. »Nicht so hastig«, redete er seinen Kumpan an. »Wir sollten warten, bis die Schreihälse ruhig geworden sind. Es braucht nur noch ein, zwei Wellen, dann bricht das Schiff in tausend Stücke. Die Seemänner, die dann noch leben, werden im tosenden Meer versaufen, und für uns gibt es eine schöne Beute.«

»Und der Strandvogt?«, fragte der erste und blickte sich nach allen Seiten um.

»Mach dir um den keine Sorgen. Niels Taken hockt mit seinem Nachbarn Everett hinten in der Kuhle. Geschwätzig, wie er ist, wird er nichts als die eigene Stimme hören.« Er lachte leise und blickte zu den Dünen. Dann standen die beiden still. Der Sturm brüllte weiter, doch nun mischte sich das Geräusch gurgelnden Wassers in den Lärm. Und der eine sagte zum anderen: »Hörst du, jetzt läuft das Schiff bis oben hin voll Wasser.«

Der andere vernahm noch einmal einen spitzen Schrei, dann löste sich eine Gestalt von der Reling der schon zur Seite gekippten Brigg und fiel ins Wasser. Sie hörten ganz kurz ein Plätschern, dann versank etwas auf immer in der tobenden See.

Der eine Mann rieb sich die Hände. »Nur noch ein paar Augenblicke, dann können wir loslegen.«

Plötzlich erhob sich direkt vor ihnen eine große Gestalt aus dem Wasser und schleppte sich an den Strand. Es war ein Mann.

Die Strandräuber stutzten. »Ich dachte, sie sind alle tot«, sagte der eine zum anderen. »Wenn auch nur einer überlebt, so gehört die Ladung des Schiffes ihm.«

Der andere erwiderte: »Wir haben lange genug gewartet, wir haben auch ein Recht auf das Strandgut. Lass uns nur sehen, ob noch mehr kommen.«

Sie beobachteten, wie der Mann am Strand zusammenbrach, das Gesicht im Salzwasser. Sie hätten hinlaufen und ihn umdrehen können, sie hätten ihn retten können. Aber sie standen nur da und starrten. Einen überfiel ein leichtes Zittern, doch der andere betrachtete ganz ruhig und ungerührt, wie der Seemann noch ein letztes Mal den Kopf um eine Handbreit hob, dann mit dem Gesicht ins Wasser fiel und sich nicht mehr bewegte.

»Los!«, schrie der eine und stürzte auf die reglose Gestalt zu. Er riss an dessen Stiefeln, die aus feinem Kalbsleder gemacht waren, während der andere an der Jacke zerrte und den Saum befingerte, ob Geldstücke darin eingenäht waren. Nachdem sie den Mann derart ausgeraubt hatten, warfen sie ihn in die Dünen und zeigten sich gegenseitig ihre Schätze.

Sie waren so vertieft in ihre gierige Freude, dass sie den Mann nicht bemerkt hatten, der nach dem Ersten aus den Fluten stieg. Es war ein großer, schwerer Mann, der einen Knüppel in der Hand trug. Damit schlug er nacheinander auf die Köpfe der Strandräuber und sah mit Genugtuung, wie sie in die Knie brachen und zu Boden sanken.

Inzwischen waren auch der Strandvogt und sein Nachbar Everett herangekommen. Sie begriffen, wer da vor ihnen stand: Es war ein Seemann, Cornelius Hagendefeldt aus Rotterdam, um die dreißig Jahre alt und Kapitän des Schiffes, das vom Süden her kam, beladen mit Seide und Baumwolle, und hinüber zur Ostsee wollte.

»Was ist passiert?«, wollte der Strandvogt wissen und streifte die beiden wie tot daliegenden Strandräuber mit einem Seitenblick.

»Eine Sturzwelle war es«, erklärte Hagendefeldt. »Sie hat mir fast die ganze Mannschaft genommen bis auf zwei Mann.« Er wandte sich nach links, zeigte auf den Toten, der nun in den Dünen lag. »Das war mein Kajütenwächter. Nun, da auch er tot ist, bin ich wohl der Einzige, der überlebt hat.« Mit grimmiger Miene blickte der Holländer zu den beiden Strandräubern, die noch immer betäubt im nassen Sand lagen. »Einen schönen Empfang habt ihr uns bereitet.«

Der Strandvogt erwiderte nichts darauf, sondern wandte sich an Everett. »Bring den Holländer zu mir nach Hause. Mein Weib soll ihm etwas zu essen und zu trinken geben. Und trockene Sachen von mir, wenn sie denn passen. Dann komm wieder herunter zum Strand. Aber vorher fesseln wir noch die Strandräuber.« Er nahm einen langen, dicken Kälberstrick aus seiner Tasche, zog ein Messer aus dem Stiefelschaft und trennte den Strick in zwei Teile.

Augenblicke später lagen die Strandräuber, noch immer benommen von den Schlägen, mit auf dem Rücken gefesselten Händen da.

Dann trieb Niels Taken die beiden hoch, jagte sie mit einem Knüppel in der Hand vor sich her durch die Dünen und sperrte sie schließlich in den Glockenturm der Rantumer St.-Peter-Kirche. Die beiden winselten um Gnade, doch der Strandvogt wusste, dass er ihnen kein Pardon gewähren durfte, wollte er seine Autorität bewahren.

