Die Teerose - Jennifer Donnelly - E-Book
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Die Teerose E-Book

Jennifer Donnelly

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Beschreibung

London 1888, eine Stadt im Aufbruch: Während in den Gassen von Whitechapel das Laster blüht, träumt die 17-jährige Fiona von einer besseren Zukunft. Als Packerin in einer Teefabrik beweist die junge Irin ihr Gespür für die köstlichsten Sorten und exotischsten Mischungen. Doch dann muss Fiona ihren Verlobten Joe verlassen und sich im New York der Jahrhundertwende eine Existenz aufbauen … Spannend und voller Sinnlichkeit erzählt dieser Roman die Geschichte der Fiona Finnegan und einer großen Liebe zwischen Sühne, Mut und Leidenschaft.

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Für Douglas, meinen Jungen mit den blauen Augen      

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Angelika Felenda

 

ISBN 978-3-492-95602-4

© Jennifer Donnelly 2002 Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Tea Rose«, St. Martin's Press, New York 2002 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2003 Umschlag: semper smile, München Umschlagabbildung: Anne Twomey

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Prolog

Erster Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

Zweiter Teil

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

Dritter Teil

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

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75

76

77

78

79

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81

82

83

84

Dank

Guide

     Tief in ihren Wurzeln bewahren alle Blumen das Licht.

THEODORE ROETHKE

  Prolog  

London, August 1888

Polly Nichols, eine Hure aus Whitechapel, war dem Gin zutiefst dankbar. Gin half ihr. Er kurierte sie. Er nahm ihr den Hunger und vertrieb die Kälte aus den Knochen. Er stillte den Schmerz in ihren verfaulten Zähnen und betäubte das Brennen beim Pinkeln. Er verschaffte ihr angenehmere Gefühle, als je ein Mann es vermocht hatte. Er beruhigte und tröstete sie.

Betrunken schwankte sie durch eine dunkle Gasse, führte die Flasche zum Mund und trank sie leer. Der Alkohol brannte wie Feuer. Sie hustete, die Flasche entglitt ihr, und sie fluchte, als sie zerbrach.

In der Ferne schlug die Kirchturmuhr von Christ Church zwei. Der volle Klang wurde vom dichter werdenden Nebel gedämpft. Polly steckte die Hand in die Manteltasche und spielte mit den Münzen. Vor zwei Stunden hatte sie ohne einen Penny in der Küche einer schäbigen Absteige in der Thrawl Street gesessen. Der Knecht des Hauswirts hatte sie dort entdeckt, die vier Pence von ihr gefordert und sie rausgeworfen, als sie nicht zahlen konnte. Fluchend und keifend hatte sie ihm aufgetragen, ein Bett für sie freizuhalten, er würde das Schlafgeld schon kriegen, sie habe es längst verdient und inzwischen schon dreimal versoffen.

»Und jetzt hab ich’s auch, du Mistkerl«, murmelte sie. »Hab ich’s nich gesagt? Ich hab deine verdammten vier Pence und obendrein noch einen ordentlichen Rausch.«

Das Geld und den Gin hatte sie in der Hose eines Betrunkenen gefunden, der allein die Whitechapel Road hinunterwankte. Er mußte allerdings ein bißchen überredet werden, denn mit zweiundvierzig war ihr Gesicht kein großes Kapital mehr. Zwei Vorderzähne fehlten ihr bereits, ihre kleine Nase war platt gedrückt wie bei einem Boxer, aber ihr Busen war noch immer fest, so daß ihn ein kurzer Blick darauf überzeugt hatte. Vorher bestand sie allerdings auf einem Zug aus seiner Flasche, weil sie wußte, daß der Alkohol ihre Geruchsnerven betäuben und seinen Gestank nach Bier und Zwiebeln überdecken würde. Als sie trank, knöpfte sie ihr Mieder auf, und während er sie begrapschte, ließ sie die Flasche in ihre eigene Tasche gleiten. Er war ungeschickt und langsam, und sie war froh, als er sich endlich zurückzog und davontaumelte.

Mein Gott, es gibt nichts Besseres als Gin, dachte sie jetzt und lächelte, als sie sich an den Glücksfall erinnerte. Eine Flasche in den Händen zu halten, die Lippen an den Rand zu drücken und die beißende, scharfe Flüssigkeit durch die Kehle rinnen zu lassen. Es gab nichts Besseres. Und die Flasche war fast voll gewesen. Nicht bloß ein lächerlicher Schluck für drei Groschen. Ihr Lächeln erlosch, als sie den Drang nach mehr verspürte. Sie hatte den ganzen Tag getrunken und kannte den Katzenjammer, der sie erwartete, wenn der Fusel zur Neige ging. Das Würgen, das Zittern und, am schlimmsten von allem, die Dinge, die sie sah – schwarze krabbelnde Wesen, die sie aus den Wandritzen der Absteige angrinsten.

Polly leckte über ihre rechte Handfläche und fuhr sich damit übers Haar. Ihre Hände glitten zu ihrem Mieder hinab, und sie machte mit ihren fahrigen Fingern einen Knoten in die schmutzigen Schnüre. Dann knöpfte sie ihre Bluse zu, torkelte aus der Gasse hinaus die Bucks Row hinunter und sang mit lallender Stimme:

 

»Keiner bewahrt dich vor Pech und Leid

Glück ist dir hold oder neid

Lob dem, der gibt sich zufrieden

Mit dem Wechsel von Glück und Leid hienieden …«

 

An der Ecke von Bucks Row und Brady Street blieb sie plötzlich stehen. Alles verschwamm ihr vor Augen. Ein surrendes Geräusch, leise und nah, wie der Flügelschlag eines Insekts, fuhr durch ihren Kopf.

»Ich brauch was zu trinken«, stöhnte sie. Sie hob die Hände. Sie zitterten. Sie schlug den Mantelkragen hoch und begann, schneller zu gehen, in dem verzweifelten Verlangen, wieder an Gin zu kommen. Ihr Kopf kippte nach vorn, so daß sie den Mann nicht bemerkte, der ein paar Meter vor ihr stand und wartete, bis sie fast bei ihm war. »Verdammt!« rief sie. »Wo zum Teufel, bist’n du so plötzlich hergekommen?«

Der Mann sah sie an. »Willst du?« fragte er.

»Nein, Meister, ich will nich. Ich bin ziemlich fertig. Gute Nacht.«

Sie schickte sich an weiterzugehen, aber er packte ihren Arm. Sie drehte sich zu ihm um, ihr freier Arm hob sich, um zuzuschlagen, als ihr Blick auf den Shilling fiel, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

»Na schön, das ist was andres«, sagte sie. Sein Shilling und die vier Pence, die sie bereits hatte, würden reichen, um heute abend, aber auch morgen und übermorgen Gin und Schlafplatz zu bezahlen. Obwohl sie sich hundeelend fühlte, konnte sie das Angebot nicht ausschlagen.

Schweigend gingen Polly und ihr Freier an baufälligen Gebäuden und hohen Lagerhäusern vorbei den Weg zurück, den sie gekommen war. Der Mann schritt kräftig aus, so daß sie Mühe hatte, ihm nachzukommen. Als sie ihn musterte, stellte sie fest, daß er ausgesprochen teuer angezogen war. Vermutlich hatte er auch eine hübsche Uhr bei sich. Jedenfalls müßte sie im richtigen Moment seine Taschen durchwühlen. Am Ende der Bucks Row, vor dem Eingang zu einem Pferdestall, blieb er plötzlich stehen.

»Nicht hier«, protestierte sie und rümpfte die Nase. »Bei dem Schmied … ein bißchen weiter unten …«

»Das geht schon«, antwortete er und drückte sie gegen zwei verrostete, mit einer Kette gesicherte Blechplatten, die als Stalltor dienten.

Sein Gesicht leuchtete unheimlich hell in der zunehmenden Dunkelheit, und seine wächserne Bleiche stand in grellem Gegensatz zu seinen kalten, schwarzen Augen. Ihr wurde schlecht, als sie ihn ansah. O Gott, betete sie insgeheim, hoffentlich muß ich mich nicht übergeben. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht so kurz vor einem ganzen Shilling. Sie zwang sich, tief Luft zu holen, und unterdrückte den Brechreiz. Während sie dies tat, atmete sie seinen Duft ein – Makassaröl, süß, und etwas anderes … was war das? Tee. Es war Tee, um Himmels willen.

»Also los jetzt«, sagte sie. Sie hob ihre Röcke und fixierte ihn mit einem matt erwartungsvollen Blick.

Die Augen des Mannes glitzerten jetzt dunkel wie glänzende schwarze Ölteiche. »Du dreckige Hure«, sagte er.

»Keine Sauereien heut, Süßer. Ich bin ein bißchen in Eile. Soll ich dir helfen?« Sie streckte die Hand aus. Er schlug sie weg.

»Hast du wirklich gedacht, du könntest dich vor mir verstecken?«

»Hör zu, willst du jetzt …«, begann Polly. Sie beendete ihren Satz nicht mehr. Ohne Vorwarnung packte sie der Mann an der Gurgel und drückte sie gegen das Tor.

»Laß los!« rief sie und holte gegen ihn aus. »Laß mich gehen!«

Er packte sie noch fester. »Du hast uns verlassen«, sagte er mit vor Haß brennenden Augen. »Hast uns wegen der Ratten verlassen.«

»Bitte!« keuchte sie »Bitte tu mir nicht weh. Ich weiß nichts von Ratten, das schwör ich … ich …«

»Lügnerin.«

Polly hatte das Messer nicht kommen sehen. Sie hatte keine Zeit zu schreien, als es in ihren Bauch eindrang und rumgedreht wurde. Als er es wieder herauszog, stieß sie ein leises Stöhnen aus. Verständnislos, den Mund zu einem großen O geformt, starrte sie mit aufgerissenen Augen auf die Klinge. Langsam und vorsichtig betastete sie mit den Fingern die Wunde. Sie waren leuchtend rot, als sie die Hand zurückzog.

