Die Telefonistinnen - Verbindungen fürs Leben - Nadine Schojer - E-Book
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Die Telefonistinnen - Verbindungen fürs Leben E-Book

Nadine Schojer

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Beschreibung

Von Rückschlägen und Neuanfängen - ein Plädoyer für die Frauenfreundschaft

1949. Die unmittelbare Besatzungszeit ist beendet, die Republik gegründet; ein erster Aufschwung zeichnet sich ab. Auch die Telefonistinnen der Kölner Versicherung Pering hoffen auf gute Zeiten. Charlie setzt sich mit aller Kraft für die Gleichberechtigung der Frau ein, will einen Betriebsrat gründen und den Arzt Michael heiraten. Gisela und Anton haben sich nach langer Heimlichtuerei endlich zueinander bekannt und planen vorsichtig die nächsten Schritte. Hanni hingegen ist enttäuscht von der Liebe und konzentriert sich mit Julias Hilfe auf die Gründung ihres Nähateliers. Doch Julias Aufmerksamkeit wird auf ein altes, sorgfältig verborgenes Familiengeheimnis gelenkt ...


Charmant, nostalgisch, liebenswert - ein stimmungsvoller Blick in eine entscheidende Zeit der deutschen Geschichte

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Seitenzahl: 444

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigEpilogNachbemerkung und Dank

Über dieses Buch

Von Rückschlägen und Neuanfängen – ein Plädoyer für die Frauenfreundschaft 1949. Die unmittelbare Besatzungszeit ist beendet, die Republik gegründet; ein erster Aufschwung zeichnet sich ab. Auch die Telefonistinnen der Kölner Versicherung Pering hoffen auf gute Zeiten. Charlie setzt sich mit aller Kraft für die Gleichberechtigung der Frau ein, will einen Betriebsrat gründen und den Arzt Michael heiraten. Gisela und Anton haben sich nach langer Heimlichtuerei endlich zueinander bekannt und planen vorsichtig die nächsten Schritte. Hanni hingegen ist enttäuscht von der Liebe und konzentriert sich mit Julias Hilfe auf die Gründung ihres Nähateliers. Doch Julias Aufmerksamkeit wird auf ein altes, sorgfältig verborgenes Familiengeheimnis gelenkt …

Charmant, nostalgisch, liebenswert – ein stimmungsvoller Blick in eine entscheidende Zeit der deutschen Geschichte.

Über die Autorin

Nadine Schojer ist Tourismus-Managerin und lebt mit Mann und Tochter in Wien. Wenn sie nicht physisch verreist, ist sie lesend und schreibend in der Zeitgeschichte unterwegs. Bei den Recherchen für ihre Reihe DIE TELEFONISTINNEN hat sie sich in die Mode der Fünfzigerjahre verliebt. Deshalb ist sie nun stolze Besitzerin eines Petticoat-Mantels. Unter Pseudonym hat Nadine Schojer bereits mehrere Romane veröffentlicht, zuletzt bei Lübbe den Liebesroman WIENER MELANGE FÜR ZWEI.

NADINE SCHOJER

DIE TELEFONISTINNEN

VERBINDUNGEN FÜRS LEBEN

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

Umschlagmotiv: ©Mondadori Portfolio/Angelo Cozzi/akg-images

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6104-8

luebbe.de

lesejury.de

Für meinen Bruder Manuel

Kapitel eins

Köln, im Juni 1949

Julia war berauscht von ihrer Unabhängigkeit, dem Ausmaß ihrer Freiheit. Sie verdiente ihr eigenes Geld, konnte sich kaufen, was sie wollte: Sunshine-Ho-Crackers, Nylons und französisches Parfüm. Und sie wollte tanzen, in ihren neuen roten Schuhen mit der Rundkappe, die sie sich hatte maßanfertigen lassen und die sie auf klappernden Absätzen durch die Kölner Straßen trugen. Das berauschende Leben spüren, dessen Tore sich für sie geöffnet hatten. Lachen, über die Stränge schlagen, mehr essen, als gut für sie war, unanständige Lieder singen, mit Männern schäkern. Sie war von einem neuen Lebensgefühl durchdrungen und hatte sich Stück für Stück aus der wachsamen Obhut ihrer Eltern befreit. Am 23. Mai war das Grundgesetz in Kraft getreten und die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden, und obwohl Julia erst zarte siebzehneinhalb Jahre zählte und in einem behüteten Elternhaus lebte, spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers die neue Unabhängigkeit, die seit drei Wochen wie eine Blaskapelle durch die Stadt marschierte. Veränderung lag in der Luft, so befreiend wie dieser Junitag, an dessen Morgenstunden der Sommer hing.

