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Nur zusammen sind wir stark - ein Plädoyer für die Frauenfreundschaft
Spätherbst 1948. In der Kölner Versicherung Pering weht ein neuer Wind: Viktor Pering, der Sohn des Inhabers, soll das Geschäft übernehmen. Rasch erhöht er den Druck, denn anders als seinem Vater ist ihm der Gewinn wichtiger als seine Mitarbeiter. Auch die Telefonistinnen, die in ihrer Zentrale für die richtigen Verbindungen sorgen, sind betroffen. Dabei ist ihr Leben schon kompliziert genug. Gisela muss entscheiden, ob sie ihren im Krieg verschollenen Mann für tot erklären lassen soll. Hanni ist hin- und hergerissen zwischen ihren Verpflichtungen für die Familie und ihrem Traum von einem eigenen Handschuh-Atelier. Die kämpferische Charlie schließt sich der Frauenbewegung an. Und Julia, die Jüngste, hat einen heimlichen Verehrer. Sie alle müssen ihren Weg finden. Doch welcher ist der richtige?
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2024
Nur zusammen sind wir stark – ein Plädoyer für die Frauenfreundschaft Spätherbst 1948. In der Kölner Versicherung Pering weht ein neuer Wind: Viktor Pering, der Sohn des Inhabers, soll das Geschäft übernehmen. Rasch erhöht er den Druck, denn anders als seinem Vater ist ihm der Gewinn wichtiger als seine Mitarbeiter. Auch die Telefonistinnen, die in ihrer Zentrale für die richtigen Verbindungen sorgen, sind betroffen. Dabei ist ihr Leben schon kompliziert genug. Gisela muss entscheiden, ob sie ihren im Krieg verschollenen Mann für tot erklären lassen soll. Hanni ist hin- und hergerissen zwischen ihren Verpflichtungen für die Familie und ihrem Traum von einem eigenen Handschuh-Atelier. Die kämpferische Charlie schließt sich der Frauenbewegung an. Und Julia, die Jüngste, hat einen heimlichen Verehrer. Sie alle müssen ihren Weg finden. Doch welcher ist der richtige?
Nadine Schojer ist Tourismus-Managerin und lebt mit Mann und Tochter in Wien. Wenn sie nicht physisch verreist, ist sie lesend und schreibend in der Zeitgeschichte unterwegs. Bei den Recherchen für ihre Reihe DIE TELEFONISTINNEN hat sie sich in die Mode der Fünfzigerjahre verliebt. Deshalb ist sie nun stolze Besitzerin eines Petticoat-Mantels. Unter Pseudonym hat Nadine Schojer bereits mehrere Romane veröffentlicht, zuletzt bei Lübbe den Liebesroman WIENER MELANGE FÜR ZWEI.
NADINE SCHOJER
DIE TELEFONISTINNEN
TAGE DES ZWEIFELS
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.
Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Lektorat: Dr. Stefanie Heinen
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
Umschlagmotiv: © Paul Almasy/akg-images
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-5613-6
luebbe.de
lesejury.de
Den wichtigsten Frauen in meinem Leben gewidmet:
Für meine Mutter, die immer für mich da ist.
Für Henriette, die mir ihren letzten Schilling und die besten Erdäpfel-Wuzerl kredenzt hat.
Für Sofie, die mir die hübschesten Kleider geschneidert hat.
Für Ingrid, die als Baby gekämpft und nicht aufgegeben hat.
Für Sabi, die wirklich versteht, wie man einen Bauplan liest, und sogar selbst ein Haus bauen kann.
Für Alex, die mit mir Shit on the Radio in Endlosschleife gehört hat … und noch immer hören würde, säßen wir noch auf dem kleinen Balkon in Barcelona (I remember the days …).
Für Lina, deren Fröhlichkeit ein Leuchtfeuer ist.
Und für Lara, die meine Welt zum Strahlen bringt.
»Bleibt mal stehen!«, bat Hanni, ging langsamer und zupfte dabei ihre Handschuhe zurecht. Gisela und Charlie, die gerade durch die Eingangstür mit der unauffälligen Messingtafel, auf der in geschwungener Schrift Heaven stand, treten wollten, hielten inne.
»Mir ist kalt! Beeil dich«, sagte Charlie und hauchte in ihre Handflächen. Das Herbstlaub in den Gehsteigrinnen und das frühe Ende eines Tages mit spärlichen Sonnenstunden erinnerten kaum noch an die lauen Sommerabende, an denen die drei jungen Frauen rostrote Sonnenuntergänge über dem Rhein bewundert hatten. Auch ihre Treffen auf der Terrasse des Café Reichard gegenüber dem Dom, wo sie so gern in geblümten Sommerkleidchen bei einem Glas Rheinwein oder einer Schale Sekt zusammengesessen hatten, mussten schon seit Längerem drinnen abgehalten werden.
Das Tanzlokal war nach Kriegsende von den Alliierten gegründet worden, und kaum jemand von den Einheimischen hatte es zu Beginn gewagt, dort einen Fuß hineinzusetzen, aber mittlerweile war der Hunger nach ausgelassenem Feiern zurückgekehrt. Hin und wieder bildete sich sogar eine kleine Warteschlange vor dem Heaven, wenn es sonntagnachmittags zum Fünf-Uhr-Tee, oder wie die Alliierten sagten: Five o’clock tea einlud. Zwar tummelten sich mehrheitlich britische Soldaten darin, die übermütig feierten und auf der Suche nach einem deutschen Frollein waren, das für ein kleines Tänzchen oder mehr zu haben war. Die Lehrerin von Giselas Sohn Peter hatte den Freundinnen das Tanzlokal vor längerer Zeit empfohlen und ihnen die Adresse auf eine Zigarettenpackung geschrieben. Sie selbst war kurz nach Kriegsende, nachdem das Fraternisierungsverbot aufgehoben worden war, mit einem britischen Soldaten zusammengekommen, den sie im Heaven kennengelernt hatte. Sehr leidenschaftlich hatten sie sich wenige Tage später bei der Suppenausgabe im Schulhof geküsst und damit verkündet, woraus andere ein großes Geheimnis machten. Alle Welt durfte sich fortan das Maul über das neue Besatzerliebchen zerreißen, denn Mrs. Smith, wie sie vier Wochen später hieß, gab nichts auf die Urteile der Leute.
Hanni wäre am liebsten gleich am nächsten Tag mit ihrem Petticoatrock, den Spitzenhandschuhen und einem breiten Lächeln dort eingefallen. Im Besuch des Tanzlokals sah sie eine passende Gelegenheit, nicht nur ihre Kleider auszuführen, sondern sich auch die Enttäuschung von der Seele zu tanzen. Und davon hatte sie in letzter Zeit genügend angehäuft. Die Liebe, die sie sich erträumt hatte, war nur ein kurzes Zwischenspiel gewesen. Und ihr Vater, der ihr nie einer gewesen war, vergiftete den Alltag seiner Tochter. Das waren die Gründe, warum Hanni auf der Tanzfläche eine so großartige Figur machte. Sie ging aus sich heraus, als könne sie sich mit wenigen Tanzschritten von der Vergangenheit befreien.
»Sehr schick, das Fräulein Angersbach«, sagte Charlie zu Hanni, als sie im Innenbereich ankamen und Hanni ihren Mantel öffnete. Sie verbreitete einen so aufdringlichen Geruch nach Veilchen und Rosen, dass Gisela die Nase rümpfte.
»Ist bei euch der Reichtum ausgebrochen? Man kann dich bis zum Dom riechen.«
»So soll’s auch sein«, entgegnete Hanni blasiert und ignorierte, dass sie wie ein ganzes Parfümfläschchen duftete. »Wie findet ihr ihn?«, fragte sie und deutete auf ihren bauschigen Rock. Der Stolz in ihren Augen zeigte eine Erwartung, die es zu bestätigen galt. »Ich hab ein bisschen getrickst und dem Unterrock zwei Lagen Vorhangstoff verpasst. Sieht doch gleich viel besser aus, findet ihr nicht?« Hanni richtete ihren kleinen runden Hut, sodass er schräg auf ihrem Kopf saß. Neuerdings trug sie zu ihren Spitzenhandschuhen, die sie selbst entwarf und häkelte, auch einen Hut.
»So, wie du aussiehst, könntest du zu einem Polospiel nach England fahren und würdest wahrscheinlich noch von King George empfangen werden«, sagte Charlie, die als Einzige von den drei Freundinnen schon weit gereist war. Charlotte von Siebenthal nannte sie sich nur dann, wenn es ihr Vorteile brachte. Und es brachte Vorteile – vor allem in der Versicherung Pering, wo die jungen Frauen als Telefonistinnen arbeiteten.
