Die Strandsammlerin - Sally Huband - E-Book

Die Strandsammlerin E-Book

Sally Huband

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Beschreibung

E-Book basiert auf: 1. Auflage 2024

ES HEISST, WER EINE SEEBOHNE FINDET, dem bringt sie Glück. Seit Jahrhunderten werden die braunen Samen, die durch Meeresströmungen von den Tropen bis nach Europa gelangen, als Zaubermittel verehrt und als Amulette getragen.  Sallys Suche nach einer Seebohne beginnt kurz nach ihrem Umzug auf eine Shetland-Insel, wo sie mit der neuen Umgebung und einer chronischen Krankheit zu kämpfen hat. Bei Spaziergängen am Strand entdeckt sie ihre Leidenschaft für alles, was das Meer an die Küste spült:  Meeresvögel, Tierknochen, Meerglas oder Flaschenpost. Sie geht ihren Geschichten nach, stößt auf altes Wissen, macht neue Bekanntschaften mit Menschen und Inseln. Und sie sucht weiter nach ihrer Seebohne ...

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Seitenzahl: 402

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1. Auflage 2024

© Sally Huband 2023

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe: Dumont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Angaben ohne Gewähr. Alle Rechte vorbehalten.

Die englische Originalausgabe ist 2023 unter dem Titel »Sea Bean« bei Hutchinson Heinemann, Penguin Random House, London, erschienen

Lektorat: Regina Carstensen

Gestaltung und Satz: Anja Linda Dicke, Berlin

Illustrationen und Karten Umschlag und Innenteil: Sally Huband

Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas unter Verwendung von Illustrationen von Sally Huband

Foto Umschlagklappe hinten: May Graham

Printed in Poland

ISBN 978-3-616-03281-8

www.dumontreise.de

Für T, H und D

Inhalt

Nordwärts

Die Seebohne

Alamootie – der Sturmwellenläufer

Flaschenpost

Die Eikapsel

Rippenquallen, Flohkrebse und Salpen

Die Insel Foula

Maalie – der arktische ­Eissturmvogel

Ein Etikett mit der Aufschrift »Netukulimk«

Strandjutter – Strandgutsammler

Neesick – der Gewöhnliche Schweinswal

Meerglas

Haaf Fish – die Kegelrobbe

Hexen

Epilog

Dank

Anmerkung der ­Autorin zu Shaetlan

Glossar

Zitatnachweise

Nordwärts

2011 zogen wir nach Shetland. Wir nahmen die Nachtfähre von Aberdeen – mein Mann und ich zusammen mit unserem kleinen Sohn. Es war Ende Juli und wir hatten uns keinerlei Gedanken über das Wetter gemacht. Im ummauerten Hafenbecken war das Meer noch ruhig. Wir standen an Deck und warteten auf das Auslaufen der Fähre, ohne zu ahnen, dass ein starker Sturm aus Norden das Meer aufwühlte und für starken Seegang sorgte.

Das Dröhnen der Schiffsmotoren wurde lauter, Taue wurden eingeholt und die Fähre löste sich langsam vom Kai, glitt vorbei an Schiffen, die die Öl- und Gasplattformen in der Nordsee versorgen, und einem blauen Tanker namens New Venture. Nach wochenlangem Packen war es eine Erleichterung, endlich Richtung Norden aufzubrechen. Jenseits der Hafenmolen breitete sich das schlammige Wasser des Flusses Dee fächerförmig aus, bevor es sich im Blaugrau des Meeres verlor. Die weiße Kielwasserspur der Fähre wurde immer länger, und der matte Beton und der silbrige Granit von Aberdeen verschwanden in der Ferne.

Die ersten schweren Wellen trafen die Fähre, als das Land noch in Sichtweite war. Wir machten uns auf den Weg zu unserer Kabine, die winzig und ohne Fenster war und nach Dieselabgasen stank. Mein Mann und ich mussten uns abwechselnd übergeben und legten dem anderen dann schnell unseren kleinen Sohn in die Arme.

Irgendwie schafften wir es, ihn zu füttern, ihm die Windeln zu wechseln und ihn in sein Bettchen zu legen, das zwischen den beiden unteren Kojen festgeklemmt war.

Er kam mit der ungewohnten Situation gut zurecht und schlief schon bald ein. Wir ließen uns komplett bekleidet in un­sere Kojen fallen, viel zu seekrank, um auch nur daran zu denken, uns auszuziehen.

Die Kabine befand sich im vorderen Teil der Fähre. Wie bei einer nicht enden wollenden albtraumhaften Achterbahnfahrt hob sich der Bug und fiel donnernd herab, und bei jedem Aufprall wackelten unsere Betten. Der Lärm war ohrenbetäubend. Ich lag wach und behielt meinen Sohn im Auge, der so klein und ver­letzlich wirkte. Ich versuchte, die aufsteigende Angst zu unter­drücken. Die Überfahrt sollte vierzehn Stunden dauern, und ich fühlte mich jetzt schon hundeelend.

Ich bin in Bristol geboren und hatte daher schon als Kind das Meer vor Augen. Wir wohnten in Portishead, wo man hinter den Schloten und Schornsteinen des Kohlekraftwerks und der Chemiewerke das schlammbraune Wasser des Bristol Channel sehen konnte.

Mir wurde eingeschärft, mich vor Treibsand und den schnell wechselnden Gezeiten in Acht zu nehmen, daher betrachtete ich das Meer und die Küste mit Argwohn. An einem Strand gab es ein verfallenes Gezeitenschwimmbecken mit bröckelnden Wänden, gefüllt mit einer Schlammschicht, die tief genug war, ein kleines Kind zu verschlingen. Wenn ich auf dem Grand Pier in Weston-super-Mare durch die Lücken des Holzdecks auf das Meer blickte, stockte mir der Atem.

Als ich sechs war, zogen wir ins Landesinnere. Erst dann konnte ich dem Meer etwas mehr abgewinnen. Noch heute steht ein Schraubglas mit blassgelben Strandschneckenhäusern, die ich als Kind in den Ferien in Cornwall gesammelt hatte, bei mir daheim im Regal. Nach der Schule studierte ich Umweltwissenschaften in Zentralschottland. An der Universität trat ich dem Wander- und Bergsteigerclub bei. Die Umwelt, mit der wir uns im Studium befassten, beschränkte sich immer nur aufs Festland. Gelegentlich wagten meine Wanderfreunde und ich uns im ­tiefsten Winter zum Schwimmen ins Meer, doch dabei blieb es. Das Meer war ein Ort, den ich fürchtete und lieber aus der Ferne ­bewunderte.

Etwa auf halber Strecke legte die Fähre in Kirkwall an, dem Hauptort der Orkney-Inseln, was uns eine kurze Atempause von Wellengang und Lärm verschaffte. Ich beneidete die Bewohner und die Touristen, die von Bord gingen: Ihnen blieb die Weiterfahrt auf dem aufgepeitschten Meer erspart. Eigentlich hatte ich mich darauf gefreut, die Fair Isle zu passieren, eine kleine Insel, die zwischen beiden Archipelen liegt, doch als es so weit war, hatte ich jegliches Interesse daran verloren. Die Überfahrt mit der Fähre kam mir wie eine Prüfung vor, bei der ich gleich zu Beginn versagte.