Gelenkig sprang Julia von ihrem Fahrrad. Am Ende mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehend, vermied sie, dass sie ins Straucheln geriet, und schob das Rad die letzten Meter die Friesenstraße entlang. Sie war kein Mädchen, das schlenderte – wie Hanni Angersbach, ihre Freundin aus der Telefonzentrale –, sondern ein Wirbelwind, der auf dem Zweirad durch die Altstadt und mit ihren Ideen durch die Versicherung rauschte. Julias mandelförmige Augen blickten stets wachsam, und der goldene Ring um ihre haselnussbraune Iris glänzte im Sonnenlicht, als es gleißend auf ihre hohe Gestalt traf. Fast zu groß war sie für eine junge Frau, weshalb sie ihre Schultern immer ein wenig krümmte. Das hellgelbe Sommerkleid, das ihre Knie umspielte, bot einen Kontrast zu ihrem karamellfarbenen Teint, der im Winter seinen goldenen Schimmer behielt. Demnächst würde Julia ihr einjähriges Dienstjubiläum als Telefonistin in der Versicherungsanstalt Pering feiern, was sie mit ihren Kolleginnen und Freundinnen Gisela, Hanni und Charlie zelebrieren wollte. Auch Erna, die Empfangsdame, die sich in den letzten Wochen regelrecht in Julias Herz gezwängt hatte, war eingeladen. An der guten Erna führte eben kein Weg vorbei.

Julia lehnte das Fahrrad an die Wand und ließ ihren Blick an der Fassade des Versicherungsgebäudes hochgleiten, das durch den Umbau in den nächsten Monaten von der Größe eines schlichten Bürohauses zum herrschaftlichen Pering-Quartier anwachsen würde. Ein repräsentatives Viertel, das Viktor, der Sohn des Gründers in seiner Funktion als Generaldirektor mit einem Architekten geplant und bei einer Mitarbeiterversammlung im Februar bei Musik und Tanz vorgestellt hatte.

Anlässe zum Feiern gab es mittlerweile zur Genüge. Zumindest waren die Fräuleins recht einfallsreich, wenn es darum ging, einen Grund zu finden, um sich im Café Reichard zu verabreden. Zuletzt hatten sie mit Sekt und Schorle – Julia bekam von Alkohol rote Flecken im Gesicht – auf die Gründung der Bundesrepublik angestoßen.

Zur Feier ihres Dienstjubiläums würde Julia in absehbarer Zeit mit ihren Freundinnen ins Heaven einfallen, das zur Lieblingslokalität der Fräuleins geworden war. Der Tanzhimmel war von den Alliierten im Jahr 1945 gegründet worden und zählte mittlerweile zu den besten Adressen in der Stadt, wenn man auf der Suche nach einem Tanzparkett war, das die Sorgen regelrecht in sich aufsaugte und in Freude und Gelächter transformierte. Beim Boogie-Woogie konnten sich die Seelen vom Ballast befreien. Zumindest in den Minuten, in denen sich Julia den Takten der Musik hingab, als hätte sie jegliche Bodenhaftung verloren. Allen Fräuleins aus der Telefonzentrale ging es ähnlich. Selbst Erna konnte ihre Leidenschaft für die früher geschmähte Lokalität, die sie immer als Teufelslokal bezeichnet hatte, nicht mehr verbergen. Die Heaven-Krankheit hatte auch vor Ernas Mann, dem Franz, nicht haltgemacht. Hatte Erna ihn noch vor wenigen Wochen hineinschubsen müssen, durfte sie ihn nun nach Mitternacht hinauszerren, weil er eine Vorliebe für den A Dream of Scotland entdeckt hatte, einen erlesenen Single-Malt-Whiskey aus Schottland, der ihm sanft die Kehle hinunterglitt und den man nur im Heaven serviert bekam.