Sie hob den Blick, stieß einen wilden, entsetzten Laut aus und sah dem Wahnsinn ins Gesicht. Der Mann hob sein Messer und schlitzte ihre Kehle auf. Sie sackte zusammen, Dunkelheit umgab sie, hüllte sie ein, und sie versank in einem dichten, erstickenden Nebel, der tiefer war als die Themse und schwärzer als die Londoner Nacht, die sich auf ihre Seele senkte.

Erster Teil

  1  

Der Duft der frisch gerösteten indischen Teeblätter war betäubend. Er drang aus Oliver’s Wharf herüber, einem sechsstöckigen Lagerhaus am Nordufer der Themse, und zog die Old Stairs hinab, eine Steintreppe in Wapping, die von der gewundenen, mit Kopfstein gepflasterten High Street zum Fluß hinunterführte. Der Duft des Tees überlagerte alle anderen Gerüche der Docks – den säuerlichen Gestank des schlammigen Ufers, den salzigen Geruch des Flusses, die intensiven Düfte von Zimt, Pfeffer und Muskat aus den Gewürzlagern.

Fiona Finnegan schloß die Augen und atmete tief ein. »Assam«, sagte sie zu sich selbst. »Für einen Darjeeling ist der Geruch zu stark, für einen Dooars zu intensiv.«

Mr. Minton, der Vorarbeiter bei Burton’s, sagte, sie habe ein Näschen für Tee. Es machte ihm Spaß, sie zu testen und ihr eine Handvoll Blätter unter die Nase zu halten, die sie dann benennen mußte. Sie täuschte sich nie.

Ein Näschen für Tee? Vielleicht. Die Hände dafür ganz sicher, dachte sie und öffnete die Augen, um ihre abgearbeiteten, vom Teestaub schwarzen Hände anzusehen. Der Staub setzte sich überall fest. Im Haar, in den Ohren, im Innern ihres Kragens. Seufzend rieb sie mit dem Rocksaum den Schmutz weg. Zum erstenmal seit halb sieben heute morgen, seit sie die Küche ihrer Mutter verlassen und auf die dunklen Straßen von Whitechapel hinausgegangen war, konnte sie sich setzen.

Um Viertel vor sieben kam sie in der Teefabrik an. Mr. Minton hatte sie an der Tür erwartet und ihr aufgetragen, die Halbpfunddosen für die anderen Verpackungsarbeiterinnen herzurichten, die um sieben mit der Arbeit begannen. Diejenigen, die mit der Mischung beauftragt waren und in den oberen Stockwerken arbeiteten, hatten am Tag zuvor zwei Tonnen Earl Grey vorbereitet, der bis zum Mittag verpackt werden mußte. Fünfundfünfzig Mädchen hatten fünf Stunden Zeit, um achttausend Dosen zu füllen. Das hieß etwa zwei Minuten Arbeitszeit für eine Dose. Nur Mr. Minton fand, daß zwei Minuten zu lang waren, weshalb er hinter den Mädchen stehenblieb – sie überwachte, drangsalierte und antrieb. Nur um ein paar Sekunden bei der Füllung einer Teedose herauszuschinden.

An den Samstagen wurde nur halbtags gearbeitet, aber gerade diese kamen ihr endlos vor, weil Mr. Minton dann die Mädchen ganz besonders antrieb. Das war nicht seine Schuld, wie Fiona wußte, er befolgte nur die Anweisungen von Mr. Burton persönlich. Wahrscheinlich war ihr Arbeitgeber sauer, weil er seinen Angestellten einen halben Tag freigeben mußte, und dafür ließ er sie büßen. An den Samstagen bekamen sie keine Pause und mußten fünf volle Stunden stehen. Wenn sie Glück hatte, wurden ihre Beine taub, wenn nicht, taten sie allmählich immer heftiger weh, ein Schmerz, der in den Fußgelenken begann und langsam den Rücken hinaufzog. Aber noch schlimmer als das Stehen war die zermürbende, eintönige Arbeit selbst: ein Schild auf eine Dose kleben, den Tee abwiegen, ihn einfüllen, die Dose versiegeln und in eine Kiste stellen, dann alles wieder von neuem. Die Monotonie war eine Tortur für einen wachen Geist wie den ihren, und es gab Tage wie den heutigen, an denen sie dachte, sie würde wahnsinnig werden und nie davon loskommen, Tage, an denen sie sich fragte, ob all ihre großen Pläne, ihre Opfer, je zum Ziel führen würden.

Sie zog die Haarnadeln aus dem schweren Knoten an ihrem Hinterkopf und schüttelte das Haar auf. Dann löste sie die Schnürsenkel an ihren Stiefeln, streifte sie ab, zog die Strümpfe aus und streckte die langen Beine. Sie schmerzten immer noch von dem schier endlosen Stehen. Auch der Spaziergang zum Fluß hatte nichts geholfen. Sie konnte förmlich hören, wie ihre Mutter schimpfte: »Wenn du ein bißchen Verstand hättest, Kind, nur ein ganz kleines bißchen, würdest du gleich heimkommen und dich ausruhen, statt zum Fluß runterzurennen.«

 Nicht zum Fluß gehen? dachte sie und bewunderte die silbrige Themse, die in der Augustsonne glänzte. Wer könnte dem widerstehen? Muntere kleine Wellen schlugen ungeduldig gegen die Stufen der Old Stairs und spritzten sie naß. Sie beobachtete, wie sie langsam auf sie zusprangen, und stellte sich vor, daß der Fluß ihre Zehen berühren, über ihre Fußgelenke schwappen, sie in seinen verlockenden Strom hineinziehen und mit sich forttragen würde. Ach, wenn sie doch fortkönnte.

Während sie übers Wasser blickte, spürte Fiona, wie ihre Müdigkeit abklang und eine plötzliche Frische an ihre Stelle trat. Der Fluß belebte sie. Die Leute sagten, daß die City, das Handels- und Regierungszentrum im Westen von Wapping, das Herz von London sei. Wenn das stimmte, dann war dieser Fluß sein Lebenssaft. Und Fionas Herz machte einen Freudensprung angesichts seiner Schönheit.

Alles, was auf der Welt interessant und aufregend war, lag direkt vor ihr. Voller Staunen beobachtete sie die Schiffe, die den Fluß überquerten und mit Gütern aus den entferntesten Teilen des Empire beladen waren. Heute nachmittag herrschte dichter Verkehr auf der Themse. Stakkähne und Barkassen durchpflügten das Wasser und transportierten Männer von und zu Schiffen, die in der Mitte des Stroms ankerten. Ein mächtiger Dampfer drängte kleinere Fahrzeuge aus dem Weg. Ein zerbeulter Trawler, der vom Kabeljaufang in den eisigen Wassern der Nordsee zurückkehrte, fuhr flußaufwärts nach Billingsgate. Lastkähne kämpften um Durchfahrtsrecht, fuhren flußauf- und flußabwärts, löschten Fracht – eine Tonne Muskatnüsse hier, Säcke mit Kaffee dort. Fässer mit Melasse. Wolle, Wein und Whiskey. Tabakbündel und Kisten mit Tee.

Und überall, auf den vorspringenden Docks, mit ihren Kapitänen konferierend oder zwischen Kisten und Kästen und hoch aufgetürmten Paletten hin und her gehend, waren Händler – energische, herrische Männer, die aus der City herbeieilten, um sofort, nachdem ihre Schiffe angekommen waren, ihre Waren zu begutachten. Sie kamen in Kutschen, trugen Spazierstöcke und ließen mit feinen, weißen Händen goldene Uhren aufspringen. Sie trugen Zylinder und Gehröcke und wurden von Schreibern begleitet, die sich an ihre Fersen hefteten, Rechnungsbücher schleppten und mit gerunzelter Stirn alles überprüften und notierten. Diese Männer waren Alchimisten. Sie bekamen rohe Güter, die sie in Gold verwandelten. Und Fiona sehnte sich danach, zu ihnen zu gehören.

Es war ihr gleichgültig, daß Mädchen eigentlich nichts mit Geschäften zu tun hatten – vor allem Mädchen aus den Docks nicht, wie ihre Mutter sie immer wieder erinnerte. Mädchen aus den Docks lernten kochen, nähen und den Haushalt führen, damit sie Ehemänner fanden, die zumindest so gut für sie sorgten, wie ihre Väter es getan hatten. »Albernheiten« nannte ihre Mutter ihre Ideen und riet ihr, mehr Zeit darauf zu verwenden, ihre Kochkünste zu verbessern, und weniger Zeit am Fluß zu verbringen. Ihr Vater jedoch hielt ihre Träume nicht für närrisch. »Man muß einen Traum haben, Fee«, sagte er. »An dem Tag, an dem du zu träumen aufhörst, kannst du dich gleich einsargen lassen, dann bist du so gut wie tot.«

Versunken in den Zauber des Flusses, hörte Fiona die Schritte nicht, die sich oben den Old Stairs näherten. Sie merkte nicht, daß ein junger Mann dort stand und sie lächelnd eine Weile beobachtete, bevor er leise »Ha-llo!« rief.

Fiona drehte sich um. Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie ihn sah, und für ein paar Sekunden verschwand die resolute Entschlossenheit in ihrem Ausdruck – eine Entschlossenheit, die Nachbarsfrauen zu Tratschereien und der Feststellung veranlaßte, daß ein strenges Gesicht auf einen starken Willen schließen lasse. Und ein starker Wille bedeutete Schwierigkeiten. Sie würde nie einen Mann bekommen, sagten sie. Junge Männer schätzten das nicht bei Mädchen.

Doch diesen jungen Mann schien das nicht zu stören. Genausowenig wie ihn das glänzende schwarze Haar störte, das sich um ihr Gesicht ringelte und über den Rücken hinabfiel. Oder die blitzenden saphirblauen Augen.

»Du bist früh dran, Joe«, sagte sie lächelnd.

»Ja«, antwortete er und setzte sich neben sie. »Vater und ich sind in Spitalfields früh fertig geworden. Der Gemüsemann hat eine schlimme Erkältung, also hat er nicht lang rumgefeilscht. Ich hab die nächsten zwei Stunden ganz für mich. »Da«, fügte er hinzu und reichte ihr eine Blume. »Die hab ich auf dem Weg hier rüber gefunden.«

»Eine Rose!« rief sie aus. »Danke!« Rosen waren eine Kostbarkeit. Es kam nicht oft vor, daß er es sich leisten konnte, ihr eine zu schenken. Sie hielt die dunkelroten Blütenblätter an die Wange und steckte die Blume dann hinters Ohr. »Also, wie hoch ist die Wochenabrechnung? Wieviel haben wir?« fragte sie.