Am nächsten Morgen verließen wir die übel riechende Kabine und sahen durch die salzverschmierten Fenster zum ersten Mal Shetland. Das Land wirkte trostlos und dem Zorn der sturmgepeitschten See ausgesetzt. Der Wellengang ließ nach, als die Fähre durch den geschützten Bressay Sound auf Lerwick zusteuerte. Unter dem bedeckten Himmel schien die Stadt genauso grau und fahl wie unsere Gesichter, im Hafen hingegen leuchteten die bunten Fischerboote und Schiffe, die dort Zuflucht vor dem Wetter gesucht hatten und nun dicht an dicht vertäut waren. Elegante Segelschiffe mit ihren Masten und Takelagen wurden von den schlanken Schiffen der Ölindustrie überragt. Flaggen und Wimpel flatterten im Wind. Die Segelschiffe nahmen an einer Regatta teil, die in Waterford in Irland begonnen hatte und im schwedischen Halmstad enden sollte, doch wegen des Sturms war die Fahrt über die Nordsee nach Stavanger in Norwegen verschoben worden.

Wir rollten von der Fähre und fuhren durch die Stadt, bis wir schließlich Zuflucht in der Vertrautheit eines Supermarkts suchten. Ich goss Milch für meinen Sohn in sein Fläschchen und versuchte, sie an meinem Körper zu wärmen. Wir hatten ein Haus gemietet und mussten die Schlüssel beim Makler abholen, doch so früh am Morgen war das Büro noch nicht geöffnet. Der Wind war immer noch eiskalt, also blieben wir im Auto sitzen.

Unser Sohn spielte mit dem Lenkrad, während mein Mann und ich schweigend aus dem Fenster sahen.

Bei unserem Umzug nach Shetland hatte ich aufgrund der Geburt unseres Sohnes beruflich bereits alle Seile gekappt. Davor war ich im Naturschutz tätig gewesen. In der Abteilung des Forschungsinstituts, in der ich gearbeitet hatte, fühlte sich meine Schwangerschaft wie das Eingeständnis mangelnder Ambitionen an. Ich hatte mich für Kinder und nicht für die Karriere entschieden, zumindest war das mein Eindruck, obwohl ich ursprünglich gehofft hatte, beides zu haben, wie die Männer, mit denen ich zusammenarbeitete.

Mein Mann ist Hubschrauberpilot und fliegt zu den Bohr­inseln in der Nordsee und im Nordostatlantik. Er arbeitet in einer Branche, die keine Rücksicht auf familiäre Verpflichtungen nimmt. Ich wusste, dass ich den Großteil der Betreuung unseres Sohnes übernehmen musste, was zulasten meiner Karriere gehen würde, denn in der Forschung hatte man ein Produktivitätsniveau vorzuweisen, das nur mit Überstunden erreicht werden konnte. In den ersten Tagen nach der Geburt unseres Kindes fühlte ich mich manchmal, als müsste ich gegen eine gewaltige Windböe ankämpfen, während ich gleichzeitig einen Regenbogen am Ho­rizont sah.

Wir lebten im ländlichen Aberdeenshire zur Miete in einem heruntergekommenen Cottage, das kalt, feucht und voller Schimmel war, doch der Garten, auch wenn er eher einer Waldlichtung glich, bereitete mir große Freude. Eine stattliche Kiefer bewachte das Cottage auf der einen Seite, und ein Dickicht aus Haselnussbüschen, Moorbirke und Eberesche schützte uns vor dem Nordwind. In den Sommermonaten schwammen Molche in einem kleinen Teich und über die Wiese tanzten Schmetterlinge, vor allem der Braune Waldvogel. Abdrücke im hohen Gras verrieten, wo Rehe gelegen hatten. Oft musste ich eine Zecke von meinen Beinen entfernen.

Unser Sohn kam im Herbst zur Welt, als die Zweige der Eberesche schwer von roten Früchten waren. Die Aussicht, den ganzen Winter in einem feuchten, schimmeligen Haus für ein Neugeborenes zu sorgen, war entmutigend, weshalb wir nach einer anderen, möglichst warmen und trockenen Wohnung suchten. Allerdings hatten wir nur ein begrenztes Budget. Mein Mann hatte erst vor Kurzem seinen Pilotenschein gemacht und musste noch den Kredit für die Ausbildung zurückzahlen, und ich erhielt nur das gesetzlich vorgeschriebene Mutterschaftsgeld. Wir sahen uns ein paar andere Häuser an, aber alle waren ähnlich heruntergekommen wie unseres, also blieben wir, wo wir waren, weil uns der Garten ans Herz gewachsen war, genauso wie die Wühlmaus, die sich abends manchmal durch einen Spalt in der Hintertür schob und Krümel vom Küchenboden naschte.

Der erste Winter mit dem Baby war bitterkalt. Monatelang bedeckte eine dicke Schneeschicht den Garten, und alle Zaun­könige starben. Mein Sohn und ich machten nur kurze Ausflüge nach draußen. Mit dem Kinderwagen war im Schnee kein Durchkommen, und für das Auto war die abschüssige Zufahrt zu vereist. Mein Mann parkte den Wagen oben an der Straße und ging den restlichen Weg zum Haus zu Fuß. Ich fing an, ihn um seine Freiheit zu beneiden. Seine Welt reichte über unseren Garten ­hinaus. Über den Fenstern hingen lange Eiszapfen. Zuerst waren sie schön, aber schon bald erschienen sie mir wie Gitterstäbe. Die Ölheizung ging kaputt, und die Kälte draußen und im Haus war nur schwer auszuhalten. Es war so anstrengend, mich und meinen Sohn warm zu halten, dass ich das seltsame Verhalten meines Körpers nach der Geburt weitgehend ignorierte. Ich trug meinen Sohn in den Armbeugen, weil meine steifen, schmerzgeplagten Hände sein Gewicht nicht halten konnten. Meine Wirbelsäule war beinahe starr. Doch dann, als der Schnee zu schmelzen begann, taute auch mein Körper wieder auf und ich dachte kaum noch an diese merkwürdige Episode.

Im März, als Schnee und Eis immer noch nicht ganz weg­getaut waren, kam mein Mann eines Tages von der Arbeit und erzählte, dass seine Firma einige Hubschrauber samt Piloten von Aberdeen nach Shetland verlegen wollte. Die Shetland-Inseln liegen in einiger Entfernung vom schottischen Festland und dienen als Stützpunkt, um Arbeiter zu den Bohrplattformen in der nördlichen Nordsee zu bringen.

Wir brauchten nicht lange, um uns für den Umzug nach Shetland zu entscheiden. Mein Antrag, in Teilzeit wieder in meinen alten Beruf einzusteigen, war abgelehnt worden. Also kündigte ich und hoffte, dass ich auf Shetland einen Job mit flexibleren Arbeitszeiten finden würde. Im Internet stieß ich auf eine Annonce für ein Haus, dessen Miete wir uns leisten konnten. Auf den Fotos wirkte es gepflegt; ein warmes, schimmelfreies Heim für uns. Es hatte sogar ein Kinderzimmer für unseren Sohn.

Ich freute mich darauf, die eisigen Winter in Aberdeenshire hinter mir zu lassen, auch wenn meine Begeisterung schwand, als ich auf der Immobilien-Website Fotos vom Garten unseres zukünftigen Heims sah. Niedrige struppige Weiden am Rand einer kleinen Rasenfläche, die im Hintergrund in ein sumpfiges Moor überzugehen schien. Ich hatte noch nie in einer so offenen Landschaft gelebt, in der Bäume aufgrund der starken Winde und salzhaltigen Luft nur mit Mühe überleben.

Wenn ich zwischen dem Packen der Umzugskisten und der Betreuung meines Sohnes Zeit fand, las ich alles, was ich im Internet über Shetland finden konnte. Vorher dorthin zu reisen konnten wir uns nicht leisten. Die Natur Shetlands erschien mir wie eine Verheißung, zumindest konnte ich, wenn ich mich nicht gerade um das Baby kümmerte oder einen Job suchte, Otter und Meeresvögel beobachten. Außerdem bestand immer die Möglichkeit, Wale zu sehen. Es war ein aufregender Gedanke, an einem Ort zu wohnen, der von Norwegen und den Färöer-Inseln genauso weit entfernt ist wie zum schottischen Festland, auf einer Insel mit einer eigenen Identität und Sprache, die erst seit dem 15. Jahrhundert zu Schottland gehört.