»Chérie, rasch, komm rein! Nicht, dass dich noch wer sieht«, sagte Erna leise und sah wie eine Spionin an Julia vorbei. Als sie sicher war, dass der Telefonistin niemand gefolgt war, öffnete Erna die Tür zum Präsentationsraum weiter und winkte die Jüngste in den Raum. Seit geraumer Zeit verwendete Erna Schmitz nicht mehr das Wort Darling in ihrer Ansprache, sondern den französischen Ausdruck Chérie, immerhin war sie – wie sie im Februar erfahren hatte – Großmutter eines deutsch-französischen Enkelsohns namens Raphaël, der eine bildhübsche – très chique – Mutter hatte und das Kind von ihrem verstorbenen Sohn Theo war. Zugute kam Ernas sprachlicher Neuausrichtung, dass die Briten nach und nach die Stadt verließen, dem musste sich eine Empfangsdame natürlich in ihrem Vokabular anpassen. Etwas französische Eleganz hat noch keinem geschadet, verkündete Hanni immer, die sich als begnadete Schneiderin an der modischen Sprache, an Christian Diors femininem Stil, dem New Look, orientierte.

»Ist Charlie nicht bei dir?« Erna sah an Julia herab, als verstecke sie das Fräulein von Siebenthal unter ihrem Unterrock.

»Nein. Wundert’s dich?« Julia schlüpfte an Erna vorbei und hielt Ausschau nach Kuchen. Deshalb war sie heute gekommen.

»Dabei hat Charlie eine Sondereinladung von mir bekommen!« Erna zog finster ihre Brauen zusammen.

»Hoffentlich mit Kniefall«, bemerkte Julia, denn eine von Siebenthal liebte besondere Ansprachen und Darbietungen, die ihrer Person galten.

»So weit sinke ich nicht, Chérie!«

»Natürlich nicht.« Kein Kuchen? Nur Gisela, die vor dem großen Holztisch stand und in ihren Händen eine der Mappen hielt, die Erna für jede von ihnen zusammengestellt hatte, lächelte gebannt auf die aufgeschlagene Seite hinab, als wäre es eine herrliche Buttercremetorte aus dem Reichard. Kein Kuchen. So was aber auch!

Es war Samstagnachmittag, niemand außer den Reinigungsdamen war mehr im Haus zugegen, und Julia hätte eigentlich an diesem Tag keinen Fuß in die Versicherung gesetzt, sondern säße mit ihrer Schwester Agnes schon längst am Tisch und spielte Karten. Doch eine Einladung von Erna schlug man nicht aus, das würde die üble Laune der Empfangsdame und einen erschwerten Alltag in der Versicherung nach sich ziehen. Die Freundinnen würden sogar mitmachen, wenn Erna um vier Uhr morgens an die Tür klopfte und sagte, dass sie eine Bank überfallen wolle.

Neben Gisela saß Hanni auf einem Stuhl und zupfte nervös an ihren Spitzenhandschuhen, als wären sie zu eng für ihre schmalen Finger. Auch sie hatte wegen Ernas Vorhaben Bedenken. Da war Julia nicht die Einzige.

»Und wer macht außer uns noch mit?«, fragte Julia, griff mutig nach ihrer Mappe und stellte sich neben Gisela, die sie um eineinhalb Köpfe überragte.

»Erst mal nur wir vier und Charlie … wenn sie denn noch auftaucht. Das weiß man bei ihr ja nie so genau. Hat ja viel zu tun in letzter Zeit. Die Hochzeit mit dem Doktor und dann diese Frauensachen, in die sie sich immer so reinsteigert. Da verliert man schnell den Blick fürs Wesentliche.«

»Eine wie Charlie? Der wachsen dadurch erst Flügel«, bemerkte Gisela, schob sich eine braune Locke hinters Ohr und gurgelte mit einem Schluck Wasser, als müsse sie bei der Wärme, die dank des Junitagtags im Präsentationsraum herrschte, ihre Stimmbänder kühlen.