»England? Wer will schon zu einem Polospiel, wenn man tanzen kann? Tanzen, bis der Morgen kommt«, sagte Hanni und seufzte in Erwartung dessen, was gleich folgen würde. »Wollen wir?«
Der Vorraum, der mehr an das Wartezimmer in Dr. Claßens Ordination als an eine verruchte Lokalität erinnerte, führte in den Tanzbereich, dessen schummriges Licht es nicht schaffte, jeden Winkel im Innenraum zu erhellen. Was vermutlich Absicht war, damit nicht alles, was sich hier abspielte, ins Scheinwerferlicht rückte. Sessel mit roten Samtpolsterungen, die um Rundtische mit weißen Tischdecken gereiht waren, auf denen jeweils eine Rose in einer schmalen Vase stand, zogen sich an den Seiten entlang. Ein schwarzer Steinboden erstreckte sich unter den Füßen der Gäste und verschluckte die Fußspuren derer, die offiziell nie in diesem Lokal anwesend waren. Gläser klapperten auf einer Holztheke, hinter der die Kellner geschäftig Drinks mixten. Und in der Mitte des Raums pulsierte das Herz des Lokals: die Tanzfläche. Ausgangspunkt und Wendepunkt von Begegnungen, die in der Welt draußen niemals stattfinden würden.
Einige Paare bewegten sich schwungvoll zu einem Boogie-Woogie-Song von John Lee Hooker, den ein Pianist und ein Gitarrist, denen der Schweiß auf der Stirn stand, zum Besten gaben. Die Musikrichtung war erst vor Kurzem nach Deutschland gekommen und hatte gleich für große Begeisterung bei den Tanzwütigen gesorgt. Kein Wunder – nach den harten Jahren wollten die meisten Menschen wieder die Freiheit und das Leben spüren. Mit beiden Beinen abwechselnd in der Luft schwebend, um die Schwerelosigkeit zu fühlen, die ihnen viele Jahre lang genommen worden war.
»Glaubst du, Erna kommt noch?«, fragte Hanni und sah zum Eingang hinüber, obwohl ihre Augen verstohlen nach jemand anderem suchten.
»Bestimmt nicht! Die setzt doch keinen Fuß hier rein. Selbst dann nicht, wenn man ihren Empfangstresen hierher verlegen würde. Nicht in dieses Teufelslokal, Darling«, imitierte Gisela Ernas Stimme und nahm das Glas Molke an, das Charlie ihr reichte. Zum Dank zwinkerte Charlie dem Kellner zu, der daraufhin ein Lächeln in ihre Richtung schickte, das mehr wie ein Klaps auf ihren Po war.
»Ach, die Erna. Die weiß einfach nicht, was gut ist.« Hanni zuckte mit den Schultern, als wolle sie verkünden, dass man sich auch selbst den Spaß verderben könne, und fasste nach Giselas und Charlies Händen. »Stehen wir hier nicht rum! Lasst uns tanzen!« Gisela hatte Mühe, das Glas auf dem Tresen abzustellen, ohne dass es überschwappte. Zum Trinken war sie noch gar nicht gekommen, da wurde sie schon auf das Tanzparkett gezogen.
Heute waren sie zu dritt, was hieß, dass sie sich beim Tanzen abwechseln mussten. Charlie und Hanni betraten zuerst die Tanzfläche, während Gisela am Rand stehen blieb und zusah. Die beiden nahmen sich an den Händen, und es folgte ein kurzes Einschunkeln zum Viervierteltakt. Tap – ein vorsichtiges Anklopfen mit der Fußsohle auf den Boden – dann ein Schritt. Tap und wieder ein Schritt. Die Pianoklänge, die für den Auftakt eine erste Aufforderung waren, begannen, durch den Raum zu rasen, als würden sie sich gegenseitig jagen. Mit ihren Schritten zeichnete Hanni ein Dreieck im Uhrzeigersinn auf den Boden und wurde dabei immer schneller. Tap. Schritt, rückwärts, schließen, vor. Genau so hatte sie es sich beim vorletzten Mal von einem Paar abgeschaut, das Stammgast im Heaven war. Hanni fasste nach Charlies Hand und legte ihren Daumen locker auf ihren Handrücken. Ein Sechser-Schritt, oder wie die Briten sagten, ein Six-Count, folgte. Das Pianostück nahm Fahrt auf und beschleunigte wie bei einem Sprint. Hannis Füße zappelten auf dem Parkett herum. Sie tanzte mit rasend schnellen Füßen, aus der Hüfte heraus. Dazu kam eine Drehung. Und dann gleich noch eine. Ob sie es richtig anstellte, wusste sie nicht, aber es fühlte sich gut an. Also musste es richtig sein.
Charlie war erst das zweite Mal hier, dafür aber mit einer Präsenz auf der Tanzfläche vertreten, die die Blicke der Männer auf sich zog. Kein Wunder, dachte Hanni, denn Charlie sah der Filmdiva Hedy Lamarr ähnlich, die eine kühle Androgynie ausstrahlte, wobei in Charlies Augen ein Feuer loderte, an dem man sich verbrennen wollte. Man musste schon zweimal hinschauen, denn es war, als verstelle ihre Schönheit den Blick auf das, was hinter der Fassade lag.
Hannis ganzer Körper war in Bewegung, als würde sie Schicht für Schicht an Ballast abstreifen. Schneller und immer schneller bewegten sich die Freundinnen. Obwohl es im Lokal aufgrund der Außentemperaturen kalt war, sorgte das Tanzfieber für einen nassen Schweißfilm auf Hannis Stirn. Sie wirbelte herum, sodass der Rock mitschwang und ihre Beine in den Perlonstrümpfen enthüllte. »Yippie!«, rief sie laut und drehte sich noch einmal im Kreis, denn beim Boogie-Woogie war alles erlaubt. Und das begeisterte die drei jungen Frauen. Viel zu lange war ja nichts erlaubt gewesen.
Ein Nebelschleier lag über Köln, der die Versicherungsanstalt Pering im Friesenviertel einhüllte. Die Tage wurden immer kürzer, und rostrotes und gelbes Laub bedeckte den Asphalt, der vor ein paar Wochen neu in der Friesenstraße gelegt worden war. Dafür hatte Walter Pering, der Gründer der Versicherung, gesorgt, um eine bequeme An- und Abreise mit dem Auto zu ermöglichen. Schließlich war das Kfz die Zukunft. Und ein Fahrzeughalter mit der Notwendigkeit einer Versicherung stellte die Zukunft seiner Firma dar.
Hannis schmale Absätze wirbelten die Blätter mit ihren eiligen Schritten auf. Mit einer Hand hielt sie den kleinen Hut fest, der schräg auf ihren karamellfarbenen Locken saß. »Bitte, bitte, lass mich nicht zu spät kommen«, flüsterte sie und wusste bereits, dass das Flehen umsonst war. Sie fluchte über die Kälte, die sie hasste. Temperaturen unter zwanzig Grad waren ihr zuwider, und sie zog die Jacke enger zusammen. Dabei war es erst Anfang November. Wie würde es erst im Dezember und Januar werden? Da würde sie nach Spanien auswandern müssen. Hanni beschleunigte ihr Tempo. Viktor Pering, der Sohn des Inhabers und neuer Generaldirektor der Versicherung, der dem pensionierten Erich Böck folgte, würde an diesem Morgen seinen Posten antreten, und wer kam zu solch einem Anlass schon zu spät?
Hanni.
Dies allerdings mit außerordentlicher Eleganz.
Kaum, dass sie die breite Eingangstür aus Holz zu einem Spalt geöffnet hatte, schlüpfte sie hindurch. Auf den Vorderfüßen trippelte sie über den mit hellblau-cremefarbenen Mosaiksteinen durchsetzten Terrazzoboden, der an den Seitenkanten mit einem Blumenmuster auslief. Dabei bemühte sie sich, jedwedes Klackern ihrer Absätze zu vermeiden. Die Schuhe waren neu, sie hatte sie letzte Woche bei einem Bummel durch die Innenstadt im Kaufhaus Falkenberg erworben. »Der Tempel für alle Freuden im Leben«, wie Hanni erst kürzlich gegenüber Julia, der jüngsten Kollegin aus der Telefonzentrale, verkündet hatte, als diese auf der Suche nach einer neuen Mütze gewesen war.
In der Halle hatte sich die Belegschaft der Versicherung versammelt. Interessiert sahen die Mitarbeiter in die Richtung des geschwungenen goldenen Empfangstresens, hinter dem normalerweise Erna thronte. An diesem Morgen war das Bild jedoch ein anderes: Die Geschäftsleitung hatte sich davor aufgebaut wie eine neu geschmiedete Kette. Walter Pering hatte die Arme im Rücken verschränkt, Anton von Siebenthal stand kerzengerade daneben und hatte seine breiten Schultern zurückgenommen. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft, und von Siebenthal hatte Zeigefinger und Daumen nachdenklich ans Kinn gelegt.
»Morje, Darling, dass du dich traust, an diesem wichtigen Tag zu spät zu kommen. Hast du keine Angst vor dem Neuen?« Erna nickte zu Viktor Pering, dessen Blick durch die Belegschaft wanderte, als hätte er für jeden einzelnen Kopf große Pläne. »An deiner Stelle wäre ich erst morgen gekommen, das wäre bestimmt weniger aufgefallen.« Die Empfangsdame stieß Hanni mit ihrem Ellbogen sanft in die Seite, als rüge sie ein kleines Kind.