»Zwölf Pfund, einen Shilling, sechs Pence.«

»Leg das dazu«, sagte sie und zog eine Münze aus der Tasche, »dann haben wir zwölf und zwei.«

»Kannst du das entbehren? Ohne wieder das Abendessen ausfallen zu lassen, um Geld zu sparen?«

»Nein.«

»Ich mein’s ernst, Fee. Ich werd böse, wenn du …«

»Ich hab nein gesagt!« beharrte sie brüsk und wechselte das Thema. »Bald haben wir fünfzehn Pfund, dann zwanzig und dann fünfundzwanzig. Wir schaffen es wirklich, nicht?«

»Na klar. Bei der Geschwindigkeit dauert es noch ein Jahr, und wir haben unsere fünfundzwanzig beisammen. Genug für drei Monate Miete und Ware, um anzufangen.«

»Ein ganzes Jahr«, wiederholte Fiona. »Das hört sich wie eine Ewigkeit an.«

»Das geht schnell vorbei, Schatz«, antwortete Joe und drückte ihre Hand. »Nur der Anfang ist schwer. Sechs Monate, nachdem wir unseren ersten Laden aufgemacht haben, haben wir so viel Geld, daß wir den nächsten aufmachen können. Und dann den nächsten, bis wir eine Kette haben. Wenn wir das Geld so spielend zusammenbringen, schaffen wir’s.«

»Wir werden reich sein!« sagte sie und strahlte erneut.

Joe lachte. »Nicht gleich. Aber eines Tages schon. Das versprech ich dir, Fee.«

Fiona zog die Knie an die Brust und lächelte. Ein Jahr war schließlich nicht so lang, sagte sie sich. Vor allem, wenn man bedachte, wie lange sie schon über ihren Laden redeten. Schon seit Ewigkeiten, seit sie Kinder waren. Und vor zwei Jahren hatten sie angefangen zu sparen, Geld in eine alte Kakaodose zu stecken, die Joe unter seinem Bett aufbewahrte. Alles wurde in diese Dose gesteckt – der Lohn, Münzen, die sie zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekamen, Geld für kleine Hilfsdienste, sogar die paar Groschen, die sie auf der Straße gefunden hatten. Stück für Stück hatten sich die Münzen angehäuft, und jetzt besaßen sie zwölf Pfund und zwei Shilling – ein Vermögen.

Im Lauf der Jahre hatten sie und Joe sich ihren Laden ausgemalt, ihn in ihrer Phantasie verschönert und verbessert, bis das Bild so reale Gestalt annahm, daß sie nur die Augen zu schließen brauchte, um den Tee in den Kisten zu riechen. Sie konnte die glatte Eichentheke unter ihren Händen spüren und die kleine Messingglocke über der Tür klingeln hören. Es wäre ein heller, lichter Ort, kein schäbiges, dunkles Loch. Ein wirklich schönes Geschäft mit so geschmackvoll dekorierten Schaufenstern, daß die Leute einfach nicht daran vorbeigehen könnten. »Die Hauptsache ist die Präsentation, Fee«, sagte Joe immer. »Die zieht die Kunden in den Laden.«

Der Laden wäre ein Erfolg, das wußte sie. Was das Verkaufen anging, kannte sich Joe als Sohn eines Gemüsehändlers aus. Er war auf einem Gemüsekarren aufgewachsen und hatte die ersten Jahre seines Lebens in einem Korb zwischen Rüben und Kartoffeln verbracht. Noch bevor er seinen Namen sagen konnte, konnte er schon rufen: »Kauft meine gute Pe-tersi-lie!« Mit seinem Wissen und vereinten Kräften konnte gar nichts schiefgehen.

Unser Laden, ganz allein unser, dachte Fiona und sah Joe an, der aufs Wasser hinausblickte. Ihr Blick liebkoste sein Gesicht, erfreute sich an jeder Einzelheit – der kräftigen Kinnlinie, den sandfarbenen Stoppeln, die seine Wangen bedeckten, der winzigen Narbe über seinem Auge. Sie kannte jeden Zug an ihm. Es gab keine Zeit, da Joe Bristow nicht ein Teil ihres Lebens gewesen wäre, und es würde auch künftig keine geben. Sie und Joe waren in der gleichen schäbigen Straße aufgewachsen, als Nachbarskinder. Von klein auf hatten sie miteinander gespielt, hatten zusammen Whitechapel unsicher gemacht und waren gemeinsam durch dick und dünn gegangen.

Sie hatten als Kinder ihre Pennys und Süßigkeiten geteilt, und jetzt teilten sie ihre Träume. Bald würden sie ihr Leben teilen. Sie würden heiraten, sie und Joe. Nicht gleich. Sie war erst siebzehn, und ihr Vater würde sagen, sie sei zu jung. Aber nächstes Jahr wäre sie achtzehn und Joe zwanzig, und sie hätten Geld gespart und beste Aussichten.

Fiona stand auf und sprang von den Stufen auf die Steine hinunter. Ihr ganzer Körper bebte vor Aufregung. Sie schlenderte zum Flußufer, nahm eine Handvoll Steine und warf sie übers Wasser. Danach drehte sie sich zu Joe um, der noch immer auf den Stufen saß und ihr zusah.

»Eines Tages sind wir so groß wie die hier«, rief sie und breitete die Arme aus. »Größer als White’s oder Sainsbury’s. Und größer als Harrods.« Sie stand ein paar Sekunden still und sah auf die Lagerhäuser auf beiden Seiten und auf die Kais auf der anderen Flußseite. Auf den ersten Blick wirkte sie so zart und zerbrechlich, ein schmächtiges Mädchen, das am Flußufer stand mit dem Rocksaum im Schlamm. Aber wer sie näher ansah, so wie Joe es tat, entdeckte in jedem ihrer Züge, in jeder Geste ihren glühenden Ehrgeiz.

»Wir werden so groß sein«, fuhr sie fort, »daß jeder Händler am Fluß alles dransetzen wird, uns seine Waren zu verkaufen. Wir werden zehn Läden in London haben … nein, zwanzig … und noch mehr im ganzen Land. In Leeds und Liverpool. In Brighton, in Bristol und Birmingham und …« Sie hielt inne, weil sie plötzlich Joes Blick bemerkte und verlegen wurde. »Warum siehst du mich so an?«

»Weil du so ein verrücktes Mädchen bist.«

»Das bin ich nicht!«

»Doch. Du bist das verrückteste Huhn, das ich je gesehen hab. Du hast mehr Mumm als die meisten Kerle.« Joe lehnte sich auf die Ellbogen zurück und musterte sie bewundernd. »Vielleicht bist du gar kein Mädchen, sondern in Wirklichkeit ein verkleideter Junge.«

Fiona grinste. »Vielleicht bin ich das. Vielleicht solltest du hier runterkommen und nachsehen.«

Joe stand auf, und Fiona, vom Schalk gepackt, drehte sich um und rannte den Strand hinunter. Ein dumpfes Knirschen hinter ihr verriet ihr, daß er heruntergesprungen war und sie verfolgte. Sie quiekte vor Vergnügen, als er ihren Arm packte.

»Jedenfalls rennst du wie ein Mädchen.« Er zog sie an sich und tat so, als würde er ihr Gesicht inspizieren. »Und ich schätze, daß du hübsch genug bist, um ein Mädchen zu sein …«

»Du schätzt?«

»Hm, aber ich könnte mich täuschen. Besser, ich überzeug mich …«

Fiona spürte seine Finger, die über ihre Wange strichen. Ganz sacht hob er ihr Kinn, küßte ihre Lippen und öffnete sie mit seiner Zunge. Sie schloß die Augen und gab sich dem Kuß hin. Sie wußte, daß sie dies nicht durfte, nicht bevor sie verheiratet waren. Pater Deegan würde sie zur Buße mit unzähligen Ave Marias verdonnern, und wenn ihr Vater davon erführe, würde er ihr bei lebendigem Leib das Fell abziehen. Aber, ach, wie herrlich sich seine Lippen anfühlten, und seine Zunge war wie Samt, und seine von der Nachmittagssonne warme Haut duftete so süß. Bevor sie wußte, was sie tat, stand sie auf den Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuß. Nichts fühlte sich so gut an wie ihren Körper an den seinen zu schmiegen und seine starken Armen um sich zu spüren.

Pfiffe und Gegröle unterbrachen ihre Umarmung. Ein Lastkahn segelte an ihnen vorbei. Seine Mannschaft hatte sie entdeckt.

Mit glutrotem Gesicht zog Fiona Joe in das Labyrinth aufgeschichteter Warenkisten, wo sie warteten, bis der Lastkahn vorbeigefahren war. Eine Kirchturmuhr schlug die Stunde. Es war spät geworden. Sie wußte, sie sollte heimgehen und ihrer Mutter beim Abendessen helfen. Und Joe mußte auf den Markt. Nach einem letzten Kuß gingen sie zu den Old Stairs zurück. Sie eilte die Treppe hinauf, zog ihre Strümpfe und Schuhe wieder an und verhedderte sich dabei in ihrem Rock.

Als sie sich zum Gehen anschickte, warf sie einen letzten Blick auf den Fluß zurück. Es würde eine Woche dauern, bevor sie wieder zurückkommen konnte – eine Woche, in der sie im Dunkeln aufstehen, sich mühsam zu Burton’s und wieder nach Hause schleppen mußte, wo immer allerlei Arbeiten auf sie warteten. Aber das machte nichts, nichts machte etwas aus. Eines Tages würde sie alles hinter sich lassen. Weiße Schaumkronen erhoben sich von weiter draußen und kräuselten sich auf der Wasseroberfläche. Wellen tanzten. Bildete sie sich das nur ein, oder hüpfte der Fluß vor Freude für sie, für sie beide?