Julia strich mit den Fingern über die Etiketten, die Erna auf der Vorderseite der grünen Mappen angebracht hatte, auf denen nicht nur ihr jeweiliger Name in geschwungenen Lettern stand, sondern auch das Vorhaben, weshalb sie heute zusammengekommen waren: die »Singenden Kölner Fräuleins«. Eine fatalere – und auch passendere – Bezeichnung hätte es für Ernas Vorhaben nicht gegeben. Eine Gesangstruppe waren sie plötzlich, und, wie Julia vermutlich in den nächsten Minuten feststellen würde, vollkommen talentfrei, nur schien das Frau Schmitz nicht von ihrer Mission abzuhalten. Für sie zählte nur, dass sie Stimmen gewonnen hatte. Erst mal wollte Erna die singende Truppe im kleinen Rahmen halten. Wenn sie dann irgendwann, nach wochenlanger, monatelanger Übung, die richtigen Töne treffen könnten, hatte sie vor, neue Gesangsmitglieder zu empfangen und Auftritte nicht nur versteckt an einem Samstagnachmittag im Präsentationsraum einer Versicherung abzuhalten, sondern in ganz Köln. Und als Draufgabe wollte sie mit den Singenden Kölner Fräuleins beim Karneval, Ernas jährlichem Höhepunkt, auftreten, so wie der Gesangsverein Polyhymnia, der auf dem Karnevalszug im Februar als Bund deutscher Maggler vertreten gewesen war. So der Plan, für den sich nur Erna und Gisela begeistern konnten. Julias sowie Hannis und offenbar auch Charlies Begeisterung, die durch Abwesenheit glänzte, verhielt sich hingegen wie ein zartes Pflänzchen, das erst eine Eisdecke durchbrechen musste, um emporzuwachsen. Aber daneben gab es ja auch den Gruppenzwang, und die Damen hielten in allen Wetterlagen des Lebens zusammen. Natürlich auch, wenn es darum ging, krächzend Lieder durch das Versicherungsgebäude zu schmettern, was die Kundschaft in Windeseile vergraulen konnte.

Erna stellte sich vor Julia und Gisela, dann bedeutete sie Hanni, sich von ihrem Stuhl zu erheben. »Nicht so träge Chérie, hopp hopp, aufstehen! Mehr Elan bitte! Wer von uns ist hier über fünfzig?« Erna stemmte die Hände in die Hüften und hob herausfordernd eine Augenbraue. Gisela kicherte nervös und schien es kaum erwarten zu können, ihre Glockenstimme erschallen zu lassen. Seit Julias Auftauchen, und vermutlich auch schon davor, gurgelte sie entweder mit Wasser oder verzog ihren Mund wie bei einer Gymnastikübung zu A und O, so breit, dass man ihre hintere Zahnlücke sehen konnte.

»Schneidet euch ein Scheibchen von eurer Gesangskollegin ab! Wunderbar, ganz wunderbar, Chérie!«

Ein perfekter Vortrag, dachte Julia und grinste. »Ich würde mir ja gern von dem angekündigten Butterkuchen ein Stückchen abschneiden, damit meine Stimme sich auch anhört wie geölt!«

»Krümel verderben den Klang! Milch wirkt wahre Wunder. Nimm dir ruhig ein Glas, ist im Kühlschrank … Und nun machen wir es alle Gisela nach!«

»Ich hasse Milch, und ich hasse es, etwas nachmachen zu müssen«, murmelte Julia und sah erbost zu Hanni, weil die keinen Widerstand leistete und artig ihren Mund aufriss, als müsse eine Rolle Garn hineinpassen. Schon stach sie Töne wie Schnittmuster mit ihren Lippen aus.

»Verräterin!«, flüsterte Julia. Sie erntete bloß ein Schulterzucken und einen nach Verzeihung haschenden Blick von Hanni.

»Wir beginnen mit Lockerungsübungen für den Körper.« Erna tat so, als würde sie Äpfel von einem Baum pflücken. »Immer schön strecken! So weit ihr könnt! Hoch hinaus! Hoch hinaus! Wir überragen uns heute selbst!«

»Ich dachte, hier geht’s ums Singen! Oder sind wir jetzt auch noch ein Tanzverein? Gar beides?«, fragte Julia, der kurz angst und bange bei dem Gedanken wurde, sie müsste sich auf einer Bühne in einem rosaroten Tutu tänzerisch verausgaben. Die Peinlichkeit des Singens genügte ihr schon.

»Nicht doch. Das sparen wir uns fürs Heaven auf!« Erna zwinkerte ihr beruhigend zu.

