Die Tage ohne dich - Elvira Sastre - E-Book

Die Tage ohne dich E-Book

Elvira Sastre

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Beschreibung

Für den introvertierten Gael, der als Kunstdozent in einem Atelier arbeitet, bleibt kein Stein mehr auf dem anderen, als er Marta begegnet, einer jungen Frau, die für seine Kunststudenten Modell stehen soll. Doch die Liebe zu der eigenwilligen Marta gestaltet sich ähnlich schwierig wie die unmögliche Liebe, von der ihm seine unerschrockene Großmutter Dora berichtet, die sich in den Zeiten der Zweiten Spanischen Republik als Lehrerin in ihren Schüler verliebte.

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www.thiele-verlag.com

 

Übersetzung aus dem Spanischen von Anja Rüdiger

 

Die Übersetzung dieses Buches wurde mit freundlicher Unterstützung von Acción Cultural Española, AC/E realisiert.

 

© 2019 by Elvira Sastre

© 2019 by Editorial Planeta, S. A., Barcelona

Seix Barral, un sello editorial de Editorial Planeta, S. A.

Titel der spanischen Originalausgabe: Días sin ti

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, Wien

Covergestaltung: Christina Krutz, Biebesheim a. R.

Umschlagbild: © rawpixel

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

TAG NULL

TAG EINS OHNE DICH

TAG ZWEI OHNE DICH

TAG DREI OHNE DICH

TAG VIER OHNE DICH

TAG FÜNF OHNE DICH

TAG SECHS OHNE DICH

TAG SIEBEN OHNE DICH

TAG ACHT OHNE DICH

TAG NEUN OHNE DICH

TAG ZEHN OHNE DICH

TAG ELF OHNE DICH

TAG ZWÖLF OHNE DICH

ANMERKUNG DER AUTORIN

DANK

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

 

Für meine Großmutter Sote und meinen Großvater Antonio

TAG NULL

Jeder Mensch hat seinen Platz in der Welt. Wenn sich zwei Menschen ineinander verlieben, werden sie eins und nehmen zusammen einen Platz ein, in den das ganze Universum passt. Wenn einer jedoch nicht mehr da ist, wird sein Platz zu einer riesigen, entsetzlichen Lücke für jeden, der auf sie schaut. Man nennt es auch Abwesenheit. Manchmal ist diese Abwesenheit absichtlich herbeigeführt worden, doch meistens ist sie es nicht, und dann ist nichts so beängstigend wie diese Leere. Wir versuchen, auf Zehenspitzen über sie hinwegzuschleichen, sie mit anderen Menschen auszufüllen, die sie nicht füllen können, sie unter bunten Blumen zu begraben, die nach einer Weile verwelken. Wir versuchen zu vergessen, dass jemand fehlt. Und merken dabei seltsamerweise nicht, dass das Vergessen eine Falle ist, ein Selbstschutzmechanismus, der simpelste Ausweg, eine Art missglückter Hommage. Wir sollten uns nicht zwingen, denjenigen zu vergessen, der einst einen Platz eingenommen hat, der nun leer ist. Wir sollten lernen, ohne Furcht an diesen Ort zurückzukehren, um dann unversehrt wieder daraus hervorzukommen. Hervorzukommen mit einem Anflug von Traurigkeit vielleicht, die jenem fernen Glück huldigt.

Diese Dinge zu begreifen und sie dann auch noch zu tun verlangt Zeit, Abstand und einen starken Willen. Ich weiß nur, dass ich dort, wo sie war, nicht mehr hinpasste, sosehr ich mich auch an ihre Hand klammerte und versuchte, mich in ihrem Haar zu verstecken. Es gab keine Nische mehr für mich, und mein Bemühen, diesen Ort zu verlassen, war ein Kampf gegen mich selbst, der mir jedoch am Ende mehr Kraft gab, als er mir zuvor geraubt hatte.

 

Heute bin ich zum ersten Mal an den Ort von damals zurückgekehrt. Aber alles ist anders.

TAG EINS OHNE DICH

Ich vermisse dich so sehr, dass meine Uhr mir vorgaukelt, es wäre noch gestern.