Eine Weile danach war es wieder ruhig am Strand. Der Sturm zerrte an dem Wrack, löste die Planken und warf sie ans Ufer. Eine junge Frau, eigentlich ein Mädchen noch, stand in der Nähe und besah aufmerksam die Umgebung. Bald rückte sie sich die Taurolle zurecht, die sie über der Schulter getragen hatte, hob die Laterne, die sie in der anderen Hand hielt, auf Schulterhöhe und stieg ins Meer. Das Kleid klebte sofort nass an ihrem Körper, der schwere, mit Werkzeugen gefüllte Ledergürtel zog sie herunter, doch das Mädchen achtete nicht darauf. Mit langen, langsamen Schritten näherte sie sich dem Wrack, das halb umgekippt auf der rechten Seite lag. Behände erkletterte sie das Schiff, tanzte auf den Planken wie ein Irrlicht, ließ sich dann auf der anderen Seite herab und blickte sich um. Die Decksküche lag in Trümmern, ein paar Fässer rollten herum. Ein Korb mit Möhren war umgekippt, und aus einem großen Sack rieselte Mehl heraus. Sie öffnete vorsichtig die Decksluke und tastete sich in der Dunkelheit bis hinunter in den Laderaum. Dort stand das Wasser bereits knietief. Dicke Ballen mit Leinenstoffen troffen vor Nässe, auf der anderen Seite lagen Holzbohlen, wie man sie zum Bau von Häusern verwandte. Sie schlang das Tau um einen der Stoffballen, kletterte wieder hinauf auf das Oberdeck und zog dann so lange an dem Seil, bis der nasse Ballen endlich an die Oberfläche kam. Dann warf sie ihn ins Wasser, sprang hinterher und zog ihre Beute an den Strand, der noch immer leer und verlassen dalag. Am Himmel zeigten sich mittlerweile breite violette Streifen, die den Morgen ankündigten. Zwei Silbermöwen flogen kreischend vorüber, ansonsten war alles still. Sie blickte nach dem kaum noch sichtbaren Mond und versuchte zu berechnen, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Der Strandvogt musste bald zurückkommen. Schaffte sie es noch, ein, zwei Fässer zu bergen? Sie wagte es, schwamm zum Schiff, erkletterte die Bordwand, umschlang eines der Fässer, dessen Inhalt sie nicht kannte, mit dem Tau, warf es ins Wasser und brachte es geschwind zum Ufer zurück. Sie hatte ihre Beute gerade hinter die erste Düne geschleppt, als sie Stimmen hörte. Sofort kauerte sie sich in eine Sandkuhle. Der Strandvogt war zurückgekehrt und mit ihm sein Nachbar Everett. Beide traten ans Ufer, und der Strandvogt bückte sich, um die Fußspuren im Sand zu untersuchen.

»Schon wieder!«, rief Niels Taken wütend. »Eines Tages werde ich sie erwischen!«

Everett lachte leise. »Das ist noch keinem gelungen; sie ist schlau.«

Am nächsten Mittag um Punkt zwölf Uhr – der Sturm hatte nachgelassen, und der Himmel zeigte sich in strahlendem Blau – wurden die beiden Strandräuber an den Pranger gebunden, der sich in der Mitte des Dorfes Rantum befand, gleich gegenüber der Schankwirtschaft. Ein Büttel riss den Männern die Hemden vom Leib und ließ dann die Peitsche sprechen. Zweimal fünfundzwanzig Schläge, und bei jedem drangen gellende Schreie durch das Dorf, ehe die Übeltäter zusammenbrachen, verkrüppelt wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens. Der eine röchelte nur, während der andere ganz still und wie tot liegenblieb. Die Weiber, die zugesehen hatten, hielten die Fäuste auf den Mund gepresst, als ob sie Schreie unterdrücken wollten. Eine zitterte und wurde von einer anderen gestützt, die ebenfalls recht wackelig auf den Beinen stand und tiefe Schluchzer ausstieß. Ein kleines Mädchen rannte zu einem der Liegenden, warf sich neben ihm in den Sand und strich ihm zaghaft über den blutigen Rücken. Sie trug ein verblichenes Kleid, dessen Saum zerschlissen war. »Vater«, flüsterte die Kleine, »Vater, hörst du mich?«

Dann kamen vier Männer. Groß und mit breiten Schultern. Der Schmied befand sich unter ihnen, die anderen waren Fischer. Sie hoben die Ausgepeitschten vom Boden auf und trugen sie in deren Katen, die sich windschief an die Dünen klammerten. Die beiden Frauen folgten ihnen, stützten einander und klagten und schrien. »Was soll nun aus uns werden, wenn unsere Männer zu Krüppeln geschlagen sind?«

Niemand gab ihnen eine Antwort. Die Rantumer verhielten sich ganz still, sie blickten teils gleichgültig, teils mitleidig auf die Geschlagenen. Das Mädchen, das am Rand stand, beachtete niemand. Daher sah auch keiner, dass sie am ganzen Leibe zitterte, bei jedem einzelnen Schlag zusammengezuckt war, das Gesicht so schmerzhaft verzogen, als träfe die Peitsche ihren Rücken. Sie wusste, dass ihr dieselbe Strafe blühen würde, wenn man sie einmal erwischte. Bis jetzt hatte sie Glück gehabt, aber auf dieses Glück konnte sie nicht vertrauen. Sie würde viel lieber etwas anderes tun, aber auf Sylt gab es wenig Arbeit für Frauen. Und die Frauen, die keine Männer hatten, waren allesamt arm. Deshalb ging sie nachts nach jeder Strandung hinunter zum Meer. Sie wollte einfach leben und essen und trinken. Nicht üppig, sondern nur so, dass es ausreichte. Sie hatte weder Vater noch Mutter, hatte keinen Bruder und auch keine Schwester. Sie hatte nur ihre Großmutter, sonst niemanden auf der ganzen Welt.

I. Teil

Erstes Kapitel

Wer die vierundzwanzig Vorfahren der heiligen Brigid von Kildare aufsagen konnte, der war geschützt bei Tag und Nacht, geschützt vor den Nachstellungen des Teufels, geschützt vor irdischen Feinden. So jedenfalls erzählte man es sich auf Eisland.

Jördis kannte nur Mutter und Vater der heiligen Brigid, aber sie war ja auch keine Runenmeisterin wie die Großmutter Etta oder wie ihre verstorbene Mutter Nanna eine gewesen war. Vielleicht passierten ihr deshalb so oft Dinge, die sie eigentlich gar nicht wollte, vielleicht war sie deshalb so wenig geschützt vor irdischen Feinden. Vielleicht aber hatte sie trotzdem Glück, denn schon wieder war sie nicht erwischt worden. Sie war recht müde, denn sie hatte die ganze Nacht unten am Strand verbracht. Dann war sie auf das Wrack geklettert, hatte hernach einen ganzen nassen Stoffballen und zwei kleinere Fässer nach Hause geschleppt. Jetzt hing der Stoff ausgebreitet nebenan in der Scheuer zum Trocknen. In einem der Fässer hatte sie gepökelten Speck gefunden, in dem anderen Fass befand sich mit Holzspänen geschützte Keramik in wundervollen Farben. Sie würden den Stoff später verkaufen, nicht auf dem Markt, sondern unter der Hand und zu günstigen Preisen. Den Speck würden sie aufteilen: Ein Teil würde in die eigene Speisekammer kommen, und die anderen Teile würden sie an die Witwen hier im Dorf verschenken. Nur was sie mit der Keramik machen sollten, das wussten sie noch nicht.