Erleichtert atmete Julia aus.

Gisela stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren kleinen Körper zu dehnen. Hanni sah bei der Übung so verbissen aus, als strecke sie sich nach einem faulen Apfel, und Julia, die sich wegen der Sache mit dem Gruppenzwang tatsächlich genötigt fühlte mitzumachen, berührte mit ihren langen Armen ein Glaselement des Kronleuchters, das tief in den Raum hinunterhing. Ob das Glasding wertvoll war? Sie müsste es ja nur pflücken und auf der Straße verkaufen …

»Und jetzt öffnen wir unseren Brustbereich. Stellt euch vor, dass ihr an eure Ellbogen Stifte gebunden habt, mit denen ihr Kreise zeichnet!« Erna legte ihre Hände an die Hüften und begann, in der Luft zu skizzieren, als bemale sie die Fläche hinter ihr.

»Das sieht ja aus wie Hähnchenflügel!«, stieß Julia lachend aus, woraufhin Hanni innehielt und ebenso lachte.

»Dass du auch immer ans Essen denken musst!« Giselas ernster Ton wurde von einem Schmunzeln abgelöst. Immerhin hatte sie selbst eine Schwäche für die süßen Seiten des Lebens.

»Aus genau diesem Grund bin ich da. Erna hat mir versprochen, dass es bei jeder Chorprobe Kuchen gibt. Sonst wäre ich gar nicht erst gekommen«, erklärte Julia und sorgte sich plötzlich, dass sie einer Finte aufgesessen war, denn Erna lächelte diabolisch, und Julia hatte noch keinen einzigen Krümel im Raum entdeckt, der darauf hinwies, dass er einmal Teil von etwas ganz Großem gewesen war.

»Das nächste Mal, Chérie. Darauf hast du mein Wort. Ich war mit den Liedvorbereitungen beschäftigt. Da konnte ich unmöglich auch noch backen. … Aber im Grunde genommen …« Erna sah Gisela an. »Das wird ab sofort deine Aufgabe sein! Kommenden Samstag bringst du Buttercremetorte mit. Du bist von nun an die Kuchenbeauftragte des Vereins.« Dabei machte sie die nächste Übung vor.

»Aber gern doch! Das ist mir eine Ehre, die besten Kuchenstücke für den Verein im Reichard auszusuchen!«, sagte Gisela, und an ihrem Blick konnte Julia erkennen, dass sie die in ihrem Kopf abgespeicherte Kuchentheke des Cafés durchging.

»Und Hanni wird uns hübsche Auftrittskleider schneidern, nicht wahr?«, sagte Erna zum Fräulein Angersbach, während sie den letzten Teil des Wortes dehnte, sodass das wahr in ein klangvolles A überging.

»Stimmt. Wir können ja unmöglich so auftreten wie bei den Proben.« Hanni sah erst an sich hinunter, dann zu Gisela und Julia. »Das wäre ein Fauxpas!«

»Das ist mein bestes Kleid!«, empörte sich Julia und konnte Hannis prüfendem Blick nicht länger standhalten. »Aber eigentlich hast du recht … Wir brauchen Rüschen, Perlen, etwas Glitzerndes und ganz viele Federn! Etwas, das von unserem Gesang ablenkt«, ergänzte Julia und dehnte ihren Brustkorb.

»Vielleicht singen wir am besten nackt!«, schlug Gisela vor, und Hanni brach in schallendes Gelächter aus.

»Oder im Bikini … Damit hätten wir zumindest ein großes Publikum: die Männer!« Wenigstens erklang nun das Kichern unisono.

»Ich würde die Farbe rot empfehlen! Steht uns allen und stiehlt den Stimmen die Show.«

»Rot, ja wunderbar, Hanni! Scharlachrot«, bestätigte Erna und rollte das R, sodass es zu Giselas Gurgeln passte. »Nur keine Bikinis. Und keine Federn … Wegen …« Erna hielt abrupt inne.

»Weil wir dann nicht nur so klingen, sondern auch so aussehen wie gerupfte Hühner?«

»Rote Petticoatkleider! Und schwarze Spitzenhandschuhe!« Hanni blies das E in den Raum, während sie vermutlich schon die ersten Skizzen in ihrem Kopf anfertigte.