Entschuldigend verzog Hanni ihren Mund zu einem Lächeln und bedachte damit die Aufseherin Gudrun, die in der ersten Reihe stand und sie mit einem Blick über die Schulter und einem Augenbrauenheben tadelte. Gudrun entging es niemals, wenn jemand zu spät kam. Sie hatte ein ausgesprochenes Gespür für Fehler. Es schien, als wäre sie wie ein Schaltschrank mit ihren Telefonistinnen verkabelt, um so auf dem neuesten Stand zu bleiben.
»Das gibt Ärger«, murmelte Gisela Hanni zu, der Gudruns Blick ebenfalls nicht entgangen war. »Dafür wirst du eine Woche länger arbeiten müssen.«
»Eine ganze Woche?« Hanni wandte sich ihr so abrupt zu, dass ihr beinahe der Hut vom Kopf fiel.
»Na, ein paar Stunden mit Sicherheit.«
Hanni seufzte und sah sich schon stundenlang gebückt an ihrem Schaltschrank sitzen, während sie zusehen musste, wie eine Kollegin nach der anderen nach Hause ging. Zusammen mit Gisela, Charlie und Julia arbeitete sie als eine von acht Telefonistinnen in der Telefonzentrale, unter der Aufsicht von Gudrun Sturm, die ihrem Namen mehr als gerecht wurde. Frau Sturm zählte mit Erna Schmitz zu den Urgesteinen der Firma. Nur der goldene Empfangstresen, vor dem die Geschäftsleitung stand, dürfte einige Tage länger in der Versicherungsanstalt verbracht haben als Erna, die sich täglich frühmorgens dahinter platzierte und versiert lächelte, wenn ein Kunde die Halle betrat.
»Ich bin aber offenbar nicht die Letzte. Wo ist denn Charlie?«, fragte Hanni und sah über die Köpfe hinweg auf die Reihen vor ihr. Vielleicht stand sie woanders, mit besserer Sicht auf das Geschehen. Charlie liebte Logenplätze und hatte auch keine Scheu, sich unpassend vorzudrängen.
»Die hopst bestimmt noch immer wie eine Wilde in diesem Teufelslokal herum! Mir ist zu Ohren gekommen, dass da am Samstagabend drei Fräuleins aus der Versicherung sich die Seele aus dem Leib getanzt haben«, zischte Erna. Sie verurteilte es nach wie vor, dass die jungen Frauen ins Heaven gingen und ihren Ruf aufs Spiel setzten. Erna hatte das Tanzlokal erst kürzlich als evildevil bezeichnet und wusste – anders als Hanni – was die englischen Begriffe bedeuteten. Ernas Neugier und ihr Wissensdurst waren ein Auffangbecken für den Ozean des Lebens. Im Gegensatz zu ihrem Herzen war ihr Verstand dem Britischen zugeneigt, und so lernte sie wöchentlich neue englische Vokabeln und Phrasen, war sie doch sicher, dass die Alliierten in der Stadt bleiben würden. Es schadete ja nicht, zu wissen, was die Tommys über die deutschen Mädchen sagten.
»Wir sind gemeinsam rein- und auch wieder gemeinsam rausgegangen. Letzteres in Begleitung von drei sehr netten englischen Herren«, erklärte Hanni. »Die waren wirklich freundlich zu uns und sehr zuvorkommend. Der eine hat mir gleich den Reißverschluss am Rock geöffnet, weil er geklemmt hat. Hilfsbereit, nicht wahr?« Hanni richtete sich einen ihrer honiggelben Handschuhe, der verrutscht war.
Erna klatschte erst in die Hände, dann fächelte sie sich Luft zu, als stünde sie kurz vor einem Kollaps, was im Normalfall Charlies Spezialgebiet war, denn die konnte famos umkippen, wenn ihr danach war. »Himmel, Arsch und Zwirn! Seid ihr drei jetzt verrückt geworden?«
»Schon länger«, sagte Hanni. »Wir gehen da ja schon länger hin.«
Gisela lachte auf.
»Wo soll das nur enden?« Erna hätte darauf vermutlich eine Rede über Anstand und Sitte gehalten, hätte Gisela nicht abgewunken.
Hanni schien kurz in Gedanken zu versinken. »Auch wenn dir das nicht gefallen wird, Erna … Ich würde tatsächlich mit einem Alliierten mitgehen. Allerdings nur mit einem Einzigen. Aber keine Sorge, der ist seit Wochen verschwunden …« Hanni seufzte in Giselas Richtung, die über diese Herzensangelegenheit Bescheid wusste.
***
»Und wo steckt Charlie bloß? Ob sie krank geworden ist?«, fragte Hanni.
»Wahrscheinlich hat sie verschlafen. Ist bestimmt sehr beschwerlich, jeden Morgen aufstehen zu müssen«, antwortete Julia, und Gisela lachte über das Wort beschwerlich, das seit Charlies Auftauchen im Sommer ihr täglicher Begleiter geworden war.
»Die Arme muss ja jetzt zu Fuß gehen. Hat keinen Chauffeur mehr, das bemitleidenswerte Ding.« Erna strich über eine zu glättende Falte an ihrer weißen Bluse, als könne sie einen missratenen Gedanken wegwischen.
»Dann kommt sie erst morgen«, sagte Julia trocken.
Wie sie wussten, wohnte Charlie seit einigen Wochen bei Ursula, Giselas Nachbarin, die stets ein Kopftuch um ihren mahagoniroten Pagenkopf trug und einen Sohn namens Albrecht hatte, der so alt wie Peter und zugleich sein bester Freund war. Charlie war mehr Luxus gewöhnt gewesen, schließlich hatte sie früher mit ihren Eltern in einer Villa in Hahnwald gelebt.
»Ihr Onkel könnte sie doch fahren. Der hat ja den nagelneuen Saab«, bemerkte Julia und nickte zu Anton von Siebenthal, dem Finanzchef des Hauses, der neben Walter Pering stand und gemeinsam mit ihm und dem Generaldirektor die Führungsebene in der Versicherung bildete.
»Das wäre neuerdings auch kein Umweg für ihn. Er wurde in letzter Zeit oft in der Nähe des Buttermarktes gesehen«, verkündete Erna und streifte Gisela mit ihrem Blick, die daraufhin neben Hanni – ohnehin schon um einige Zentimeter kleiner als ihre Freundin – aussah, als wolle sie in ihrer blau-gelben Uniform verschwinden.
Hastig strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Buttermarkt? Wie kommt ihr denn da drauf?« Sie schüttelte den Kopf, als läge der Buttermarkt in Australien.
»Du wohnst doch am Buttermarkt, Gisi. Hast du ihn da nicht schon mal gesehen?«, fragte Julia, und ihre Naivität brachte Hanni zum Kichern.
Nicht nur gesehen, hätte sie am liebsten gesagt, das hätte Gisela in Erklärungsnot gebracht.
»Ach, Julchen, du bist richtig gut im Geschäftemachen, aber bei Herzensangelegenheiten bist du wie eine Telefonverbindung, die ins Leere geht. Der hat dort etwas sehr Wichtiges zu tun«, erklärte sie.
Julia zuckte mit den Schultern, als würde sie daraus nicht schlau, und sah wieder hinüber zu dem Finanzchef, der sich nun seiner Sekretärin zuwandte. Sie musterte ihn, als könne sie das, was für sie nicht offensichtlich war, in seinen Augen ablesen.
Im Gegensatz zu Gisela und Erna hatte Julia keine Mühe, über die Köpfe hinwegzublicken. Für ihr jugendliches Alter war sie außergewöhnlich groß, was bei ihrer zarten, weiblichen Stimme am Telefon in natura stets für Überraschungen sorgte.
»Anton von Siebenthal hat rein geschäftlich am Buttermarkt zu tun. Was denn sonst?«, sagte Gisela ein wenig schnippisch.
»Du meinst wohl eher, dass er einen wichtigen Abschluss vorantreiben möchte, Darling!« Ernas Augenbraue wanderte in die Richtung des achtarmigen Kronleuchters, der die Eingangshalle in ein goldenes Licht tauchte. Keck stupste sie sich die braune Brille zurecht, die ihr zusammen mit der Hochsteckfrisur Klasse verlieh. Giselas Blick fixierte unterdessen Walter Pering, als wäre er der Schaltschrank, mit dem sie verbunden war.
»Mir ist so einiges aufgefallen, mal abgesehen davon, was ich gehört habe«, sagte sie mit fester Stimme, wurde dann aber in ihrer weiteren Ausführung unterbrochen, denn vor ihrem Empfangstresen kam Bewegung in die Männer.
Gespannt wandte Julia ihre Aufmerksamkeit nach vorn.