Es war Jördis’ Geburtstag. Sie wurde sechzehn Jahre alt, und die Großmutter würde zum ersten Mal die Runen für sie werfen. Noch nie hatte Jördis so sehnsüchtig die Dämmerung herbei gesehnt. Sie hatte den halben Tag auf einem Dünenkamm gehockt und hatte dem Strandvogt und den Rantumer Männern beim Bergen der Ladung zugeschaut. Am Ufer stapelten sich klatschnasse Stoffballen, daneben lagen Holzbohlen, auf die manch einer der Berger ein Auge geworfen hatte. Aber auf die Bohlen konnten sie lange warten, das wusste Jördis. Es gab Überlebende des Schiffbruchs. Also gehörte denen die Ladung, und die Rantumer mussten sich mit dem Bergelohn zufrieden geben. Dann gab es noch ein, zwei Männer, die um die Ladung herumschlichen und vom Strandvogt immer wieder vertrieben wurden. Der krumme Tamme war unter ihnen. Er war ein Krüppel, nicht fähig, eine anständige Arbeit zu verrichten. Jeder in Rantum wusste, dass er sich mit Strandräubereien über Wasser hielt, doch nur Jördis kannte seine Methode. Er kam, wenn alle weg waren. Dann erklomm er das Wrack und schnitt das Segel ab, kappte die Taue und nahm mit, was nicht angenagelt war. Oft saß er die ganze Nacht am Ufer und wartete darauf, dass Leichen angespült wurden. Denen zog er die Stiefel aus und die Hosen, die Jacken und die Mützen, leerte ihre Hosentaschen, riss ihnen die Goldketten vom Hals und die Messer vom Gürtel. Aber dann, wenn er sie ausgeraubt hatte, begrub er sie ordentlich in den Dünen. Er schaufelte grabgroße Kuhlen, legte die Leichen mit gefalteten Händen hinein, schüttete die Gräber wieder zu und sprach für jeden der Toten ein Gebet. Auch jetzt hielt er sich in der Nähe des Wracks auf, beäugte die Rantumer und merkte sich genau, wer was vom Schiff geborgen hatte. In der Nacht würde er wiederkehren, dann, wenn die Rantumer und der Strandvogt in der Schänke saßen und den Bergelohn versoffen. Jetzt hatte Tamme sie entdeckt und winkte ihr zu. Jördis lächelte und winkte zurück.

Sie drehte sich um und legte sich mit dem Rücken in den Sand. Der Himmel über ihr war weit und milchig blau. Es duftete nach Heidekraut, Fisch und Salz. Über ihr kreischten ein paar Silbermöwen, doch Jördis beachtete sie nicht. Sie hielt Ausschau nach den beiden Raben, die den Gott Odin begleiteten und die ausflogen und dem Gott von den Menschen berichteten. Das Mädchen war sich ganz sicher gewesen, dass Odin an diesem besonderen Tag die Raben zu ihr schicken würde, aber sie hatte vergeblich Ausschau gehalten. Über der Insel Sylt kreisten Möwen und Rottgänse, im Watt staksten Austernfischer und Reiher durch den Schlick der Ebbe, weiter draußen, dort, wo das Wasser hoch stand, entdeckte sie ein paar Eiderenten, und ganz in ihrer Nähe schüttelte ein Rotschenkel sein braunweißes Gefieder, während eine Uferschnepfe fast zu ihren Füßen im Sand stocherte. Es dauerte unendlich lange, bis die Dämmerung ihr graues Tuch vom Meer her hoch zum Himmel zog.

Jördis war aufgeregt. Sie hatte so viele Fragen an das Runenorakel, dass sie gar nicht wusste, bei welcher sie anfangen sollte. Sollte sie fragen, wann sie heiraten würde? Oder sollte sie lieber wissen wollen, ob ihr die Zukunft Reichtum brachte? Sollte sie in Erfahrung bringen wollen, wann sie endlich das neue Kleid bekam? Sie wusste es nicht. Nur eines wusste sie: Sie würde nicht danach fragen, wen sie heiraten würde. Denn dass es da einen gab, der ihr gefiel, war ihr größtes Geheimnis. Ein so großes Geheimnis, dass nicht einmal ihre beste Freundin Inge davon wusste.

Der Mond erschien als fahler Bogen, als es Jördis nicht mehr draußen hielt und sie nach Hause rannte. Nach Hause zu dem weißgekalkten Friesenhaus mit der blau gestrichenen Haustür, die mit Blumen und Ornamenten verziert war.

»Komm, setz dich an den Tisch«, bat die Großmutter, als Jördis endlich atemlos die Küche betrat, das blaue Kleid am Saum verschmutzt und mit den Dornen des Stechginsters behaftet, die grauen Augen vor Neugier glitzernd. »Wasch dir vorher die Hände, richte dich ein wenig her und zünde zwei Lichter an. Nimm heute mal nicht den Tran, sondern die beiden Bienenwachskerzen.« Sie lächelte ihrer Enkelin zu und strich ihr über das silberhelle Haar. Dann prüfte sie, ob die Haustür abgeschlossen und die Fensterläden blickdicht waren. Das, was sie da gleich tun würden, das Runenwerfen, wurde auf Sylt nicht geduldet. Jeder, der auch nur ein wenig an die alten Götter glaubte, wurde vom Pfarrer mit Misstrauen betrachtet und riskierte es, am Sonntag von der Kanzel herab vor der ganzen Dorfgemeinschaft gescholten zu werden. Und jemandem, der wie die Großmutter vom Eisland kam, dem Land der Elfen und Zwerge, dem Land, in dem heißes Wasser einfach so aus der Erde sprudelte und die Berge Feuer spuckten, war erst recht nicht zu trauen. Deshalb hielt die Großmutter ihre heiligen Rituale geheim, verschloss Tür und Tor und sprach niemals darüber.