»Hanni, ich vertraue deinem Geschmack … Und du Julia, du hast die wichtigste Aufgabe von allen, damit der Verein auch überlebt! Du wirst Spendengelder auftreiben. Damit wir uns den Kuchen auch leisten können. Später wirst du die ehrenvolle Aufgabe haben, die Eintrittskarten zu verkaufen. Der Ruhm wird nicht lange auf sich warten lassen, und dann werden die Leute bei uns Schlange stehen! Wir werden so bekannt werden wie De vier Botze«, sagte Erna, als wäre das so sicher wie die wöchentlichen Chorproben, und drehte ihr Kinn in Julias Richtung.

»Dazu müssen wir erst mal singen lernen. Sollten wir uns nicht darüber Gedanken machen, ehe wir über Kleidung und Eintrittsgelder reden?«, warf Julia ein, denn man brauchte schließlich für den Erfolg auch eine Strategie.

»Darüber zerbricht man sich nicht den Kopf. Das tut man. Man übt es. Jeden Tag! Und jetzt bitte alle ihre Wangen kneten wie einen Teig!«

»Da backst du dir gleich deinen eigenen Kuchen, was?«, bemerkte Gisela spitz und erntete von Julia einen grimmigen Blick. Sorgenvoll sah sie zu Erna, die an ihren Wangen zupfte, als wolle sie die feinen Härchen darauf ausreißen. Hanni und Gisela taten es ihr nach. Erna sah zu Julia, und ihre hochgezogene Braue verpflichtete Julia zum Mitmachen. Just in dem Moment, als Julia befand, dass sie ihre Wangen regelrecht pürierte, kam die Erlösung in Form einer aufgerissenen Tür. Aber anstelle der Polizei oder zumindest des Herrn Generaldirektors, der diesem Schabernack sofort ein Ende bereitet hätte, war es Charlie, die im Türrahmen stand, einen Arm elegant an ihre Hüfte gelegt. »Ich bin doch nicht zu spät, oder? Ist es schon vorbei?«, fragte sie fröhlich und wirkte nicht so, als hätte sie sich beeilt.

»Du kommst genau richtig, wir haben noch gar nicht angefangen.«

»Was?«, stieß Charlie so entsetzt aus, als stünde das Haus in Flammen.

»Wie bitte heißt das, Chérie!«

»Was … was für ein Glück ich doch habe.« Charlie trat in den Raum. Sie schloss die Tür hinter sich, verriegelte sie vielmehr, indem sie sich mit ihrem Körper gegen das Holz lehnte.

Ein gesungenes A, E, I, O, U von Erna folgte, das Charlie regelrecht um die Ohren flog, denn es schüttelte sie bei den aufgekommen Lauten. So musste sich ein Huhn auf der Schlachtbank fühlen. Kurzerhand stieß sie sich von der Tür ab. Sie lächelte verheißungsvoll, während sie zu Gisela, Hanni und Julia aufschloss, die sich in einem Halbbogen vor Erna formiert hatten. Julia fragte sich, womit Erna Charlie bestochen hatte. Mit einer Chorprobe im noblen Hause Cartier? Inklusive Raubüberfall, um Pariser Schmuck für Charlies Hochzeitstag zu ergattern? Immerhin reservierte sie ihre Samstagnachmittage für den Frauenausschuss, in dem sie seit einigen Wochen tätig war. Und dann gab es da noch die Planung der Hochzeit mit Dr. Claßen, die sie in einem Schloss außerhalb Kölns Ende September abhalten wollte. Nicht weiter verwunderlich, immerhin war sie von aristokratischem Blut, auch wenn sie schon lange nicht mehr auf adeligem Parkett getanzt hatte. Mittlerweile spielte sie den Namen von Siebenthal nur noch aus, wenn er ihr von Nutzen war … was, na gut … etliche Male in der Woche vorkam.

»Kuchen gibt’s auch nicht!«, warf Julia ein und hätte sich am liebsten in den Stuhl hinter ihr plumpsen lassen.