Und warum auch nicht? fragte sie sich lächelnd. Sie und Joe hatten einander. Sie hatten zwölf Pfund, zwei Shilling und einen Traum. Was scherte sie Burton’s oder die trostlosen Straßen von Whitechapel? In einem Jahr würde die Welt ihnen gehören. Alles war möglich.

 

»Paddy? Paddy, wie spät hast du’s?« fragte Kate Finnegan ihren Mann.

»Hm?« antwortete er, den Kopf in die Zeitung vergraben.

»Wie spät ist es, Paddy?« fragte sie, ungeduldig in einer gelben Schüssel rührend.

»Kate, Liebes, du hast mich doch gerade erst gefragt«, antwortete er seufzend und griff in seine Tasche. Er zog eine zerbeulte silberne Uhr heraus. »Es ist genau zwei Uhr.«

Stirnrunzelnd klopfte Kate den Schneebesen am Rand der Schüssel ab, löste cremefarbene Klümpchen von den Drähten und warf ihn dann ins Spülbecken. Dann nahm sie eine Gabel und stach in eines der Lammkoteletts, die auf dem Herd brutzelten. Ein wenig Saft trat aus dem Kotelett, der sich in Dampf auflöste, als er auf das heiße Metall der Bratpfanne traf. Sie spießte die Koteletts auf, legte sie auf eine Platte und stellte sie neben einen Topf mit Zwiebelsoße ins Wärmefach. Dann nahm sie ein paar Würstchen, schnitt sie auf und gab sie in die Pfanne. Als sie zu braten begannen, setzte sie sich ihrem Mann gegenüber an den Tisch.

»Paddy«, sagte sie und klopfte mit der Handfläche leicht auf den Tisch. »Paddy.«

Über die Zeitung hinweg sah er in die großen grünen Augen seiner Frau. »Ja, Kate. Was ist, Kate?«

»Du solltest sie wirklich holen gehen. Sie können nicht einfach eintrudeln, wann sie wollen, und dich mit dem Essen warten lassen. Und ich steh hier und weiß nicht, wann ich die Würstchen auftragen kann.«

»Sie kommen jede Minute. Fang doch schon an. Wenn ihr Essen dann kalt ist, sind sie selbst schuld.«

»Es ist nicht nur wegen dem Essen«, gestand sie. »Ich mag’s nicht, wenn sie draußen rumtrödeln, wo doch die Sache mit diesen Morden noch immer nicht vorbei ist.«

»Ach, du glaubst doch nicht, daß der Mörder von Whitechapel bei hellem Tageslicht rumläuft? Und einem kräftigen Burschen wie Charlie nachstellt? Gott steh ihm bei, wenn er’s tut, dann schreit der Mörder um Hilfe. Ganz zu schweigen von Fiona. Erinner dich, was mit dem Schläger Sid Malone passiert ist, als er versucht hat, sie in eine Gasse zu zerren. Sie hat ihm eins auf die Nase gegeben, daß sie gebrochen war. Und er ist zweimal so groß wie sie.«

»Ja, aber …«

»Da, Kate, da ist ein Artikel über Ben Tillet, den Gewerkschaftsmann, der die Männer in den Lagerhäusern organisiert. Hör dir das an …«

Kate sah ihren Mann vorwurfsvoll an. Sie hätte ihm sagen können, daß Feuer auf dem Dach sei, und hätte die gleiche Antwort bekommen. Was immer auch in der Zeitung stand, sie wollte es nicht wissen. Gespräche über Gewerkschaften bedrückten sie, Gespräche über Streiks machten ihr angst. Mit einem Mann, vier Kindern und einem Untermieter, die es zu füttern galt, schaffte sie es kaum, die Woche zu überstehen. Wenn zum Streik aufgerufen wurde, müßten sie hungern. Und als wäre das nicht schon Sorge genug, lief jetzt auch noch ein Mörder frei herum. Whitechapel war schon immer eine gefährliche Gegend gewesen, eine gewalttätige Mischung aus Cockneys, Iren, Polen, Russen, Chinesen und einem Haufen anderer. Niemand war reich, die meisten mußten schwer arbeiten. Viele tranken. Es gab viel Kriminalität, aber zumeist nur Diebstähle. Gangster brachten sich manchmal gegenseitig um, oder ein Mann wurde bei einer Schlägerei getötet, aber niemand tat so etwas wie Frauen aufschlitzen.

Während Paddy weiterlas, stand sie auf und wendete die Würstchen, die in einer dicken Soße aus Fleischsaft und Fett schwammen. Als sie anfing, die Kartoffeln zu zerstampfen, hörte sie die Haustür aufspringen und die leichten schnellen Schritte ihrer Tochter in der Diele.

»Hallo, Ma. Hallo, Pa«, sagte Fiona fröhlich und legte ihren Wochenlohn abzüglich Sixpence in eine alte Teedose auf dem Kaminsims.

»Hallo, Schatz«, antwortete Kate und sah von den Kartoffeln auf, um sie zu begrüßen.

Paddy murmelte einen Gruß hinter seiner Zeitung.

Fiona nahm eine Schürze vom Haken neben der Hintertür und warf einen Blick zu ihrer kleinen Schwester hinein, die in einem Korb neben dem Herd schlief, dann beugte sie sich zu ihrem vierjährigen Bruder Seamus hinunter, der auf einem Teppich mit Wäscheklammern Soldaten spielte, und gab ihm einen Kuß.

»Komm, gib mir auch einen, Seamie.«

Der kleine Junge mit dem dichten Schopf roter Haare drückte schalkhaft die Lippen an ihre Wange und gab ihr einen lauten, feuchten Schmatz.

»O Seamie!« rief sie und wischte sich die Wange ab. »Das war aber nicht sehr nett! Wer hat dir denn das beigebracht?«

»Charlie!«

»Das kann ich mir vorstellen. Was gibt’s zu tun, Ma?«

»Du kannst das Brot aufschneiden. Dann deckst du den Tisch, machst den Tee und bringst deinem Vater sein Bier.«

Fiona machte sich an die Arbeit. »Was gibt’s Neues, Pa?«

Paddy ließ die Zeitung sinken. »Die Gewerkschaft. Die Mitgliederzahlen steigen von Tag zu Tag. Es dauert nicht mehr lange, dann sind die Burschen aus Wapping auch dabei. Denk an meine Worte, vor Jahresende haben wir Streik. Die Gewerkschaften werden die Arbeiterklasse retten.«

»Und wie werden sie das anstellen? Indem sie uns pro Stunde einen Extrapenny geben, damit wir langsam statt gleich auf der Stelle verhungern?«

»Laß es gut sein, Fiona …«, warnte Kate.

»Eine schöne Einstellung ist das. Füttert dich dieser Joe Bristow mit solchen Ideen? Die Straßenhändler sind doch alle gleich. Denken nur an sich. Scheren sich einen Dreck um den Rest ihrer Klasse.«

»Joe braucht mich nicht mit Ideen zu füttern, ich hab genügend eigene. Und ich bin nicht gegen die Gewerkschaft. Ich will bloß meinen eigenen Weg gehen. Wer darauf wartet, daß Dock- und Fabrikbesitzer auf einen Haufen zerlumpter Gewerkschafter reagieren, kann lange warten.«

Paddy schüttelte den Kopf. »Du solltest eintreten, Beitrag zahlen, einen Teil deines Lohns fürs allgemeine Wohl beisteuern. Andernfalls bist du genau wie sie.«

»Also, ich bin durchaus keine von denen, Pa!« erwiderte Fiona erregt. »Ich steh auf und geh jeden Tag zur Arbeit, genau wie du. Ich glaub, daß die Arbeiter ein besseres Leben haben sollten. Sicher. Ich hab bloß keine Lust, auf meinem Hintern sitzen zu bleiben und zu warten, bis Ben Tillet alles richtet.«

»Fiona, was ist denn das für eine Ausdrucksweise«, sagte Kate tadelnd und sah nach dem Essen.

»Glaubst du wirklich, Pa, daß William Burton seiner Belegschaft erlaubt, der Gewerkschaft beizutreten?« fuhr sie aufgebracht fort. »Du arbeitest doch für ihn, du kennst ihn so gut wie ich. Er ist zäh wie Leder. Er will seinen Profit für sich behalten, nicht teilen.«

»Was du nicht verstehst, Mädchen, ist, daß man irgendwo anfangen muß«, antwortete Paddy erregt und richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Du gehst zu Versammlungen, verbreitest die Ideen, bringst alle Arbeiter von Burton’s dazu, die Gewerkschaft zu unterstützen – die Männer in den Docks, die Mädchen in den Fabriken –, dann hat er keine andere Wahl, als sich zu fügen. Vor dem großen Sieg kommen die kleinen. Wie bei den Mädchen in der Zündholzfabrik von Bryant & May’s, die sich gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und gegen die Abzüge fürs Schwatzen und Austreten aufgelehnt haben. Nach nur drei Wochen Arbeitseinstellung haben sie gewonnen. Eine Gruppe hilfloser Mädchen! In der Masse liegt die Kraft, Fiona, denk an meine Worte. Die Gewerkschaften werden die Dockarbeiter und die ganze Arbeiterklasse retten.«

»Das soll mir recht sein«, antwortete sie. »Aber laß mich damit zufrieden.«

Paddy schlug mit der Faust auf den Tisch, und seine Frau und Tochter zuckten zusammen. »Das reicht!« polterte er los. »Ich laß in meinem Haus keine Reden gegen meine eigene Klasse zu.« Mit funkelnden Augen nahm er seine Zeitung wieder hoch und glättete die Knitterfalten.

Fiona kochte vor Wut, wußte aber, daß sie den Mund nicht mehr aufmachen durfte.

»Wann begreifst du’s endlich?« fragte Kate sie.

Sie zuckte die Achseln, als wäre nichts geschehen, und begann, das Besteck aufzulegen, aber Kate ließ sich nicht täuschen. Fiona war wütend, aber sie sollte inzwischen wissen, daß sie ihre Ansichten für sich behalten sollte. Paddy sagte immer, er ermutige seine Kinder zu selbständigem Denken, aber wie alle Väter war es ihm lieber, wenn sie so dachten wie er.