Etta öffnete die Geheimschublade, die unter der Platte des blank gescheuerten Küchentisches verborgen war, und entnahm ihr ein schwarzes Samtsäckchen, das mit einer goldenen Kordel verschnürt war. Dann öffnete sie die Kordel, schüttete die vierundzwanzig Runensteine, jeden einzelnen aus einem Walknochen geschnitzt und die Bedeutung mit Blut eingeritzt, auf den Tisch, auf den sie zuvor ein weißes Leinentuch gebreitet hatte.

»Was willst du wissen?«, fragte Etta.

Jördis saß ihr gegenüber, die Hände ordentlich auf dem Tisch gefaltet, das lange Haar von einem einzelnen Band gehalten.

»Wirfst du mir das keltische Kreuz?«, fragte das Mädchen zurück, aber Etta schüttelte den Kopf. »Du bist noch zu jung für das Keltenkreuz. Hast noch zu wenig gelebt. Die Runen, die das Keltenkreuz bilden, zeigen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Deine Vergangenheit ist im Verhältnis zur Zukunft viel zu kurz. Ich werfe dir das Nornenorakel. Es zeigt zwar auch die Vergangenheit, aber der Schwerpunkt ist auf die Zukunft gerichtet.«

Jördis verzog nachdenklich den Mund, dann nickte sie. Die Nornen, das waren im alten nordischen Glauben die drei Schicksalsgöttinnen, welche die Zukunft kannten. Sie lebten zu Füßen des Weltenbaums Yggdrasil und verwoben in der uralten Esche die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.

»Hast du dir eine Frage überlegt?«, wollte ihre Großmutter wissen.

Seit Wochen dachte Jördis an nichts anderes. Seit Wochen sann sie darüber nach, was sie fragen sollte. Doch jetzt war alles viel zu schnell gegangen. Sie hatte die Frage noch nicht gefunden. Und schon gar nicht eine, die sich mit dem Nornenorakel am besten beantworten ließ. Deshalb auch hatte sie das keltische Kreuz gewollt. Da wurden zehn Runen geworfen, bei den Nornen nur drei.

Jördis schluckte, dann blickte sie ihre Großmutter an und sagte: »Wie wird mein Leben werden?«

Etta zögerte, dann lächelte sie. »Eine kluge Frage.«

Sie nahm die Runensteine in beide Hände auf, schüttelte sie und warf sie dann mit fest geschlossenen Augen auf das ausgebreitete weiße Tuch. »Nimm nacheinander drei Steine. Nimm sie mit der linken Hand, denn diese kommt vom Herzen. Lass dir Zeit dabei.«

Jördis schloss die Augen. Ihre Hand fuhr einmal über den Steinen durch die Luft, als wollte sie fühlen, ob es Runen gab, die ihre Hand anzogen. Dann tippte sie mit dem Zeigefinger auf den ersten Stein.

Das war der Stein, der der Norne Urd entsprach, der Schicksalsgöttin, welche die Vergangenheit verkörperte. Seine Bedeutung würde verraten, wo ihre Wurzeln lagen, was sie an Erbe mit sich und in sich trug. Jördis tippte mit dem Zeigefinger auf einen zweiten Stein, der ganz in der Nähe lag, der Stein der Norne Werdandi, dessen Bedeutung die Gegenwart symbolisierte. Für die Zukunft ließ sich Jördis Zeit. Sie war ganz still, ganz konzentriert und führte die Hand vorsichtig über die Runen, fühlte in der Luft, welche Rune zu ihr sprach. Endlich hielt sie inne, ihr Zeigefinger stieß nach unten und fand die Skuld-Rune, die Rune der Zukunft.

Sie hörte, wie ihre Großmutter die Steine herumdrehte, so dass die geritzten Inschriften sichtbar wurden, aber sie hielt die Augen noch immer geschlossen. Die Großmutter schwieg, und plötzlich wusste Jördis nicht mehr, ob sie wirklich wissen wollte, wie es um ihre Zukunft stand. Denn solange alles möglich schien, konnte man ungehindert träumen. Groß und weit träumen, ohne Beschränkung von Ort, Zeit, Stand, Geld und Ruhm. Aber wenn die Großmutter ihr die Runen deutete, würden womöglich einige Träume sterben müssen, und Jördis wusste nicht, ob sie bereit war, die Träume wirklich aufzugeben.

»Bist du soweit?«, fragte die Großmutter.

Jördis lief ein Schauer über den Rücken, denn Ettas Stimme hatte sich verändert, sie war nicht mehr liebevoll und freundlich-warm, sondern kühl und sachlich. So, als würde etwas sehr Wichtiges besprochen.

»Warte bitte noch einen Augenblick«, flüsterte Jördis.

Etta lachte leise. »Das wird nichts ändern.« Dann schwieg sie, bis Jördis noch einmal tief Luft holte und sagte: »Jetzt bin ich soweit.«

Sie öffnete die Augen und sah, dass die erste Rune, die für die Vergangenheit stand, die Ehwaz-Rune war.

»Diese Rune symbolisiert das Pferd«, sagte Etta, dann schloss sie die Augen und sprach das dazu gehörige Runengedicht:

»Das Pferd ist im Angesicht des Grafen

Die Freuden der Edlen,

ein Schlachtross, mit Stolz auf den Hufen;

wenn es betroffen ist, dann tauschen die Helden –

reiche Leute – viele Wörter über Schlachtrösser aus,

und es ist jederzeit eine Wohltat

für die Ruhelosen.«

Danach schwieg Etta eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Ehwaz ist die Rune des Gottes Odin. Das passende Kraut dazu ist der Schachtelhalm. Die Rune gibt dir die Macht, große Distanzen zurückzulegen. Weißt du, was das bedeutet?«

Jördis schüttelte den Kopf.