Ich würde neue Vogelnamen lernen wie zum Beispiel shalder, abgeleitet vom Altnordischen tjaldr für Austernfischer.

Begeistert zoomte ich mich auf den Satellitenkarten näher ran und wieder weg. Der Archipel wirkte so schutzlos – eine zerklüftete Ansammlung dicht beieinanderliegender Inseln in der blauen Weite des Nordatlantiks. Beim Packen ließ ich meinen Laptop aufgeklappt und sah mir jeden Tag die Aufnahmen der Live-­Webcam an. Im weichen Licht des Frühsommers sah alles so schön aus. Das Meer glänzte, und im Gras leuchteten bunte Wildblumen, die sich im Wind wiegten. Auf den hohen Klippen von Sumburgh Head wimmelte es von Seevögeln. Schwarz-weiße Trottellummen drängten sich auf den mit Guano bedeckten Felsen, und über ihnen kurvten Papageientaucher in schwirrendem Flug. In erster Linie sah ich mir jedoch die Bilder einer Webcam an, die auf eine Straße in Lerwick gerichtet war. Ich betrachtete die Menschen, die zwischen den Geschäften unterwegs waren, und fragte mich, wie es wohl war, auf einer Insel zu leben.

In den Wochen vor unserem Umzug träumte ich immer wieder, wie ich an hohen Klippen aus schwarzem Gestein entlangging. Es war so dämmrig, dass ich kaum erkennen konnte, wohin ich trat. In meinem Traum fühlte ich eine ständige Angst und Anspannung, ähnlich wie das Gefühl, dass man die Kinder im Auge behalten muss, weil Gefahr drohen könnte. Doch als wir bei unserem neuen Zuhause anlangten, verblasste dieser Traum. Das Haus war aus Holz und im typisch nordischen Stil rot gestrichen. Es schmiegte sich in ein grünes Tal zwischen heide­bewachsenen Hügeln, weit weg von irgendwelchen Klippen. Die Siedlung, bestehend aus Wohnhäusern, einem Gemeindezen­trum und einer Schule, lag in der Nähe von Lerwick. Eine Straße verlief am Ufer eines moorigen Sees, in dem das Modell eines Wikingerschiffs vertäut war. Das grasbewachsene Ufer war kurz gemäht, was dem Ganzen, zusammen mit den zwei Höckerschwänen, die durchs Wasser glitten, einen Hauch von vornehmem Vorort verlieh.

Wir schlossen die Tür des roten Holzhauses auf und setzten unseren Sohn auf den Boden, damit er herumkrabbeln konnte, nachdem er so lange im Kindersitz im Auto und im Bettchen auf der Fähre festgeschnallt gewesen war. Mein Mann und ich legten uns im leeren Wohnzimmer auf den Teppichboden, zu erschöpft, um uns auch nur eine Tasse Tee zu machen. Der Boden schien immer noch zu schwanken. Es dauerte drei Tage, bis wir uns wieder an den festen Boden unter unseren Füßen gewöhnt hatten.

Nach unserer Ankunft legte sich erst einmal dichter Nebel über die Insel. Shetland blieb vor uns verborgen. Mein Mann musste sofort arbeiten, also brach ich allein zu einem ersten Erkundungsgang auf. Um mir Orientierung zu verschaffen, wickelte ich meinen Sohn in eine Decke und schob ihn im Kinderwagen über die schmalen Straßen. Möwen und Seeschwalben flogen wie Geister durch den stumpfen grauen Nebel vom Meer, der hier haar genannt wird, und Wiesenpieper und Steinschmätzer huschten die Straße entlang, als ob sie mich auffordern wollten, immer weiterzugehen.

Ich bewegte mich im Nebel wie durch einen leeren Raum, der sich jedoch rasch mit Zweifeln füllte. Ich befürchtete, dass es eine übereilte Entscheidung gewesen war, so weit wegzuziehen, fern von unserer Familie und unseren Freunden und deren Unterstützung. Wir kannten niemanden auf Shetland, und mir war klar, dass wir im engen Kreis der Inselgemeinschaft Eindringlinge waren. Ich wusste nicht, ob ich so einfach eine Stelle finden würde, mit der sich eine Kinderbetreuung rechnete. Und obwohl ich nicht mehr von furchteinflößenden Klippen träumte, steckte mir die Fährüberfahrt immer noch in den Knochen. Ich hatte mir ­geschworen, nur noch zu fliegen, nach Aberdeen dauerte es ge­rade mal eine Stunde. Andererseits hatte ich gelesen, dass die Flüge wegen des Nebels häufig verschoben werden mussten und dass die Landung auf Shetland wegen der starken Winde ziemlich nervenaufreibend sein konnte. Ich fragte mich, ob ich nicht irgendwann das Gefühl haben würde, hier festzusitzen ­– womöglich ging es mir jetzt schon so.

Doch als zum ersten Mal die Sonne schien, lösten sich meine Befürchtungen genauso wie der Nebel in Luft auf. Die Nähe zum Meer schien gar nicht so bedrohlich: Es lag ruhig da, die Ober­fläche von Licht durchzogen. Ich schnallte meinen Sohn in seinen Autositz und fuhr mit ihm zu einem Strand mit hellem Muschelsand, der das Meer türkis leuchten ließ. Ein einzelner Sterntaucher, den Kopf hoch erhoben und den Schnabel gen Himmel gereckt, schwamm hinter der Brandung auf der glatten Wasserfläche; näher am Strand stießen Seeschwalben auf der Jagd nach Fischen herab, und schwangen sich wieder elegant in die Luft. Mein Sohn war ganz still und bestaunte die Wellen. Der Strand wirkte völlig unberührt.

Damals wusste ich noch nicht, dass sich in den Winterstürmen Unmengen von Meeresmüll an der zerklüfteten Küste Shetlands ansammeln. Als ich nach den ersten Herbststürmen an denselben Strandabschnitt zurückkehrte, war der Spülsaum – die Ablagerungen an der Grenze zwischen nassem und trockenem Strand, wo sich nach der Flut Seetang, Muscheln und Meeresmüll sammeln – voller Plastik. Aber bei meinem ersten Besuch an jenem sonnigen Augusttag hatte die Flut nur ein schmales, gewundenes Band aus winzigen Muscheln und Muschelbruchstücken zurückgelassen. Als ich mit meinem Sohn auf dem Arm am Wasser entlanglief, verspürte ich mit einem Mal die überwältigende Gewissheit, dass ich mich auf Shetland bald heimisch fühlen würde.

Dann kam der Herbst, und ich lernte mit den ersten Stürmen der Tagundnachtgleiche, wie schwach der Mensch im Vergleich zur Natur doch ist. Die Tür unseres roten Hauses öffnete sich nach außen, und eine Böe genügte, um mir den Türgriff aus der Hand zu reißen. Sie schwang gefährlich hin und her, während ich auf eine Flaute wartete, um sie wieder zu fassen zu kriegen. Ähnlich verwandelten sich Autotüren an windigen Tagen in Waffen. Ich versuchte dann, meinen Sohn mit meinem Körper abzuschirmen. Beim Spazierengehen band ich den Kinderwagen an meinem Handgelenk fest, trotzdem versuchte der Wind, ihn mir zu entreißen.