Kate ließ den Blick zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter hin- und herschweifen. Gütiger Gott, dachte sie, sie sind sich so ähnlich. Das gleiche rabenschwarze Haar, die gleichen blauen Augen, das gleiche trotzige Kinn. Und beide haben ihre Hirngespinste – das ist das Irische an ihnen. Sie sind Träumer. Er träumt immer vom Sankt-Nimmerleins-Tag, an dem Kapitalisten ihre Untaten bereuen. Und dieses Mädchen macht Pläne für einen eigenen Laden. Sie hat keine Ahnung, wie schwer es sein wird, das in die Tat umzusetzen. Aber sie läßt sich nichts sagen. So war es schon immer mit ihr. Sie wollte schon immer hoch hinaus.

Kate machte sich Sorgen um ihre älteste Tochter. Fionas Sturheit, ihre Zielstrebigkeit waren so stark, so eindeutig, daß es sie beängstigte. Plötzlich überkam sie ein heftiges Gefühl, sie beschützen zu wollen. Wie viele Mädchen aus den Docks wollten wie sie einen Laden eröffnen? fragte sie sich. Was, wenn sie es schaffte, ihn aufzumachen, und dann scheiterte? Es würde ihr das Herz brechen. Und dann wäre sie ihr ganzes restliches Leben verbittert über etwas, was sie sich nie hätte wünschen dürfen.

Wie oft schon hatte Kate diese Sorgen ihrem Mann anvertraut, aber Paddy war stolz auf den glühenden Ehrgeiz seiner Tochter und wandte ein, daß Selbstbewußtsein und Schwung etwas Gutes seien bei einem Mädchen. Ob das wohl stimmte? Sie wußte es besser. Selbstbewußtsein und Schwung waren dafür verantwortlich, daß Mädchen ihre Stellen verloren oder von ihren Ehemännern verprügelt wurden. Wozu sollten Selbstbewußtsein und Schwung dienen, wenn die ganze Welt nur darauf wartete, sie einem auszutreiben? Sie seufzte tief auf – das lange, geräuschvolle Seufzen einer Mutter. Die Antwort auf diese Fragen müßte warten. Das Essen war fertig.

»Fiona, wo ist dein Bruder?« fragte sie.

»Unten beim Gaswerk Koks suchen, den er Mrs. McCallum verkaufen will, hat er gesagt. Für Kohle zahlt sie nichts.«

Vor dem Haus war ein Knirschen zu hören. Die Tür ging auf, und ein kleiner Leiterwagen tauchte auf. Charlie war mit seinem Holzkarren im Schlepptau heimgekehrt.

Der Kopf des kleinen Seamie schnellte hoch. »Der Mörder von Whitechapel«, rief er fröhlich.

Kate runzelte die Stirn. Ihr gefiel der gräßliche neue Name für ihren Sohn nicht.

»Jawohl, kleiner Mann«, erwiderte eine schaurige Stimme aus der Diele. »Es ist der Mörder von Whitechapel, der Herr der Nacht, der nach unartigen Kindern Ausschau hält.«

Die Stimme ging in ein böses Lachen über, und Seamie, vor Angst und Entzücken kreischend, erhob sich auf seine stämmigen Beinchen und suchte nach einem Versteck.

»Komm her, Schatz!« flüsterte Fiona und lief zu dem Schaukelstuhl vor dem Kamin. Sie setzte sich und breitete die Röcke aus. Seamie kroch darunter, vergaß aber, seine Beine einzuziehen. Immer noch böse lachend, kam Charlie in die Küche gestapft. Als er die kleinen Stiefelchen unter den Röcken seiner Schwester hervorstehen sah, mußte er sich zusammennehmen, um nicht laut loszuprusten und das Spiel zu verderben.

»Haben Sie irgendwelche unartigen kleinen Jungen gesehen, Missus?« fragte Charlie seine Mutter.

»Hör auf«, sagte Kate tadelnd. »Erschreck deinen Bruder nicht so.«

»Ach, dem macht das Spaß«, flüsterte Charlie und bedeutete ihr, still zu sein. »O Siamieeee«, rief er lockend, »komm raus, komm raus!« Er öffnete die Schranktür. »Da ist er nicht.« Er sah unter das Spülbecken. »Da ist er auch nicht.« Dann ging er zu seiner Schwester hinüber. »Hast du einen kleinen Jungen gesehen?«

»Nur den, der gerade vor mir steht«, antwortete Fiona und glättete ihre Röcke.

»Wirklich? Dann sind das deine Füße, die hier rausstehen. Ziemlich klein für ein so großes Mädchen, wie du es bist. Laß mich doch mal nachsehen … aha!«

Charlie packte Seamie an den Fesseln und zog ihn heraus. Seamie kreischte, und Charlie begann, ihn gnadenlos zu kitzeln.

»Nicht so wild, Charlie«, sagte Kate tadelnd. »Laß ihn erst mal wieder zu Atem kommen.«

Charlie hielt inne, und Seamie versetzte ihm einen Stoß ans Bein, damit er weitermachte. Als er wirklich keine Luft mehr bekam, hörte Charlie auf und gab ihm einen liebevollen Klaps auf den Kopf. Seamie lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Boden und sah mit hingebungsvoller Bewunderung zu seinem Bruder hinauf. Charlie war der Mittelpunkt seines Universums, sein Held. Er betete ihn an, folgte ihm auf Schritt und Tritt und bestand sogar darauf, genauso angezogen zu sein wie er. Bis hin zu dem Stück Stoff, das er sich von seiner Mutter um den Hals binden ließ, um Charlies Halsbinde nachzuahmen – ein knallrotes Tuch, das alle flotten jungen Burschen trugen. Die beiden Jungen glichen sich fast aufs Haar und schlugen mit ihrem roten Schopf, den grünen Augen und den Sommersprossen ihrer Mutter nach.

Charlie hängte seine Jacke auf, nahm dann eine Handvoll Münzen aus seiner Tasche und warf sie in die Teedose. »Ein bißchen mehr als sonst, Ma. Ich hab diese Woche ein paar Überstunden gemacht.«

»Danke, Schatz, ich kann es gebrauchen. Ich hab versucht, ein bißchen was auf die Seite zu tun, um deinem Vater eine Jacke zu kaufen. Bei Malphlins’s gibt’s ein paar schöne gebrauchte. Seine alte hab ich so oft ausgebessert, daß sie bloß noch aus Flicken besteht.«

Er setzte sich an den Tisch, nahm eine dicke Scheibe Brot und begann, sie gierig hinunterzuschlingen. Paddy warf einen Blick über seine Zeitung, sah ihm zu und gab ihm einen Klaps auf den Kopf. »Wart auf deine Mutter und deine Schwester. Und nimm die Mütze ab, wenn du ißt.«

»Fiona, setz bitte Seamie auf seinen Platz«, sagte Kate. »Wo ist Roddy? Schläft er immer noch? Gewöhnlich treibt ihn der Essensgeruch raus. Charlie, ruf ihn runter.«

Charlie stand vom Tisch auf und ging zum Treppenhaus. »Onkel Roddy! Essen ist fertig!« Keine Antwort. Er lief die Stiege hinauf.

Fiona wusch Seamies Hände und setzte ihn an den Tisch. Sie band ihm ein Lätzchen um den Hals und gab ihm ein Stück Brot, um ihn ruhig zu halten. Dann ging sie zum Küchenschrank, nahm sechs Teller heraus und trug sie zum Herd. Auf drei Teller gab sie Schnitzel und Kartoffelbrei mit Soße. Kate zog die Kasserolle aus dem Backofen und verteilte den Inhalt sowie den Rest der Kartoffeln und Soße auf den übrigen Tellern.

»Würstchen im Teigmantel!« krähte Seamie mit Blick auf den knusprigen Teig und zählte hungrig die Wurststücke, die aus dem Überzug spitzten.

Weder Kate noch Fiona dachten je darüber nach, ob es gerecht war, daß die Männer Schnitzel bekamen, sie selbst aber weitestgehend fleischlose Kost. Männer waren die Ernährer und brauchten Fleisch, um bei Kräften zu bleiben. Frauen und Kinder bekamen am Wochenende ein bißchen Speck oder Würstchen, wenn der Wochenlohn dafür reichte. Die Tatsache, daß Kate an einer Mangel arbeitete und den ganzen Tag nasse Wäsche durchließ oder daß Fiona stundenlang und ohne Pause auf den Beinen stand und Tee verpackte, zählte nicht. Paddys und Charlies Verdienst bildete den Löwenanteil ihres Einkommens. Davon bezahlten sie die Miete, kauften Kleider und das meiste des Essens. Von Kates und Fionas Verdienst wurden Kohle und Haushaltsartikel gekauft wie Schuhcreme, Lampenöl und Streichhölzer. Wenn Paddy oder Charlie krank wurden oder die Arbeit versäumten, mußten alle darunter leiden. So war es in allen Häusern im Osten von London – die Männer bekamen das Fleisch und die Frauen, was übrigblieb.

Kate hörte wieder Charlies polternde Schritte auf der Treppe.

»Er ist nicht da, Ma«, sagte er, als er zum Tisch zurückkam. »Sieht auch nicht aus, als hätte er hier geschlafen.«

»Das ist komisch«, sagte Paddy.

»Und da steht sein Essen und wird kalt«, jammerte Kate. »Fiona, gib’s mir rüber, ich stell’s wieder ins Backrohr. Wo ist er denn? War er denn heute morgen nicht da, Paddy?«

»Nein, aber gewöhnlich kommt er nicht heim, bevor ich fortgeh, also hätte ich ihn ohnehin nicht getroffen.«

»Ich hoffe nur, daß es ihm gutgeht. Daß ihm nichts passiert ist.«

»Ich schätze, dann hätten wir inzwischen was gehört«, antwortete Paddy. »Vielleicht ist jemand von der nächsten Schicht krank geworden, und er ist eingesprungen. Du kennst doch Roddy, er kommt schon wieder.«

Roddy O’Meara, der Untermieter der Finnegans, war kein Verwandter der Familie, dennoch nannten die Kinder ihn Onkel. Er war mit Paddy und Paddys jüngerem Bruder Michael in Dublin aufgewachsen und zuerst mit ihnen nach Liverpool und dann nach London gezogen, wo er mit Paddy blieb, während Michael nach New York weiterfuhr. Er kannte die Finnegan-Kinder schon ihr ganzes Leben lang – hatte sie auf den Knien geschaukelt, sie vor üblen Burschen und bösen Hunden beschützt und ihnen abends vor dem Kamin Geistergeschichten erzählt. Er stand ihnen näher als ihr wirklicher Onkel, den sie nie gesehen hatten, und sie vergötterten ihn.