Viktor, der Sohn des Inhabers und zukünftige Generaldirektor des Hauses beendete das Gespräch mit seinem Vater und stellte sich in die Mitte. Wie ein Thronfolger präsentierte er sich, die Arme vor der Brust verschränkt an seiner Seite, und musterte die Mitarbeiter, als überlege er, in einer Backstube ofenfrische Gebäckstücke zu kaufen, ohne zu wissen, ob sie geschmacklich etwas taugten oder nur Brösel auf dem Tisch hinterließen.
»Wollen wir?« Walter Pering nickte seinem Sohn zu, dann hob er die Hand, und die Gespräche in der Halle verebbten. »Geehrte Belegschaft, ich freue mich, dass wir heute so zahlreich zusammengekommen sind. Vor allem, weil es sich um ein wahrlich erfreuliches Ereignis handelt, das es zu verkünden gibt. Sie wissen bereits, warum wir heute hier sind, und der eine oder andere hat den neuen Generaldirektor in den letzten Tagen bestimmt schon im Haus gesehen. Nun darf ich Ihnen offiziell meinen geschätzten Sohn, Viktor Pering, vorstellen.« Walter Pering machte eine Pause und deutete stolz auf seinen Filius, damit Beifall seiner neuen Position gerecht werden konnte. »Er ist ein studierter Betriebswirt, der mit ausgezeichnetem Erfolg promoviert hat und bestens darüber Bescheid weiß, wie die Geschäfte in diesen Zeiten zu führen sind. Er wird das Unternehmen als neuer Direktor mit Klarheit, Disziplin und einer durchdachten Strategie leiten und der Versicherungsanstalt den Stellenwert verleihen, den sie vor dem Krieg hatte.« Er sah seinen Sohn an. »Ich bin mir sicher, dass durch deine präzise Führung die Versicherung in eine glanzvolle Zeit schreiten wird. Dank deines Engagements werden bald jeder Kölner und zahlreiche Menschen über die Stadtgrenze hinaus eine passende Versicherung aus unserem Angebot haben. Ich danke dir, dass du diese wichtige Aufgabe übernimmst!« Walter Pering schüttelte seinem Sohn die Hand und wandte seinen Blick wieder der Menge zu. »Sehr verehrte Damen und Herren, und nun heißen Sie bitte den neuen Generaldirektor, Viktor Pering, im Haus willkommen!«
Ein Applaus erfüllte die Halle, der die Kraft hatte, Altes loszureißen. Wie ein Startschuss zog der Beifall an den Mitarbeitern in ihren jeweiligen Uniformen vorbei. Julia bekam eine Gänsehaut. Früher hatte einmal der Böck das Haus geleitet, aber der Generaldirektor war nicht mehr im Unternehmen tätig. Nicht zuletzt wegen seines aufdringlichen Interesses an den jungen Frauen in der Versicherung hatte ihn in den letzten zweieinhalb Monaten niemand vermisst.
»Haltet euch an euren Schaltschränken fest, Darlings, da kommt jetzt was auf uns zu!«, flüsterte Erna Julia zu. Viktors Blick wanderte durch die Menge, als suche er weiter nach dem richtigen Gebäckstück. »Mit dem werden wir’s nicht leicht haben. Der Ehrgeiz tröpfelt ihm schon aus den Ohren.«
***
Die Tür des Haupteingangs öffnete sich. Ein Raunen war zu hören, und mehrere Köpfe drehten sich um. Charlie betrat die Halle und blies sich lässig eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Guten Morgen, Viktor«, sagte sie, als sie den Blick des neuen Generaldirektors auffing, und zog einen Mundwinkel nach oben.
»Charlotte«, erwiderte dieser kühl und verfolgte missbilligend, wie sie über den Terrazzoboden schlenderte, als stolziere sie in ihrem Wohnsalon herum. Das Klackern ihrer Schuhe fand in der Halle ein Echo, sodass Anton von Siebenthal peinlich berührt den Kopf schüttelte.
Einen Moment später, indem absolute Stille im Raum geherrscht und die Belegschaft Charlies Gang mit ihren Blicken begleitet hatte, erreichte sie ihre Kolleginnen und stellte sich neben Gisela und Hanni.
»Der Weg aus dem Martinsviertel hierher ist dermaßen beschwerlich, dass ich schon überlegt habe, mit nackten Füßen weiterzugehen«, ließ sie die Freundinnen wissen. »Herrje, man kann von Glück sagen, dass ich hier überhaupt angekommen bin und mir in den neuen Schuhen nicht die Beine gebrochen habe. Die haben in der Auslage im Falkenberg um einiges bequemer ausgesehen. Und dann noch dieses Wetter … Da holt man sich ja jetzt schon eine Lungenentzündung. Und diese Tragödie will ich nun wirklich niemandem antun. Vor allem nicht meinem Onkel. Schaut ihn doch mal an. Sieht heute wirklich wie ein Häufchen Elend aus!« Charlie tat so, als wische sie sich die Kälte, die sie von draußen mitgebracht hatte, vom Mantel.
»Das ist er erst, seit du hier aufgetaucht bist«, sagte Hanni. »Davor wirkte er stattlich wie immer.«
Charlie seufzte und zog sich einen ihrer weinroten Handschuhe zurecht, die Hanni ihr für den Herbst gehäkelt hatte. »Und der Viktor darf nun endlich den Generaldirektor im Haus mimen? Der Glückspilz! Jetzt kann er sich ja dank seines neuen Titels aufspielen.«
»Kennst du ihn denn?«, fragte Julia.
»Natürlich, was glaubst du? Der hat sich mit zehn Jahren in den Ententeich von Großvati übergeben, weil ihm vom Zitronenkuchen meiner Großmama schlecht geworden war. Davor hatte er allerdings Sauerbraten gegessen. Man weiß also nicht, was schuld an diesem Übel war. Aber es war ein Übel. Das könnt ihr euch vorstellen!«
»Lieber nicht«, warf Hanni ein und verzog angewidert das Gesicht.
»Das war ein richtiges Desaster. Da ist alles herumgeschwommen, was der Junge gegessen hat! Ein ordentlicher Brei war das.« Charlie schüttelte es beim Gedanken daran und schälte sich aus ihrem Mantel. Sorgfältig legte sie ihn sich über die Armbeuge. »Danach wurde er nie wieder zu diesen Gartenfesten eingeladen. Immerhin hatte Viktor zwei der Lieblingsenten meines Großvaters mit seiner Fontäne getroffen. Aber verübeln kann ich es dem Viktor nicht. Der Zitronenkuchen von Großmama hat scheußlich geschmeckt, und wir mussten ihn immer aufessen.«
Mit ihren Handflächen prüfte Charlie, ob ihr dunkelbrauner Pagenschnitt perfekt saß, indem sie so tat, als würde sie das Gewicht der Haarsträhnen mit ihren Händen wiegen. Dabei spähte sie an den Köpfen vorbei zu dem neuen Generaldirektor, dem sie ein keckes, wissendes Lächeln schenkte. Viktor Pering bedachte sie mit einem Blick, als überlegte er, sie als erste Amtshandlung von seiner Gehaltsliste zu streichen. Charlies Onkel legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas zu.
»Und wieso müssen die mit dieser unnötigen Verkündung auch so früh anfangen? Wir wissen ja schon lange, wer der neue Direktor im Haus wird«, sagte Charlie.
»Halb neun. Das bezeichnest du als früh?« Hanni nickte zu der Uhr, die hinter Ernas Empfangstresen hing.
»Herrgott, nicht jeder hier in Cologne wird mit dem ersten Hähnekrähen munter. Um diese Zeit beginnt der Schönheitsschlaf.«
»Darling, wie alt bist du, dass du das schon nötig hast?«
Charlie sah unbeeindruckt zu Erna. »Man soll früh anfangen. Das entspannt die Falten im Gesicht. Hat meine Mutter immer gesagt. Und auch wenn sie sonst nie was Sinnvolles von sich gegeben hat, hab ich mir vorgenommen, zumindest diesen einen Ratschlag zu beherzigen. Sieh dir mal Gudrun an, die ist so verbissen, dass ihre Falten bereits vom Hals verschlungen werden. Die ist als Erste in der Telefonzentrale und geht als Letzte. Jetzt kannst du dir ausrechnen, wie schön sie in fünf Jahren sein wird. Will man so enden?«
»Auf eine ähnliche Weise wirst du enden, Darling. Das Alter wird auch vor dir nicht halt machen.«
»Wir werden ja sehen, Frau Schmitz.«
Erna seufzte und wandte ihre Aufmerksamkeit Walter Pering zu, der in seiner Rede fortgefahren war.
»Woher hast du denn diesen schicken Hut? Ist der neu? Hab ich noch nie an dir gesehen. Und sag jetzt nicht: selbst genäht«, flüsterte Charlie und strich über die samtene gelbe Schleife, die auf Hannis Hut drapiert war.
»Selbstverständlich. Nähatelier Angersbach.« Hanni machte einen kleinen Knicks.
