Die Surrealistin - Michaela Carter - E-Book + Hörbuch

Die Surrealistin Hörbuch

Michaela Carter

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Beschreibung

Ein packender Roman über eine der wichtigsten Vertreterinnen des Surrealismus 1937. Als die junge Engländerin Leonora Carrington den berühmten Surrealisten Max Ernst kennenlernt, ist er ein verheirateter Mann. Er führt sie in die Pariser Künstlerszene um Salvador Dalì und Pablo Picasso ein, und bald wird aus der leidenschaftlichen Affäre eine Liebesbeziehung. Das Paar zieht nach Südfrankreich, wo Carrington sich der Malerei verschreibt. Doch dann bricht der 2. Weltkrieg aus, Max Ernst wird von den Franzosen inhaftiert. Jahre später findet er ihr gemeinsames Haus leer vor. Er macht sich auf die Suche nach ihr. Doch Leonora hat mittlerweile begonnen, sich als Frau und Künstlerin zu emanzipieren. Auch von Max Ernst.

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Zeit:15 Std. 45 min

Sprecher:Cathrin Störmer

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Michaela Carter

Die Surrealistin

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus und Katharina Naumann

 

Über dieses Buch

BRAVE FRAUEN SCHREIBEN SELTEN GESCHICHTE.

 

1937. Als die junge Engländerin Leonora Carrington den berühmten Surrealisten Max Ernst kennenlernt, ist er ein verheirateter Mann. Er führt sie in die Pariser Künstlerszene um Salvador Dalí und Pablo Picasso ein, und bald wird aus der leidenschaftlichen Affäre eine Liebesbeziehung. Das Paar zieht nach Südfrankreich, wo Carrington sich der Malerei verschreibt.

Doch dann bricht der Zweite Weltkrieg aus, und die beiden werden auseinandergerissen. Verzweifelt macht Max sich auf die Suche nach ihr. Doch Leonora hat mittlerweile begonnen, sich als Frau und Künstlerin zu emanzipieren. Auch von Max Ernst.

 

«Ein sehr interessantes Buch.» NDR

 

«Unbedingt entdecken!» Emotion

 

«Nicht nur ein interessanter Ausschnitt aus der Biografie einer außergewöhnlichen Künstlerin, sondern auch ein Appell für die Gleichberechtigung von Frau und Mann in der Kunst.» kultura-extra.de

 

«Michaela Carters Roman […] zeichnet auf spannende Weise die Lebensgeschichte der vielseitigen Künstlerin Leonora Carrington nach.» Buch Aktuell «Erlesen»

Vita

Michaela Carter ist eine preisgekrönte Autorin. Sie studierte Theaterwissenschaften und Creative Writing an der Universität von Kalifornien. Sie ist Mitbegründerin einer Buchhandlung in Prescott Arizona, wo sie gemeinsam mit ihren Kindern lebt. Michaela Carter lehrt zur Zeit Creative Writing am Yavapai College.

 

Silke Jellinghaus, geboren 1975, ist Lektorin und Übersetzerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

 

Katharina Naumann ist Autorin, Lektorin und Übersetzerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Loplop stellt die Windsbraut vor

 

Auf der Schwelle des einzigen, aber überwältigend großen Hauses einer aus Donnerstein errichteten Stadt liegend, halten sich zwei Nachtigallen eng umschlungen. Das Schweigen der Sonne waltet über ihrem Treiben. Die Sonne streift ihren schwarzen Rock und ihre weiße Bluse ab. Man sieht sie nicht mehr. Mit lautem Getöse bricht auf einmal die Nacht herein.

 

Max Ernst, Vorwort zu «Das Haus der Angst» von Leonora Carrington

 

 

Das Mädchen, das das Aussehen eines Pferdes angenommen hatte, rührte sich nicht, doch seine Nüstern bebten.

 

Leonora Carrington, Die ovale Dame

November 1997, New York City, Brewster Arts Gallery

Bei der ersten Gesprächspause strebt die Künstlerin in Richtung Tür. Sie hört jemanden ihren Namen rufen, aber sie möchte eine Zigarette, und sie läuft, so schnell ihr achtzigjähriger Körper es ihr erlaubt, weiter durch die überfüllte Galerie. Sie versteckt sich hinter einer Säule – um eine Pause zu machen, um Atem zu holen – und geht weiter. Ihre Hüften und Knie und Füße schmerzen von all dem Herumstehen. Sie hat Ausstellungseröffnungen noch nie gemocht, die Blicke des Publikums, die auf ihr ruhen, als sei sie Teil der Schau. Wenn sie nur unsichtbar sein könnte, dann würde es ihr vielleicht nichts ausmachen. Sie gibt sich Mühe, nicht weiter auf die Leute zu achten, die sie in Augenschein nehmen und Hypothesen aufstellen. Auch ihre Gemälde will sie nicht ansehen – die gegen sie in Stellung gebrachten Beweismittel, sozusagen. Die Schau ist eine Retrospektive, die gesamte Galerie ist mit ihrer Kunst gefüllt. Mit sechzig Jahren ihres Lebens. Natürlich kennt sie jeden Zentimeter einer jeden Leinwand so genau, als wären es Erweiterungen ihres eigenen Körpers. Die Hyäne und das Pferd; das Labyrinth, der Minotaurus, das Ei und der Kohlkopf, die weiße, alchemistische Rose; Geister, Hexen, ein spiralförmiger Tanz. Ihre Menagerie aus Hybriden, den Bestien, die sie gekannt und geliebt hat. So viele ihrer Visionen sind hier ausgestellt – es ist ein bisschen, als habe sie vergessen, ihre eigene Haut überzuziehen. Sehnen, Knochen, Herz und Venen, vor aller Augen ausgebreitet.

Als sie die Tür aufstößt und den frischen Windstoß von draußen einatmet, steht sie einer jungen Frau gegenüber, die Stift und Notizbuch in der Hand hält. «Ms. Carrington!», sagt die Frau und lächelt strahlend. Richtig, sie hat für ein Interview zugesagt. Und es ist ein Mann dabei, mit Kamera über der Schulter. Ein weiteres Foto. «Könnten wir anfangen?», fragt die Reporterin. Leonora folgt ihr wieder hinein. «Wie wäre es, wenn wir uns hier aufstellen, vor Sidhe, das Weiße Volk von Tuátha de Danann?» Die Frau spricht es korrekt aus. Sie hat ihre Hausaufgaben gemacht.

Als Leonora sich dem Bild der goldenen Küche von vor über vierzig Jahren nähert, schaut der Bulle mit diesem wissenden Funkeln in den Augen direkt in sie hinein, so, wie er es immer getan hat. Dann steht sie vor der offenen Tür neben dem Rahmen des Gemäldes, neben den glatzköpfigen, leuchtenden Wesen, die sich über Suppe und Yamswurzeln hermachen. Leonora wendet den Blick ab, sieht hinaus durch die Glasfront der Galerie, wo auf dem Gehweg ein Paar stehen geblieben ist. Sie beobachtet, wie die Frau in ihrem dunklen Mantel sich auf die Zehenspitzen stellt und der weißhaarige Mann den Kopf beugt, um sie zu küssen. Ein Blitz. Der Fotograf schießt sein Foto. Für einen Augenblick hat Leonora das Gefühl, in ihrem Gemälde zu sein, zurück in dieser anderen Welt. Ein weiterer Blitz, und sie erspäht in dem spiegelnden Fenster eine geisterhafte Gestalt, die durch die gegenüberliegende Wand der Galerie verschwindet. Schwindel überkommt Leonora, und sie richtet sich gerade auf, so gut sie kann, und presst die Füße in den Boden. Den größten Teil ihres Lebens hat sie dieses eigenartige Land nach ihren eigenen Maßgaben betreten, hat es sich durch ihre Gemälde zu eigen gemacht, und dennoch überrumpelt es sie immer noch gelegentlich.

«Könnten wir uns setzen?», fragt die Frau und führt sie zu einem kleinen Ledersofa.

«Ich habe nicht viel Zeit», sagt Leonora. Für gewöhnlich verabscheut sie Interviews, all die Fragen, die sie festnageln wollen, und gleichzeitig zu wissen, dass sie abgedruckt werden wird – nicht sie, sondern wie der Interviewer sie sieht. Wenngleich es sich, das muss Leonora zugeben, herrlich anfühlt, ihre Füße zu entlasten.

«Ihre Kunst ist so greifbar und dennoch geheimnisvoll. Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?»

«Darüber spreche ich nicht.» Leonora blickt aus dem Fenster, aber das Paar ist weitergegangen.

«Dieses Gemälde zum Beispiel. Die Sidhe waren ein irisches Volk, ein Feenvolk, nicht wahr? Ich habe gelesen, dass Ihre Mutter und Ihre Nanny Ihnen Geschichten darüber erzählt haben.»

«Ja. Meine Großmutter hat meiner Mutter erzählt, dass wir von ihnen abstammen.»

«Womit jongliert dieser eine da? Mit Monden?» Die Reporterin zeigt auf die leuchtenden Himmelskörper in dem Gemälde. «Warum hat dieser andere ein Spinnennetz?» Die Frage hängt in der Luft. Es ist nicht so, dass Leonora nicht antworten möchte – sie kann nicht. Sie konnte die Dinge, die sie sieht, noch nie erklären. Sie seufzt, denkt an die Zigarette. Die Frau fährt fort. «In Ihrer ersten großen Arbeit, dem Selbstporträt, ist auf dem Boden etwas Verwischtes zu erkennen. Haben Sie dort etwas gemalt und es dann entfernt?» Leonora bleibt stumm. Die Reporterin verlagert ihre Position auf dem Kissen, blättert eine Seite in ihrem Notizbuch um. «Oder Die Riesin? Ich bin hingerissen davon, dass ihr Haar ein Weizenfeld ist. Ist die Figur an Demeter angelehnt? Oder vielleicht an die altnordische Göttin Sif?»