An Weihnachten, unserem ersten auf Shetland, wurden wir von einem Kollegen meines Mannes zum Mittagessen eingeladen. Er und seine Frau waren sehr herzlich und ich fühlte mich äußerst wohl bei ihnen, erkannte dadurch aber auch, wie einsam ich mich seit der Geburt unseres Sohnes gefühlt hatte. Trotz allem konnten wir uns nicht richtig entspannen, denn ein gewaltiger Sturm war angekündigt, und während wir aßen, schleuderte der Wind mit beunruhigender Wucht Hagel gegen die Fenster. Nach dem Essen hielten wir uns nicht lange bei unseren Gastgebern auf, sondern dankten ihnen und machten uns eilig auf den Heimweg. An der Stelle, an der die Straße an der Küste entlangführt, schlugen die Wellen aufs Land und über die Fahrbahn. Auf höher gelegenem Gelände schleuderten Windböen das Auto immer wieder auf die Gegenfahrbahn. Vertrocknete Grasbüschel wurden aus dem Boden gerissen und flogen durch die Luft.

Als wir zurück in unserem roten Haus waren, wollten wir das Licht anschalten, doch es blieb dunkel. Ohne Strom funk­tionierte auch die Zentralheizung nicht, das Haus war kalt. Die Sonne war schon um drei Uhr untergegangen, und so saßen wir in unseren Mänteln im Wohnzimmer, spielten im Schein der Taschenlampe mit unserem Sohn und versuchten, das Brüllen des Sturms zu ignorieren. Wir gingen früh schlafen, doch der Lärm hielt meinen Mann und mich wach. Ich lag im Bett, mein ganzer Körper war angespannt, aus Angst, der Sturm könnte jeden Moment das Haus einreißen. Bei Tagesanbruch stellte ich mich auf einen Schemel im Bad und schaute durch das Dachfenster aufs Meer hinaus. Es war unter einer dichten weißen Gischt verschwunden, die aussah, als könnte man darin ersticken. Der Rasen war aufgerissen und im Boden klaffte ein Loch wie eine Wunde, aber was auch immer dies verursacht hatte, war vom Wind weitergetragen worden. Wir waren sehr erleichtert, als wir wieder Strom hatten.

Nach und nach lernten wir, mit den Stürmen umzugehen und sie zu verstehen. Das Haus vibrierte bei anhaltend starkem Wind und zitterte bei jeder Böe – so sehr, dass das Bett wackelte, in dem wir zu schlafen versuchten. Unser kleiner Sohn hingegen schlief tief und fest. Das tut er immer noch, aber unsere Tochter, die auf Shetland geboren wurde, kommt bei Sturm stets voller Angst in unser Zimmer. Ich versuche, ihr zu zeigen, dass ich keine Angst habe. Früher dachte ich, dass wir uns nie an die schlimmen Stürme gewöhnen würden, weil wir Neuankömmlinge waren, doch mit der Zeit wurde mir klar, dass auch die alteingesessenen Inselbewohner die Stürme fürchten.

Ich lernte, mich auf die ruhigen Tage zu freuen – days atween wadders –, die die Reihe heftiger Stürme unterbrechen. An diesen Tagen steht die Luft so still, dass man kaum glauben mag, dass es überhaupt so etwas wie Wind gibt. Nach dem Lärm eines Sturms ist es eine Wohltat, die tiefe Ruhe zu erleben, das schwache Sonnenlicht auf der Haut zu spüren und den Körper zu entspannen. Die Oberfläche des Meeres ist straff und spiegelglatt, nur an einigen Stellen unterbrochen von Seevögeln, die nach Fischen tauchen, oder von Meeressäugern, die kurz Luft holen.

Im ersten Jahr nach unserem Umzug fand ich keinen Job und ­hatte zwei Fehlgeburten. Mein Blick richtete sich in erster Linie nach innen. Es ging darum, jeden einzelnen Tag zu überstehen. Ich habe mein ganzes Leben lang gern Vögel beobachtet, doch jetzt hatten sie viel von ihrer Faszination verloren.

Dann wurde ich wieder schwanger, und dieses Mal behielt ich das Kind und brachte eine Tochter zur Welt. Es war eine glück­liche Zeit. Es machte mir nichts aus, mitten in der Nacht aufzu­stehen und mich um sie zu kümmern, es war die magische Zeit des simmer dim, der hellen Sommernächte im Norden. Beim Stillen saß ich am Fenster und sah den Schnepfen zu, die ihre Kreise hoch oben an einem Himmel drehten, der nie richtig dunkel wurde. Die Sonne ging schon vor vier Uhr auf und versprach einen Tag voller Möglichkeiten, so müde ich mich auch fühlte.

Bald nach unserem Umzug begann ich, alle sieben Bände des Wanderführers Walking the Coastline of Scotland zusammenzutragen, die der mittlerweile verstorbene Peter Guy verfasst hatte. Auf Shetland gibt es relativ wenig Berge, der höchste, der Ronas Hill, erreicht gerade einmal 450 Meter über dem Meeresspiegel. Doch die Küstenlinie des Archipels misst über 2700 Kilometer, an ihr entlangzuwandern ist durchaus anspruchsvoll. An manchen Stellen springt die Küste weit zurück, sodass lange, fingerartige voes – geschützte Meeresbuchten – entstehen, an anderen Stellen ragt sie weit ins Meer hinein und bildet Landzungen, die im Osten die Wucht der Nordsee abbekommen und im Westen auf die enorme Weite des Atlantiks stoßen. Entlang der Klippen muss man viele geos umrunden – tiefe Einschnitte, wo das Land plötzlich abfällt.

Als meine Tochter ein paar Monate alt war, war meine Sammlung von Wanderführern komplett, eine Mischung aus zerfledderten Fundstücken aus dem Charity Shop und glänzenden Neuauflagen mit unversehrten Buchrücken. Die Shetlands bilden einen Archipel mit mehr als hundert Inseln, von denen nur noch sechzehn bewohnt sind. Ich studierte die Landkarten und blieb immer wieder bei den äußeren Inseln hängen. So langsam war ich wieder bereit, mich mit dem Leben jenseits der Mutterschaft zu beschäftigen und meinen eigenen Interessen nachzugehen, daher beschloss ich, die Küste der Shetlands Stück für Stück zu Fuß zu erkunden. Ich hatte vor, meine Wanderung auf den bewohnten Inseln zu beginnen, weil sie leichter zu erreichen sind. Später, so überlegte ich, könnte ich vielleicht um Mitfahr­gelegenheiten per Boot zu den unbewohnten Inseln bitten, die nur selten besucht werden.

Während ich mich um meine neugeborene Tochter und meinen kleinen Sohn kümmerte, plante ich meine Wanderungen. Ich hatte keinen Zweifel, dass ich bald meine Wanderschuhe schnüren würde. Ich sehnte mich nach dem beschwingten Gefühl, das sich am Beginn einer Wanderung einstellt, nach der angenehmen Müdigkeit in den Muskeln am Ende und nach all den Eindrücken, die man dazwischen sammelt. Damit wollte ich mich in den anstrengenden Jahren über Wasser halten, in denen ich mich um meine beiden kleinen Kinder kümmerte.

Ich konnte es kaum erwarten ­– ich ahnte ja nicht, dass ich bald gar nicht mehr in der Lage sein würde, lange Strecken zu bewältigen. Dass ich mir etwas anderes suchen musste, um mich über Wasser zu halten, etwas, das mich durch schwere Zeiten bringen würde.

Als ich mit meiner Tochter schwanger war, konnte ich nicht weit laufen. Wenn ich es versuchte, hatte ich unerträgliche Schmerzen in den Gelenken zwischen dem Becken und der unteren Wirbelsäule. Ich führte das darauf zurück, dass sich die Bänder in Vorbereitung auf die Geburt lockerten. Und natürlich ging ich davon aus, dass sie sich wieder straffen würden, wenn sich mein Körper von der Geburt erholt hatte. Doch die Schmerzen wurden nach der Geburt immer schlimmer, sodass ich mich kaum noch rühren konnte.