»Ehwaz ist deine Vergangenheitsrune. Sie erzählt dir, dass deine Wurzeln woanders liegen. Nicht hier auf Sylt. Sie sagt, dass deine Wurzeln in den Wurzeln deiner Großmutter und Mutter liegen. Du bist Eisländerin. So wie wir.«

Jördis verzog das Gesicht. »Ich bin hier auf Sylt geboren. Mein Vater war Sylter. Warum kann ich meine Wurzeln nicht hier haben wie alle anderen auch?«

Etta seufzte. »So einfach ist das Leben nicht. Du bist auf dem Eisland gezeugt worden. Deine Heimat sind die heißen Wasser, die brennenden Berge und das Eismeer. Das ist weder gut noch schlecht, es zeigt uns nur an, dass dein Schicksal in der Vergangenheit von der Eisinsel bestimmt wurde.«

Aus irgendeinem Grund schauderte Jördis bei dem Gedanken. So, wie sie immer geschaudert hatte, wenn Etta oder früher Nanna vom Eisland erzählt hatten. Jördis hatte es sehr schwierig gefunden, in einem Land zu leben, das von Elfen und Zwergen bestimmt wurde. In einem Land, das man Eisland nannte, weil es dort die längste Zeit des Jahres über eisig kalt war. Es war ihr immer einleuchtend erschienen, dass ihre Mutter Nanna dem Walfänger Jori nach der Insel Sylt gefolgt war. Sie hatten sich kennen gelernt, als Jori mit seinem Schiff auf dem Eisland anlegte, um neuen Proviant zu kaufen. Nanna hatte sich nicht in den Sylter verlieben wollen, aber man konnte sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebte. Und also war sie mit ihm gegangen. Hierher, auf die Insel Sylt.

»Was zeigt die zweite Rune?«, wollte Jördis wissen.

»Lass uns noch bei der ersten bleiben«, bat Etta. »Denn die Vergangenheitsrune sagt auch, dass du den Mann, den du heiraten wirst, bereits kennst.«

»Und … und … wer … ich meine … wer ist es?« Jördis’ Augen brannten regelrecht vor Wissbegier, obgleich sie sich geschworen hatte, gerade diese Frage nicht zu stellen.

»Das weiß ich leider auch nicht. Du selbst musst wissen, ob du bei einem Jungen oder Mann etwas Besonderes empfindest. Aber nun zur zweiten Rune.«

Sie nahm die Rune in die Hand und musterte sie lange, ehe sie fortfuhr: »Das ist die Rune Dag.« Dann schloss Etta die Augen und trug das Runengedicht vor:

»Der Tag ist der Bote des Herrn,

dem Menschen lieb,

des Herrschers glorreiches Licht;

es ist Frohsinn und Hoffnung

für Arm und Reich

und nützlich für jedermann.«

»Und weiter?«, wollte Jördis wissen.

»Die dazu gehörige Gottheit ist Ostara, die Göttin der Morgendämmerung und des Frühlings, das Kraut ist das Gänseblümchen und der Vogel die Feldlerche.« Etta lächelte. »Auf den ersten Blick die Rune, die wirklich am besten zu dir passt.«

»Nur auf den ersten Blick?«

»Nun, Dag stellt das ewige Weben von Anfang und Ende dar. Das heißt, dass alles, was du jetzt tust, Auswirkungen hat, die bis zu deinem Lebensende reichen. Du musst sehr sorgsam sein bei allem. Dag ist aber auch die Rune der neuen Anfänge. Etwas Altes und Dunkles geht zu Ende, und du brichst auf zu neuen Ufern. Wachstum ist dir versprochen.«

Etta betrachtete ihre Enkelin, die mit brennenden Augen auf die Rune starrte. »Bist du zufrieden damit?«

Jördis nickte und fragte zugleich: »Es beginnt etwas Neues. Aber ist dieses Neue gut oder schlecht?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass du daran wachsen wirst. Wollen wir die letzte Rune deuten? Die Rune deiner Zukunft? Vielleicht weißt du dann eher, ob das Neue zu dir passt oder nicht.«

»Ja.« Jördis hatte die Hände im Schoß liegen gehabt, aber jetzt zerknüllten die Finger den Saum ihres Kleides. Sie schloss wieder die Augen, aus Furcht, die letzte Rune, die Zukunftsrune, könnte eine sein, die sie sich nicht ausgesucht hätte.

Sie hörte Etta wieder leise lachen und öffnete erleichtert die Augen. »Was ist es?«

»Berkana, die Birke. Eine positive Rune. Das Gedicht dazu lautet: Die Birke hat keine Frucht, doch dessen ungeachtet treibt sie Äste ohne fruchtbare Samen; sie hat herrliche Äste, und bis hinein in die Krone ist sie schön bedeckt, beladen mit Laub und sie berührt den Himmel.«

»Welches Kraut gehört zu ihr?«, wollte Jördis wissen.

»Herzgespann. Herzgespann? Welches Kraut das wohl ist?« Die Großmutter runzelte die Stirn. Obgleich sie schon so lange auf Sylt lebte, kannte sie noch immer nicht alle friesischen Begriffe. »Wirst du für mich herauskriegen, was Herzgespann bedeutet?«, fragte sie ihre Enkelin.

»Ja. Das werde ich. Aber nun mache weiter.«

Etta räusperte sich. »Die Birke ist eine fleischliche Rune. Sie steht für das, was Mann und Frau nach der Hochzeit bei Dunkelheit tun.«

»Was tun sie?«, wollte Jördis wissen.

»Das wirst du erfahren, wenn es soweit ist. Vergiss nicht, Kind, es ist die Rune der Zukunft. Und in deiner Zukunft sehe ich Kinder. Stolze, gesunde Kinder.«

»Und einen Mann dazu?«, fragte Jördis.

Noch ehe Etta antworten konnte, hörte sie von draußen lautes Rufen.