Dora. Jeder nannte sie »Großmutter« oder »Großmutter Dora«, aber ich habe sie immer nur bei ihrem Vornamen genannt, um mich stets daran zu erinnern, wie außergewöhnlich sie war. Sie war ein ganz besonderer Mensch und sehr intelligent. Als junge Frau, während der Zeit der Zweiten Spanischen Republik, arbeitete sie als Lehrerin, und sie trotzte den strengen Regeln dieser Zeit, indem sie stets ihren eigenen Weg ging, ohne sich darum zu scheren, was andere darüber dachten. Sie hatte Gael, meinen Großvater, in der Schule kennengelernt. Er war einer ihrer Schüler, und in dem Augenblick, als sie sich begegneten, verliebten sie sich hoffnungslos ineinander. Nachdem sie sich ein paarmal heimlich getroffen hatten, hat meine Großmutter an dieser Schule nicht mehr unterrichtet, um möglichen Strafen zu entgehen. Sie sind zusammengeblieben und in ein anderes Dorf gezogen, wo sie an der dortigen Schule Arbeit fand. Sie haben geheiratet, und meine Großmutter wurde schwanger.

Dora verlor ihren Mann einige Jahre nach der Geburt ihres Sohnes, der mein Vater ist, und sie ist danach nie wieder eine ernsthafte Beziehung eingegangen. Sie hat das Foto ihres Mannes stets in Ehren gehalten und es gehütet, als ob es der Beweis für jenes verheißungsvolle Leben wäre, das sie nie zusammen hatten leben können. Dora, die gerade mal einen Meter fünfzig groß war, schaffte es mit einer beneidenswerten Beharrlichkeit, dreiundneunzig Jahre alt zu werden. Sie steckte ihr graues Haar mit Spangen für kleine Mädchen hoch, und von jedem Ort, an dem sie war, brachte sie einen Stein mit. Irgendwann hörte sie auf zu reisen, und von da an waren wir es, die ihre Sammlung fortführten. Nachdem sie eines Morgens zu Hause in der Dusche schlimm gestürzt war, befand mein Vater, dass es an der Zeit sei, sie in einem Seniorenheim unterzubringen. Dora hat nicht widersprochen, sie wollte für niemanden eine Last sein. Es ist schon eigenartig, wenn man darüber nachdenkt, wie lange ein Leben dauert und in welch kurzer Zeit man es erzählen kann. Ich nehme an, dass der Kreis der Zuhörer am Ende wohl auch immer kleiner wird.

Dora hatte eine helle, aber ruhige Stimme. Sie redete sehr viel, aber sie war nie in Eile. Ihr Blick verlor sich manchmal an einem Ort, der weit weg zu sein schien – zu weit jedenfalls, als dass wir jemals dorthin hätten gelangen können. Doch was sie für sich und für uns bewahrte, war ihr Lächeln, ihre sanften Hände und das Rebellische in ihren Augen. Obwohl Dora meinem Großvater immer verbunden blieb, war sie doch eine Person, die der Gegenwart verhaftet war, eine Frau, die mit der Zeit ging – im Gegensatz zu vielen anderen alten Menschen, die nur noch in der Vergangenheit zu leben scheinen, weil sie sich dort am sichersten fühlen. Dora konnte mit ihrer Erfahrung das Leben anderer bereichern. Im Alter wurde ihr zunehmend bewusst, dass sie selbst nicht mehr viele Abenteuer erleben würde, und es machte ihr Freude, andere zu beraten, wenn auch nur wenige ihr die Aufmerksamkeit schenkten, die sie verdient hatte.

Ich habe sie immer gern um Rat gefragt, egal, ob die anstehende Entscheidung wichtig oder unwichtig war. Ich erzählte ihr alles, was ich erlebte. Sie war mein Anker, mein komplizenhaftes Schweigen, diejenige, die mich verstand.

Die Beziehung zu meinen Eltern war zu jener Zeit etwas distanzierter, unpersönlicher. Wir hatten eine unsichtbare Mauer zwischen uns errichtet, die immer noch existiert: Sie trennt uns, aber wir sind mittlerweile in der Lage, uns durch sie hindurch anzusehen. Dora hingegen unterstützte mich damals auf eine konstruktive, unmittelbare Art und Weise. Sie sagte nicht, dass sie alles gut fände, was ich machte, aber sie ermutigte mich, meine eigenen Entscheidungen zu treffen.