Mehrere Monate lang versuchte eine Physiotherapeutin, meine geplagten Gelenke zu stabilisieren, doch als mein Körper nicht auf die Behandlung reagierte, schickte sie mich zum Röntgen. Kurz nach dem ersten Geburtstag meiner Tochter bekam ich die Ergebnisse: Meine Gelenke waren irreparabel geschädigt. Es war ein Schock für mich. Ich würde nie wieder in der Lage sein, weite Strecken zu laufen oder mit dem Rad zu fahren.

Mir wurde Schwimmen empfohlen. Also ließ ich meine Tochter und meinen Sohn in der Kinderkrippe des Freizeitzentrums und zog im Becken meine Bahnen, ruderte mit den Armen und ließ die Beine hinter mir durchs Wasser gleiten. Aber selbst das wurde immer schwieriger. Meine Hände waren seltsam schwach, was mir bekannt vorkam. Die Schwäche erinnerte mich an den bitterkalten Winter, als mein Sohn ein Baby war und ich ihn in den Armbeugen getragen hatte, aus Angst, ich würde ihn fallen lassen, weil meine Hände ihn nicht halten konnten. Ich wartete darauf, dass sich meine Hände wieder erholten, doch als meine Tochter achtzehn Monate alt war, hatte sich ihr Zustand sogar verschlimmert und sie waren noch empfindlicher geworden.

Ich wusste es damals noch nicht, doch die beiden Schwangerschaften hatten eine entzündliche Arthritis ausgelöst, bei der mein Immunsystem in einer Autoimmunreaktion meine eigenen Gelenke angreift.

Es war schwer, aus dem Loch, in das ich fiel, wieder herauszukommen. Die Mutterschaft, die in einer patriarchalischen Gesellschaft sehr einengend sein kann, hatte mich bereits den Teil meiner Identität gekostet, der mit meiner Arbeit zusammenhing. Nun sollte mein Körper erneut meine Identität verändern. Meine Wanderführer für die Küste der Shetlands standen im Bücher­regal und setzten Staub an, und mein geliebtes Rennrad rostete in der feuchten Luft im Schuppen vor sich hin. An manchen Tagen wollte ich die Grenzen, die mir mein Körper neuerdings auf­erlegte, einfach nicht akzeptieren, und ich versuchte, weiter zu gehen, als ich eigentlich konnte, aber danach wurden die Schmerzen nur noch schlimmer und meine Mobilität war anschließend noch stärker eingeschränkt. Traurig dachte ich zurück an die Zeiten, als ich einfach zu einer langen Wanderung in den Hügeln aufbrechen oder mit dem Fahrrad eine anspruchsvolle Tour machen konnte.

Es war schon ein Kampf, mich um zwei kleine Kinder zu kümmern, wenn mein Mann arbeiten war. Ich fragte mich, wie ich das körperlich schaffen sollte, wenn ich wieder eine Stelle finden würde. Ich wusste nicht mehr, wer ich eigentlich war.

Die Geschichte, wie ich doch meinen Weg fand und wieder nach vorne blicken konnte, beginnt mit toten Meeresvögeln. Meine Tochter war damals neun Monate alt, es war unser dritter Winter auf Shetland. Wenn mein Mann nicht arbeiten musste, fuhren wir an einen Strand und machten einen kurzen Spaziergang. Zwischen dem vielen Plastikmüll im Spülsaum fielen mir zerrupfte tote Meeresvögel auf – vor allem Trottellummen und Eissturm­vögel. Ich fand sie interessant. Ich hatte Wildvögel noch nie so genau aus der Nähe betrachtet, geschweige denn Meeresvögel, die den Großteil ihres Lebens auf hoher See verbringen. Und ich wollte wissen, woran die Vögel gestorben waren. Waren sie in einen Sturm geraten? Oder waren sie durch Schadstoffe geschwächt? Es ist vermutlich kein Zufall, dass ich in einer Zeit, in der ich Mühe hatte, die Veränderungen in meinem eigenen Körper zu verstehen, herausfinden wollte, was mit diesen Vögeln passiert war.

Als ich dann erfuhr, dass bestimmte Strandabschnitte auf Shetland jeden Monat nach toten Meeresvögeln abgesucht werden und dass diese Aufgabe hauptsächlich von Ehrenamtlichen übernommen wird, war für mich klar, dass ich das auch machen wollte. Da ich nicht wusste, an wen ich mich wenden musste, schickte ich eine E-Mail an Helen Moncrieff von der RSPB Shetland, der Royal Society for the Protection of Birds. Sie stellte ­netterweise den Kontakt mit dem Ökologen und Meeresvogel­experten Martin Heubeck her, der damals die Registrierung der gestrandeten toten Vögel auf Shetland koordinierte. An einem kalten Februarmorgen im Jahr 2014 traf ich Martin an einem nahe gelegenen Strand, wo er mir meine Aufgabe erklärte. Wir gingen am Spülsaum entlang und blieben bei jedem toten Meeresvogel stehen. Martin zeigte mir, wie man nach Ölverklebungen im Gefieder schaut und nach einer Beringung an den Beinen, die von Ornithologen angebracht wird, um die Flugrouten der Vögel nachzuvollziehen. Wenn alles geklärt war, zogen wir weiter. Martin ist sehr groß, ich hatte Mühe, am Strand mit ihm Schritt zu halten. Er ging zügig über lose Kiesel und glitschigen Tang, und ich immer hinterher, mit Blick auf seine zerschlissene Jeans und seine abgeschabte Warnweste.

Damals hatte ich Schwierigkeiten, die verschiedenen Möwen auseinanderzuhalten, und wusste nicht, wie man Alkenvögel – Trottellumme, Gryllteiste, Papageientaucher und Tordalk – nur am Körper erkennt, wenn ihnen der Kopf fehlt. Martin sagte mir, ich solle mir keine Gedanken machen, ich könnte ihm immer ein Foto schicken, wenn ich allein unterwegs wäre und einen toten Vogel fände, der mir Rätsel aufgab. Für den Maßstab solle ich beim Fotografieren meinen Fuß im Gummistiefel (Größe 5) danebenstellen.

Am Spülsaum lagen verstreut mehrere tote Trottellummen und einige Tordalke. An vielen hatten Möwen und Rabenvögel herumgepickt. Selbst Schafe knabbern manchmal an den Beinen toter Meeresvögel, wie ich zu meiner Überraschung erfuhr, und sie fressen sogar die Küken.

Anfang des Monats war Martin mit dem Boot auf dem Meer unterwegs gewesen, um Meeresvögel zu zählen, und hatte dabei viele halb tote Alkvögel gesehen. In den Wochen davor hatten starke Südoststürme getobt, die die Vögel von der Nahrungssuche abhielten. Martin erklärte mir, dass eine Anhäufung toter Meeresvögel wreck (»Wrack», »Strandgut«) genannt wird und dass die Erfassung gestrandeter toter Meeresvögel dazu beiträgt, die Ursachen dafür herauszufinden.

Ein Ende des Strandes war mit einer dicken Schicht von angespültem Plastikmüll bedeckt. Ich fand das abstoßend, aber Martin marschierte direkt auf den Müll zu und bückte sich, um einen gebogenen Plastikstreifen aufzuheben, auf den ein Code gedruckt war – damit wurden Hummerfallen aus Neufundland oder Labra­dor gekennzeichnet, wie er mir erklärte. Er schärfte mir ein, besonders auf tote Eissturmvögel zu achten, die ein bisschen wie Möwen aussehen und die mehr Plastik verschlucken als jeder andere Meeres­vogel im Nordatlantik. Wenn der Körper eines Eissturmvogels noch intakt war, sollte ich ihn aufheben. Er würde dann eingefroren und in die Niederlande geschickt, wo man das Plastik aus seinem Magen analysierte. Auf dem Heimweg hatte ich das Gefühl, als habe sich eine Tür geöffnet: Ich hatte einen Weg gefunden, Shetland besser kennenzulernen – indem ich am Strand nach toten Meeresvögeln suchte.