»Ach, du Angeberin du!«
»Psst! Jetzt seid doch mal leise! Ich versteh kein Wort!«, sagte Gisela und bedachte Charlie und Hanni mit einem tadelnden Blick.
»Als ob das wichtig wär, was die Mannsbilder da von sich geben.« Charlie rückte ihre Uniformjacke zurecht. Immerhin trug sie jetzt Uniform. Wochenlang war sie ohne eine ausgekommen und war in ihren schicken Pariser Kostümen, die sie vor der Pfändung hatte retten können, wie die Adelige, die sie im Grunde genommen war, herumgestakst. Hanni dachte daran, dass Gudrun das Aus-der-Reihe-Tanzen irgendwann nicht mehr akzeptiert und ihr angedroht hatte, ihr zu kündigen, wenn sie weiterhin in ihren Haute-Couture-Röcken vor ihrem Schaltschrank sitzen würde. Genau genommen hatte sie diese als französischen Schneiderwahnsinn bezeichnet, woraufhin Charlie erst ein Schulterzucken, dann Folgendes – wortwörtlich – erwidert hatte: »Eine im Raum muss sich diesen Wahnsinn auch leisten können.« Gudruns Blick war daraufhin entgleist wie eine Dampflokomotive bei einem Überholmanöver. Wäre Charlie nicht die Nichte des Finanzchefs, hätte sie zur Strafe Überstunden machen müssen … Ein Jahr an Überstunden, mindestens. Oder sie hätte Charlie vor die Tür gesetzt, hätte von Siebenthal nicht zwei, drei … oder an die zweihundert nette Worte für seine Nichte eingelegt. Sie sei eben ein Küken, das erst erzogen werden müsse, hatte er zu Gudrun in aller Öffentlichkeit gesagt und mit einem Tätscheln auf ihren Handrücken um Unterstützung in dieser heiklen Angelegenheit gebeten. Gudrun hatte daraufhin nur ein kränkliches Hüsteln zustande gebracht, als wäre sie eine Bäuerin, die vergebens versuchte, die Hühner im Stall zu behalten. Charlie zählte bereits zweiundzwanzig Jahre und war mehr ein erwachsenes unbeherrschtes Huhn als ein hilfloses Küken, das sich in der Welt nicht zurechtfand. Hanni grinste.
In diesem Moment machte Viktor Pering einen Schritt nach vorn, und sein Vater trat in den Hintergrund, was sinnbildlich für die Zukunft stand. »Ich danke Ihnen für das herzliche Willkommen im Haus und freue mich, als neuer Generaldirektor die Geschäfte der Versicherung leiten zu dürfen. Wir werden in ein modernes Zeitalter schreiten. Gemeinsam in den Aufschwung segeln, der sich nach den ungestümen letzten Jahren zu unser aller Freude aufgetan hat. Ich werde die Segel richtig setzen und Sie als Kapitän über das westdeutsche Fahrwasser leiten. Wir werden den Auftrieb nutzen, um voranzukommen!«
***
»Will der jetzt eine Bootsfahrt auf den Rhein mit uns machen?« Julia, die kurz in Gedanken versunken war und mit dem Übereifer des Direktors offenbar nichts anzufangen wusste, sah Hanni fragend an.
»Das ist Poesie, Darling.«
»Dafür war ich noch nie empfänglich.«
»Ist ihm auch nicht besonders geglückt«, warf Gisela ein, die für Dichtkunst in Büchern immer ein offenes Herz hatte, weil sie, wie Hanni wusste, früher in der Buchdruckerei ihres Vaters mitgearbeitet hatte. Deshalb sah sie nicht nur in Buttercremetorte ein Allheilmittel, sondern auch in Geschichten, die einem den Alltag versüßten.
Hanni lächelte stoisch in die Richtung des Generaldirektors, als könne sie damit die Mehrarbeitsstunden wegen ihres Zuspätkommens abwenden. Abgelenkt musterte sie dabei Carlas Bauch, die seitlich hinter Walter Pering stand. Einer Schneiderin fiel auf, wenn ein Kleidungsstück nicht ordentlich saß.
»Die ist doch schwanger!«
»Wer?«, fragte Erna mit einer Inbrunst, die selbst Julia aufhorchen ließ.
»Na, die Chefsekretärin vom Pering, die Carla.« Hanni vermied es, in ihre Richtung zu zeigen.
Giselas Blick folgte Hannis. »Nein, unmöglich! Von wem denn? Das wüsste man ja schon längst. Erna?«
Diese schüttelte den Kopf. »Bedaure, Darling. Nichts bekannt. Aber jetzt, wo du’s sagst …« Gisela und Erna musterten Carla.
Hanni nahm mit ihren Augen Maß. »Sie war schon mal schlanker um die Taille.«
»Wie wir alle«, sagte Gisela und setzte ein zufriedenes Lächeln auf, immerhin gab es seit der Umstellung auf die neue Währung hin und wieder volle Einkaufskörbe, die man nach Hause tragen durfte.
Die Rundung um Carlas Bauch war gut zu sehen. Das A-Linienkleid konnte nicht alles verbergen.
»Oder sie hat zu viel Kohl gegessen«, warf Julia ein. »Meine Großmutter … ihr wisst schon, die …«
»Die so viel getrunken hat«, fuhr Hanni fort.
»Genau die, die hat immer Kohlgerichte gekocht, und davon ist uns allen der Bauch geschwollen. Kugelrund waren wir deshalb.«
Erna wollte offenbar nicht länger über die betrunkene Großmutter mit einem Faible für Kohlgemüse nachdenken. »Dabei muss es sich aber um eine unbefleckte Empfängnis handeln. Der Böck wird’s nicht gewesen sein, sonst würde man es bereits deutlicher sehen.«
»Warum stellt ihr nur Vermutungen an? Fragt sie doch einfach!«, erwiderte Julia, denn mittlerweile war es kein Vier-Augen-Gespräch mehr, sondern eine Besprechung unter Kolleginnen, die dringend beendet werden musste. Immerhin wetteiferten die Perings da vorne mit ihren gegenseitigen Schmeicheleien um Aufmerksamkeit. Aber gegen so ein kleines Schwangerschaftsgerücht wäre auch die Vorstellung eines neuen Papstes nicht angekommen.
»So was fragt man nicht. Schon gar nicht die Chefsekretärin. Da gratuliert man höchstens, wenn sie’s überstanden und das Kind endlich rausgepresst hat. Aber …« Erna hob einen Zeigefinger. »Wir werden das Fräulein Carla selbstverständlich im Auge behalten«, ergänzte sie mit hochgezogener Braue, was Hanni verriet, dass sie bis spätestens morgen Abend genaue Kenntnis über Schwangerschaftswoche, das werte Befinden der künftigen Mutter, vermutetes und erhofftes Geschlecht und über die Wahrscheinlichkeit einer befleckten oder unbefleckten Empfängnis Bescheid wüssten. In dieser Hinsicht war auf Erna Verlass. Sie hielt Verkündungstermine dieser Art immer pünktlich ein.
»Aber einen Ring trägt sie nicht, oder? Seht ihr was?«, fragte Hanni und spähte über die Köpfe hinweg zu Carlas Hand. »Unauffällig. Vielleicht fragst du mal den von Siebenthal«, flüsterte Hanni Gisela zu, als sie keinen Beweis an Carlas Fingern finden konnte. »Der weiß bestimmt Bescheid.«
Gisela kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Dafür haben wir aber keine Zeit. Wir haben Besseres zu tun.« Die Röte auf Giselas Wangen zeigte Hanni deutlich, dass das Bessere eindeutig besser war. Muss schön sein, dieses Vergnügen am eigenen Leib zu spüren, dachte sie.
Seit die beiden kurz nach Kriegsende 1945 bei der Versicherung angefangen hatten, verbrachten sie nicht nur ihre Pausen gemeinsam, sondern teilten auch die alltäglichen Freuden und Leiden in ihrer beider Leben. Und in den letzten sechs Wochen war Gisela regelrecht aufgeblüht. Viel zu schwer war die Zeit des Wartens auf die Rückkehr ihres Mannes Heinrich gewesen. 1941 war er eingerückt, und seitdem hatte Gisela um sein Leben gebangt, mit der Ungewissheit im Herzen, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Seit Ende September galt er als tot, was zwar nie offiziell bestätigt worden war, aber der Wahrheit entsprechen musste, denn ein Kollege Heinrichs hatte es Gisela mitgeteilt. Selbstverständlich hatte sie sich das nicht für Heinrich und ihren Sohn gewünscht, doch es herrschte endlich Klarheit, die sie von einer großen Last befreit hatte.
»So … und nun tun wir wenigstens so, als würde uns das Gerede da vorne interessieren!«, sagte Erna und legte einen Zeigefinger auf den Mund. Mehrere Kollegen hatten sich bereits zu ihnen umgedreht, weil sie zu laut sprachen.