»Ich sag’s euch gleich, ich kann nicht singen. Das wird in einem Katzengesang enden, mit dem wir uns alle blamieren werden. Erna wird trotz französischem Puder im Gesicht rot anlaufen, Gisela wird danach ein Solo verlangen, Julia eine Versicherung abschließen, wegen entgangener Kuchenfreuden, und Hanni … ach, die wird sowieso nicht hinhören. Besser, ihr schließt mich gleich wieder aus dem Verein aus. Ich bin euch auch gar nicht böse!« Charlie machte auf dem Absatz kehrt.

»Nicht so schnell, Chérie, das schaffst du! Mit etwas – in deinem Fall vielleicht viel – Übung wirst du zu einem unverzichtbaren Gesangsmitglied werden! Deine tiefe Stimme wird uns von Nutzen sein.«

»Weil du das Publikum taub machen willst?«

»Nein, weil du die perfekte Figur für einen Bikini hast!«, warf Hanni gespielt ernst ein, als planten sie keinen Gesangsauftritt, sondern eine Modenschau.

Charlie sah sie verwundert an. Sie verstand offenbar nur Bahnhof.

Erna reichte Charlie mit stolzem Lächeln die Mappe, auf der ihr Name in schönster Schreibschrift stand. Charlie griff mit einem Schnauben danach, das tiefer endete, als ihr vielleicht bewusst war.

»Dafür plane ich dir deine Hochzeit! Und zwar allererster Güte! Da erwarte ich schon den gleichen Einsatz von dir«, ließ Erna sie wissen.

Ah, daher weht der Wind, dachte Julia. Das Fräulein Siebenthal hatte keine Lust zu planen! Nur zu heiraten, das war ihr wenigstens ein Anliegen. Na ja, aber wer hätte den Antrag des stattlichen und fürsorglichen Dr. Claßen auch abgelehnt? Die halbe Versicherung – weiblicherseits – hatte Kreislaufzusammenbrüche, Erstickungsanfälle, Schlaganfälle und Herzinfarkte mit lehrbuchhafter Oberkörperkrümmung vorgetäuscht, nur um in den Genuss der liebevollen Behandlung des Herrn Doktors zu kommen. Das Fräulein Anna hatte sogar eine ganze Tube Zahnpaste geschluckt, damit ihr Gesicht grün und blau vor lauter Übelkeit angelaufen war. Letztlich hatte das sportlich-kränkliche Rennen um den Mediziner Charlie gemacht, die bei der Vorspiegelung falscher Tatsachen – Kompetenzfeld: einwandfreie Schwächeanfälle – hollywoodreife Darstellungen geboten hatte.

»Wir beginnen heute mit einem wunderschönen Lied, dem Ave Maria.«

»Ave Maria!« Giselas Stimme entgleiste ein paar Oktaven zu hoch. »Das ist schön, keine Frage, nur schwer zu singen. Bist du dir sicher?« Gisela lockerte das Halstuch ihrer Uniform. Julia sagte der Titel nichts, aber sie hatte in der Schule im Religionsunterricht auch nie aufgepasst. Und Latein sprachen ohnehin nur die Studierten, das würde sie weiterhin nichts angehen.

»Es ist von Schubert. Das müssen wir singen! Ich liebe dieses Stück«, beteuerte Erna und hob ihre Hände, als würde sie vor einem Orchester stehen.

Schon begann Charlie zu singen, was so klang, als würde sie um zwei Uhr morgens aus dem Heaven taumeln, nach einer Packung Overstolz und einer halben Flasche A dream of Scotland. Erna zuckte zusammen wie von einer Zitterkrankheit heimgesucht. Als Hanni einstimmte, entspannte sie sich kurz, und weil Giselas lieblicher Klang die beiden übertönte, erschien kurzweilig sogar ein Lächeln auf ihren Lippen. Doch als Julia mit einem kräftigen Ave und einem noch schlimmeren Maria einfiel, wiegelte Erna abrupt ab. »Enä … stopp! Halt! Aufhören! So geht das nicht!«

Das krächzende Durcheinander verstummte.

»Was passt dir denn nicht?«, fragte Hanni.

»Bist du etwa schwerhörig?«

Hanni zuckte mit den Schultern, denn Erna war die Einzige von ihnen, die nichts von Hannis taubem Ohr wusste … obwohl Erna sonst über jedes Detail in der Versicherung informiert war. Hanni wollte aber nicht, dass Erna davon erfuhr, da diese nie den Mund halten konnte.