An dem Tag, an dem ich ihr erzählte, dass ich beschlossen hätte, Kunst zu studieren, ein Künstler zu werden und meine Werke in der ganzen Welt auszustellen – eine Entscheidung, die meine Eltern ganz und gar nicht guthießen –, sagte sie nur:

»Gaelito, mein Junge, du bist genau wie deine Großmutter. Immer schwimmst du gegen den Strom. Lass dir niemals einreden, dass das etwas Schlechtes ist oder die Mühe nicht wert sei. Nur diejenigen, die gegen den Strom schwimmen, werden am Ende ihren Platz finden, denn dort, wo alle sind, ist kein Platz mehr für eine weitere Person. Und du verdienst den besten Platz in dieser Welt. Gael, mein Liebling, hör mir gut zu, denn mit dem Alter kommt die Weisheit: Was du auch tust, finde den Herzschlag darin.«

Finde den Herzschlag. Dieser Satz, den Dora so oft gesagt hat, sollte für immer mein Leben prägen.

 

Und ich habe es tatsächlich getan. Ich habe meine Entscheidung getroffen und mein Studium begonnen. Schon als kleines Kind war ich geschickt mit dem Zeichenstift, und so kam es, dass diese Fähigkeit – oder das, was manche Leute Talent nennen – meine große Leidenschaft wurde und ich schließlich glücklich den Weg zur Universität einschlug.

Es war nicht das, was ich erwartet hatte, das ist es ja nie. In unserer Zeit ist das Studium ein notwendiger Schritt, der in manchen Fällen nirgendwo hinführt.

Während des Studiums entdeckte ich für mich einen eher selten gewählten Bereich: die Bildhauerei. Stundenlang sah ich aufs Höchste fasziniert dabei zu, wie die Professoren an der Kunstakademie mit chirurgischer Präzision Skulpturen formten. Bald war auch ich besessen von jedem Detail, von der Mimesis der Gesten und des Ausdrucks, von der Fähigkeit, totes Material zum Leben zu erwecken. Und all das fand in einem Kokon der Stille statt, der für den Moment der Schöpfung so unerlässlich ist. Auf diese Art und mit jenem Herzschlag, der heftig in meiner Brust pochte, wenn ich mein Werkzeug bereitlegte, begann ich, meine eigenen Werke zu erschaffen und sie in nahe gelegenen Galerien auszustellen. Meine erste Ausstellung zeigte Hände in verschiedenen Haltungen: verschränkte Hände, aneinandergelegte Hände, Hände, die darboten, Hände, die abwehrten. Als Titel der Ausstellung wählte ich »Handlungen«.

Wenn ich auf meine Zeit an der Kunstakademie zurückschaue, war das Zweitbeste, was mir passierte, sicher die Tatsache, dass ich mich mit Sara, der Leiterin meines Fachbereichs, sehr gut verstand. Nur wenige Monate nach meinem Studienabschluss kam sie zu einer meiner Ausstellungen und bot mir eine Stelle als Dozent im Fach Bildhauerei mit dem Schwerpunkt Skulpturen an einer privaten Kunstakademie an, die Freunde von ihr leiteten.

Das Beste war jedoch zweifellos, dass ich damals Andrés kennenlernte. Andresito war ein lebhafter Mensch, einer von denen, deren Energie ansteckend ist. Während des Studiums waren wir sehr gut befreundet und begossen bestandene und nicht bestandene Prüfungen mit ein paar Bier und launigen Gesprächen. An manchen Tagen schwänzten wir gemeinsam die Vorlesungen und schweiften ziellos und angeregt plaudernd durch die Stadt. Andrés war sehr gesellig, er liebte Männer und hatte immer gleich mehrere Beziehungen. Er gönnte sich vollkommene Freiheit. Lachte darüber und sagte, er sei nicht promiskuitiv, sondern könne sich einfach nicht entscheiden.