»Jördis, wo bist du? Komm heraus, los!«

Schon klopfte es an der Tür. »Jördis, hörst du mich denn nicht?«

An der Klinke wurde ungeduldig gerüttelt, und Etta sammelte in Windeseile die Runensteine ein, steckte sie zurück in das schwarze Samtbeutelchen mit der goldenen Kordel und schob es in das Versteck unter dem Küchentisch. Dann blies sie die Bienenwachskerzen aus, holte die beiden Tranlampen hervor, die sie sonst in der Küche benutzten, und zündete sie an.

»Jetzt geh, mach ihr auf«, gebot Etta. »Aber kein Wort über das, was wir hier getan haben.«

Jördis eilte in den Flur, schob den Riegel weg und öffnete die Tür. Draußen stand Inge, ihre beste, ihre einzige Freundin.

»Was habt ihr da drinnen gemacht?«, wollte Inge wissen. »Warum sind die Fensterläden schon dicht?«

Jördis zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern. »Was sollen wir schon gemacht haben? Wir waren ein wenig früher mit dem Abendbrot fertig.«

Inge hob die etwas zu lange Nase in die Luft und schnupperte. »Oh, ich rieche Bienenwachs. Habt ihr etwas zu feiern?«

Jördis wurde ein wenig verlegen. »Ich habe heute Geburtstag. Deshalb.«

Inge lachte. »Aber das weiß ich doch. Was meinst du, weshalb ich gekommen bin?« Sie zog die Stirn ein wenig kraus. »Hier auf Sylt ist es Brauch, den Namenstag zu feiern, nicht den Geburtstag. Nur ihr macht es anders.« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll, ihr Gesicht war ernst, aber dann lächelte sie. »Ach, es ist doch ganz gleich, ob Namenstag oder Geburtstag. Hauptsache, man ist fröhlich.« Sie warf sich in die Brust. »Und ich habe deinen Geburtstag nicht vergessen.«

Sie schlüpfte an Jördis vorbei und begab sich in die Küche, begrüßte Etta und setzte sich auf die Küchenbank. Dann kramte sie in einer Tasche aus grobem Stoff, die sie sich umgehängt hatte, und holte ein Päckchen heraus. »Das ist für dich«, sagte sie. Ihre Wangen begannen ein wenig zu glühen.

Jördis setzte sich neben die Freundin und schlug vorsichtig das Leinentuch auseinander, in welches das Geschenk gewickelt war. Zum Vorschein kam ein handgroßes, fein geschnitztes Kreuz.

»Ein Kreuz?«, fragte Jördis verwundert.

»Ja, ein Kreuz. Mir ist aufgefallen, dass ihr nirgendwo im Haus ein Kreuz über der Tür habt so wie wir anderen alle. Und da wollte ich euch eines bringen, damit der Herr stets über euch wacht.« Inge strahlte.

Jördis warf einen Blick zu Etta, und ihre Großmutter nickte ganz leicht. Dann schloss die ältere Frau die Besucherin herzlich in die Arme. »Du hast das Kreuz zwar Jördis geschenkt, aber ich danke dir ebenfalls sehr dafür. Wir werden es gleich morgen über der Haustür aufhängen.«

Dann stand auch Jördis auf und umarmte die Freundin. Inge strahlte wieder und sagte: »Ich war sogar in der Kirche und habe es segnen lassen.«

»Von deinem Vater?«, wollte Jördis wissen. »Hast du ihm gesagt, dass es für mich ist?«

»Natürlich. Er kennt dich, er hat dich konfirmiert.« Sie sagte das so beiläufig, als handle es sich um eine Selbstverständlichkeit, aber Jördis und Etta wussten, dass ihre Konfirmation keineswegs selbstverständlich gewesen war. »Sie ist das Kind einer Zauberin«, hatte der Pfarrer gesagt, als Etta ihre Enkelin zum Konfirmandenunterricht anmelden wollte. »Sie hätte niemals getauft werden dürfen. Und dann noch die Mutter! Eine Selbstmörderin! Es gibt keine größere Sünde.« Er hatte sie wegschicken wollen, doch Etta hatte gekämpft. Eigentlich war es ihr egal gewesen, ob Jördis konfirmiert wurde oder nicht, aber sie wusste ebenso gut, wie wichtig es war, so zu sein wie die anderen auf Sylt. Jördis hatte als Kind eine schwere Zeit hinter sich nach dem Selbstmord der Mutter. Die anderen Frauen riefen ihre Kinder von der Straße ins Haus, wenn Jördis in die Nähe kam. Niemand wollte mit ihr spielen, niemand ihre Freundin sein, weil ihre Mutter eine Todsünde begangen hatte. Und obgleich Jördis auf Sylt geboren war, galt sie doch als Fremde mit ihrer eisländischen Großmutter und ihrer eisländischen Mutter Nanna, die beide silberhelles Haar hatten und dazu Augen, die an Gletscher erinnerten. Erst als Inge, die Pfarrerstochter von Rantum, aus einem Grund, den Jördis immer noch nicht kannte, ihre Freundin hatte sein wollen, spielten auch die anderen Kinder mit ihr. Inge war ihre Eintrittskarte in den Kreis der Rantumer gewesen. Ohne sie stünde sie wieder draußen und allein.

»Und er hat gesagt, wir sollen es über die Tür hängen?«, fragte Jördis nach.

»Ja. So, wie es der Brauch verlangt.« Inge kniff die Augen zusammen und wirkte ein wenig ärgerlich. »Oder wollt ihr das etwa nicht?«

»Oh, doch. Natürlich.« Etta nahm Inge das Kreuz aus der Hand und betrachtete es. »Gleich morgen werden wir einen richtigen Platz dafür finden. Auch im Eisland glauben die Menschen an den Herrgott. Sie bauen Kirchen und begeben sich unter seinen Schutz.«

Inge nickte und scharrte unter dem Tisch mit den Füßen. »Weißt du eigentlich, dass wir jetzt heiraten könnten?«, fragte sie, zu Jördis gewandt.

»Ja. Das könnten wir. Jetzt sind wir endlich beide sechzehn Jahre alt.«

»Und? Hast du schon einen im Auge?«, wollte Inge wissen.