Die Frauen räusperten sich oder nickten, selbst Charlie riss sich zusammen und versuchte, ein freundliches Gesicht zu machen, aber etwas blitzte in ihrem Blick auf, als würde sie die Erinnerung an die Geschehnisse am Ententeich nur allzu gut vor ihrem geistigen Auge sehen können. Als die beiden Perings mit ihren Reden fertig waren, klatschten alle … nicht wegen des Inhalts, da war sich Hanni sicher, sondern weil das Gerede ein Ende gefunden hatte.
»Für die Versicherung und für die Belegschaft, also uns, bricht ein neues Zeitalter an«, sagte sie nachdenklich zu Gisela, als sie nach der Veranstaltung gemeinsam mit Charlie aus dem Versicherungsgebäude trat. »Ob es gut oder schlecht wird, werden die kommenden Monate zeigen. Aber egal, was auf uns zukommt. Wir werden zusammenhalten und dafür sorgen, dass die Verbindungen im Innen und Außen zustande kommen. Wir Freundinnen sind ein bedeutender Teil von Pering. Jede auf ihre Weise.«
»Aber doch sind wir eine Einheit. In den letzten Monaten sind wir richtig zusammengewachsen«, gab Gisela zurück.
»Ich geh schon mal vor«, sagte Charlie zu ihr. »Ich brauche ja viel länger nach Hause als du. Tschüss, bis morgen!«
Gisela nickte ihr zu und plauderte noch ein Weilchen mit Hanni, bevor sie sich verabschiedeten. Hanni in Richtung Agnesviertel, Gisela wandte sich dem Buttermarkt zu.
Charlie brauchte doppelt so lange zum Buttermarkt wie Gisela, denn sie trug die neuen Grace-Walker-Schuhe, das Modell Zoe mit Heel-Cup und hohem Absatz, der durch das stundenlange Tragen in Mitleidenschaft gezogen worden war und deshalb wackelte. Deshalb schlenderte sie langsam einher, was bei vielen Leuten den Eindruck von Arroganz hinterließ. Aber das war ihr recht. Lieber arrogant gelten, als arm zu erscheinen. Und arm war sie jetzt.
Charlottes Vater, der Bruder von Anton von Siebenthal, hatte nach dem Krieg das gesamte Vermögen inklusive der Villa im Hahnwald verloren. Ihre Mutter war daraufhin zur geistigen Erholung an die französische Riviera gereist, dann weiter nach Südamerika, und war seitdem weder per Telefon noch Post erreichbar. Offenbar hatte sie einen Dauertiefschlaf nötig. Sie hatte nicht nur ihre Tochter in Köln zurückgelassen, sondern, so schien es Charlie, auch all ihre Erinnerungen, die keinen Wert mehr für sie hatten. Nach den schweigsamen Wochen hoffte sie nicht länger auf einen Brief von ihr. Der Vater war auf einem Passagierschiff in eine abenteuerliche Zukunft ausgewandert, die ihm mehr Halt versprach als die Angehörigen der Kölner Schickeria, die am Schluss die Straßenseite gewechselt hatten, wenn sie ihm begegneten. Mittlerweile dürfte er den sicheren Hafen in Argentinien erreicht haben, bei einem gebratenen Stück Rindfleisch sitzen und sich darüber Gedanken machen, wen er in Zukunft bevormunden könnte.
Charlie jedenfalls nicht mehr, und sie gönnte ihm den notgedrungenen Neubeginn, der bedauerlicherweise auch zu ihrem eigenen geworden war. Dank ihres Patenonkels Anton hatte sie die Anstellung als Telefonistin in der Versicherungsanstalt bekommen. Aber jetzt, wo sie erstmals in ihrem Leben einer Tätigkeit nachging, erkannte Charlie, dass ihr der Sinn fehlte. Es konnte nicht alles sein, was das Leben für sie bereithielt: Verbindungen aufbauen und wieder trennen? Das hatte sie schon nach zwei Wochen angeödet. Tief in ihrem Inneren sehnte sie sich nach einer Aufgabe, mit der sie etwas in der Welt verändern konnte. Viel zu lange war sie ihrer Passivität erlegen. Manchmal kam es ihr so vor, als würde sie nicht wegen des Schuhwerks so lange nach Hause brauchen, sondern wegen der tausend Gedanken in ihrem Kopf, die sie bremsten und eine Unordnung hinterließen, die ihr Unterbewusstsein nicht zu sortieren vermochte.
Dafür herrschte in ihrem Zimmer, das sie im Sommer bei Giselas Nachbarin Ursula bezogen hatte, dank ihrer Vermieterin rund um die Uhr eine perfekte Ordnung. Ursula war eine gute Seele, die stets Eimer und Lappen bereithielt, um die Schlampigkeiten ihres Sohnes Albrecht – und auch die von Charlie – zu beseitigen. »Jeder Mensch und jedes Ding hat seinen Platz auf dieser Erde, auch wenn es manchmal lieber woanders wäre«, sagte sie immer, wenn Charlies Strümpfe oder Haarspangen auf dem Boden herumlagen. Früher hatte Charlie eine Hausdame gehabt, die dafür gesorgt hatte, dass alles blitzte und glänzte und an Ort und Stelle war. Mittlerweile musste sie sich auf alle viere begeben und ihren Dreck selbst wegmachen, denn außer dem bekannten Namen war nichts von Glanz und Glamour in ihrem Leben geblieben.
Und doch war genau das befremdlich herrlich für sie. Ja, sogar befreiend. Diese Leichtigkeit, in kein Korsett passen zu müssen, sich alles erlauben zu können, das bot ihr erfreuliche Möglichkeiten. Charlie bekam für ein falsches Wort in der Öffentlichkeit keine Ohrfeige mehr, denn Anton würde das niemals wagen. Somit trug sie nicht nur die modernen Schuhe von Friedman-Shelby, sondern auch das Gefühl in ihrer Brust, dass sie zur Kapitänin ihres eigenen Lebens geworden war.
»Wie geht’s Peter? Jetzt, wo er wieder zu Hause ist?«, fragte Charlie, als Gisela sie eingeholt hatte und sie in die Glockengasse einbogen.
»Es geht. Die Infektion ist zwar gut abgeklungen, aber es hat ihn viel Kraft gekostet. Sie mussten ihm die Prothese wieder abnehmen. Dann wussten sie gar nicht, ob sie ihm sie wieder richtig fixieren können. Dafür ist extra ein Arzt, ein Spezialist aus München gekommen. Der hat ihm die Prothese nach dem Abheilen der Infektion wieder angeschraubt. Das war sehr anstrengend für ihn.«
»Ach, der Arme. Und wie geht’s dir damit?«, erkundigte sich Charlie, denn auch wenn Gisela sich ihre Ängste kaum anmerken ließ, so sah man an ihren Augenringen, dass ihr die Sorgen den Schlaf raubten.
»Mehr schlecht als recht. Peter schlägt sich tapfer, und ich hoffe wirklich, dass er mit der Prothese umzugehen lernt. Manchmal kommt es mir vor, als würde er sie sich am liebsten wieder vom Leib reißen.«
»Fußballspielen?«, fragte Charlie.
Gisela schüttelte den Kopf. »Ist er nie wieder hingegangen. Obwohl es der Arzt ihm erlaubt hat. Nicht mal zuschauen war er. Er ist auch so still geworden. Ich weiß nicht, ob er jemals wieder einen Ball in die Hände nehmen wird. Ich meine, er könnte ja spielen. Die Beine, die taugen ja noch was.«
»Vielleicht ist es wegen Heinrich?«
»Mag sein.«
»Ach, wie beschwerlich!«, seufzte Charlie und zog ihren Mantel enger um sich, denn die Novemberkälte kroch durch den dünnen Stoff hindurch. Gisela sah gedankenverloren am ehemaligen Stammhaus des Parfüms 4711 in der Glockengasse vorbei, das im Krieg vollständig zerstört worden war, und blieb abrupt stehen, als hielte sie ein Gedanke davon ab weiterzugehen.
»Ich hab ihm das mit Heinrich noch gar nicht erzählt.«
»Was? Hast du nicht?«, fragte Charlie, die ebenso stehen geblieben war.
»Nein, das würde ihn nur belasten. Ich müsste Heinrich für tot erklären lassen.« Gisela wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und presste die Lippen zusammen. »Es ist ja erst ein paar Wochen her, dass ich geglaubt habe, ihn zu sehen. Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, aber vergeblich.« Charlie sah sie mitleidig an. »Es ist ja nicht so, dass mein Herz nicht losgelassen hätte. Aber wie kann ich meinen Mann für tot erklären lassen, wenn er vielleicht noch lebt? Stell dir mal vor, er taucht eines Tages wieder auf, weil es eine Falschmeldung war? So wie damals am Bahnhof, als Peter und ich auf seine Heimkehr gewartet haben. Da hätte er im Zug sein sollen. Und dann ist er nicht gekommen. Und dieser Bernd …« Gisela sah Charlie nachdenklich an. »Kann ich auf die Aussage eines Fremden vertrauen?«
»Er war ein Mitgefangener aus dem Lager!«, entgegnete Charlie. »Und die Holzlokomotive, Gisela, die war doch von Heinrich. Außerdem hast du seit Jahren nichts von ihm gehört. Kein einziges Wort. Ich würde sagen, das ist Bestätigung genug. Fang endlich neu an … vielleicht mit meinem Onkel?« Charlie grinste und stupste die Freundin mit dem Ellbogen in die Seite.