Zum ersten Mal hatte ich jemanden kennengelernt, der meine Leidenschaft für die Kunst teilte, wenn wir auch auf unterschiedliche Art und Weise an das Thema herangingen. Andrés’ Traum war es, Kunsthändler zu werden und in irgendeiner europäischen Hauptstadt eine eigene Galerie zu eröffnen. Mein Traum war es, Bildhauer zu werden und meine Arbeiten überall auf der Welt auszustellen. Wir malten uns aus, wie wir später zusammenarbeiten würden. Wir begannen, die Welt zu entdecken, und mehr brauchten wir nicht. Andrés verstand mich und akzeptierte großzügig alle meine Verrücktheiten. Er selbst war in alle schönen Männer an der Fakultät verliebt, wobei nur wenige ihn beachteten. Wenn es ihm schließlich gelang, sich mit einem von ihnen zu verabreden – entweder, weil er nicht lockerließ oder durch charmante Beharrlichkeit –, feierten wir dies, als hätte er im Lotto gewonnen. Sein Lachen war eine Konstante in meinem Leben.

Doch der Tod sorgte dafür, dass sich unsere Wege trennten. Andrés’ Eltern kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Das war kurze Zeit, nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, und Andrés, der ein Einzelkind war, beschloss daraufhin, nach London zu ziehen. Er gehörte schon damals zu den Menschen, die der Traurigkeit zuvorkommen, die, bevor der Schmerz sie erreicht, bereits an einem anderen Ort sind. Er blieb nicht da, um in den Regen zu starren, er ging einfach woandershin. So war er. Und heute, zwei Jahre nach diesem Unglück, in denen wir unsere Freundschaft über Telefongespräche und den Austausch von schriftlichen Nachrichten aufrechterhalten haben, ist er derselbe wie immer: ein sonniger Mensch, der auf der Suche ist, dem Leben stets einen Schritt voraus. Wie er immer sagt, ist es entschieden besser, seine Träume zu verfolgen, statt zuzulassen, von den eigenen Wünschen verfolgt zu werden, weil man von dem, was einen glücklich macht, niemals genug bekommen kann.

 

Natürlich war es nicht mein Ziel, als Dozent zu arbeiten. Ich wollte etwas erschaffen, dem, was man für gegeben hält, einen neuen Sinn verleihen; ich wollte, dass meine Kunst die Städte und das Leben der Menschen überflutete. Eine Spur hinterlassen auf diesem Planeten. Meinen Traum verwirklichen. Dennoch nahm ich die Stelle, die Sara mir anbot, erfreut an, denn ich brauchte Geld, und außerdem hatte ich von Dora gelernt, dass man am meisten lernt, wenn man andere unterrichtet.

Ich habe zwei Jahre lang an dieser Kunstschule gearbeitet. Der Unterricht wurde in einem Atelier erteilt, das in einer kleinen Straße in einem Viertel nahe dem Zentrum lag. Als ich am ersten Unterrichtstag dorthin kam, fand ich einen verstaubten Raum vor, der nach Sägespänen und Gips roch. Das Atelier war nicht besonders groß und ziemlich unordentlich – offenbar hatte der Lehrer, der dort im vorangegangenen Jahr unterrichtet hatte, sämtliches Arbeitsmaterial, Werkzeug und unvollendete Werke einfach zurückgelassen. Der Holzboden knarrte bei jedem Schritt, und die Wände, an denen jede Menge Bilder hingen, waren aus orangefarbenem Backstein. In der Mitte des Ateliers ragten ein paar halb fertige Skulpturen auf, Gemälde lehnten auf Staffeleien, mehrere lange Tische standen im Raum. Doch durch zwei riesige Fenster, die zur Straße hinausgingen, fiel ein goldenes Licht, das dem ganzen Durcheinander eine wunderbare Friedlichkeit verlieh. Hinter den Tischen war der hintere Bereich des Ateliers zu sehen: weitläufig, leer, mit ein paar hohen Hockern und einem Paravent, hinter dem sich das Modell umziehen konnte. An der Wand hingen zahlreiche Malerkittel still an einem Garderobenhaken, und eine Treppe führte hinauf zu einer offenen Galerie.

Ich legte das Material auf einen der langen Tische, und kurz darauf kamen die Studenten. Es waren nicht mehr als ein halbes Dutzend, und nachdem wir uns begrüßt hatten, nahmen alle Platz, ohne ihre Gespräche einzustellen. Der geringe Altersunterschied zwischen uns – sie waren knapp über zwanzig, und ich ging auf die dreißig zu – half dabei, das Eis zwischen Lehrer und Schüler zu brechen, und so kamen wir uns rasch näher.