Leonora greift in ihre Manteltasche. Sie zieht die weiche Packung Vantage heraus und fingert vorsichtig nach einer Zigarette, als hielte sie ein rohes Ei in der Hand. «Ich spreche nicht über meine Kunst. Gemälde sind dazu da, Unsagbares auszudrücken.» Die Frau errötet. Sie beugt sich über ihr Notizbuch und schreibt schnell. Armes Mädchen. Es kann nicht leicht für sie sein. Leonora steht auf, benutzt dabei die Armlehne als Stütze. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern. «Kommen Sie», sagt sie. «Lassen Sie uns frische Luft schnappen.»

Draußen geht ein starker Wind. Leonora bindet sich den Gürtel ihres langen Mantels um, schließt dann den Knopf unter dem Kinn. Sie atmet die kalte Luft ein und riecht die beißenden Abgase des vorüberfahrenden Lasters. Dann zündet sie sich eine Zigarette an und atmet aus. Schon besser. Sie bietet der Reporterin ebenfalls eine an. Die Frau nimmt mit einem Lächeln an. Ein Waffenstillstand, denkt Leonora und wünscht sich, sie könnte all dies mehr genießen. Sie hat ihr ganzes Leben darauf hingearbeitet, aber sie konnte sich an die Aufmerksamkeit nie gewöhnen, an den Gedanken, dass das, was aus ihrem Mund kommt, irgendwie bemerkenswert ist. Aber die Frau hält ihren Stift und ihren Block in der Hand, und ihre Finger sind von der Kälte gerötet. Leonora tritt einen Schritt näher auf die Reporterin zu, damit sie leise sprechen kann und die Frau sie trotzdem hört. «Gibt es noch irgendetwas, das Sie erfahren wollen?»

«Verstehen Sie sich als Surrealistin?»

Leonora stockt bei dem Wort, das sie ihre gesamte Karriere als Künstlerin hindurch so treu verfolgt hat wie ein Hund, als könnte man sie in einem Wort zusammenfassen. «Als Teil der Altherrenriege?» Leonora lacht. «Frauen konnten nicht beitreten, wissen Sie. Nicht offiziell. Aber die Wahrheit ist, ich verstehe mich selbst als überhaupt nichts.» Sie lehnt sich gegen die Fensterscheibe der Kunstgalerie und gibt sich Mühe, das zu erklären. «Egos sind gefährlich, zerbrechlich; zu groß, das ist nicht gut für sie. Wie Humpty Dumpty, nicht wahr?»

Die Reporterin nickt, schreibt und stellt die nächste Frage auf ihrer Liste. «Haben Sie als weibliche Künstlerin das Gefühl, dass Ihre Arbeit die Anerkennung gefunden hat, die sie verdient?»

Leonora denkt an die Männer. Dalí, Miró, Picasso, und an die enormen Summen, die ihre Gemälde noch vor ihrem Tod erzielt haben. Sie denkt daran, mit welcher Genügsamkeit sie selbst ihr Leben gelebt, sich von Bohnen, Reis und den billigsten Stücken Fleisch ernährt hat. Sie gluckst, hustet und holt tief Luft. Es hat keinen Zweck, verbittert zu sein. «Weibliche Kunst wird für einen Bruchteil dessen verkauft, was männliche Kunstwerke erzielen, und Frauen brauchen zweimal so lang, um sich einen Namen zu machen. Ich bin eine der Glücklichen. Ich bin alt. Ich habe lang genug gelebt, um noch mitzubekommen, dass die Welt wenigstens beginnt, uns wahrzunehmen – als Künstlerinnen, meine ich, nicht als Inspiration für Kunst, diese fürchterliche Vorstellung von einer Muse.»

«Und Paris? Wie war es in den dreißiger Jahren? Sie waren zwanzig?»

«Zwanzig, einundzwanzig.» Leonora nimmt einen Zug von ihrer Zigarette. Auf einer Nikotinwelle schwebend erinnert sie sich an ihre Wohnung in der Rue Jacob, an das weiße Schaukelpferd im Wohnzimmer, ihre Staffelei vor dem Fenster. «Paris bedeutete Freiheit», sagt sie und denkt an das Café de Flore und die Künstler – Leonor, Lee, Man und die Éluards, Duchamp, Breton, Picasso, und vor allem Max.

«Max Ernst war Ihr Liebhaber?» Die Frau grinst, als habe sie etwas in Leonoras Gesicht gelesen, irgendeine unerklärliche Veränderung in ihren Gesichtszügen bemerkt. Sie scheint zu glauben, sie sei die Erste, die den Mut aufbringt zu fragen, aber Leonora wird niemals interviewt, ohne dass man sich bei ihr nach ihm erkundigt – dem großen Mann –, als wäre sie nichts anderes als eine weitere Galatea. «Wie war das, mit ihm zusammen zu sein?»

Während Leonora auf das schmale Stück Himmel blickt, an dem ein einzelner Stern durch den Lichtdunst der Stadt hindurch sichtbar bleibt, ertappt sie sich dabei, wie sie an das morgendliche Kirchengeläut von Paris denkt und daran, wie sie ihn, wenn die Glocken sie weckten, enger an sich zog, wie die Wärme seines Körpers sie wieder in den Schlaf sinken ließ. «Es war perfekt», erwidert sie zu ihrer eigenen Überraschung.

«Leidenschaftlich?»

Leonora kann sich eines Schmunzelns nicht erwehren. «Das Thema werden wir nicht anschneiden.»

Teil IZwei Kinder werden von einer Nachtigall bedroht

Leonora, Juni 1937, London

Es war Leonoras erste Dinnerparty als erwachsene Frau, und ihre Freundin Ursula und sie waren die Gastgeberinnen. Der Garten gehörte Ursula, aber die Party war Leonoras Idee – eine vom Vollmond erleuchtete Gartenparty mit weißen Speisen und Kleidern, weil das Mondlicht danach verlangte und weil Max Ernst gerade in der Stadt war und beschlossen hatte zu kommen.

Sie hatte vor einem Jahr Werke von ihm gesehen, im Rahmen der Internationalen Surrealistischen Ausstellung, die in London gezeigt worden war. Neben Hans Bellmers zerrissener, lebensgroßer Puppe, bei deren Anblick Leonora speiübel wurde, hatte Max eine Assemblage ausgestellt – den in Gips modellierten Kopf eines Mädchens, der wie ein Jojo an einer Schnur befestigt war. Leonora hatte das Objekt sofort erfasst. Sie war dieses Spielzeug gewesen, das auf und ab baumelnd von jemandem manipuliert worden war, der die Schnur, das Geld und die Macht in Händen hielt. Zeit, die Schnur zu zerschneiden, hatte sie gedacht. Dann hatte sie Max Ernsts Gemälde Zwei Kinder werden von einer Nachtigall bedroht angeschaut. Es sprach zu ihr in einer Sprache, die sie verstand, vielleicht immer verstanden hatte, auch wenn sie nie in der Lage gewesen war, sich in ihr auszudrücken. Das Bild stellte den Höhepunkt einer unheimlichen Geschichte dar, ein Mädchen bewusstlos auf einem smaragdgrünen Rasen und ein zweites mit einem Messer in der Hand, die heimtückische Nachtigall gerade außerhalb ihrer Reichweite. Das auffälligste Merkmal des Gemäldes war der Rahmen, der in Leonora das unwiderstehliche Verlangen auslöste, ihn zu berühren. Sie fuhr mit der Fingerspitze über den Knauf, den der Künstler daran befestigt hatte und der den Bilderrahmen zu einer Tür werden ließ. Teil der Szene war ein Mann, er rannte auf einem Hausdach entlang und streckte die Hand nach dem Knauf aus – als wollte er die Tür öffnen und das Gemälde verlassen. Der Mann trug ein Mädchen auf den Armen. Aber würde er sie retten können?, überlegte Leonora und spürte, wie ihre Haut von innen nach außen brannte.

Und nun sah sie durch das Küchenfenster Max und Lee Miller und Roland Penrose am Tisch auf der Backsteinterrasse ihrer Freundin sitzen, unter einem Jasminspalier, an dem sich ein paar sternenweiße Blüten geöffnet hatten. Sie waren unglaublich interessant, die Surrealisten – sie beschäftigten sich nicht mit Kunst, sie lebten sie. Lee lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, die langen Beine an den Knöcheln überschlagen, barfuß. Sie blies Zigarettenrauch in den Himmel und reichte die Kippe dann an Roland weiter, der einen langen, lässigen Zug nahm. Max sprach gerade, seine Hände waren überall zugleich. Die Tatsache, dass er hier war, schien Leonora unfasslich, und doch leuchtete es ihr ein. Ihre Freundin Ursula war schließlich mit Erno verheiratet, einem Architekten, der wiederum zufällig mit Roland befreundet war, dessen Londoner Galerie eine Ausstellung mit Max’ Werken zeigte. Aber Leonora glaubte nicht an Zufälle. Der Grund, weshalb Max hier saß, war ganz einfach und nicht von der Hand zu weisen. Ihre Liebe zu seiner Kunst hatte irgendwie den Mann selbst angezogen.