»Charlotte«, tadelte Gisela lächelnd.
»Ich bin nicht blind, Gisi, und erkenne einen verliebten Patenonkel, vor allem, weil er es offensichtlich vorher nie war. Der Krieg hat ihn ziemlich mürrisch gemacht, und ich hatte in den letzten Jahren den Eindruck, dass er sich an nichts mehr erfreut. Und nun spaziert er pfeifend durch die Versicherung und parkt seinen Wagen mehrmals wöchentlich unweit vom Buttermarkt in der Salzgasse? Mit Sicherheit bekommt er schon Stammkundenrabatt im Reichard, weil er so oft da einkauft. Weshalb wohl, hm?«
Gisela schaute zur Seite. »Wahrscheinlich macht er einen Spaziergang durch die Innenstadt.«
»Mit einem Pappkarton vom Reichard in den Händen? In dem vermutlich ein Stück Buttercremetorte liegt? Soweit ich weiß, mag mein Onkel gar nichts Süßes.« Charlie tat, als würde sie angestrengt nachdenken. »Mir fällt nur eine Person in ganz Köln ein, die sich für Torte von der neuen Deutzer Brücke stürzen würde.«
»Ach, bei Gott nicht! Doch nicht für Buttercremetorte! Dafür würde ich nur andere ermorden.«
Die beiden jungen Frauen lachten.
»Die Liebe ist wirklich kompliziert! Wie gut, dass ich nicht verliebt bin und auch nicht vorhabe, es irgendwann zu sein. Wäre mir zu beschwerlich das Ganze«, flötete Charlie, obwohl die Verwendung des Wortes beschwerlich bei ihr nie einen süßen Unterton fand.
»Das zahlt sich manchmal aber auch aus.« Gisela zuckte mit den Schultern. »Bald ist ja Weihnachten. Verbringst du Heiligabend bei deinem Onkel?«
»Wirst du mit Peter denn dort sein?«
»Charlie, lenk nicht ab!«
»Wer hier ablenkt … Ich zähle nur eins und eins zusammen.«
»Er ist verheiratet, solltest du das vergessen haben.« Gisela fuhr sich nervös durch ihr kinnlanges braunes Haar.
»Mit einer Wahnsinnigen, die ihr Zimmer seit Wochen nicht mehr verlässt. Bestimmt ahnt sie, dass er sich scheiden lassen will, und verbarrikadiert sich deshalb in ihrem Schlafzimmer, damit sie der Wahrheit nicht ins Auge sehen muss. Eine arme gefallene Primaballerina, die auch noch Migräne hat. Was für ein Trauerspiel!«
»Charlie, sprich doch nicht so über deine Tante!«
»Sie hat es aber verdient. Du müsstest sie mal erleben! Oder erlebt haben, als ich noch ein Kind war. Und ich bin mir sicher, dass das liebe Tantchen gar keine Träne wegen einer Scheidung verschwenden würde. Die hebt sie sich lieber für ihren eigenen Tod auf. Sie erinnert mich immer mehr an meine Mutter, die ist auch so eine Egoistin. Ist wohl der Fluch der Siebenthal-Männer. Obwohl … meine Großmutter hat ihr Haus stets fröhlich verlassen. Mag vielleicht daran liegen, dass sie Großvati in ihren letzten Ehejahren nicht mehr zu ertragen hatte. Dich als Tante zu bekommen, wäre ein Geschenk für mich. Wie der Segen vom Erzbischof Frings persönlich.«
»Ein absurder Gedanke!« Gisela schüttelte den Kopf und sah an Charlie vorbei zur Brückenstraße. »Komm, wir sind spät dran! Mit dir heimzugehen ist wie ein Feldmarsch nach Stuttgart. Ursula hat bestimmt schon das Abendessen gerichtet. Heute ist Mittwoch, Bergfest, also gibt es Ähzezupp, und die können wir bei diesen Temperaturen gut gebrauchen. Entweder du stöckelst jetzt schneller oder ziehst deine Schuhe aus und frierst!« Gisela marschierte los, und Charlie hatte Mühe, ihr zu folgen.
»Immer die Constanze! Was steht denn da so Wichtiges drin?«, fragte Marie, Hannis fünfzehnjährige Schwester, die ihre Nase am liebsten in Bücher, jedoch niemals in Magazine stecken würde. Das hielt sie für einen Frevel gegenüber ihrer Intelligenz.
Die beiden saßen in »Käthes Büdchen«, das ihr Vater nach ihrer Mutter benannt hatte.
»Lebensnotwendiges«, antwortete Hanni. »Welches Kleid Hildegard Knef erst kürzlich in Berlin anhatte. Und wie man es nachnähen kann.« Sie deutete auf das dunkelbraune Etuikleid mit dem rückseitigen Dior-Schlitz, zu dem die Schauspielerin ein Bolerojäckchen kombiniert hatte. Hanni seufzte.
Marie seufzte aus einem anderen Grund. »Mit diesem Wissen würde ich verhungern.«
Hanni schnalzte mit der Zunge. »Davon muss auch nur ich satt werden. Du hast ja die Buddenbrooks. Also schau mir nicht zu, dann musst du dich nicht ärgern.« Konzentriert blätterte Hanni die Ausgabe der Constanze durch, die heute Morgen geliefert worden war. Sie wollte sich Inspirationen für warme Kleidung holen, da die winterliche Kälte bald ihren Höhepunkt erreichen und dann wochenlang wie ein ungebetener Gast in der Stadt bleiben würde. Christa, die jüngste Schwester, würde ihren Einsatz zu schätzen wissen, denn sie war verliebt in Hannis Schneiderkreationen und wäre am liebsten täglich wie eine Prinzessin durch das Agnesviertel geschritten. Aber dazu fehlten Hanni nach wie vor die Stoffe und die Zeit. Sechs weitere Ausgaben der Constanze lagen druckfrisch auf der Ladentheke. Eine Heftausgabe hatte Hanni für Frau Maier zur Seite gelegt, denn diese würde im Laufe des Vormittags nach Erledigung der Lebensmitteleinkäufe bestimmt beim Kiosk vorbeischauen. Sie teilte Hannis Sehnsucht nach Schönheit und französischem Chic, bebildert auf wenigen Seiten Papier. Und auch wenn Hanni niemals selbst über einen roten Teppich schreiten oder Mitglied einer Königsfamilie werden würde, so genügte es ihr schon, gedanklich in dieser Welt zu verweilen.
Von fern sah Hanni Christa, die mehr springend als gehend auf das Büdchen zukam. Kurz darauf lehnte sie sich an die Kiosktheke und schnaufte, als hätte sie einen kilometerlangen Weg hinter sich, obwohl die Wohnung der Familie nur einen Steinwurf entfernt lag. »Marie, wir müssen einkaufen gehen. Mutti hat es uns aufgetragen.« Christa rollte mit ihren Augen, deren Farbe, wenn sie lächelte, an einen blauen Himmel erinnerten. Doch wehe, Christa war zornig, dann hingen Gewitterwolken darin, vor denen man sich in Acht nehmen musste. »Sie hat mir eine Liste diktiert. Und ich kann das unmöglich alles alleine tragen. Will ich auch gar nicht.« Christa spinxte auf die Holztheke neben Hanni, auf der eine Dose mit Süßigkeiten stand.
»Warum trägst du meinen Hut? Der ist ja noch nicht mal fertig«, bemerkte Hanni, der erst jetzt aufgefallen war, dass es ihrer war.
»Nicht? Sieht aber schon ganz ordentlich aus. Oder, Marie?«
Marie musterte Christa, als würde sie den Asphalt auf Risse prüfen müssen.
»Ich hab ihn mir halt ausgeborgt. Was denkst du denn? Es ist kalt, und außerdem ist er sehr schick«, verteidigte sich Christa.
»Fürs Einkaufen beim Schmitz? Das wird ein Sonntagshut, wenn er fertig ist!«
»Sagst du nicht immer, dass man sich stets hübsch machen soll?«
Hanni klopfte sich mit der Hand gegen die Stirn.
»Ich hab ja sonst nichts Schönes zum Anziehen, weil meine Schwester nur noch Handschuhe näht. Für ihreKunden.«
»Weil die auch etwas dafür bezahlen.«
»Ich bin mit dir verwandt. Das muss reichen.« Kurzerhand griff Christa in die Süßwarendose auf der Holztheke, nahm zwei Pfefferminzbonbons von Stollwerck heraus und steckte sie sich in den Mund, ehe Hanni reagieren konnte.