Schon am ersten Tag zeigte sich, dass sich alle gut miteinander verstanden. Ich erklärte ihnen kurz den fachlichen Inhalt des Kurses, dessen Ziel es war, die Skulptur eines menschlichen Körpers zu erarbeiten. Ich fragte alle nacheinander, warum sie sich für diesen Kurs eingeschrieben hatten, was sie überhaupt zur Bildhauerei und der bildenden Kunst gebracht hatte, bevor ich über meine Beweggründe sprach. Danach verabschiedete ich sie bis zur nächsten Unterrichtsstunde und blieb selbst noch im Atelier, um das Material vorzubereiten.

Wenige Minuten später, außer mir war niemand mehr da, hörte ich, während ich im hinteren Teil des Ateliers das Werkzeug sortierte, ein Geräusch. Da ich von meinem Platz die Tür nicht sehen konnte, ging ich hin, um nachzuschauen, was das Geräusch verursacht hatte. Eine zierliche junge Frau mit langem wirrem Haar war eingetreten. Sie wirkte ein wenig befangen, hatte jedoch einen entschlossenen Blick. Ich schätzte sie auf etwa Mitte zwanzig. Stumm betrachtete ich sie eine Minute oder ein Jahrhundert lang, ich weiß es nicht mehr, bis sie plötzlich mit einem beherzten Schritt näher trat. Ich spürte, wie mir eine leichte Hitze in die Wangen stieg. Ihr nahezu trotziger Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Ihre Augen hatten die Farbe des Meeres in dem Moment, bevor die Wellen brechen.

»Hallo, ich bin Marta. Ich soll hier den Bildhauerei-Studenten Modell stehen, aber ich hab das Gebäude erst nicht gefunden, und jetzt bin ich wohl zu spät. So ein Mist. Ich bin zu spät, oder?« Sie sprach schnell und blickte sich nervös im Atelier um.

»Ja, aber das macht nichts, keine Sorge«, entgegnete ich. »Heute war die erste Stunde, und ich wollte dir nur alles erklären und dich den Studenten vorstellen, damit ihr euch miteinander vertraut machen könnt. Richtig los geht es erst am Donnerstag, du hast also noch genügend Zeit, dir den Weg hierher zu merken«, fügte ich lächelnd hinzu. »Übrigens heiße ich Gael und bin der Dozent hier.«

»Uff.« Sie seufzte erleichtert. »Glück gehabt. Ich hab schon befürchtet, dass du so ein hochnäsiger Professorentyp bist, du weißt schon. Dann sehen wir uns übermorgen. Ich werde pünktlich sein, versprochen. Und, ach ja, freut mich. Ich heiße Marta, oder hab ich das schon gesagt?«

 

Wie gern würde ich zu diesem Moment zurückkehren, mich umdrehen und das Atelier mit dem dunklen Holzboden und den orangefarbenen Backsteinwänden eilig verlassen. Der Leiterin der Kunstakademie sagen, dass ich es mir anders überlegt hätte, in eine andere Stadt ziehen wollte, dass ich gerade die ersten Erschütterungen eines Erdbebens gespürt hätte, des gewaltigsten, das ich je erleben würde, und dass ich fliehen müsste, um mich in Sicherheit zu bringen. Wie gern würde ich aber auch dorthin zurückkehren, um in diesem Moment für immer zu verweilen und eine Skulptur von dem zu erschaffen, was ich sah, sie in alle Museen des Landes mitzunehmen, alle Uhren anzuhalten, die Stadt explodieren zu lassen, das Atelier mit Blumen zu füllen.

Dora hat einmal gesagt, dass Erinnerungen nichts anderes sind als Träume aus der Vergangenheit, Beweisstücke für andere Leben, die wir nicht zu leben gewagt haben. Ich bin so oft zu diesem Moment zurückgekehrt, dass ich schon fürchtete, es hätte ihn nie gegeben. Doch dieser Traum pulsiert mit einer derartigen Heftigkeit in meinem Körper, dass es unmöglich ist, ihn zu ignorieren.