Jördis mochte Geheimnisse eigentlich nicht. Doch etwas hielt sie zurück, warnte sie, den Mund zu halten. Außerdem hatte sie den Eindruck, Inge nicht genügend für das Holzkreuz gedankt zu haben, deshalb sagte sie: »Ja. Einen gibt es, der mir gefällt. Und wie ist es bei dir?«

Inge antwortete nicht, aber sie beugte sich über den Tisch, näher an Jördis heran. Ihre Augen waren ein wenig zusammengekniffen, als sie fragte: »Wer ist es denn? Sage es mir, bitte.«

Jördis schüttelte den Kopf.

»Och, bitte. Wir sind doch Freundinnen!«

Plötzlich war ein schabendes Geräusch auf dem Boden zu hören. »Was ist das? Ich bin auf etwas draufgetreten«, erklärte Inge und bückte sich unter den Tisch. Gleich darauf kam sie wieder hoch, hielt einen Runenstein in der Hand. Jördis sah mit riesigem Erschrecken, dass es die Rune Berkana, die Zukunftsrune war, die Etta offenbar heruntergefallen war, als Inge so stürmisch Einlass begehrt hatte. Nun hielt Inge sie triumphierend und gleichzeitig ratlos in die Höhe. »Was ist das?«, fragte sie ein wenig lauernd.

»Es ist nichts. Nur ein Stück Walknochen, aus dem ich einen Löffel schnitzen wollte. Die Ritzung hatte ich als Schmuck am Löffelstiel gedacht, aber bevor er fertig war, ist er mir zerbrochen.« Etta lehnte mit vor der Brust verschränkten Händen am Türrahmen. Ihr Gesicht war ernst, sie strich sich über ihr graues Haar. »Gib mir das Stück, ich werde es gleich ins Herdfeuer werfen.« Sie streckte die Hand nach der Rune aus.

Inge aber betrachtete die Rune, blickte dann mit zusammengekniffenen Augen zu Jördis, die angestrengt lächelte, und steckte dann das Walknochenstück in ihre Tasche. »Nein, verbrennt es nicht. Es ist schön, ich hätte es gern als Erinnerung.«

In Ettas Gesicht machte sich Furcht breit. »Es ist nichts, was zum Erinnern taugt«, sagte sie. Sie griff über sich in das Bord mit den schön bemalten Tellern, nahm einen herunter und reichte ihn Inge. »Nimm bitte diesen Teller, er ist viel schöner. Schau nur, er zeigt die Ansicht einer Amsterdamer Kirche.«

Inge blickte Etta an, und ihr Gesicht wirkte plötzlich verkniffen und böse. »Nein!«, sagte sie. »Ich nehme den Stein.«

Dann stand sie auf. »Ich muss gehen, ich wollte ohnehin nur mein Geschenk abgeben. Aber du musst mir noch sagen, welcher Sylter dein Herz zum Klopfen bringt.«

»Inge, so bleib doch noch ein bisschen. Wir können Kakao kochen«, schlug Etta vor.

Inge zögerte einen Augenblick. Etta wusste, dass sie eine Schwäche für Kakao hatte und dass es im Pfarrhaus nicht nur daran mangelte.

»Wir schlagen frische Sahne auf, und es gibt Räucherwurst und Schinken«, fuhr Etta fort.

Inge schluckte, dann schüttelte sie den Kopf. »Der Vater wartet, ich muss ihm das Mahl richten.«

Jördis, die blass geworden war, biss sich auf die Unterlippe. Welcher Sylter bringt mein Herz zum Schlagen?, dachte sie. Dann endlich antwortete sie der Freundin: »Ach, eigentlich ist es nicht wichtig. Er hat mich noch kein einziges Mal angesehen. Ich glaube, er interessiert mich eigentlich nur deshalb.«

»Trotzdem – wer ist es?«, drängte Inge.

Schließlich seufzte Jördis und sagte: »Ich verrate es dir. Aber du darfst es niemandem weitersagen. Versprichst du mir das?«

»Natürlich verspreche ich es.« Inge hob zwei Finger zum Schwur.

»Es ist …« Jördis flüsterte und beugte sich dicht zu Inge, und nur Etta sah, wie schwer es ihr fiel, das Geheimnis zu offenbaren. »Es ist Arjen, der Schmied.«

Inge runzelte die Stirn. »Arjen? Darauf wäre ich ja nie gekommen. Ausgerechnet Arjen!«, sagte sie und lachte irgendwie grell.

»Und du?«, wollte Jördis wissen. »Welcher Sylter gefällt dir am besten?«

Inge betrachtete Jördis mit brennendem Blick. »Das ist gleichgültig. Denn jeder, auf den du ein Auge geworfen hast, wird zu dir eilen. Bei mir ist es anders herum. Die Jungen laufen weg vor mir.«

Dann nickte sie zum Gruß und verließ das Haus.

Etta und Jördis schwiegen, bis sie sicher waren, dass Inge sich ein Stück entfernt hatte. »Hast du gesehen, was für eine Rune sie genommen hat?«, fragte Jördis.

»Ja«, erwiderte Etta. »Es war die Berkana-Rune.«

»Es war die Rune meiner Zukunft!« Jördis vernahm selbst, dass ihre Stimme ein wenig zitterte. »Sie hat meine Zukunft gestohlen, hat sie einfach in die Tasche gesteckt.«

Etta nickte. »Das ist schlimm, ich weiß. Aber es ist noch nicht das Schlimmste.«

»Was ist das Schlimmste?«, fragte Jördis. Plötzlich wurde ihr kalt.