Auf einem weiß-blauen Porzellanteller richtete Leonora die Shortbread-Kekse an, die sie und Ursula gebacken hatten. Sie füllte Zitronensorbet in eine Schüssel und stibitzte dabei einen Löffel. Sie lächelte. Gerade die richtige Menge Zucker, um die Zitronensäure auszubalancieren. Sie probierte einen Keks. Er war nach dem Rezept ihrer irischen Großmutter zubereitet, buttrig und krümelig, genau so, wie er sein sollte. Leonora steckte sich auch den Rest in den Mund. In ihrer winzigen Wohnung lebte sie von Eiern, mehr konnte sie sich als Kunststudentin nicht leisten, und daher war Ursula die kulinarische Gönnerin dieses Abends.

Ursula war einmal Miss Blackwell von Cross und Blackwell gewesen, den Marmeladenherstellern. Sie beide stammten aus wohlhabenden Familien. Was den entscheidenden Unterschied in ihren Lebensumständen ausmachte, war die Tatsache, dass Mr. Blackwell seine Tochter in ihren künstlerischen Bestrebungen unterstützte und ihr erlaubte, nach eigenem Belieben zu heiraten, wohingegen Mr. Carrington nur genau so viel Geld herausrückte, wie Leonora benötigte, um wie eine arme Schluckerin zu leben. Seiner Ansicht nach waren Künstler genau das – arme Schlucker, Bettler und Zigeuner, und je früher Leonora das begriff, desto besser. Sie hatte darum gekämpft, nach London zu kommen. Ihr Vater glaubte nicht, dass sie es ohne seine Unterstützung schaffen würde, das wusste sie. Er ging davon aus, dass Leonora nach Hause zurückkehren, sich vorteilhaft verheiraten und der Familie den Titel bescheren würde, den sein Geld allein nicht zu kaufen vermochte. Leonora konnte sich kein schlimmeres Schicksal vorstellen.

In diesem Moment lachte Max, seine Augenwinkel explodierten in Strahlen. Er warf den Kopf in den Nacken, sein weißes Haar schien von Licht erfüllt. Da klatschte etwas gegen die Fensterscheibe vor ihr, und Leonora zuckte zusammen. Sie wischte sich die Krümel von den Lippen und rannte nach draußen, wo sie einen Vogel fand, der mit geschlossenen Augen auf der Seite lag. «Ich hole eine Kehrschaufel», sagte Ursula. Ohne nachzudenken, legte Leonora den Vogel auf ihre Handfläche. Sie verabscheute es, die Tiere sterben zu sehen, wenn sie mit voller Geschwindigkeit gegen ein Fenster flogen. Ein Tod durch Spiegelung, durch Illusion. Sie berührte die weiche orangefarbene Brust des Vogels. Es war ein Rotkehlchen, und es war noch warm. Zu Hause auf dem Land in Lancashire, wo sie aufgewachsen war, hatten viele von ihnen gebrütet, aber seit sie vor einem Jahr nach London gezogen war, hatte sie keine Rotkehlchen mehr entdeckt. Und wieso war das Tier in der Dämmerung herumgeflogen? Plötzlich spürte sie jemanden neben sich. Max streckte die Hand aus und streichelte den Flügel des Vogels. Leonora merkte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten wie bei einem Gewitter. Max’ Nähe war bestürzend. Nichts dergleichen hatte sie jemals zuvor erlebt. Sie sahen einander an. War es eine Art Wiedererkennen? Spürte er sie auch, diese unmittelbare Anziehung? Es war, als habe sie ihn schon immer gekannt.

Ursula kehrte mit einem Besen und einer Kehrschaufel zurück. «Du solltest tote Vögel nicht anfassen.»

«Er ist nicht tot», sagte Leonora und erkannte die Energie, die um das Tier herum pulsierte, die Kraft des Möglichen.

Das Rotkehlchen öffnete seine Augen, schwarz und glänzend. Sie setzte es in einen Jasmintopf, und alle sahen zu, wie es seine Federn aufplusterte und in den Park unter ihnen segelte.

Leonora und Ursula trugen die Servierschüsseln hinaus zu dem Terrassentisch, der mit seiner langen weißen Tischdecke im Dunkeln zu schweben schien. Als Ursula die Schüssel mit dem Steckrüben- und Kartoffelpüree vor Max absetzte, kicherte sie. Leonora war ebenfalls ganz schwummrig zumute, aber sie würde keinesfalls lachen. Sie trug das Herrenoberhemd, das sie gern zum Malen anzog, in eine graue Hose gesteckt, zusammen mit bequemen Slippern. Sie verdrängte jeden Schwindel aus ihrem Kopf und bemühte sich, ihre Stimme zu senken. «Ich hoffe sehr, ihr mögt alle Heilbutt.» Sie setzte den gedämpften Fisch vor Lee ab, deren seidenes Sommerkleid sich um ihre kleinen Brüste und Hüften schmiegte, als sei sie gerade den Seiten der Vogue entstiegen, des Magazins, für das sie modelte. Kühl und glänzend, nahm Lee einen Schluck von ihrem Drink, irgendetwas Bräunlichem. Eis klirrte in ihrem Glas, und Ursula nahm es mit in die Küche, um es wieder aufzufüllen.

Sie hatte Leonora alles über Lee erzählt, die angeblich die berühmtesten Brüste von Paris hatte. Aus den Vereinigten Staaten in die Stadt gekommen, um von Man Ray zu lernen, hatte Lee als seine Muse Berühmtheit erlangt. Sie fühlte sich hinter der Kamera genauso wohl wie davor und nahm bald auch einen Platz in der Dunkelkammer ein, sodass niemand mehr ihre von Mans Bildern unterscheiden konnte. Irgendwann brach sie ihm das Herz, ging nach New York und eröffnete ihr eigenes Porträtstudio. Doch nach ein paar Jahren ließ sie wieder alles stehen und liegen und zog nach Ägypten, um einen reichen Mann zu heiraten, dessen Ring noch immer an ihrem Finger glitzerte, obwohl sie mit nassen Lippen und ihrem ganzen Mund Roland küsste. Lee war zehn Jahre älter als Leonora und wirkte so selbstbewusst und frei, ganz Herrin ihres Schicksals. Leonora hatte noch nie zuvor eine Frau wie sie getroffen und konnte nicht aufhören, sie zu betrachten. Als Lee mit unbewegten, blassen Augen zurückblickte, erstarrte Leonora, als hätte man sie bei etwas ertappt. Lees Blick war herausfordernd, aber zugleich voll reiner, natürlicher Neugierde.

Als Lee in ein Radieschen biss, studierte Leonora ihren Mund – dünn, elegant, wie alles an ihr. Man Ray hatte sie gut eingefangen. Leonora hatte in der Ausstellung auch seine Gemälde gesehen. Lees Lippen, riesig, die über einen blauen, wolkengetupften Himmel flogen. «Nachdem sie ihn verlassen hatte, verbrachte Man den Großteil eines Jahres damit, das zu malen», hatte Ursula ihr erzählt.

Wie herrlich es sich anfühlen muss, so geliebt zu werden, dachte Leonora.

Gegenüber von Lee saß Man und trank sein Bier. Leonora fiel ein, was Ursula am Morgen gesagt hatte: «Er hat eine Frau. Natürlich nimmt er sich auch Geliebte. Das tun alle Surrealisten.» Leonora spürte seinen Blick auf sich ruhen und merkte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. «Wollen Sie sich nicht setzen, Miss Carrington?», fragte Max und zog den Stuhl neben sich heraus. Sie warf ihm ein Lächeln zu und setzte sich. Flirtete er?

Der Tisch erzitterte, und sie schreckte auf. Ursulas Mann Erno schlug mit der Faust auf die Tischplatte wie mit einem Auktionshammer, genau so, wie es Leonoras Vater immer tat. Ernos Stimme war voller Empathie, sein ungarischer Akzent deutlich vernehmbar. «Wir haben jeden Grund, Hitler jetzt zu stürzen, mein Freund. Als er das Rheinland besetzte, hat er den Versailler Vertrag gebrochen. Er will Rache. Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass er es dabei belassen wird.»

Er sprach mit Roland, doch Lee zeigte mit ihren großen, starken und ausdrucksvollen Händen wieder auf ihn. «Und wenn Hitler einen Krieg anfängt, werden ein paar phantastische Fotos dabei herausspringen, nicht wahr? Rauch sorgt für Atmosphäre.»

Erno blinzelte sie an und schmatzte mit seinen trockenen Lippen. Roland legte Lee die Hände auf die Wangen und küsste sie. «Die erste weibliche Kriegsfotografin, bei Gott!»

«Genug von Krieg», sagte Max. «Wir haben gerade Sommer, und das sollte für alle ausreichen.»

«Ist ja gut, Loplop!» Roland erhob sein Glas. Loplop, der Vogelobere. Der Spitzname war Leonora schon in der Ausstellung aufgefallen. Ein plumper Name.