Kate seihte den Tee ab und setzte sich. Paddy sprach das Dankgebet, und die Familie begann zu essen. Sie ließ den Blick über ihre Kinder schweifen und lächelte. Wenn sie aßen, waren sie still. Jetzt herrschte vielleicht tatsächlich ein paar Minuten lang Ruhe. Charlie futterte mit wilder Hast. Er bekam nie genug. Er war nicht groß gewachsen, aber kräftig für seine sechzehn Jahre, breitschultrig und genauso zäh und rauflustig wie die Bullterrier, die sich einige in der Nachbarschaft hielten.

»Gibt’s noch Kartoffeln, Ma?« fragte er.

»Auf dem Herd.«

Er stand auf und häufte sich nochmals Kartoffeln auf seinen Teller. Genau in dem Moment ging die Vordertür auf.

»Roddy, bist du das?« rief Kate. »Charlie, hol den Teller von deinem Onkel …« Sie brach ab, als Roddy in der Tür erschien. Fiona, Paddy und sogar Seamie hörten zu essen auf und sahen ihn an.

»Mein Gott!« rief Paddy aus. »Was ist denn mir dir passiert?«

Roddy O’Meara antwortete nicht. Sein Gesicht war aschfahl. Er hielt seinen Polizeihelm in der Hand, und seine Jacke stand offen, auf deren Vorderseite ein dunkelroter Fleck zu sehen war.

»Roddy, mein Junge … sag doch was!« begann Paddy.

»Wieder ein Mord«, antwortete Roddy schließlich. »In der Bucks Row. Eine Frau namens Polly Nichols.«

»Mein Gott«, seufzte Paddy. Kate stöhnte auf. Fiona und Charlie starrten ihn mit aufgerissenen Augen an.

»Sie war noch warm. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was er getan hat. Das Blut – es war überall. Überall. Ein Mann hat die Leiche kurz vor Sonnenaufgang auf dem Weg zur Arbeit gefunden. Ich hab ihn gesehen, wie er schreiend die Straße runtergerannt kam. Er hat die ganze Gegend aufgeweckt. Ich bin mit ihm zurückgegangen, und da lag sie. Mit durchschnittener Kehle. Und aufgeschlitzt wie ein Tier im Schlachthaus. Ich hab mich gleich übergeben müssen. In der Zwischenzeit ist es heller geworden, und Leute sind zusammengelaufen. Ich hab den Mann zum Revier runtergeschickt, um Hilfe zu holen, und bis die kam, hatte ich’s fast mit einem Aufstand zu tun.« Roddy hielt inne und strich sich mit der Hand über das erschöpfte Gesicht. »Ich durfte die Leiche nicht bewegen, bis die Detectives, die den Fall bearbeiten, eingetroffen waren. Und der Polizeiarzt. Als sie fertig waren, hatten wir eine ganze Mannschaft draußen, um die Leute zurückzuhalten. So wütend waren die. Wieder eine Frau ermordet. Dieser Bursche spielt Katz und Maus mit uns.«

»Das behaupten die Zeitungen«, sagte Paddy. »Und wie selbstgerecht sie sind. Ewig schwadronieren sie, daß der Schmutz und das Elend der Armen einen Satan herangezüchtet hat. Diese Schmierfinken haben sich doch nie zuvor für den Osten von London interessiert. Es braucht einen frei rumlaufenden Irren, um die Oberklasse dazu zu bringen, von Whitechapel überhaupt Notiz zu nehmen. Und jetzt schwafeln sie davon, einen Zaun aufzustellen, um den Mann hier einzusperren, damit er nicht in den Westen rübermarschieren und die feinen Leute belästigen kann.«

»Das passiert nicht«, erwiderte Roddy. »Der Bursche geht nach einem festen Muster vor. Er sucht sich immer den gleichen Frauentyp aus – betrunken und abgewrackt. Er bleibt in Whitechapel, das er kennt wie seine Westentasche. Er taucht auf wie ein Gespenst. Ein brutaler Mord passiert, und niemand hat was gesehen oder gehört.« Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »Ich werd ihren Anblick nie vergessen.«

»Roddy, mein Lieber«, sagte Kate anteilnehmend, »iß was. Du brauchst ein bißchen was im Magen.«

»Ich glaub nicht, daß ich was runterbringe. Ich hab überhaupt keinen Appetit.«

»Mann, das ist schrecklich«, sagte Fiona erschauernd. »Die Bucks Row ist gar nicht weit weg von hier. Es läuft einem kalt über den Rücken, wenn man darüber nachdenkt.«

Charlie schnaubte. »Wieso machst du dir denn Sorgen? Er hat’s nur auf Dirnen abgesehen.«

»Sei still, Charlie«, sagte Kate gereizt. Reden über Blut und Eingeweide bei Tisch. Jetzt auch noch über Dirnen.

»Mein Gott, bin ich müde«, sagte Roddy. »Ich hab das Gefühl, ich könnte eine Woche schlafen, aber ich muß zur gerichtlichen Untersuchung heut abend.«

»Geh rauf und ruh dich aus«, sagte Paddy.

»Ja, das tu ich, glaub ich. Hebst du mir mein Essen auf, Kate?«

Kate versprach es. Roddy streifte seine Hosenträger und sein Unterhemd ab, wusch sich schnell und ging dann nach oben.

»Armer Onkel Roddy«, sagte Fiona. »Was für ein Schock das für ihn gewesen sein muß. Wahrscheinlich braucht er Jahre, um darüber wegzukommen.«

Ich hoffe, sie fassen ihn, bevor er noch jemanden umbringt, dachte Kate. Sie sah durch die Diele zur Eingangstür. Genau jetzt ist er dort draußen. Vielleicht schläft er oder ißt in einem Pub wie jeder andere. Vielleicht arbeitet er in den Docks. Vielleicht wohnt er bloß zwei Straßen entfernt. Vielleicht geht er nachts an unserem Haus vorbei. Obwohl ihr vom Kochen warm war, begann sie plötzlich zu frösteln.

»Ich frage mich, ob der Mörder …«, begann Charlie.

»Um Himmels willen, Schluß jetzt!« zischte sie. »Iß dein Essen auf, das ich für dich gekocht hab.«

»Kate, was ist denn los?« fragte Paddy. »Du bist ja kreidebleich.«

»Nichts. Ich wünschte bloß … dieses Monster würde verschwinden. Wenn sie ihn doch schon gefaßt hätten.«

»Mach dir keine Sorgen, Schatz. Kein Mörder stellt dir oder irgend jemandem aus unserer Familie nach«, sagte Paddy beruhigend und nahm die Hand seiner Frau. »Nicht solange ich hier bin.«

Kate zwang sich zu einem Lächeln. Wir sind sicher, sagte sie sich, wir alle. In einem festen Haus mit starken Schlössern. Sie wußte, daß sie stark waren, weil Paddy sie überprüft hatte. Ihre Kinder schliefen ruhig in der Nacht, weil ihr Vater im oberen Stockwerk war, und Roddy auch. Kein Unhold käme herein, um irgendeinem von ihnen etwas Böses anzutun. Aber dennoch hatte Fiona recht. Es jagte einem einen kalten Schauder über den Rücken. Das Blut gefror einem, wenn man daran dachte.

 

»Äpfel! Schöne Äpfel! Die schönsten von London! Vier für einen Penny!«

»Muscheln, frische Muscheln!«

»Schöne Heringe? Frisch aus dem Wasser! Noch springlebendig!«

Jeden Samstagabend war es das gleiche: Noch bevor sie am Markt angekommen waren, konnten sie von weitem die Rufe der Händler hören. Sie ertönten von Ständen und Obstkarren, schallten über Dächer und durch Gassen.

»Die beste Petersilie, meine Damen! Kaufen Sie meine herrliche Petersilie!«

»Orangen, zwei Stück ein Penny! Groß und saftig!«

Doch über den vertrauten Geräuschen des Markts erhob sich nun noch etwas anderes: ein unheimlicher Ruf, bei dem die abendlichen Marktbesucher ihre Schritte beschleunigten, um rasch an den häuslichen Herd zu kommen und die Türen hinter sich zu verriegeln. »Wieder ein schrecklicher Mord«, rief ein zerlumpter Zeitungsjunge. »Nur im Clarion! Das Allerneueste! Bilder vom Tatort, überall Blut! Die neuesten Nachrichten im Clarion!«

Als sie in die Brick Lane einbogen, nahm Fionas Erregung zu. Sie waren am Markt angelangt, der sich hell erleuchtet vor ihnen ausbreitete – überall erklangen Lachen, Geschrei und die auffordernden Rufe der Händler –, ein großes, sich ständig wandelndes Gebilde, in das sie eintauchen und mit ihm verschmelzen konnte. Sie zupfte ihre Mutter am Arm.

»Laß gut sein, Fiona. Ich geh schon, so schnell ich kann«, sagte Kate und warf einen Blick auf ihre Einkaufsliste.

Cockney-Stimmen, aufdringlich und derb, fuhren mit ihrem Geschrei fort. Händler stolzierten herum wie Kampfhähne und ermunterten die Kunden, ihre Waren zu begutachten, oder forderten ihre Konkurrenten heraus, ihre Preise zu senken.

Fiona sah die Auslage des Fischhändlers mit den Tabletts voller Wellhornschnecken, winzigen Muscheln, fetten Heringen und Kübeln voller Austern, von denen einige aufgebrochen waren und glänzend in den Schalenhälften lagen. Daneben befand sich ein Fleischstand, mit rotem und weißem Kreppapier verziert, in dessen Auslage fein säuberlich dicke Schnitzel, Würste und gräßliche, tropfende Schweinsköpfe aufgereiht waren.