Von da an kontrollierte ich jeden Monat regelmäßig zwei Strände und notierte die angespülten toten Meeresvögel. Ich konnte ganz in der Nähe parken und dann langsam am Strand entlanggehen. Ich mochte es, wenn es knifflig wurde und ich die Vögel anhand weniger Überreste bestimmen musste. Jeder Kon­trollbesuch am Strand bot mir die Möglichkeit, einem Alltag zu entfliehen, der geprägt war von der Betreuung zweier Kleinkinder und einem ständig schmerzenden Körper.

Die Suche nach toten Meeresvögeln war der erste Schritt auf meinem Weg zur begeisterten Strandgutsammlerin. Beim Beachcombing hält man nach kuriosen oder nützlichen Dingen Ausschau, die das Meer angespült hat. Als ich erfuhr, dass sich mein Körper vermutlich nie wieder vollständig erholen würde, war ich bereits so begeistert vom Strandgutsammeln, dass mir meine neue Leidenschaft über die Diagnose hinweghalf. Ich befragte die Einheimischen, die sich mit dem Beachcombing auskannten, und war fasziniert von der Vorstellung, etwas zu finden, das einen langen Weg im Meer zurückgelegt hatte. Dass jede Flut neue Möglich­keiten barg, war ein aufregender Gedanke. Anstatt die Stürme zu fürchten, wartete ich nun auf sie. Wenn ein Sturm kam, lag ich nachts wach und lauschte dem Wind. Doch ich lauschte nicht nur, sondern hörte ihm wirklich zu, und der Wind sagte mir, an welchen Strand ich am nächsten Morgen gehen sollte. Schon bald trug ich in meiner Jackentasche den halben Strand mit mir he­rum. Auch heute noch, Jahre später, bin ich angespannt, wenn ich länger nicht am Strand war, um den Spülsaum abzusuchen. In gewisser Weise ist Beachcombing für mich unverzichtbar; zwar nicht in dem Sinn, dass ich nach etwas suche, das man essen oder verkaufen kann, aber doch so, dass es mehr als nur ein Hobby ist. Es ist ein innerer Drang, zu dem, wie ich zugeben muss, durchaus auch Gefühle gehören wie Gier und der Wunsch, etwas zu besitzen.

Nach vier Wintern im roten Haus hatten wir genug gespart, um einen Kredit zu bekommen und ein Haus zu kaufen. Wir zogen in eine kleine Siedlung, die sich an einem dem Inland zugewandten Teil der Küste entlangzieht. Ich machte mir Sorgen, ob mir die Intimität einer kleinen Gemeinde, in der jeder jeden kennt und man so gut wie alles über die anderen weiß, unangenehm sein könnte. Doch wir wurden sehr herzlich aufgenommen.

Hier in unserer Siedlung verfolgt man aufmerksam die jahreszeitlichen Züge der Vögel. Wenn Mitte Februar die ersten s­halders eintreffen, spricht sich das schnell herum, weil die Austernfischer ein Zeichen dafür sind, dass der Klammergriff des Winters endlich nachlässt. Mit unseren nächsten Nachbarn besteht eine Art Wettstreit, wer im Mai die erste Küstenseeschwalbe, tirrick, sieht, die in der Südpolarregion überwintert und dann die weite Strecke bis zu uns fliegt. In den dunklen Wintermonaten bekommen wir manchmal eine Nachricht von den Nachbarn, dass wir vors Haus gehen sollen, weil gerade Polarlichter am Himmel leuchten. Und das ganze Jahr über kann das Telefon klingeln, weil jemand anruft und berichtet, dass Wale in den voe geschwommen sind. Dann rennen wir alle in die Küche, um vom Fenster aus die schmale Bucht nach ihren Rückenflossen abzusuchen.

Als wir einzogen, hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, ob ich einem anderen Strandgutsammler das Revier streitig machen könnte. Tex, der früher bei der Handelsmarine war und jetzt in Rente ist, ist an diesem Strandabschnitt seit Kindesbeinen als Beachcomber unterwegs. Manchmal sehe ich ihn schon frühmorgens aufbrechen, in seinem Overall und mit einer abgetragenen Baseballkappe auf dem Kopf. Bei Regen trägt er gelbes Ölzeug. Tex hat mich sehr herzlich aufgenommen. Manchmal legt er mir Schwimmer von Fischernetzen, die ich sammle, neben die Ga­rage. Und ich revanchiere mich mit kleinen Bojen, die ich ihm vor die Tür lege.

Nach mehreren Wintern an unserem neuen Wohnort kommt es mir so vor, als ob ich eine stillschweigende Vereinbarung mit den Stränden in der Nähe unseres Hauses geschlossen hätte: Wenn ich die Strände vom Plastik befreie, werde ich mit glattem Meerglas belohnt; wenn nicht, hat das Meerglas noch scharfe Kanten, an denen man sich schneiden kann, und ich finde bei meinen Spaziergängen am Spülsaum nur Unmengen Plastik: Flaschendeckel, Plastikflaschen und Verpackungen, Styroporkügelchen, Feuerzeuge, Tamponapplikatoren und die Befestigungen von Muschelleinen. Die Liste der Plastikfunde ist endlos und natürlich gehen sie stets auf uns Menschen zurück. Das Meer gibt uns immer etwas, doch die Gaben haben sich verändert, und manchmal fühle ich mich auf dem Rückweg ärmer als bei meiner Ankunft am Strand.

Das Beachcombing hilft mir, mich ins Meer hineinzuversetzen, und hat mich dazu gebracht, mich mit den Vorgängen im Meer zu beschäftigen, beispielsweise mit der Frage, wie sich Mondphasen auf Ebbe und Flut auswirken. Ich lerne die Sprache des Meeres und des Strandes, Dialektwörter wie shoormal für Hochwasserlinie oder mareel für das Meeresleuchten, das durch bioluminiszierendes Plankton entsteht und bei dem das Meer wirkt, als ob es in den Herbstnächten von vielen winzigen Laternen beleuchtet wäre. Bei der Beschäftigung mit den Mondphasen lernte ich auch gleich einige alte Bezeichnungen für den Mond. Bei manchen, wie etwa globeren, was »der Glotzende, Starrende« bedeutet, handelt es sich um Tabunamen, die früher von den Hochseefischern, die auf dem haaf, dem offenen Meer, unterwegs waren, verwendet wurden. Sie vermieden bestimmte »Land­wörter«, weil sie glaubten, dass sie Unglück bringen könnten. Andere Wörter wie mønadrag haben gleich mehrere Bedeutungen:

– eine schwache Wirbelsäule; eine Verkrümmung in der Wirbelsäule eines Säugetiers,

– das Zusammentreffen von Wolken, die aus ­verschie­denen Richtungen kommen und von Winden in einer höheren und einer tieferen Schicht voran­getrieben werden,

– ein halbkreisförmiges Stück Regenbogen, eine Art falsche Sonne, die in der Nähe des Mondes zu sehen ist, insbesondere dahinter.

Es heißt, dass ein mön-broch windiges Wetter ankündigt. Mön-broch (Mondbogen), möni (Rückenmark) und mös, was so viel wie verzaubert, benommen sein bedeutet, stehen im Shaetlan-Wörterbuch dicht beieinander, und es ist nicht ungewöhnlich auf Shetland, dass Wetter, Körper und Magie in irgendeiner Form ­zusammenspielen.