Ursula reichte Lee ihren Drink und Leonora eine Flasche Bier. «Wollen wir anstoßen?», fragte sie. Ihr Grinsen, das wie der Rest von ihr überschwänglich war und gewitzt im besten Sinne, holte Leonora von einem Punkt tief in ihrem Inneren hervor, dem Ort, an den sie sich zurückzog, wenn vom bevorstehenden Krieg die Rede war. Hier saß sie an einem mondbeschienenen Tisch. Hier neben ihr lächelte Max Ernst. Als sie an ihm vorbei nach dem Flaschenöffner griff, machte ihr Herz einen Hüpfer, wie flache Steine auf dem Wasser, und sandte, da war sie sich sicher, kleine Wellen in jede Richtung aus. Ihr Kopf fühlte sich leicht an. Sie bemühte sich um eine feste Hand und öffnete den Flaschendeckel.

Ihr Bier schäumte, quoll über, und Leonora geriet in Panik. Der Tisch hatte perfekt ausgesehen! Wieso war sie es immer, die alles ins Chaos stürzte? Bevor sie die Flasche von sich halten konnte, verschloss Max sie mit seinem Daumen. Die unvermittelte Bewegung überraschte Leonora. Sie hielt den Atem an. Ein elektrisches Summen kroch ihren Rücken hinauf. Auf diese Weise geschieht es, dachte sie. Seine Augen waren wie Eis, ein kaltes, klares Feuer. «Damit es nicht auf den Tisch tropft», sagte er. Der Schaum zischte in der Flasche. Roland und Lee, die so eng aneinandergepresst saßen, dass sie wie ein Körper mit zwei Köpfen wirkten, die lachende Ursula, Erno mit seinem noch immer roten Gesicht – die anderen Partygäste wurden zur Szenerie. Es gab nur noch sie beide. Leonora wollte den Moment festhalten, in dem vergeblichen Versuch, Max mit einem Funken Objektivität zu betrachten. Sein braunes Gesicht, die sehnigen Arme und Beine, die von seinen Augenwinkeln aus explodierenden Fältchen, die Augen von einem Blau, in dem Leonora sich einen klaren, verlassenen Himmel vorstellte. Es war zu spät. Sie hielt den unteren Teil der Bierflasche fest und er den oberen. Es war, als arbeiteten sie zusammen.

«Das Essen wird kalt», sagte Lee. «Lasst uns anfangen.»

«Aber zuerst den Trinkspruch!», wandte Max ein.

Der Mond spähte über die Häuserreihe und brachte den Tisch, das Essen und sie alle in ihren weißen Kleidern zum Leuchten. Maxens Haar glänzte auf, und Leonoras Augen wurden feucht.

Irgendetwas in ihr hatte nachgegeben, ein Dammbruch. Er nahm seinen Daumen von der Bierflasche, hörte jedoch nicht auf, sie anzusehen.

«Auf die Zukunft!», sagte er und stieß seine Flasche gegen ihre.

«Auf die Zukunft!», pflichtete die Tischgesellschaft ihm bei, stieß an und trank.

Hatte sie ihn verführt, oder hatte er sie verführt? Leonora war sich nicht sicher. Sie wusste nur, dass ihr Leben nie wieder so sein würde wie vorher. Schon jetzt spürte sie, wie sein Blick sie schärfte, sie durch sein ungestümes Verlangen definierte. Es war wie eine Art Beschleunigung, als sei ein Teil von ihr erwacht, der bislang geschlafen hatte. Sie nippte an ihrem Bier, löffelte sich das weiche, weiße Wurzelgemüse auf den Teller. Weitere Jasminblüten hatten sich der Nacht geöffnet und dufteten so stark, dass die Kartoffeln und Steckrüben, selbst der Fisch nach Jasmin schmeckte. Aber die Öffnung ihrer Flasche war salzig. Sie schmeckte nach Max’ Daumen.

Max, Juni 1940, Südfrankreich

Ruckartig fährt der Zug an.

Wie lange hat man sie aufgehalten?

Noch immer herrscht Nacht, schwarz und kalt und still. Und irgendwie ist Max noch immer an der Reihe. Es gibt nicht für alle Männer einen Platz zum Sitzen, geschweige denn einen Platz, wo sie sich zum Schlafen niederlegen könnten, und so haben sie einen wechselnden Turnus vereinbart. Die Hälfte der Männer in dem Viehwaggon sitzt für zwei Stunden, die andere Hälfte steht, dann wechseln sie. Sie stehen und sitzen und stehen, bis die Nacht vorüber ist. Und immer noch ist er hier, belegt einen wertvollen Platz auf dem Boden und träumt.

Er hat geträumt! Keinen dieser Albträume, wie Max sie seit dem Ersten Weltkrieg hat, sondern einen Kindheitstraum. Einen von der Sorte, in der man schwebt und über dunkle Wälder fliegt, ein Traum mit einer Heldin und einem Helden. Er ist noch immer da, kitzelt Max mit seinen sich auflösenden Fingern im Nacken. Leonoras Stimme ruft ihn. Er will ihr sagen, dass sie bleiben soll, wo sie ist – er wird zu ihr kommen, irgendwie –, aber seine Lippen sind zu taub, um Worte zu formen. Seine Lunge ist ein Sack voll nassem Sand. Er will den Traum einfangen! Zurückkehren!

Er zittert und schmiegt sich enger in seinen dünnen, feuchten Mantel. Regen tropft durch die Bretter des Dachs auf seinen Kopf. Max schlägt den Mantelkragen hoch, zieht den Kopf ein, legt die Hände an die Wangen, stützt die Ellenbogen auf die Knie und schließt die Augen. Wenn sein Leben ein Albtraum ist, darf er da nicht von anderem träumen? Wenn er sich zurückfallen lassen kann in den Strudel der Geschichte, die sie ihm gerade erzählt hat mit ihrer Stimme, die so warm und endlos war wie ihr Haar, dann kann er es vielleicht aushalten, eine weitere Stunde ohne Wasser und ohne Essen, und dann noch eine.

Er ist schon seit Tagen in diesem Zug. Zwei? Drei? Er ist sich nicht sicher. Sein Gehirn funktioniert nicht richtig, aber nichts funktioniert mehr richtig.

«Gott meiner Väter, Gott meiner Väter, Gott meiner Väter», erschallt die Stimme eines Mannes über die weiten Felder und in den Wald hinein, in dem er geht, in dem er ihre Hand hält.

«Möge Gott dir das Maul stopfen, du alter Esel», knurrt jemand, und jetzt ist Max wach. Der frische Gestank erreicht ihn als Erstes. Der Eimer befindet sich irgendwo in der Gruppe von Männern. Max wird gegen die Holzwand des Waggons gedrückt, so weit von dem Eimer entfernt wie nur möglich, und trotzdem ist der Gestank unerträglich. Nein. Nicht unerträglich, ermahnt er sich und vergräbt die Nase noch tiefer in seinem Mantel. Wenigstens gehört er nicht zu den armen Tröpfen mit der Ruhr, er muss sich nicht an den Metalleimer klammern, um sich inmitten dieses nasskalten Haufens zu erleichtern.

Der Mann hinter ihm versetzt ihm einen Klaps auf die Schulter. Seine Zeit ist abgelaufen. Jetzt ist Max an der Reihe zu stehen. Er kippt nach vorne und kommt auf die schmerzenden Füße.

Im Halbschlaf nass und erschöpft in der Dunkelheit zu stehen, ist eine Tortur. Er hat es nicht für möglich gehalten, dass das Leben noch schlimmer werden könnte als im Camp des Milles, wo er auf etwas Heu in einem ehemaligen Ziegelbrennofen schlafen musste und sich seine Kehle beim Aufwachen anfühlte, als sei sie aus Papier. Seine Lippen waren geborsten wie Brotrinde, denn die Ziegel hatten seinem Körper jegliche Feuchtigkeit entzogen. Doch nun wäre es ein solcher Luxus, sich flach auszustrecken, dass Max es nicht ertragen kann, auch nur daran zu denken.

Wann kommt der Tag, das Licht?

Er schwankt zusammen mit den anderen Männern im Rhythmus des Zuges. «Was würdet ihr für ein warmes Getränk geben?» Das ist sein Freund, der Künstler Hans Bellmer, der neben ihm schwankt. «Für eine Tasse Rinderbrühe?»

Max hustet, um seine Stimme zu finden, ein raues Flüstern. «Wie kannst du nur an Essen denken?»

«Nicht Essen. Wärme, Brühe, Mark.» In der tropfenden Dunkelheit klingt sein Freund voll, satt, als hätten die Worte genügend Gewicht, um ihm Kraft zu geben. Hans hätte auch Dichter werden können.

«Wann können wir diese Türen öffnen? Ich brauche Luft!», ruft ein Mann.

«Genug!», schnauzt einer der algerischen Wachmänner. Tagsüber sind die Wachleute einigermaßen freundlich, aber nachts werden sie so reizbar wie alle anderen. Und die Türen zu öffnen hieße, dass sie sichtbar werden würden. Wenn sie an einer motorisierten Kolonne der Nazis vorüberkämen, könnten sie sich nicht verstecken.

«Dieser Zug», murmelt Hans, «ist ein Geisterzug. Wir sind Geister in einem Geisterzug.»

Max nickt und spürt, wie ihm die Augen wieder zufallen. Unmöglich, im Stehen zu schlafen. Aber er kann sich an den Traum erinnern. Er spürt ihn um sich herum. Den Wald. Und wie Leonora sagte, dass sie ihn finden wird. Nur wie kann sie ihn finden, wenn er selbst nicht weiß, wo er ist?