»Das Runenalphabet, das Futhark, ist nicht mehr vollständig. Wir müssen die Rune unbedingt zurückbekommen, oder wir müssen uns ein neues Runenalphabet herstellen. Ein unvollständiges Futhark gibt auch nur unvollständige Antworten.«

»Ist das wirklich so schlimm?«

»Nun, jetzt hat Inge deine Zukunft in den Händen. Alles, was sie tut, wird Auswirkungen auf dich haben. Und erst, wenn wir ein neues Futhark hergestellt haben und ein Runenmeister es geweiht hat, können wir das Orakel wieder befragen, können wir Inge deine Zukunft aus der Hand nehmen und dir eine neue geben.«

Jördis winkte ab und sagte mit mehr Überzeugung, als sie selbst spürte: »Inge ist meine Freundin. Sie wird meine Zukunft bewahren.«

»Nun, vielleicht sollten wir dafür zu ihrem Gott beten.«

Zweites Kapitel

Hast du es getan, wie ich es dir gesagt habe?«

Pfarrer Mommsen überragte seine Tochter um einen ganzen Kopf und blickte missmutig und schmallippig auf sie herab. Er war hager mit eng zusammenstehenden Augen und einem grauen struppigen Haarkranz auf dem Kopf. Sein Hemd war fleckig und an den Ärmelsäumen schon ein wenig abgeschabt. Doch seine Stimme war dröhnend, füllte ohne Anstrengung die gesamte Kirche und brachte den einen oder anderen Gläubigen zum Zittern und hier, in der kargen Küche des Pfarrhauses, ließ sie die Fensterscheiben klirren.

»Ja. Ich habe das Kreuz abgegeben.«

»Bist du geblieben, bis sie es aufgehängt haben?« Seine Stimme klang ein wenig drohend und sehr dunkel.

»Es war nicht mehr hell genug, aber Etta hat versprochen, es gleich morgen anzubringen.«

Der Pfarrer stampfte mit dem Fuß auf und schnaubte. Inge duckte sich und zog die Schultern hoch.

»Du solltest dabeibleiben!«, donnerte er.

»Ich gehe morgen wieder hin. Gleich in der Frühe gehe ich.« Inge versuchte vergebens, den Vater milde zu stimmen. Sie wusste, dass er Etta und Jördis hasste, obgleich er immer wieder sagte, er tue alles aus Liebe. Die Eisweiber nannte er Etta und Jördis; auch Nanna hatte er so genannt. Aber Inge wusste nicht, warum er die beiden so mit seinem Unmut verfolgte. Ja, er hatte ihr sogar befohlen, sich mit Jördis anzufreunden. »Tu es, damit ich weiß, was in ihrem Haus vor sich geht. Die Eisweiber sind gefährlich. Ich möchte alles über sie wissen. Hörst du? Alles.«

Also hatte sich Inge mit Jördis befreundet. Zuerst widerwillig, aber dann hatte sie das Mädchen mit den silberhellen Haaren und den grauen Gletscheraugen kennen gelernt und dabei war etwas geschehen, mit dem sie niemals gerechnet hätte: Sie mochte Jördis auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite hasste sie das Mädchen auch. Jördis, die Schöne. Jördis mit dem Silberhaar. Sie hatte einmal gehört, wie Arjen Jördis’ Haar als silbersamtenen Sonnensaum bezeichnet hatte. Die anderen hatten darüber gelacht, aber Inge hatte der Vergleich gefallen, sehr sogar, so sehr, wie Arjen ihr gefiel. Er war fünf Jahre älter als Jördis und Inge, war einige Jahre zur See gefahren, um so viel Geld zu verdienen, dass er dem kinderlosen alten Tjart die Schmiede abkaufen konnte. Er war groß und hatte breite Schultern. Das Haar trug er etwas zu lang, und manchmal, wenn er in der Schmiede am Amboss stand und eine rotglühende Harpunenspitze schlug, band er es im Nacken zusammen. Sein Gesicht war schmal, die Augen waren dunkler, als es für einen Sylter gewöhnlich war. Aber an Arjen war vieles ungewöhnlich. Angefangen beim Namen. Arjen war ein Name, den sein Vater aus Amsterdam mitgebracht hatte. Er war Walfänger gewesen, und eines Tages hatte ihn bei einem Sturm ein Holländer gerettet. Arjens Vater hatte geschworen, seinen ältesten Sohn nach dem Holländer zu benennen. Und er hatte sein Versprechen gehalten. Inge wusste alles über Arjen. Sie wusste, dass er morgens als Erstes das Fenster aufstieß, nach den Wolken schaute und sich dann im Nacken kratzte. Sie hatte ihn im Sommer gesehen, wenn er sich hinter der Schmiede nach einem langen Arbeitstag wusch. Er zog sein Hemd aus und warf sich mit beiden Händen zuerst Wasser ins Gesicht und sodann auf die Brust. Ja, Inge kannte sogar das Spiel seiner Muskeln, wenn er den Waschzuber ausschüttete. Sie wusste, wann er in der Schmiede war und wann er nach Hause ging. Sie hatte ihn gesehen, wenn er aus der Schänke nach Hause kam, und sie hatte ihn sogar einmal beim Schlaf beobachtet. Sie wusste ja, dass niemand im Dorf Rantum die Haustür verschloss. Also war sie eines Nachts hinausgegangen, hatte sich in Arjens Haus geschlichen, hatte leise und heimlich die Tür seines Alkovens geöffnet und ihn beim Schlafen betrachtet. Er hatte so schön ausgesehen. Schön, wie keiner vor ihm und – Inge war ganz gewiss – keiner nach ihm. Arjen. Ihr Arjen. Sie kannte die blaue Ader, die sich auf seiner Stirn bildete, wenn er wütend war. Sie wusste von dem Grübchen in der linken Wange, wenn er lachte, und sie kannte sogar seine Angewohnheit, nach jeder gut gelungenen Harpunenspitze laut »Holla« zu rufen. Niemand kannte Arjen besser als sie. Niemand verstand ihn besser als Inge. Und jetzt erzählte Jördis ihr, dass Arjen auch ihr gefiel! Sie hatte nicht gelogen: Jeder, dem Jördis auch nur ein einziges Mal nachschaute, verliebte sich in sie. Und wenn Jördis Arjen wirklich wollte, so hatte sie, Inge, nicht die geringste Chance, ihn für sich zu gewinnen.

»Hast du das andere auch gefragt?« Ihr Vater packte sie bei der Hand, zerrte sie am Tisch vorbei und stieß sie auf die Ofenbank. Inge schluchzte auf. Nicht so sehr, weil der Vater ihr wehgetan hatte, sondern wegen Arjen und weil bei ihr zu Hause im Pfarrhaus alles so anders war als bei Jördis.