 

Es war das Jahr 1934, und ich war gerade zwanzig Jahre alt geworden. Ich war nach Madrid zurückgekehrt und furchtbar einsam. Da ich an unser kleines Dorf La Hiruela gewöhnt war, wo ich mit meiner Mutter gelebt hatte, waren die Straßen der Stadt für mich ein einziges Labyrinth. Von unserem gemütlichen, durch dicke Mauern geschützten Haus war ich in ein winziges Zimmerchen gezogen, in das kaum mehr als ein Bett passte. Und es war kalt, sehr kalt. Es war eisig, und ich fühlte mich schrecklich allein. Doch ein Freund hatte mir eine Stelle an einer Schule vermittelt, die ich nicht ablehnen konnte.

Für mich hat das Unterrichten immer eine große Macht gehabt, eine ungeheure Macht, weißt du, Gael? Man ist für eine Menge unschuldiger Köpfe verantwortlich, die etwas lernen wollen, die gewillt sind, etwas aufzunehmen. Und es hängt in hohem Maße vom Lehrer ab, ob diese kleinen Persönlichkeiten in einigen Jahren die richtigen Entscheidungen treffen oder es zumindest versuchen, verstehst du? Natürlich! Wir Lehrer sind der Schlüssel. Erst wenn man älter wird und schließlich erwachsen ist, fallen einem all die verschlossenen Türen auf, die uns umgeben, die uns in Versuchung führen, die uns zurückhalten. Davon erzählt einem niemand, solange man noch klein ist, weil wir in einem schönen Park aufwachsen sollen. Und das ist richtig so, Gael. Denn wir alle werden schließlich in einen solch wunderbaren Park zurückkehren, vielleicht als Verliebte, die bereit sind, sämtliche Brunnen leer zu trinken, oder als alte Menschen wie ich, die ihre tägliche Routine durchbrechen möchten.

Ich hatte vorher schon einmal in Madrid gelebt und war in der Escuela Normal de Maestras zur Lehrerin ausgebildet worden. Meine Mutter hatte auf dieser Ausbildung bestanden, möglicherweise, weil mein Vater so früh gestorben war oder wegen des aufrührerischen Charakters, den er mir vererbt hatte. Sie wollte, dass ich eine wichtige Frau werde, jemand, der etwas verändern konnte, wenn schon nicht die Welt, dann doch zumindest diejenigen, die sie irgendwann einmal regieren würden. Ich hatte Glück. Meine Mutter bestand nicht darauf, dass ich heiratete, was damals der übliche Weg für ein junges Mädchen war, und sie hinderte mich auch nicht daran, meinen Beruf auszuüben. Um möglichst fortschrittlich zu gelten, war es Frauen zur Zeit der Zweiten Spanischen Republik erlaubt zu arbeiten. Allerdings war die erste Bedingung, die in unseren Arbeitsverträgen stand, dass wir dann nicht heiraten durften. Taten wir es dennoch, mussten wir auf die Ausübung unseres Berufs verzichten und unseren Ehemännern gehorchen. Wie du siehst, Gael, ist Heuchelei in der Politik nichts Neues – sie wurde schon vor Jahren von den Regierungen praktiziert. Wir Frauen haben noch viel Arbeit vor uns, bis wir endlich gleichberechtigt sind.

In Madrid hatte ich Kolleginnen, denen die gleichen Dinge durch den Kopf gingen wie mir. Hellwache, intelligente, selbstbewusste Frauen mit klaren Vorstellungen und beneidenswertem Scharfsinn. Ich war die Jüngste, und wir spornten uns gegenseitig an. Später, als sich die Lage verschlechterte, habe ich mir diese Zeit immer wieder in Erinnerung gerufen. Ich habe keine meiner Kolleginnen jemals wiedergesehen. Als ich nach Madrid zurückkehrte, waren sie alle schon fort. Sie arbeiteten woanders, aber ihr Mut begleitete mich in jenen ersten einsamen Tagen in der Stadt.

Wie auch immer, Gaelito. Als ich an die Schule kam, stand ich Schülern unterschiedlichen Alters gegenüber, die zusammen unterrichtet wurden. Zu jener Zeit, als man, um etwas zu erreichen, noch mit anderen Waffen kämpfen musste als mit Leidenschaft, galt es, sich die Bildung zu erstreiten, um dafür zu sorgen, dass diese Kinder mit der Wahrheit aufwuchsen.