Als der Zug aus dem Lager in der Provence abfuhr, hatten sie gehört, die Nazis kämen von Norden, die Italiener von Osten. Und so waren sie nach Westen gefahren – niemand schien zu wissen, wohin. Selbst der Lokführer behauptete, auf weitere Anweisungen zu warten. Andererseits war ganz Frankreich im Chaos versunken, alle flohen an die spanische Grenze. Max hätte während des Einsteigens und Beladens eine Möglichkeit finden müssen, sich davonzumachen. Er hätte weglaufen sollen. Vom Camp des Milles in Aix-en-Provence aus wäre er näher an Saint-Martin d’Ardèche gewesen, näher an zu Hause. Näher bei ihr. Es sei denn, die Nazis waren bereits dorthin vorgedrungen, in dem Fall wäre sie nicht mehr da. Was bedeuten würde, dass sie auf der Flucht wäre. Sie könnte überall sein.

Durch einen Spalt in der Holztür erblickt er einen schwachen Schimmer. Die Wiederkehr der Sonne nach einer solchen Nacht ist etwas unglaublich Schönes. Ein Wunder.

Max späht durch die Ritze. Die Felder sind verschwommen, dunkles Gelb, dunkles Grün.

Zusammen mit dem Regen sickert spärliches Licht durch die Dachbretter. Max mustert die Männer, die hier und da davon erleuchtet werden. Sie sind in graue Lumpen gekleidet, versetzt mit Teilen von Uniformen französischer Soldaten, sie tragen grüne Mützen und Mäntel, Sachen, die sie auf dem Schwarzmarkt erstanden haben in der Hoffnung, dass sie damit bei einem Fluchtversuch in der Menge untergehen. Aber wie sollten sie fliehen? Sie sind zerbrochene Marionetten aus Asche und Schatten, aus Knochen und loser Haut, und ihre Fäden sind verwickelt und nutzlos.

Boches nennen die Franzosen sie. Deutsche. Da spielt es keine Rolle, dass diese Deutschen ebenfalls von den Nazis verfolgt werden. Schriftsteller, Künstler, Juden. Die Geister im Geisterzug waren einmal Menschen – Menschen, die aus Deutschland geflohen sind, als die Nazis die Macht übernahmen, die legal oder illegal die Grenze nach Frankreich überquert haben, in die Freiheit. Natürlich sind einige, wie er selbst, lange vor der Machtergreifung der Faschisten hergekommen. Aber der Krieg hat aus ihnen allen feindliche Ausländer gemacht. Sie sind Feinde in einem Land, das sie willkommen geheißen hat, das sie inzwischen lieben.

Dann hörte der Krieg so schnell wieder auf, wie er begonnen hat. Eingesperrt ins Camp des Milles, saßen sie wie auf dem Präsentierteller und warteten darauf, dass die Deutschen sie mitnahmen. Der Kommandant tat, was in seiner Macht stand, um die Internierten in Sicherheit zu bringen. Es war ihm gelungen, diesen Zug aufzutreiben, er hat die Männer nach Westen geschickt, und nun haben sie bei ihrem Versuch, vor den Nazis davonzulaufen, beinahe die Küste erreicht.

«Öffnet die Tür», sagt ein Geist.

«Ja, öffnet die Tür», wiederholt ein anderer.

Der Wachmann ächzt, und die Tür schiebt sich auf.

Max bahnt sich mit den Schultern einen Weg nach vorn, setzt sich neben seinen Freund auf das Geländer vor der offenen Tür, und sie lassen die Beine baumeln. Max legt den Kopf in den Nacken und streckt seine trockene Zunge aus. Regen. Jeder Tropfen ein Wunder.

Ein weiterer langer Zug voller Flüchtlinge fährt vorüber. Die Leute sitzen auf den Tritten, liegen oben auf den Waggons, die ganze Welt drängt in Richtung Grenze. Max sucht zwischen den unscharfen Gesichtern nach ihrem, glaubt eine Frau mit langem, dunklem Haar zu erkennen, doch dann ist der Zug vorüber, und er ertappt sich dabei, dass er betet. Er betet zum ersten Mal seit Jahren zu einem Gott, an den er nicht glaubt, betet, dass sein Mädchen in Saint-Martin geblieben ist und auf ihn wartet.

Auf einmal kann er das Meer riechen. «Der Hafen von Bayonne», sagt sein Freund und deutet auf einen leuchtenden Fleck in der Ferne.

Der Zug erwacht in einem aufgeregten Fragengewirr. Sie haben es bis zur Küste geschafft, aber warum? Da ist das Meer – sie können es jetzt sehen – und die Schiffsmasten, die darauf warten, sie – wohin zu bringen? Nach Übersee? In die Kolonien? Um die Trans-Sahara-Bahnlinie zu bauen?

Der Zug wird langsamer. Ein junger Mann rempelt sich den Weg zur offenen Tür frei. «Wenn ihr nicht nach Übersee verschifft werden wollt, müsst ihr jetzt die Gelegenheit ergreifen», sagt er und springt. Sein ramponierter Koffer purzelt neben ihm hinaus.

Schließlich hält der Zug vor dem Bahnhofsgelände. Passagiere springen aus dem Waggon, um sich zu erleichtern. Junge und Alte ziehen sich die Hosen hinunter und gehen an der nächstgelegenen schlammigen Stelle in die Hocke. Max öffnet an einem niedrigen Zaun den Reißverschluss und wartet. Und wartet. Und endlich rinnt ein langsames, ockerfarbenes Bächlein in den Regen.

Er schließt seinen Reißverschluss wieder und starrt über den Zaun. Die Szenerie ist schwarzgrau lasiert, und dann bewegt sie sich, der Matsch wirkt wie ein nach vorn drängendes Feld. Max wird klar, dass er auf eine Fernstraße blickt, die von allen Arten von Fahrzeugen überquillt, eine monströse Prozession, die auf die spanische Grenze zuruckelt. Auf jedem Wagendach sind mindestens zwei Matratzen festgebunden – um die Autos vor Luftangriffen zu schützen, begreift er mit neuem Entsetzen. Er fragt sich, wie weit die Leute schon gefahren sind. Den ganzen Weg von Paris hierher? Da sind hochaufragende Lastwagen und Handkarren voll mit Menschen und ihren Habseligkeiten, mit allem, was sie tragen können. Einem Stuhl, den der Großvater gezimmert hat. Einer Lampe aus dem vorigen Jahrhundert. Einer Geige. Da sind Menschen zu Fuß mit Fahrrädern unterwegs, mit Eseln, Pferden. Und alle schieben sich vorwärts. Die Luft ist dicht erfüllt von ihrer Hoffnung, schwer wie eine nasse Wolldecke.

Ein Bahnhofsvorsteher läuft auf die Männer zu, ruft etwas, schwenkt die Arme. «Steigen Sie wieder ein! Sie kommen! Die Deutschen werden in weniger als zwei Stunden hier sein!» Schnell ziehen sich die Männer die Hosen hoch und rennen zum Zug. Max rennt ebenfalls, rennt in Zeitlupe in einer Welt in Zeitlupe, in der alle rennen, aber nicht annähernd schnell genug. Die Männer drängen sich in den Zug. Max setzt sich auf das Geländer, Hans ist neben ihm. Wenn die Deutschen hier sind, sind sie hier. Sich in einer Ecke des Waggons zu verstecken wird niemandem helfen.

Der rotgesichtige Kommandant kommt mit großen Schritten und triefend nass vom Regen vorbei. «Wir müssen wieder zurück», sagt er immer wieder, damit jeder der zweitausend Männer ihn hört. Aber der Zug bewegt sich nicht, und bald versammeln sich die Männer draußen vor den Waggons und rufen laut durcheinander.

Die Franzosen haben schon wieder versagt.

Die spanische Grenze ist nah. Ist es nicht besser, sich dem Flüchtlingsstrom anzuschließen? Oder sich allein durchzuschlagen?

Die spanische Grenze ist geöffnet, aber man braucht eine Einreiseerlaubnis. Nur französische Staatsbürger werden durchgelassen.

Die Franzosen werden uns für Feinde halten.

«Gehen Sie!», brüllt der Kommandant. «Sie sind keine Gefangenen mehr!»

«Frei? Wir sind frei!», rufen die Männer.

«Aber Sie werden nicht überleben», sagt der Kommandant. «Entweder kommen die Nazis oder die Gendarmen. Sie werden gefangen genommen oder erschossen werden. Wir haben die Chance, Sie in ein Gebiet zu bringen, das sich bei Zustandekommen des Waffenstillstands nicht unter deutscher Kontrolle befindet.»

Manche Männer greifen nach ihren Habseligkeiten, umarmen ihre Freunde und streben auf die Fernstraße voller Menschen zu. Andere Züge, die mit Soldaten, mit Zivilisten gefüllt sind, fahren aus dem Bahnhof, und noch immer bewegt sich ihr Zug nicht. Mehr Männer machen sich auf den Weg. Ohne Geld, ohne Papiere, ohne Wasser oder Nahrung.

Hans läuft auf und ab. «Der Zug ist auffällig. Hitlers Leute werden davon erfahren. Aber Frankreich ist ein Pandämonium. Es wird einfach sein, unterzutauchen.»

«Bleib hier. Da draußen wirst du sterben», sagt Max, doch er ist selbst nur halb davon überzeugt. Hans ist ein willensstarker, scharfsinniger Mann. Er wird eine Möglichkeit finden, am Leben zu bleiben.

Der Zug beginnt zu brummen, und die Männer springen auf. Alte Männer werden noch an Bord geschoben und gezogen, während die Waggons schon in die Richtung rucken, aus der sie gekommen sind. Ihm wird bange.