Ich persönlich stelle mir vor, dass sich die Entzündung in meinem Körper wie das Nordlicht verhält. Manchmal ist die Aurora borealis nicht mehr als ein schwaches grünes Glimmen in der Ferne. Ich spüre, dass sie da ist, aber kaum merklich, und dann warte ich, ob sie heftig aufflammt oder flackernd wieder verschwindet, ohne richtig dagewesen zu sein. Ein andermal ist der Nachthimmel voller sich wandelnder Lichter. Dann kann man ein bestimmtes Licht nur mit Mühe verfolgen, es verformt und verändert sich, bewegt sich hin und her, verblasst und flackert dann wieder auf. Genau so kann auch der Schmerz in meinem Körper auftreten und an verschiedenen Stellen aufflammen.

Jeden Schritt am Strand spüre ich. Das erhöhte Bewusstsein für die Vorgänge im Inneren meines Körpers schärft meine Wahrnehmung. Ich erahne bereits die Stellung meiner Fußsohlen, wenn ich über einen Kiesstrand gehe, und die Dehnung in meinen steifen Gelenken, wenn der Sand nachgibt.

Stürmischen Wind spüre ich in der widerstrebenden Drehung meines Brustkorbs; eine Böe nehme ich als stechenden Schmerz wahr. Ich finde den Knochen einer Robbe, eines Wals oder eines Seevogels am Strand und erkenne die Funktion, die er einmal hatte. Meine geschädigten Gelenke und meine chronische Erkrankung helfen mir in gewisser Weise, die Distanz zwischen Körper und Geist sowie zwischen meinem Körper und den Körpern anderer Lebewesen zu verringern.

Als meine Tochter drei wurde, hatte ich eine lange Liste mit Funden erstellt, auf die ich beim Beachcombing hoffte: eine Flaschenpost; eine Oktopusfalle von der nordwestafrikanischen Küste; ein Stück Baumstamm aus Kanada, das die Nagespuren eines Bibers trägt; eine der berühmten Gummienten aus Containern, die ein Schiff bei einem Sturm im Nordpazifik verloren hatte; eine »Nixentasche«, das heißt die Eikapsel eines Großen Glattrochens; ein Stück Plastikmüll, das sich anhand des Etiketts nach Grönland zurückverfolgen lässt; ein Klümpchen kostbares Ambra aus dem Magen eines Pottwals, und eine Seebohne, den herzförmigen großen Samen einer in Afrika und Mittelamerika heimischen Schlingpflanze, der im Meer weite Strecken zurücklegen kann und manchmal in nördlichen Gefilden angespült wird, wo die Pflanze gar nicht gedeihen kann.

Anfangs war es mir nicht besonders wichtig, eine Seebohne zu finden. Sie stand auf meiner Wunschliste, weil ich es bemerkenswert fand, dass tropische Samen eine so lange Reise durch den Ozean überstehen und so weit im Norden angeschwemmt werden. An den Stränden Shetlands wurden verschiedene Treibsamen gefunden, von den kleinen Hülsenfrüchten der Caesal­pinia bonduc bis zu großen Kokosnüssen. Nach dem, was ich von befreundeten shetländischen Strandgutsammlern erfahren habe, findet man jedoch am häufigsten die Seebohne. Ich machte mir daher Hoffnungen, obwohl ich Shetländer kenne, die seit vielen Jahren als Strandgutsammler unterwegs sind und noch nie Treibsamen gefunden haben. Andererseits habe ich von einer Familie gehört, die hier Urlaub machte und auf Anhieb eine Seebohne fand.

Auch in den Museen Shetlands suchte ich nach Treibsamen. Als ich zum ersten Mal eine Seebohne sah, zog sich mein Herz zusammen. Sie wirkte wie aus dunklem Holz geschnitzt, das man leicht poliert hatte – eine pralle Scheibe mit sanft gerundeten Kanten, die sich in meine Hand schmiegen und sie fast ausfüllen würde. Ihre schöne runde Form weist eine kleine Einkerbung auf, weshalb sie auch »Seeniere« oder »Meeresherz« genannt wird. Ich hätte sie gern berührt, aber sie war in einer Vitrine hinter Glas.

Ich bestellte mir einen Pflanzenführer für tropische Treib­samen, um mich mit den verschiedenen Arten vertraut zu machen und mein Gehirn darauf zu trainieren, sie zwischen Seetang und den Unmengen Plastikmüll zu erkennen. Als das Buch mit der Post kam, schlug ich es sofort auf und stieß auf einen längeren Abschnitt über Treibsamen in der Volkskunde. Als ich las, dass Treibsamen an allen Küsten des Nordostatlantiks tausend Jahre oder noch länger als Talisman oder Amulette verwendet wurden, wurde mein Wunsch, selbst eine Seebohne zu finden, zur fixen Idee. Die Vorstellung von einem Treibsamen-Amulett begegnete mir in einer Zeit, in der ich das Gefühl hatte, haltlos umherzu­treiben, deshalb klammerte ich mich daran fest.

Ich glaubte nicht unbedingt, dass mich die Seebohne vor Schaden bewahren oder heilen würde, war aber dennoch überzeugt, dass sie mir irgendwie helfen würde. Ich wusste damals noch nicht, dass meine Begeisterung fürs Strandgutsammeln mich den Shetland-Inseln so nahe bringen und eine solche Vertrautheit herstellen würde. Ebenso wenig ahnte ich, dass mich ein kleiner Meeresvogel nach Norden auf die Färöer führen würde, dass ein Fisch mich nach Süden zu den Orkney-Inseln locken und dass ich die niederländische Insel Texel besuchen und dort eine noch sehr lebendige Kultur des Strandgutsammelns kennenlernen würde. Ich hätte damals nie gedacht, dass ich eines Tages eine eifrige Flaschenpost-Versenderin werden würde, und konnte mir den Trost, den man daraus zieht, nicht vorstellen. Ich hätte auch nicht im Traum daran gedacht, dass kleine Stücke Plastikmüll, die man am Strand findet, eine Verbindung zu den Menschen auf der anderen Seite des Ozeans herstellen können. Und vor allem hätte ich mir nie vorgestellt, dass ich durch meine Suche nach einer eigenen Seebohne auf eine jahrhundertealte Geschichte aus Shetland stoßen würde – die Geschichte einer Frau, der brutales Unrecht widerfahren war. Als wir nach Shetland zogen, konnte ich nicht ahnen, dass ich Autorin werden und die Geschichte dieser Frau aus Shetland sowie meine eigene Geschichte erzählen würde. Aber all das kommt erst noch. Meine Reise beginnt auf der nördlichsten Insel der Shetlands, auf der seltsam schönen Insel Unst.

Die Seebohne

And, when in storms we founder,

We, too, may leave behind

Some broken bits of flotsam

For other men to find.

Und wenn wir in Stürmen untergehen,

Hinterlassen auch wir vielleicht

Einige zerbrochene Stücke Treibgut,

Damit andere Menschen sie finden.

Aus dem Gedicht »Bound is the Boatless Man« von Vagaland

Es gibt viele Wörter, um die verschiedenen Nuancen von »gehen« auszudrücken:

Stramp für gehen

Staag für steif gehen

Harl für mühsam gehen

Aus »Nordern Lichts: An Anthology of Shetland Verse & Prose«, 1964

Ich habe über zwei Jahre lang und an vielen verschiedenen Stränden gesucht, aber keine Treibsamen gefunden. Die breiten Muschelsandstrände im Süden von Mainland sind ver­lockend. Ich denke immer, dass ich dort eher eine Seebohne finde als anderswo, doch bisher endete jede Suche mit einer Enttäuschung. Die felsigen Strände im Westen und Norden von Mainland wirken weniger verheißungsvoll, obwohl sie mir mit der Zeit ans Herz gewachsen sind. Sie sind kahl und oft düster, glitschig und schwer zu überqueren, bieten aber alle Arten von kuriosem Strandgut, das sowohl natürlichen als auch weniger natürlichen Ursprungs sein kann.