Für mich war das Unterrichten zur Zeit der Republik etwas Wunderbares. Man kämpfte für die Bildung, dafür, dass die Schüler etwas lernten, verstehst du? Aber nicht nur das: Wir wollten ihnen auch beibringen, freier zu sein, sich für eine ebenfalls freiere, gerechte und solidarische Gesellschaft einzusetzen. Dieses Land lag, was die Bildung der unteren Schichten betraf, vollkommen brach. Ich habe mitbekommen, dass die republikanische Regierung viele Dinge ändern wollte, und eines der ersten war dies: Wir Lehrer waren dafür ausgebildet worden, die Kinder den Stoff nicht einfach auswendig lernen zu lassen, sondern ihnen das Werkzeug mitzugeben, ihn sich selbst zu erarbeiten. Unser Unterricht war egalitär, doch all das wurde später zerstört. Aber das ist eine andere Geschichte.

Mir wurde eine Klasse mit nur wenigen Schülern anvertraut. Ab dem Alter von zehn Jahren durften Kinder damals arbeiten, weshalb viele leider manchmal gar nicht zum Unterricht erschienen. Doch du hättest mal die glänzenden Augen dieser Kinder sehen sollen, ihre Neugier. Sie waren verrückt danach zu lernen, Wissen in sich aufzunehmen, um die misslichen Zustände, die wir vor Augen hatten, eines Tages zu ändern. Es war eine schwierige, furchtbar schwierige, aber auch eine sehr bereichernde Zeit … Und ich werde immer mit Stolz daran zurückdenken und niemals etwas bereuen, hörst du, niemals!

Auch dein Großvater wurde Gael genannt, wie du, was eine Koseform von Gabriel ist – und so hieß wiederum Gaels Großvater, der in Kuba geblieben war, als Gaels Eltern wegen der politischen Unruhen im Land, der ständigen Streiks und der Aufstände gegen die Regierung, die schließlich die Flucht des Präsidenten zur Folge hatten, nach Spanien auswanderten. Sie wollten, dass ihr Sohn in Frieden aufwachsen konnte, ohne zu ahnen, dass das Schicksal, das ihnen in Spanien bevorstand, genauso schrecklich sein würde. Gael war fast noch ein Junge, als ich ihn kennenlernte, wobei er wesentlich älter wirkte, als er war. Unter der Kleidung zeichneten sich seine kräftigen Muskeln ab, und sein breiter Rücken war eher der eines jungen Mannes als der eines Jungen. Er war gut genährt, doch während des Bürgerkrieges sollte er seine kräftige Statur verlieren. Seine Augen waren riesengroß und forschend, und er war zweifellos das schlauste Kind in der Klasse, allerdings auch das rebellischste. Und er war der erste Mensch in dieser kalten Stadt, der mich ansah, als ob er mich bereits kennen würde, und der mir das Gefühl gab, dass ich hier erneut meinen Platz finden könnte. Seine Stimme, die etwas von der Wärme Kubas in sich trug, strich über meine Haut wie eine sanfte Brise, und jedes Mal, wenn ich sie hörte, fühlte ich mich auf unsichtbare Art liebkost. Er hatte sich auf den ersten Blick in mich verliebt, wie er mir später gestand. So war er, dein Großvater, starrköpfig und voller Enthusiasmus. Er ließ sich von seinen leidenschaftlichen Gefühlen leiten, und niemand war in der Lage, ihn aufzuhalten. Noch weniger, ihn zu bezwingen. Und genau das war der Grund, warum er mein Herz eroberte: die Art und Weise, wie er sich in mich verliebte.

Es hat sehr lange gedauert, bis ich gelernt habe, ohne ihn zu leben, Gaelito, aber das bedeutet nicht, dass ich ihn jemals vergessen werde. Meine Erinnerungen an ihn sind so überdeutlich, dass ich manchmal fast fürchte, sie erfunden zu haben.

Mit der Zeit lernt man, gegen solche in der Vergangenheit liegenden Momente nicht anzukämpfen, sondern sich ihnen zu stellen, ihnen beherzt gegenüberzutreten und zuzulassen, dass sie für eine Weile bleiben und uns aufrütteln. Man gestattet ihnen, so lange wiederzukehren, wie es nötig ist, um mit ihnen in Frieden abzuschließen.