»Herrje, spuck sie sofort wieder aus!«, rief Hanni, ehe ihr bewusst wurde, dass sie mit dem Ertönen der Schmatzgeräusche bereits unverkäuflich geworden waren. »Vater wird wieder zornig werden, wenn er rausfindet, dass du die Kamelle genommen hast.« Ein gleichgültiges Lächeln zeigte sich auf Christas Lippen, während sie genüsslich lutschte.
»Himmel, Christa! Schon mal was von Bezahlen gehört?«, fragte Marie.
»Wieso soll ihm das auffallen? Du sagst ja immer, dass er kein Kassenbuch führt. Was auch immer das ist.«
»Aber eine Strichliste hat er.« Hanni klopfte mit dem Zeigefinger auf den Notizblock, der neben der Kasse lag.
»Oje. Zu spät! Es schmilzt schon auf der Zunge.« Christa zuckte mit den Schultern und sah dann zu Marie. »Komm, lass uns jetzt gehen, sonst kriegen wir nichts mehr! Und ich will nicht wieder bis zur Neusser Straße marschieren und von dort die Kartoffeln heimschleppen müssen.«
»Und ich soll jetzt dafür geradestehen?« Hanni stemmte die Arme in die Hüften.
»Du bist die Älteste von uns … und die Stärkste!«
»Christa!«, mahnte Marie. »Hanni bekommt immer alles von ihm ab. Da musst du nicht noch Öl ins Feuer gießen.«
Marie hatte bestimmt gut in Erinnerung, was damals geschehen war, als ihr Vater die Beherrschung verloren und Hanni so fest geschlagen hatte, dass sie über den Boden gerutscht war. Und welch unwiderruflichen Schaden dieser Schlag an ihrem linken Ohr angerichtet hatte.
»Wir kaufen die zwei Bonbons mit Muttis Geld, das fällt ihr nicht auf. Und dann legen wir sie nachher in den Topf zurück«, schlug Marie vor. »Zeig mir mal die Einkaufsliste. Wie viel hat sie dir mitgegeben?«
»Nur die Liste hat sie mir eingepackt. Wir sollen wieder anschreiben lassen. Am Ende der Woche wird sie bezahlen kommen, sollen wir sagen, wenn Hanni ihren Lohn vom Pering mitgebracht hat.«
»Herrgott noch mal!« Hanni machte zwei Striche auf der Liste ihres Vaters, an der Stelle der Stollwerck-Bonbons, zog ihr Portemonnaie aus der Handtasche und fischte etwas Geld heraus, das sie in die Kasse legte. Statt mehr wurde es immer weniger in ihrer Börse. Dabei wollte sie doch jeden Pfennig für die Bernina-Nähmaschine sparen. Es genügte schon, dass sie zwei Drittel ihres Lohnes aus der Versicherung in die Haushaltskasse abgeben musste. »Das allerletzte Mal, Christa! Hast du verstanden?«
»Und denk das nächste Mal nach, bevor du handelst!« Marie nahm Christa die Einkaufsliste weg.
»Aber das liegt mir halt nicht. Ich bin impulsiv«, erwiderte Christa und lächelte frech, sodass Hanni der Vergleich zu ihrem Vater in den Sinn kam.
»Gehen wir!«, drängte Marie. »Sonst ist wirklich alles weg.«
Trotz der Währungsumstellung waren die Lebensmittel nicht in Hülle und Fülle vorhanden. Je später die Stunde, desto weniger Auswahl hatte man. Hanni sah ihren Schwestern zu, wie sie verschwanden. Dabei fiel ihr Blick nach links zur Straßenlaterne an der Ecke Hülchrather Straße, an der sich der Küppers festhielt und verschnaufte.
»Guten Morgen, Herr Küppers«, rief Hanni und winkte ihm zu. Den alteingesessenen Kölner, der seit seiner Kindheit im Agnesviertel wohnte, wovon er Hanni mindestens einmal wöchentlich erzählte, erkannte man aufgrund seines behäbigen Ganges bereits aus hundert Meter Entfernung. Er ließ sich ein paar Minuten Zeit, ehe er sich von der Laterne abstieß und sich auf das letzte Stück aufmachte, das ihn noch von seinen Zigaretten trennte.
»Isset nicht, Hannelore. Aber jut, dat wenigstens einer sich an diesem verdammten Wetter freuen kann!«, schimpfte er, als er keuchend das Büdchen erreicht hatte und sich an die Theke lehnte, um wieder zu Atem zu kommen. »Die Fenster in der Wohnung sin nicht dicht, da bringt dat bisschen Heizen auch nix. Ist die reine Verschwendung. Ich werd mir noch den Tod holen.« Er hielt kurz inne, fischte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich die Stirn ab. »Nicht, dass mich jemand vermissen würde, aber fies kalt isset trotzdem, und erfrieren will ich ja auch nicht.«
»Ach, nicht doch!« Hanni streckte sich über den Verkaufstresen und legte eine Hand auf seinen Arm.
»Saukalt, Hannelore. Da kannste nix machen. Was soll nur im Winter werden? Habt ihr es denn wärmer?« Er ächzte laut und steckte das Taschentuch zurück in seine Hosentasche.
Hanni rieb sich die Hände, als wäre ihr erst jetzt aufgefallen, dass es im Büdchen keine Heizung gab. Deshalb trug sie ihr warmes Nachthemd, das sie in den Hosenbund gestopft hatte, darüber ihren Sloppy Joe und über dem Pullover den roten Wollmantel, den sie bis obenhin zugeknöpft hatte.
»Ich hoffe, dass mein Vater Briketts gekauft hat«, erwiderte Hanni mehr zu sich als zum Küppers, und es graute ihr vor der Erinnerung, wie sie im letzten Jahr über die Runden gekommen waren. Sie und ihre Schwestern hatten beim Schlafen alles übereinandergezogen, was sie an Kleidung besaßen. Da hatten sie noch in dem Kellerraum gehaust, den sie jetzt für ihre Schneiderarbeiten nutzte.
»Gib mir fünf Zeitungen, Mädche. Vor allem die Rundschau, die ist mir am liebsten. Mit der kann ich prima die Fenster abdichten.«
»Dazu ist die Kölnische Rundschau perfekt geeignet!«, erwiderte Hanni und war froh, dass er nicht nach der Constanze verlangt hatte. Eine Hildegard Knef in so einem vornehmen Popeline-Kleid hätte diese unsachgemäße Verwendung als Fensterabdichtung nicht verdient.
»Wo steckt eigentlich schon wieder der Bätes?«
»Mein Vater ist gerade unpässlich.« Hanni zählte die Zeitungen ab und legte sie auf die Theke.
»Ist ja nur noch unpässlich, der Kerl! Hat ihn wohl heftig erwischt, das Herumgetreibe, was? Da kommt er gesund aus dem Krieg heim, und dann verreckt er an seinem Laster!«
»Verrecken?« Hanni erschrak nicht, aber die Wortwahl überraschte sie. »Nun … er hat die Nacht schlecht geschlafen. Er wird nachher ins Büdchen kommen und mich ablösen. Spätestens zu Mittag, denn dann muss ich in die Versicherung.«
»Fleißig biste, Mädche. Fleißig! So ’ne Frau könnt ich zu Hause gut gebrauchen.« Herr Küppers bedachte Hanni mit einem sonderbaren Blick, der ihr eine Gänsehaut verursachte. Aber offenbar wusste er, wo sich ihr Vater Herbert in der Nacht herumtrieb. Eine Information, die er seiner Frau und den Töchtern vorenthielt. Über seine nächtlichen Streifzüge hielt er sich bedeckt. Dass er dafür die Haushaltskasse geleert hatte, war allerdings kein Geheimnis. Vor allem für Hanni, die sie immer wieder aufzufüllen versuchte, damit genügend Geld zum Einkaufen von Lebensmitteln da war.
»Und ein Päckchen Zigaretten?«
»Damit ich wenigstens was Warmes in den Händen hab?«, fragte Küppers, und Hanni nickte.
»Gib mir die Billigsten, die du hast.«
»Es gibt nur noch Overstolz. Morgen soll Nachschub kommen.« Hanni griff nach dem Päckchen.
»Och nä! Alles weg? Der Schnupftabak auch?«
»Ja, verkauft!«, sagte Hanni stolz, doch die Heiterkeit verflog sogleich wieder, als ihr einfiel, wer die Tabakdose erworben hatte. Wahrscheinlich mehr aus Mitleid ihr gegenüber als des Genusses wegen. Aber egal … verkauft war verkauft. Die Handschuhe, die sie an Dean erinnerten, hatte sie noch immer in der Tasche, verpackt in weißem Papier. Sie selbst konnte sie nicht tragen, da sie zu groß waren. Einige Male hatte sie überlegt, sie umzunähen, sich des Öfteren an den Tisch gesetzt, um die Nähte aufzutrennen. Doch am Ende hatte sie nur liebevoll auf das Leder gegriffen und sich die Erinnerung zurückgeholt, wie es war, als er