Um meine Chancen zu verbessern, so glaube ich, will ich zur Insel Unst fahren, bevor die Stürme in den Frühlings- und Sommermonaten nachlassen. Es ist der erste Tag im April 2017. Ich setze all meine Hoffnungen auf einen Strand namens Woodwick, der unter den Strandgutsammlern Shetlands den Ruf genießt, dass sich dort jede Menge Strand- und Treibgut ansammelt. Dort wurden auch schon Treibsamen gefunden, weshalb ich hoffe, ebenfalls fündig zu werden.

Woodwick ist, wie der Name schon andeutet, eine Bucht, in der sich Treibholz sammelt. Auf den nahezu waldlosen Inseln sagt man, dass einem nicht das Land, sondern das Meer Holz schenkt. Eine befreundete Strandgutsammlerin erzählte mir, sie hätte den Strand in Plasticwick umbenannt, doch heutzutage würde sich das Wort »Plastik« wohl überall auf der Karte finden, wenn wir die Strände Shetlands neu benennen müssten.

Um von Mainland nach Unst zu kommen, muss man zunächst nach Yell. Zwei Autofähren verkehren im Yell Sound zwischen Mainland und Yell, die sich auf halber Strecke treffen. Die eine heißt Dagalien, was im Altnordischen »Abenddämmerung« bedeutet, die andere Daggri, »Morgendämmerung«. Und so begegnen sich im Yell Sound jeden Tag Morgen- und Abenddämmerung, genau wie auf Shetland an Mittsommer, wenn die Dunkelheit der Nacht fast schon vorbei ist, bevor sie so richtig begonnen hat.

Anfang Mai ist es sechzehn Stunden lang hell. Dann kehren die shalders und sandiloos, die Austernfischer und Sandregenpfeifer, an die Strände zurück und legen ihre Eier in flachen Kiesmulden oder zwischen das Geröll an den Sturmstränden. Ende April ist die Zeit, in der man viele gute Stellen fürs Strandgut­sammeln wieder den Vögeln überlässt, daher fühlt sich die Fahrt nach Unst an wie meine letzte Chance in diesem Winter.

Ich überquere den Yell Sound auf der Daggri. Auf der Fähre ist viel los. Die Eltern eines kleinen Mädchens herrschen ihre Tochter an, weil diese partout nicht auf sie hören will. Ich habe meine Familie auf Mainland gelassen und kann tun und lassen, was ich will. Durch die Fenster der Fähre erkenne ich nach und nach die nebligen Umrisse der kleinen Insel Samphrey. Als wir näherkommen, tauchen zwei Tordalke elegant ins Wasser ein.

Die Muschelsandstrände von Yell sind atemberaubend und verleiten mich auf dem Weg nach Unst zu einem willkommenen Abstecher. Ich unterbreche meine Fahrt über die Inseln bei West Sandwick, einem Strand, an dem man stets etwas Interessantes findet. Selbst im Sommer, wenn kaum etwas angespült wird, ist der Strand einen Besuch wert. Der Sand ist reich an Glimmer, der hier auch craws-siller, Krähensilber, genannt wird.

Ein Jahr zuvor saß ich an einem sonnigen Sommertag an genau ­diesem Strand, eingemummelt in eine warme Jacke, während mein Mann und die Kinder im Meer schwammen. Ich suchte im Sand nach Glimmer, den fingernagelgroßen, schuppenähnlichen Kristallen. Kleinere Körnchen rieselten zwischen meinen Fingern durch und funkelten in der Sonne. Als meine Kinder und mein Mann aus dem Wasser kamen, klebte nasser Sand an ihrer Haut, und der Glimmer ließ ihre Körper schimmern, als wären sie aus Gold.

Wenn mich meine Gedanken nachts wach halten oder wenn mich mein schmerzender Körper nicht zur Ruhe kommen lässt, greife ich manchmal zu einer Übersetzung finnischer Helden­sagen und Mythen, dem Kalevala. Die einzelnen Verse der »Runen« (Lieder) des Kalevala haben acht Silben mit vier Hebungen, ein Versmaß, das in kleinen Dosen beruhigend wirkt. In den Geschichten kommen viele nichtmenschliche Wesen vor, die einen eigenen Willen haben, manchmal sind sogar die Bäume eigenständige Geschöpfe.

Die Erzählungen bergen viele Möglichkeiten. Eine Frau, die einem unerwünschten Freier entkommen will, kann sich in ein anderes Geschöpf verwandeln, in einen Merlan oder einen Hasen, und so ihrem Schicksal entgehen.

Beim Kalevala denkt man meist an Sagen über männliche Helden, aber ich lese es eigentlich wegen seiner Heldinnen – schließlich beginnt der Schöpfungsmythos damit, dass die Tochter des Äthers, Ilmatar, aus der Luft ins Meer fällt. Stürmische Ostwinde verwandeln das Meer in eine wild wogende Gischt und schwängern sie gewaltsam. Sie muss eine siebenhundertjährige Schwangerschaft durchstehen. Während das Gewicht ihres Bauchs sie im Ozean festhält, baut eine Ente ein Nest auf ihrem Knie. Die Ente legt sechs Eier aus Gold und eins aus Eisen. Unter dem Nest beginnt Ilmatars Knie vor Hitze zu brennen, sie hat das Gefühl, als ob Flammen durch ihre Adern lodern würden. Sie zuckt zusammen. Die Eier fallen aus dem Nest, und aus den Bruchstücken und dem Ei-Inhalt entstehen die Erde, der Himmel, die Sonne, der Mond, die Sterne und die Wolken.

Im sogenannten Lemminkäinen-Zyklus wird der tote Held Lemminkäinen von seiner klugen, liebenden Mutter wieder zum Leben erweckt. Mit einer Harke aus Kupfer fischt sie die Teile seines Leichnams aus dem Fluss der Unterwelt. Ein Rabe rät ihr, damit aufzuhören. Lemminkäinens Leiche diene den ­Aalen als Nahrung, argumentiert er, seine Augen habe bereits ein Merlan gefressen, es sei besser, wenn aus seinem Fleisch ein Walross, eine Robbe, ein Wal oder ein Schweinswal entstehe. Doch die Mutter ignoriert den Raben und ruft Suonetar an, die Göttin der Venen:

Bind das Fleisch fest an die Knochen,

Bind die Adern an die Adern,

Senke Silber in die Fugen,

Gold tu in die Aderspalten!

Das Leben kehrt in Lemminkäinens Körper zurück.

Als ich im Sand saß und zusah, wie meine Familie sich abtrocknete und sich das Meer von der Haut wischte, wünschte ich mir, mein Körper würde ebenfalls wieder zu neuem Leben erweckt. Ich wollte auch im Meer schwimmen und meine nasse Haut mit glitzerndem Sand bedecken. Ich wollte die Schmerzen, die mitunter wie Feuer in meinem Körper brannten, im kühlen Meer löschen. Ich wusste nicht, wie ich mich an meinen veränderten Körper gewöhnen sollte. Ich sah nur das, was ich verloren hatte, weiter reichte mein Blick nicht.

An diesem trüben Apriltag bleibt der Glimmer von West Sandwick im Sand verborgen, weil die Sonne fehlt. Vor der Küste tauchen ab und zu die Felseninseln der Ramna Stacks, die »Brandungspfeiler des Raben«, in den vorüberziehenden Schauern auf und verschwinden wieder. Ein Tanker ist in Richtung Süden zum Ölterminal von Sullom Voe unterwegs.