Hans steht auf dem Lehmboden. «Komm mit mir.»

Max sehnt sich danach, mit ihm irgendwie über die Grenze zu gelangen. Zusammen würden sie es wohl schaffen. Aber nein. Er schüttelt den Kopf, weil er keine Wahl hat. Er muss nach Hause. Er muss versuchen, Leonora ausfindig zu machen. Vom Zug aus sieht er seinen Freund kleiner werden, bis die Schienen eine Kurve beschreiben und Hans verschwunden ist.

Den Nachmittag über und in den Einbruch der Dämmerung hinein fahren sie durch dasselbe verschwommene Grün. Der Zug wird langsamer, und Max entdeckt auf einem Hügel ein grasendes Pferd. Es hebt seinen braunen Hals und scheint ihn anzublicken, als der Zug zum Stehen kommt.

«Der Strom ist abgestellt», sagt der Kommandant, der an den geöffneten Waggons entlanggeht. Er schwitzt, seine Haut hat einen grünlichen Farbton, und er schaut beinahe so schlecht aus wie der Rest der Männer. «Verbrennen Sie Ihre Papiere – jeden Eid, den Sie gegenüber Frankreich geschworen haben.»

Ein kleines Lagerfeuer erfüllt den Waggon mit Rauch. Max wirft seine Papiere hinein und beobachtet, wie der Name Max Ernst sich kräuselt und aufflammt und verkohlt. Dann wird er zu Asche.

Leonora, Juni 1937, England

Leonora öffnete im Nachthemd die Tür und fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar. Die Mittagsstunde war bereits vorbei, und auf der Türschwelle ihrer Erdgeschosswohnung stand ein Mann mit schwarzem Hut und ordentlich gebügeltem, makellosem Anzug. Er verbeugte sich leicht, bevor er ihr einen kleinen Briefumschlag überreichte. Sie wusste, ohne fragen zu müssen, von wem er war. Max. Sie riss den Umschlag auf und las den Brief sofort, als könne er sich in ihren Händen in Luft auflösen.

Komm mit mir auf ein Picknick in den Wald, ja? Wenn du möchtest, hole ich dich heute Nachmittag um zwei ab.

Bevor sie es sich selbst ausreden konnte – immerhin war er verheiratet und doppelt so alt wie sie –, schickte sie den Boten mit einer gefalteten Nachricht zurück, die schlicht Ja lautete.

Es war vollkommen irrsinnig, mit ihm allein in den Wald zu fahren, das war ihr klar. Es konnte alles Mögliche passieren. Sie kannte ihn kaum. Und doch war es genau diese Wildheit, die Unberechenbarkeit, die sie anzog. Es war versponnen und romantisch; kein Brite würde wagen, einen solch dreisten Vorschlag zu machen. Und erst recht nicht, wenn er wüsste, wer ihr Vater war. Natürlich würde sie mitgehen.

Leonora sah auf die Uhr: zehn vor zwei. In ihrer dunklen Wohnung roch es nach Zigarettenasche und verkochten Eiern. Sie saß über den Küchentisch gebeugt und arbeitete im Licht der nackten Glühlampe an ihrer Serie von Skizzen – Frauen ohne Lächeln, ohne Brüste, Frauen mit kurzen Haaren unter Baskenmützen, die Zigaretten zwischen den Lippen stecken hatten. Den ganzen Frühling hindurch hatte Leonora sich damit beschäftigt. Jedoch nicht in Amédée Ozenfants Schule – wo sie in dem Versuch, in einer einzigen makellosen Linie eine Frucht wiederzugeben, Apfel um Apfel zeichnete –, sondern hier, in ihrer Wohnung, wenn sie allein war. Sie breitete die Zeichnungen auf dem Tisch aus und kniff die Augen zusammen, als könnte sie, wenn sie die Ränder der Seiten verwischte, diese Frauen als Freundinnen betrachten, als Teile einer einzigen Szene. Vielleicht aßen sie zusammen zu Mittag und planten dabei nicht, wen sie wann heiraten würden oder welches Porzellanmuster sie dann auswählen würden, wie es die Debütantinnen, die Leonora kannte, getan hätten. Vielmehr diskutierten sie, was sie malen würden, was sie fotografieren wollten, und wie die Welt sie als Künstlerinnen wahrnehmen und ihre Kunst kaufen sollte. Ihre Bilder würden in Galerien und Museen hängen. Sie waren sich nicht sicher, wie sie das erreichen sollten, aber sie würden sich nicht mit dem Leben begnügen, das ihre Mütter geführt hatten, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Es war eine Gruppe, der Leonora gerne beitreten würde.

Wenn sie konzentriert lauschte, konnte sie ihr Gespräch hören. «Funkelt», sagte eine, «aber bewahrt ein Geheimnis.» «Steckt die Waffe wieder ins Halfter», sagte eine andere. «Hört auf euer Herz, euer Blut.» Eine Frau begann einen Zigarillo zu rauchen und drückte die Asche auf dem Holz aus. Sie hinterließ einen Brandfleck auf dem Tisch. Leonora kniff die Augen noch mehr zusammen, bis ihre Sicht verschwamm und die Welt um die Frauen herum scharf wurde. Wenn sie diese Welt zu sehen vermochte, könnte sie in sie eintreten und ihren eigenen Brandfleck auf dem Holz hinterlassen.

Rat-ta-tat. Max war pünktlich.

Leonora griff nach ihrer Tasche und rannte zur Tür. Anstelle von Max stand dort Serge. Er hob eine Augenbraue und nahm seinen Fedorahut ab. «Hast du jemanden erwartet?», fragte er und ging an ihr vorbei in die Wohnung. Er lief durch das gesamte Zimmer, die Hände in die Jackentaschen gesteckt. Leonora versuchte zu atmen. Serge? Was machte er hier?

Serge war ein Bekannter ihres Vaters, ein Architekt, der ihr geholfen hatte, in Ozenfants Schule aufgenommen zu werden. Sie betrachtete ihn als eine Art Aufsichtsperson. Vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an hatte sie gewusst, was seine wahre Rolle war – herauszufinden, was sie vorhatte, und alles an ihren Vater zu berichten. Zufälligerweise war Serge auch ihr allererster Liebhaber, mit dem sie noch nicht einmal Schluss gemacht hatte. Aber normalerweise kam er abends vorbei, nach der Arbeit, nicht mitten am Nachmittag. Dass Serge jetzt hier war, bedeutete, dass er Bescheid wusste und ihr Vater ebenfalls.

Als Leonora vor einem Jahr nach London gezogen war, hatten sie sich einmal pro Woche in einem Café getroffen. Bei einer Tasse Kaffee erzählte sie ihm das, was Vater hören wollte. Und dann begann Serge, nach der Arbeit in ihrer Wohnung vorbeizuschauen. Sie machte ihm Tee und zeigte ihm ihre Zeichnungen. Sie redeten. Er war siebzehn Jahre älter als sie und kannte die Londoner Kunstszene. Er war mit Erno befreundet und genauso ernsthaft wie dieser, wenn auch nicht ganz so humorlos.

«Ozenfant sagt, du seist vielversprechend», verriet Serge ihr eines Abends. Er schien sich wirklich darüber zu freuen. Und da hatte sie über den Tisch gefasst, ihm die Brille abgenommen und ihn geküsst. «Wirst du das auch Vater erzählen?», hatte sie ihn geneckt. Einen Augenblick später lagen sie im Bett.

Die Macht, die sie auf diese Weise über ihren Vater hatte, war berauschend. Serge gab zwar Berichte ab, aber er würde ihrem Vater nichts sagen können, das darauf hindeutete, dass er Leonora intim kannte, und deswegen würde ihr Vater nicht mehr über sie wissen, als sie ihn wissen lassen wollte. Als sie Ursula von ihrer Affäre erzählte, strahlte ihre Freundin. «Heirate ihn», sagte sie. «Ihr würdet die reizendsten Kinder bekommen!»

«Ich werde überhaupt niemanden heiraten», hatte Leonora daraufhin geantwortet. «Er ist mein erster Liebhaber. Und das ist alles.» Ihrer Ansicht nach wurde Jungfräulichkeit überbewertet, und sie war froh, damit aufgeräumt zu haben.

Die Affäre dauerte im Verborgenen monatelang an. Doch dann hörte Serge nicht damit auf, Anspielungen auf eine Heirat zu machen, und er begann sich in Leonoras Augen vom gutaussehenden Spion in einen einsamen Junggesellen zu verwandeln. Er wurde gewöhnlich, und sie begann sich Ausreden auszudenken. Sie sagte ihm, sie bräuchte Zeit, um über alles nachzudenken. Sie wusste, sie musste die Affäre beenden, aber sie konnte es sich nicht leisten, Serge gegen sich aufzubringen. Wenn er die Empfehlung aussprach, man solle sie nach Hause holen, würde ihr Vater dafür sorgen, dass eine Stunde später ein Wagen vor ihrer Wohnung wartete.