Es gab eine Menge Gemüsehändler – die Ehrgeizigeren mit Karren, auf denen kunstvoll aufgeschichtete Obstpyramiden lagen: glänzende Äpfel, duftende Birnen, leuchtende Orangen und Zitronen, Pflaumen und Trauben. Und davor Körbe voller Blumenkohl, Rotkohl, Rüben, Zwiebeln und Kartoffeln.

Flackernde Gaslichter, Naphtalinflammen und in Rüben gesteckte Kerzenstummel beleuchteten die Szene. Und die Gerüche! Fiona blieb stehen, schloß die Augen und atmete tief ein. Ein salziger Meeresgeruch – in Essig eingelegte Muscheln. Ein Hauch von Gewürzen – mit Zimt und Zucker bestäubte Apfelringe. Gebratene Würste, Pellkartoffeln, warme Ingwernüsse. Ihr Magen knurrte.

Sie öffnete die Augen. Ihre Mutter bahnte sich den Weg zu einem Fleischstand. Als sie beobachtete, wie sie sich durch die Menschenmenge drängte, hatte Fiona den Eindruck, das gesamte East End sei hier versammelt – vertraute Gesichter und fremde. Ernst dreinblickende fromme Juden auf dem Weg zum Gebet, Seeleute, die in Aspik eingelegten Aal oder heiße Erbsensuppe kauften, alle Arten von Arbeitern, in frischen Hemden und glatt rasiert, die vor den Eingängen der Pubs herumstanden, einige mit zappelnden Terriern unterm Arm.

Und überall zahllose Frauen jeden Alters und Aussehens, die sich drängelten, feilschten und kauften. Einige wurden von ihren Ehemännern begleitet, die Körbe trugen und Pfeife rauchten. Andere hatten quengelnde Kinder auf dem Arm, die um Kuchen, Bonbons oder warme Muffins bettelten.

Fiona sah sich nach ihrer Mutter um und entdeckte sie beim Metzger. »Darf’s Roastbeef sein für morgen, Mrs. Finnegan?« hörte sie den Mann fragen, als sie herantrat.

»Diese Woche nicht, Mr. Morrison. Mein Erbonkel ist noch nicht gestorben. Aber ich brauch ein Bruststück. So um die drei Pfund. Fünf Pence das Pfund, mehr ist nicht drin.«

»Hmm …« Der Mann preßte die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. »Meine Stücke sind heute eher größer … aber ich sag Ihnen, was ich tun könnte, meine Liebe …« – er machte eine dramatische Pause und beugte sich nach vorn – »… ich könnte Ihnen ein Stück mit fünf Pfund zu einem sehr günstigen Preis anbieten.«

»Das ist mir sicher zu teuer.«

»Ach wo«, antwortete er und senkte verschwörerisch die Stimme. »Versteh’n Sie, je größer das Stück, um so weniger verlang ich pro Pfund. Das ist Mengenrabatt. Sie zahlen mehr für das Stück, weil es größer ist, aber eigentlich zahlen Sie weniger …«

Während ihre Mutter und der Metzger miteinander feilschten, hielt Fiona nach Joe Ausschau. Sie entdeckte ihn fünf Karren weiter unten, wo er seine Waren verkaufte. Obwohl der Abend nicht mehr warm war, stand sein Kragen offen, seine Ärmel waren aufgekrempelt, und seine Wangen glühten. Seit etwa einem Jahr ließ Mr. Bristow Joe beim Verkauf mithelfen, anstatt ihn hinter dem Stand zu beschäftigen. Eine weise Entscheidung, denn er war ein Naturtalent. Jede Woche setzte er allein für dreihundert Pfund Waren um – mehr als ein Verkäufer in irgendeinem vornehmen West-End-Laden im Monat. Und das schaffte er, ohne einen klingenden Geschäftsnamen im Rücken, ohne hübsche Schaufenster, Reklametafeln oder Anzeigen. Dazu brauchte er nichts als sein Talent.

Fiona durchfuhr ein prickelnder Schauder, als sie ihn bei der Arbeit beobachtete, während er einen Kunden nach dem anderen aus der Menge anlockte, mit einer Frau Augenkontakt aufnahm, sie einwickelte, dabei ständig lachte und scherzte – den Redefluß nicht abreißen und das Interesse nicht absinken ließ. Niemand beherrschte das Spiel so gut wie Joe. Er wußte, wie man die Vorlauten unterhielt und mit ihnen schäkerte, welchen Tonfall er für die Mißtrauischen anschlagen mußte und wie man Kränkung und Erstaunen heuchelte, wenn jemand die Nase über seine Waren rümpfte, worauf er ihn aufforderte, irgendwo in London einen besseren Bund Karotten, schönere Zwiebeln zu finden. Mit dem Geschick eines Schauspielers schnitt er eine Orange auf und ließ den Saft in hohem Bogen auf die Pflastersteine spritzen. Fiona bemerkte, daß dies die Aufmerksamkeit von Passanten in zehn Metern Entfernung erregte. Dann öffnete er eine Tüte aus Zeitungspapier und gab »Nicht zwei, nicht drei, sondern vier große und schöne Orangen, alle für zwei Pence!« hinein, machte sie zu und überreichte sie mit einer schwungvollen Gebärde.

Seine schönen himmelblauen Augen und sein Lächeln waren dem Geschäft bestimmt auch nicht abträglich, dachte Fiona. Ebensowenig der dichte Schopf dunkelblonder Locken, der unter seiner Mütze hervorquoll. Ein warmer Schauder lief ihr über den Rücken, und ihre Wangen färbten sich rosig. Sie wußte, daß sie ihre Gedanken rein halten sollte, wie die Nonnen es sie gelehrt hatten, aber das wurde immer schwieriger. An seinem offenen Kragen, unterhalb seines roten Halstuchs, kam ein Stückchen nackter Haut zum Vorschein. Sie stellte sich vor, ihn dort zu berühren, ihre Lippen darauf zu drücken. Seine Haut wäre so warm und würde so gut riechen. Sie liebte es, wie er roch – nach all dem frischen Grünzeug, mit dem er den ganzen Tag zu tun hatte. Nach seinem Pferd. Nach der Ostlondoner Luft, die mit Kohlenrauch und dem Duft des Flusses getränkt war.

Einmal hatte er sie unter ihrer Bluse angefaßt. Im Dunkeln, hinter der Black-Eagle-Brauerei. Er hatte ihre Lippen, ihren Hals, ihren Nacken geküßt, bevor er ihre Bluse öffnete, dann ihr Mieder und seine Hand hineingleiten ließ. Sie glaubte, sie würde vergehen von seiner Berührung, von ihrem eigenen Begehren. Sie hatte sich entzogen, nicht aus Scham oder Sittsamkeit, sondern aus Angst, mehr zu wollen und nicht zu wissen, wohin dieses Begehren führen würde. Sie wußte, daß es Dinge gab, die Männer und Frauen zusammen taten, Dinge, die vor der Ehe nicht erlaubt waren.

Niemand hatte ihr je von diesen Dingen erzählt – das wenige, das sie wußte, hatte sie auf der Straße aufgeschnappt. Sie hatte Männer in der Nachbarschaft über das Decken ihrer Hunde reden hören, die groben Scherze junger Männer und, gemeinsam mit ihren Freundinnen, die Gespräche ihrer Schwestern und Mütter belauscht. Einige berichteten mit Märtyrermiene, daß sie mit einem Mann im Bett gewesen seien, andere kicherten und lachten und behaupteten, nicht genug davon kriegen zu können.

Plötzlich wurde sie von Joe entdeckt, der sie strahlend anlächelte. Sie errötete und war sich sicher, daß er wußte, woran sie gerade dachte.

»Komm mit, Fee«, rief ihre Mutter. »Ich muß noch das Gemüse besorgen …« Kate überquerte die Straße zum Stand der Bristows, und Fiona folgte ihr.

»Hallo, meine Liebe!« rief Joes Mutter ihrer Mutter zu. Rose Bristow und Kate Finnegan waren in derselben trübseligen Seitenstraße der Tilley Street in Whitechapel aufgewachsen und wohnten jetzt in der Montague Street nur ein Haus voneinander entfernt. Von den Geschichten, die ihre Ma ihr erzählt hatte, wußte Fiona, daß sie als Mädchen unzertrennlich gewesen waren, ständig miteinander getuschelt und gekichert hatten. Selbst jetzt noch, als verheiratete Frauen, fielen sie schnell in ihr Backfischverhalten zurück.

»Ich dachte schon, der Mörder hätte dich vielleicht erwischt«, sagte Rose zu Kate. Sie war eine kleine, füllige Frau mit dem gleichen offenen Lächeln und den gleichen fröhlichen blauen Augen wie ihr Sohn. »Scheint, daß er die Woche Überstunden macht. Hallo, Fiona.«

»Hallo, Mrs. Bristow«, antwortete Fiona, ohne den Blick von Joe abzuwenden.