Und eines ist gewiss, nämlich, dass jede Erinnerung an ihn – auch wenn sie schmerzlich ist und es ihn nicht mehr gibt – ein weiterer Moment an seiner Seite ist, und das ist unendlich kostbar, mein Junge. Dein Großvater hat mich zum Leben erweckt. Ich werde ihn nie vergessen, Gaelito, natürlich nicht. Und nicht ohne Grund habe ich deinen Vater gebeten, dir seinen Namen zu geben.

TAG ZWEI OHNE DICH

Ich bleibe im Bett.Noch bist du bei mir und wunderschön, wenn auch nur in meinen unglücklichen Träumen.

Seit dem Beginn des Kurses waren bereits zwei Wochen vergangen, und die Klasse kam gut voran. Die Studenten waren eifrig bei der Sache, die meisten von ihnen arbeiteten mit der Ausdauer und der Geduld, die künstlerisches Arbeiten erfordern. Wie bereits gesagt, war das Ziel des Kurses, einen menschlichen Körper zu formen und dabei den Fokus auf die Details zu legen: die Gesichtszüge, einen besonderen Ausdruck, die Tiefe des Blicks.

Ich war motiviert wie noch nie. Schon lange suchte ich nach jenem Herzschlag, von dem Dora immer gesprochen hatte, und endlich hatte ich ihn gefunden. Ich liebte die Bildhauerei, weil ich spürte, dass ich durch sie etwas Neues erschaffen konnte, etwas, was es vorher noch nicht gegeben hatte. Auch wenn es durchaus stimmt, dass es in der Kunst weder richtig noch falsch gibt, sondern nur den Versuch, und alles eine eigene Wahrheit hat, muss der Künstler doch an das glauben, was er erschafft, denn er wird über seine Werke definiert. Daher braucht er eine gewisse Empathie, um eine Verbindung zum Betrachter herzustellen, jener Person, die stehen bleibt und sein Werk bewundert, ohne genau zu wissen, warum. Bei jeder Skulptur, jedem Gemälde oder sonst einem Ausstellungsstück muss dieses unsichtbare Band geschmiedet werden, das den Blick des Vorübergehenden einfängt. So wie kein Buch ohne die Augen existiert, die es lesen, oder kein Lied bestehen kann, wenn es niemanden gibt, der es hört, erfüllt ein Kunstwerk seine Funktion nur dann, wenn es den Betrachter in seinen Bann zieht. Vielleicht ist dies das schwierigste Ziel, das es zu erreichen gilt. Und es war das, wonach ich unaufhörlich strebte.

Marta erfüllte das Atelier mit einem goldenen Glanz. Es gibt Menschen, die jeden Raum mit Licht überfluten und auch die Herzen derer, die zu ihnen schauen. Marta war so jemand. Für Leute wie mich, die zusehen, wie die Zeit langsam vorbeizieht, und alles ganz genau studieren, es jedoch nur selten wagen, mit beiden Händen nach dem Leben zu greifen und es zu schütteln, damit unverhoffte Möglichkeiten herausfallen, war jemand wie Marta, die so unmittelbar und elektrisierend war, ein Ereignis, auch wenn sie mein Leben nur flüchtig streifte, unaufhaltsam wie ein vorbeifahrender Zug. Marta anzuschauen war, als würde man mir mein Lieblingslied vorsingen.

Dora hat immer gesagt, dass es nur kurze Zeit braucht, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, während man sich an das Licht nie so ganz gewöhnt – als würden wir uns nur in unseren Verstecken sicher fühlen, weil dort niemand anderes hingelangen kann.

Marta setzte alles in mir in Flammen. Ihr Blick, ihre Gesten, ihr Körper, der so verletzlich und doch so unbezwingbar schien und sich der Kreativität meiner Schüler darbot, ließen mich implodieren.

Ich erinnere mich noch, wie sie eines Tages ihr Handy vergessen hatte und nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal ins Atelier zurückkam, wo ich nach dem Unterricht immer noch eine Weile blieb, um an meinen eigenen Skulpturen zu arbeiten. Ich brauchte Ruhe und leise Musik, die Stille inmitten des künstlerischen Chaos, um mich konzentrieren zu können, und dafür war das Atelier perfekt.

Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Marta genau das Gegenteil von dem war, was ich brauchte. Sie stürzte ins Atelier wie am ersten Tag, geräuschvoll, mit aufgeregter Miene, außer Atem und irgendetwas vor sich hin murmelnd.