Sie lachte, versuchte lebhaft zu wirken, aber das Lachen klang flach und forciert. «Ursula und ich wollen gleich nach Brighton, um Austern zu essen und das Meer und den Pier zu malen. Jedenfalls wollen wir das versuchen», sagte sie so beiläufig wie möglich. Sie setzte sich an den Tisch, nahm ihren Graphitstift und fügte dem Zigarillo der Frau etwas Rauch hinzu. Sie musste Serge nicht ansehen, um zu wissen, dass er sich in ihrer Einzimmerwohnung umblickte, ihr Doppelbett inspizierte, in dem sie einander, wie Leonora nun überzeugt war, auf wenig bemerkenswerte Weise geliebt hatten, dann die Stapel, die sich die Wand entlangzogen – Zeichnungen, Bücher, Berge von Kleidung. Er schien nach etwas zu suchen, nach irgendeinem Hinweis. Als sie spürte, wie sein Blick zu ihr zurückkehrte, blickte sie auf. Er drehte an der rechten Seite seines dunklen Schnurrbarts, und sie ertappte sich dabei, dass sie ihn in eine Ecke zeichnete, neben die Frau mit dem Zigarillo. Serge war deren zwergenhafter Diener und hatte einen eierförmigen Kopf, auf den sie kein Haar malte.

Schließlich trat Serge hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Leonora spürte, wie sich ihr Körper verspannte, und legte einen Arm über ihre Zeichnung. «Du warst also gestern Abend auf einer Party? Erno sagte, es war ein echtes Surrealisten-Treffen. Lee Miller, Penrose, Max Ernst.»

Also hatte Erno es ihm bereits erzählt. Deswegen war er hier. Sie verkrampfte sich und begann zu husten, lang und laut. Ihre Stimme war heiser. «Ja, na ja, also ich hatte wenig Spaß. Ich habe mir etwas eingefangen.»

Er trat zurück und bedeckte Nase und Mund mit seiner Hand. Serge war ein Hypochonder, und sie wusste, dass die Flunkerei ihn mindestens eine Woche von ihr fernhalten würde. Bald würde sie ihm erklären, dass es vorbei war, aber jetzt musste sie dafür sorgen, dass er ging. «Das ist eine gefährliche, unmoralische Truppe, Leonora.» Serge öffnete die Tür. Sie hustete erneut. Ein Tropfen Spucke schwebte durch die Luft. «Pass auf dich auf», sagte er und schloss die Tür hinter sich.

Seine Schritte wurden auf der Treppe hinauf zur Straße immer leiser. Das war knapp gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie von Adrenalin gelebt, hatte Zigaretten in die Klosterschule eingeschmuggelt oder war im Mädchenpensionat in Florenz aus dem Fenster geklettert, um allein durch die Stadt zu streifen und, solange sie wollte, in den Uffizien zu bleiben. Aber nun war sie zu alt für ein doppeltes Spiel. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie leben können, wie sie wollte. Leonora sah nicht ein, inwiefern die Gegebenheiten ihres Körpers und seine Fähigkeit, Kinder zur Welt zu bringen, dazu führen sollten, dass sie dies nicht tun konnte. Aber Vater würde die Dinge niemals so sehen. Er würde sie nicht in Frieden lassen, bis sie verheiratet war.

Sie hörte etwas wie einen Ball die Treppe herunterspringen und griff nach ihrer Tasche. Es war Max, das wusste sie. Er war so voller Energie, dass sein Klopfen wonnige Wellen in den Raum sandte. Leonora öffnete die Tür und stand vor seinem schiefen Grinsen. Er überraschte sie damit, dass er sie umarmte und in die Luft hob. Sie vergaß Serge und ihren Vater, lachte und warf die Arme um ihn. Er drückte seine Lippen auf ihre.

Sie hatte bei einem Kuss noch niemals die Empfindung gehabt, sich aufzulösen. Doch plötzlich hatte sie das Gefühl, weit aufgespannt zu werden, so weit wie die Strecke zwischen Erde und Neptun, und sie schwebte schwerelos im Raum und drehte sich in tausend Überschlägen um sich selbst, ohne einmal Luft zu holen. Sie traten aus der Tür und stiegen nach oben. Noch nie war sie mit einem Mann auf der Straße gegangen, aber nun nahm Max ihre Hand in seine, und sie waren wie Elefanten am Flussufer, die mit verschränkten Rüsseln hin und her schwankten in einer Gebärdensprache, die keiner Interpretation bedurfte. Mitten auf dem Gehweg zog er sie an sich. Leonora drehte sich um, da sie fürchtete, Serge könnte sie beobachten, aber sie blickte nur in die Gesichter vorübereilender Fremder. Sie küssten sich wieder. Ihre Augen schlossen sich, sie waren jetzt wie Giraffen, deren kleine Köpfe sich zwischen den Sternen verloren und deren Wimpern sich in der Dunkelheit berührten.

Max ließ sie los, und die Straße flutete zurück, ihre nachmittägliche Geschäftigkeit mit dem Durcheinander aus Automobilen und Menschen. Männer schlenderten nebeneinander her, ihre Stimmen zogen geräuschvoll und schleppend an ihr vorüber. Frauen spazierten Arm in Arm. Ihr Gelächter blubberte und spritzte. Der Tag war feucht geworden, und der Geruch von London im Sommer üppig und wollüstig – Käse, der in der Sonne weich wurde, Ruß und Zigaretten, Fettstücke und überreife Früchte in den Mülltonnen.

Rolands Bentley stand lächerlich schief mit einem Rad auf dem Randstein, als sei er in Eile geparkt worden. Max hielt ihr die Tür auf, glitt hinter das Steuer, und schon waren sie unterwegs. Er umrundete Autos und Fußgänger und sprach die ganze Zeit über französisch. Er nahm an, dass sie ihn verstand. Obwohl es eine ganze Weile her war, dass ihr Hauslehrer sie in Französisch unterrichtet hatte, stellte Leonora fest, dass sie dem meisten, was Max sagte, folgen konnte. Ein unbekanntes Wort hier und da machte nichts aus; seine Begeisterung erzählte ihr alles, was sie wissen musste. Er habe Erdbeeren und Scones und eine Decke mitgenommen, berichtete er, und er könne es nicht erwarten, mit ihr allein zu sein. Da war etwas, das er ihr zeigen wollte.

«O», erwiderte sie und beließ es dabei. Was konnte er ihr wohl zeigen wollen? Und was erwartete er? Sie hatte noch keine hundert Worte zu ihm gesagt, und doch glaubte er zu wissen, was sie mochte? Aber als sie beobachtete, wie der Wind durchs offene Fenster sein weißes Haar in alle Richtungen wehte, entspannte sie sich. Max war zu wild für dieses Auto mit seinem Gewicht und seinem Glanz, vielmehr sah er aus wie der Vogel, der zu sein er behauptete – aufgeplustert in seinem Nadelstreifenanzug, die Nase wie ein großer gekrümmter Schnabel. Sie hatte das Vogelartige an ihm bis jetzt nicht bemerkt, seine knochige Anmut. Seine langen abgewinkelten Beine, die Knie an den Ellenbogen. Er war ein Kranich. Wenn sie erst aus der Stadt hinaus waren, würde er ihr vielleicht seine Flügel zeigen.

Der dunstige, von Rauchschwaden durchzogene Himmel wurde blau, und die Gebäude wichen offenen grünen Feldern. Max bog in eine schmale, baumgesäumte Straße, die sich an verstreut liegenden Häusern vorüberwand und vor einem bewaldeten Hügel endete. Er nahm einen Korb vom Rücksitz und eine dünne, gelb-weiß karierte Decke. Da war ein Zaun und ein Tor, das er für sie öffnete, als wäre er der Besitzer. Sie betraten ein fremdes Grundstück. So etwas würde Leonora normalerweise nicht tun. Das Risiko und Max’ Anspruchshaltung gefielen ihr.

Unter dem Laubdach eines Ahornbaums breiteten sie ihr Picknick aus. Sie schlüpften aus den Schuhen und spürten das kühle Gras unter ihren Füßen.

Ein Chor von Zikaden erweckte die Luft zum Leben. Sie klangen, wie sich Leonoras Haut anfühlte – die Härchen auf ihren Armen hatten sich aufgestellt, nur um allein mit Max zu sein. Um gelassen zu wirken, lehnte sie sich zurück und stützte sich auf ihren Ellenbogen, den Rock über den Knien. Sie knabberte an einem Scone. Wenn wir nur etwas Tee dabeihätten, dachte sie. Auf einmal öffnete Max eine Flasche weißen Bordeaux, setzte sie sich an die Lippen und trank. «Für dich ist er auf alle Fälle gut genug.» Er grinste und bot ihr die Flasche an. Leonora probierte den Wein –  viel besser als Tee – und aß eine Erdbeere.

«Es gibt zwei Prinzipien», sagte Max. In seinem Rucksack hatte er ein Holzbrett dabei. Er breitete Blätter, Zweige, winzige Steine darüber aus. Dann legte er ein Stück Zeichenpapier darauf und befestigte es mit Klammern. Er schraffierte mit einem schräg gehaltenen Bleistift darüber, und die Dinge wurden als dunkle Linien sichtbar. Wie Träume, dachte Leonora, die den ganzen Tag über in einem Körper leben, in den Knochen der Handgelenke und Ellenbogen, in dem schwammartigen Gewebe von Leber und Lunge. Der logische Verstand weiß nichts von ihnen, und erst wenn man loslässt und sich dem Schlaf ergibt, wagen die Träume ihr Gesicht zu zeigen.

«Die beiden Prinzipien», sagte Max, «heißen Glück und Intuition – was erscheint und was du darin erkennst. Du und ich könnten nach derselben Frottage arbeiten und zu vollkommen unterschiedlichen Szenen gelangen.»