»Ach, Rose!« sagte Kate. »Mach keine Scherze darüber! Es ist furchtbar! Ich bete zu Gott, sie würden ihn fassen. Ich bin schon unruhig, wenn ich bloß auf den Markt rausgeh. Aber man muß ja was essen, nicht wahr? Ich brauch drei Pfund Kartoffeln und zwei Pfund Erbsen. Wie teuer sind deine Äpfel, meine Liebe?«

Joe reichte den Brokkoli, den er gerade in der Hand hielt, seinem Vater. Er kam zu Fiona herüber, nahm seine Mütze ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Mensch, heut abend ist vielleicht was los, Fee. Ich kann die Ware gar nicht schnell genug ranschaffen! Uns geh’n die Äpfel aus, bevor wir zumachen. Ich hab Vater gesagt, wir sollten mehr nehmen …«

»… aber er hat nicht auf dich gehört«, beendete Fiona seinen Satz und drückte ihm liebevoll die Hand. Das war eine altbekannte Klage. Joe drängte seinen Vater ständig, das Geschäft zu vergrößern, aber Mr. Bristow weigerte sich stets. Sie wußte, wie sehr es Joe ärgerte, daß sein Vater nie auf ihn hörte. »Zwölf und zwei …«, sagte sie und benutzte ihren Geheimcode – die gegenwärtige Geldsumme in ihrer Kakaodose –, um ihn aufzumuntern, »… denk einfach daran.«

»Das werd ich«, antwortete er und lächelte sie an. »Aber nach heut abend wird’s mehr sein. Ich muß noch ein bißchen Zaster aus den Leuten rausleiern. Sie lassen einen kaum Luft schnappen.« Er sah zu seinem Vater und seinem jüngeren Bruder Jimmy hinüber, die von Kundschaft umlagert waren. »Ich muß zurück. Ich seh dich morgen nach dem Abendessen. Wirst du dasein?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Fiona hochnäsig. »Hängt ganz davon ab, ob meine andern Verehrer auftauchen.«

Joe verdrehte die Augen. »Ah ja. Zum Beispiel der Katzenfleischhändler«, sagte er und meinte den knorrigen alten Mann zwei Stände weiter unten, der Abfälle als Tierfutter verkaufte. »Oder war’s der Lumpensammler?«

»Der Lumpensammler ist mir jedenfalls lieber als ein nichtsnutziger Händler«, antwortete Fiona und versetzte Joes Stiefelspitze einen Stoß mit dem Fuß.

»Ich würd den Händler nehmen«, warf eine zirpende Mädchenstimme ein.

Fiona drehte sich um und unterdrückte ein Stöhnen. Es war Millie Peterson. Die verzogene, arrogante, von sich eingenommene Millie. So blond, so drall, so strahlend und auch noch so verdammt hübsch. Dieses kleine Miststück. Millies Vater Tommy war einer der größten Handelsherrn in London, mit Geschäften im East End und Covent Garden. Ein Selfmademan, der mit einem Verkaufskarren angefangen und es mit harter Arbeit und ein bißchen Glück bis zur Spitze geschafft hatte. Nach Aussage anderer Geschäftsleute gab es niemand Schlaueren als ihn. Geschäftstüchtig wie er war, verbrachte er die meiste Zeit auf den Straßen und bezog so sein Wissen aus erster Hand von seinen Abnehmern und deren Kunden.

Tommy war in Whitechapel aufgewachsen. Als frischgebackener Ehemann wohnte er in der Chicksand Street, nur eine Straße weit von der Montague Street entfernt. Als Kind hatte Milie mit Fiona und Joe und all den anderen Kindern in der Nachbarschaft gespielt. Doch sobald er etwas Geld verdient hatte, zog Peterson mit seiner Familie in eine bessere Gegend – ins vornehmere Pimlico. Kurz nach ihrem Umzug wurde Tommys Frau mit ihrem zweiten Kind schwanger. Sie starb im Kindbett und mit ihr das Neugeborene. Tommy war am Boden zerstört. Millie war alles, was ihm geblieben war, und wurde zum Mittelpunkt seines Lebens. Er überschüttete sie mit Liebe und Geschenken und versuchte, ihr die verlorene Mutter zu ersetzen. Was immer Millie wollte, bekam sie. Und seit sie ein kleines Mädchen war, wollte Millie Joe. Und obwohl Joe ihre Gefühle nicht erwiderte, ließ Millie nicht locker, entschlossen, eines Tages zu kriegen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Und das tat sie gewöhnlich auch.

Fiona Finnegan und Millie Peterson konnten sich nicht ausstehen, und wenn sie gekonnt hätte, hätte Fiona ihr schon gezeigt, wo’s langging. Aber sie stand am Stand der Bristows, und die Bristows kauften die meisten ihrer Waren bei Millies Vater, und gute Preise zu bekommen, hing zum größten Teil von guten Beziehungen ab. Sie wußte, daß sie sich benehmen und den Mund halten mußte. Zumindest mußte sie das versuchen.

»Hallo, Joe«, flötete Millie und schenkte ihm ihr süßestes Lächeln. »Hallo, Fiona«, setzte sie mit einem knappen Nicken hinzu. »Wohnst du immer noch in der Montague Street?«

»Nein, Millie«, antwortete Fiona mit ungerührter Miene. »Wir sind ins West End umgezogen. Ein hübsches kleines Haus namens Buckingham-Palast. Ein langer Fußweg jeden Morgen zu den Docks für mich und Pa, aber die Gegend ist doch um so vieles angenehmer.«

Millies Lächeln gefror. »Machst du dich lustig über mich?«

»Wie kommst du auf …«

»Na, Millie«, unterbrach Joe Fiona und warf ihr schnell einen Blick zu, »was bringt dich denn zu uns rüber?«

»Ich mach bloß einen Spaziergang mit meinem Vater. Er will sich hier umschauen, nachsehen, bei wem die Geschäfte gut gehen und bei wem nicht. Du kennst ihn ja, immer die Augen offen für eine günstige Chance.«

Bloß einen Spaziergang, meine Güte, dachte Fiona sauer. Und dafür so aufgetakelt?

Alle Augen richteten sich auf Millie, einschließlich Joes. Sie sah umwerfend aus in dem moosgrünen Rock und der dazu passenden Jacke, die sehr eng geschnitten war, um ihre schmale Taille und den vollen Busen zu unterstreichen. Keine Frau in Whitechapel besaß ein solches Kleid, ganz zu schweigen davon, daß sie es auf dem Markt getragen hätte. Auf ihren goldenen Locken saß ein passender Hut. Perlohrringe und Seidenrüschen um den Hals ergänzten die Aufmachung, und ihre zierlichen Hände steckten in elfenbeinfarbenen Handschuhen aus Ziegenleder.

Bei ihrem Anblick wurde sich Fiona ihres schäbigen Wollrocks, ihrer weißen Baumwollbluse und des grauen Strickschals um ihre Schultern bewußt. Sofort unterdrückte sie ihren Neid, weil sie nicht zulassen wollte, daß sie sich Personen wie Millie Peterson unterlegen fühlte.

»Ist er auf der Suche nach neuen Kunden?« fragte Joe, und seine Blicke wie die eines Dutzend anderer strichen von ihrem Gesicht auf ihren Busen hinab.

»Nach ein paar. Aber er ist nicht nur wegen der Kunden hier. Er geht gern auf den Markt, um neue Talente zu entdecken. Er hält immer Ausschau nach vielversprechenden jungen Männern. Ich bin sicher, daß er von dir angetan wäre«, antwortete sie und legte die Hand auf seinen Unterarm.

Fiona durchfuhr ein Stich der Eifersucht. Zum Teufel mit guten Beziehungen. Millie Peterson hatte gerade die Grenze überschritten. »Ist dir schlecht, Millie?«

»Schlecht?« fragte Millie und sah sie an, als wäre sie Abfall. »Nein, mir geht’s gut.«

»Wirklich? Du siehst aus, als würdest du gleich umsinken, wie du dich auf Joe stützt. Joe, warum holst du Millie keine Kiste, auf die sie sich setzen kann?«

»Das ist nicht nötig«, zischte Millie. Sie nahm die Hand von Joes Arm.

»Wenn du meinst. Ich möchte nicht, daß du ohnmächtig wirst. Vielleicht ist deine Jacke zu eng.«

»Also, du dumme Kuh!« rief Millie aus, und ihre Wangen wurden rot.

»Besser eine Kuh als ein Mistvieh.«

»Aber meine Damen, das ist doch kein Benehmen. Wir können uns doch keine Rauferei dem Markt leisten«, scherzte Joe und versuchte, die beiden Mädchen zu besänftigen, die sich ansahen wie zwei Katzen, die mit gesträubtem Fell aufeinander losgehen wollen.

»Nein, das können wir nicht«, antwortete Millie schnippisch. »Das ist Gossenverhalten. Für Gossenkinder.«

»Paß auf, wen du ein Gossenkind nennst. Du stammst aus der gleichen Gosse, Millie«, erwiderte Fiona leise und schneidend. »Vielleicht hast du das vergessen, aber sonst niemand.«

Millie spürte, daß sie geschlagen war, und wechselte das Thema. »Ich sollte gehen. Offensichtlich bin ich hier nicht erwünscht.«

»Komm, Millie«, sagte Joe verlegen. »Fiona meint’s nicht so.«

»Doch.«

»Ist schon gut«, antwortete Millie gedrückt und richtete ihre haselnußbraunen Augen auf Joe. »Ich muß ohnehin meinen Vater finden. Bis zum nächsten Mal. Hoffentlich in besserer Gesellschaft. Bis dann.«

»Bis dann, Millie«, sagte Joe. »Grüß deinen Vater von mir.«

Sobald Millie außer Hörweite war, wandte sich Joe an Fiona. »War das nötig? Hast du unbedingt Tommy Petersons Tochter beleidigen müssen?«

»Sie hat’s nicht anders haben wollen. Sie meint, sie kann dich mit dem Geld ihres Alten kaufen. Wie einen Sack Orangen.«

»Das ist lächerlich, und das weißt du.«

Fiona stampfte mit dem Fuß auf.

»Du solltest lernen, dich zusammenzureißen. Willst du dich so aufführen, wenn wir unseren Laden haben? Deine blödsinnige Eifersucht übers Geschäft stellen?«

Joes Worte trafen Fiona ins Mark. Er hatte recht. Sie hatte sich albern benommen.

»Joe! Hilfst du uns?« rief Mr. Bristow.

»Gleich, Vater!« rief Joe zurück. »Ich muß gehen, Fee. Sieh zu, daß du deine Einkäufe ohne weiteren Stunk über die Bühne kriegst, ja? Und sei nicht so eifersüchtig.«

»Wer ist eifersüchtig? Ich bin nicht eifersüchtig … sie ist einfach unerträglich, das ist alles.«

»Du bist eifersüchtig, und du hast keinen Grund dazu«, antwortete er und kehrte zu seinem Stand zurück.

»Das bin ich nicht!« rief Fiona trotzig. Sie sah zu, wie Joe wieder seinen Platz vor dem Wagen einnahm. »Eifersüchtig«, schnaubte sie. »Warum sollte ich eifersüchtig sein? Sie hat bloß schöne Klamotten, Schmuck, einen großen Busen, ein hübsches Gesicht und einen Haufen Geld.«