«Frottage?» War das etwas, was sie seiner Meinung kennen musste? Ozenfant hatte ihnen nichts über Frottage beigebracht.

«Abreiben. So nenne ich das.» Max schüttelte die Steine und Blätter heraus und blies das überschüssige Blei weg. Im Sonnenlicht studierten sie das Bild gemeinsam, seine Hand warm auf ihrem Rücken, ein wunderbarer Druck. «Wie wenn man als Kind die Wolken betrachtete», erklärte er, und Leonora wusste, dass sie kein Kind war, nicht mehr. Sie saß nicht mehr an einem Pult und starrte aus dem Fenster in die Wolken und träumte von ihrem Leben. Sie war hier, mittendrin. Sie war mit Max Ernst zusammen und träumte auf eine neue Weise.

«Da ist eine Königin.» Sie fuhr den Umriss dessen, was sie erkannte, mit dem Finger nach. «Und hier ist ihr Elefant, siehst du? Sie reitet von ihrem Königreich fort, das hier ist.» Leonora berührte die Ecke der Seite. «Auf dem Hügel hinter ihr. Sie steht auf einer Klippe und überblickt die Wüste, die sie durchqueren wird. Sie kann nicht erkennen, wo sie herauskommen wird – da ist nur Weite, nur Wüste und Meer, und am Ufer liegt ein Schiff, das sie und den Elefanten erwartet.»

Max beugte sich weiter vor. «Ich würde so gerne sehen, wie du das malst.» Er küsste ihre Stirn, ein Augenlid, einen Wangenknochen, ein Ohr. Sie spürte ihr Herz in den Fingerspitzen pulsieren und legte sich die Hände in den Schoß. Halte stand, dachte sie. Bleib ruhig. «Zeigst du mir irgendwann einmal deine Arbeiten?»

«Irgendwann», erwiderte sie, auch wenn sie sich unmöglich vorstellen konnte, dass sie jemals gut genug malen würde.

Er legte seinen Kopf in ihren Schoß, und Leonora vergaß zu atmen. Sie streichelte seine gebräunte Stirn, die sich glatt anfühlte unter ihren Fingerspitzen. Langsam, dachte sie. Wir haben den ganzen Nachmittag Zeit. Sie fütterte ihn mit einem Bissen Erdbeere und steckte sich den Rest selbst in den Mund.

«Erzählst du mir eine Geschichte?», fragte er.

Sie schnippte die grünen Blätter der Erdbeere ins Gras, wo sie neben einem Pilz landeten. Früher hatte Leonora Geschichten aufgeschrieben, nicht nur laut gesprochen. Vielleicht wäre eine wahre Geschichte das Einfachste. «Willst du von der ersten Klosterschule hören, die mich rausgeworfen hat?»

«Unbedingt.»

«Als ich neun war, hat Vater mich zu den Nonnen vom Heiligen Grab verfrachtet», begann sie, «und ich habe diesen Ort gehasst. Eines Morgens während der Messe, ich ging gerade mit herausgestreckter Zunge auf den Priester zu und wartete darauf, dass er mir die Oblate des heiligen Abendmahls darauflegte, habe ich meinen Rock bis zur Taille hochgehoben. Ich trug keine Unterwäsche, und ich sah zu, wie der Priester rot wurde wie ein glühendes Stück Kohle und vor mir davonlief, ein schwabbeliger Mann mit Hängebacken. Da habe ich den Rock wieder fallen lassen, denn ich war mir sicher, dass ich gewonnen hatte.» Ein Lächeln breitete sich über Max’ Gesicht aus. Sie hatte sich schon gedacht, dass ihm die rebellische Aufsässigkeit dieser Darbietung gefallen würde.

«Aber die Tage verstrichen, und nichts geschah. Der Priester reiste in eine neue Gemeinde ab, und ich saß bei den Nonnen fest. Sie konnten mich zwingen, an einem Pult zu sitzen, aber sie konnten mich nicht dazu zwingen, vorwärts zu schreiben, also tat ich es nicht. Stattdessen habe ich geübt, in Spiegelschrift rückwärts zu schreiben.» Leonora erzählte ihm, wie die Nonnen sie auf ihr Zimmer geschickt hatten. Erzählte ihm, wie man ihr befohlen hatte, den Satz «Ich werde nicht rückwärts schreiben» fünfzigmal zu Papier zu bringen, und wie sie stattdessen einen Brief an ihre Nanny in Spiegelschrift verfasst hatte, die diese ihr beigebracht hatte, und wie sie gehofft hatte, er würde sie auf magische Weise nach Hause transportieren. «Und als ich den Brief vor den Spiegel auf meiner Kommode hielt, bin ich verschwunden.»

«Verschwunden?»

«Im Spiegel, meine ich. Mein Bild verblasste, und dann konnte ich mich selbst nicht mehr sehen und fiel zu Boden», fuhr sie fort. «Mein Kopf fühlte sich so leicht an wie ein Blatt.»

Sie blickte auf ihn hinab. Max war still und verfolgte den Tanz des Sonnenlichts auf den Blättern. Es steckte natürlich noch mehr hinter der Geschichte, aber Leonora war sich nicht sicher, ob sie es ihm erzählen konnte. Es war eine eigenartige, unterirdische Bleibe; der Ort, an den sie ging, wenn sie fiel, während die Welt so tat, als sei sie nie weggegangen. Und wie sie mitten im Satz dort ankam, als sei sie irgendwie schon die ganze Zeit dort gewesen.

Max sah sie an, sah in sie hinein. «Und was ist dann passiert?»

Leonora lachte nervös auf und trank einen Schluck Wein. Sie hatte noch niemals versucht, über die Welt zu sprechen, die sie an jenem Tag in der Klosterschule betreten hatte, die Welt der Sidhe, und sie hatte jahrelang nicht mehr daran gedacht. Sie war sich nie sicher gewesen, ob diese Welt echt war oder nur ein lebhafter Traum. Es jemandem zu erzählen, selbst Mutter oder Nanny, hatte sich falsch angefühlt, als wollte man ein Pferd anleinen. Aber sie dachte, Max könnte es vielleicht verstehen.

«Ich fand mich in einer anderen Welt wieder. Aber sie war mir vertraut. Es war ein Ort, den ich kannte. Eine der Sidhe schwebte vor mir her und führte mich durch dieses unterirdische Labyrinth.»

«Die Sidhe?», fragte er.

«Kennst du die Geschichten nicht? Die Sidhe sind ein altes irisches Feenvolk, das Volk der Winzlinge. Sie sind unter die Erde gegangen, als die Christen erschienen. Aber manchmal steigen sie herauf und besuchen die Menschen. Diejenigen, deren Augen offen sind. Das hat mir zumindest Nanny so erklärt.» Leonora lachte, um sich selbst zu hören. Max’ Gesicht war ausdruckslos. Sie hatte recht gehabt, die Geschichte war zu schwierig, um sie zu erzählen. Sie verlor sein Interesse. Es war wohl das Beste, wenn sie zum bewussten Teil der Geschichte zurückkehrte. Vielleicht würde sie Max den Rest berichten, wenn sie ihn besser kannte, denn irgendwie war sie sich sicher, dass sie ihn besser kennenlernen würde.

«Und dann bin ich zu mir gekommen. Da lag dieses Tuch über meiner Nase und meinem Mund. Es war mit etwas durchtränkt, und der Geruch war so scharf, dass ich meine Augen öffnete. Ich lag auf dem Bett. Ein Arzt zog das Tuch weg, und er und eine Nonne beugten sich über mich. ‹Gehirnerschütterung›, sagte der Arzt. Und ich erinnerte mich an die letzten Sätze, die ich geschrieben hatte. Mein Brief an Nanny war auf dem Fußboden gelandet. Es hatte nicht funktioniert. Ich war keine Hexe, bloß ein ungehorsames Kind. Die Schwester schüttelte den Kopf und meinte, ich sei ein hoffnungsloser Fall. Ich solle meine Sachen packen. Meine Nanny würde in einer Stunde da sein.»

Sie blickte wieder hinab. Max war da und nicht da. Er betrachtete die Blätter und war in sich selbst versunken, weit weg. Sie würde ihm nicht von ihrem Vater erzählen und davon, wie erbost er über diesen Rauswurf gewesen war und wie überraschend gut sich das angefühlt hatte – stark, als nähme er sie zum ersten Mal wahr. Nicht, weil sie seiner Vorstellung von einem ordentlichen Mädchen entsprochen hätte, sittsam und hübsch und mit einer Schleife im gebürsteten Haar, sondern weil sie ihm Ärger bereitete. Leonora hatte jedoch schreckliches Mitleid mit ihrer Mutter gehabt, wie sie da neben Vater stand und sich ein Haar nach dem anderen ausriss. Das Ploppen der sich lösenden Haarwurzeln hatte sie beruhigt, und die Mutter hatte weitergemacht und eine kahle Stelle über ihrem linken Ohr produziert – eine Stelle, die sie mit Haar bedeckte, Leonora aber zeigte, wenn sie ihr vor Augen führen wollte, was sie mit ihrem Verhalten bewirkt hatte.

Leonora biss in ihren Fingernagel und zog sich den schmalen Splitter mit den Zähnen ab. Max pflückte ihn zwischen ihren Lippen hervor und bog den halbmondförmigen Nagel zwischen seinen Fingern. Eine Pfütze aus Sonnenlicht klatschte auf sein Gesicht. Er strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. «Und Nanny kam dich abholen?»

«Ja.»