»Ihr habt mich überzeugt. Dann singen wir eben Bruder Jakob. Melodie und Text sind euch hoffentlich bekannt.«

»Auf Deutsch oder Französisch?«, wollte Gisela wissen und suchte eilig in der Mappe nach dem Liedertext.

»Deutsch natürlich. Französisch spreche ja nur ich.«

Die Frauen nickten vorsichtshalber, denn niemand wollte Ernas Freude ob der fünf französischen Wörter schmälern, die sie gelernt hatte, woraufhin Erna wieder zufrieden ihre Arme hob und das Startsignal erteilte.

Und dann erklang etwas, das – mit ausreichend künstlerischem Spielraum und Fantasie – als Melodie zu bezeichnen war: »Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch? Schläfst du noch? Hörst du nicht die Glocken? Hörst du nicht die Glocken? Ding – dong – dang. Ding – dong – dang.« Gisela legte die Mappe ab, hängte sich bei Julia und Hanni ein und begann zu schunkeln. Hanni streckte Charlie die rechte Armbeuge hin, damit sie die Kette vervollständigen konnte.

»Und nun im Kanon!«, rief Erna nach dem dritten Versuch, obwohl noch nicht einmal die erste Strophe den Raum klangvoll erhellt hatte, aber so war das Durcheinander der Stimmen wenigstens gewollt.

Lautstark ging es in den kommenden Minuten im Präsentationsraum weiter. Wie ein Duell von Tonfolgen schallte das Kinderlied durch den Raum. Jede von den Fräuleins setzte an einer anderen Stelle ein. Immer wieder wurde das Lied von vorn begonnen. Ohne Unterbrechung. Da kannte Erna kein Pardon. Sehr zum Leidwesen von Julia und Charlie, die sich ansahen, als überlegten sie, wo sich die nächsten Fluchtwege befanden.

Doch niemand von ihnen hätte das Zimmer vor Ende der Darbietung verlassen. Die Frauen waren nicht nur ein Verein, sondern Freundinnen, die keine von der Truppe hängen ließen. Auch wenn das bedeutete, dass sie sich Samstagnachmittag verbotenerweise im Präsentationsraum zusammenfanden und in ein Kanonboot stiegen, um falsche Melodien zu singen über einen Bruder, der noch schlief, so war das ein schillerndes Zeichen ihrer Verbundenheit, das sie im Einklang durch die Versicherungsanstalt schmetterten. Es war der Gesang der Telefonistinnen, zwei Etagen und viele Oktaven höher als gewöhnlich … Denn entgegen dem Pering-Spruch war nicht immer alles in der Versicherung in sicherer Hand.

Kapitel zwei

Die Fassade des Falkenberg, das sich in der Hohe Straße/Ecke Schildergasse befand, glomm in der Sonne golden auf. In den frisch geputzten Fenstern des Kaufhauses war die neueste Sommermode ausgestellt. Die Schaufensterpuppen trugen elegante große Hüte zu geschwungenen Kleidern, die die Taille betonten. »Ziemlich einfallslose Stoffhandschuhe tragen die Puppen. Findest du nicht auch?«, bemerkte Julia, hinter der Hanni stand und den Flechtkorb umklammerte, als wolle sie gleich damit das Weite suchen. Julia war im Begriff weiterzugehen, mit der Energie in den Beinen, die sie in die Hohe Straße getragen hatte, stockte dann aber vor dem Treppenaufgang. Sie tänzelte nicht wie gewöhnlich die Stufen zur Doppeltür hinauf, sondern sah auf das Holz der Flügeltür, in das Falken geschnitzt waren, und ging ihre Sätze, die sie für heute auswendig gelernt hatte, noch einmal im Kopf durch. Endlich hatten sie einen Termin im Kaufhaus bekommen. Und zwar mit Karl Falkenberg selbst, der in den letzten Monaten wegen weiterer Filialeröffnungen in Düsseldorf und Hamburg unterwegs gewesen war.

»Dann wollen wir mal …« Julia atmete tief durch. »Zeit für deinen Auftritt, Hanni! Wir sind gut vorbereitet und haben die schönsten Entwürfe dabei!« Zur Beruhigung sah sie in Hannis Flechtkorb, in dem die Häkelhandschuhe in unterschiedlichen Farben und Mustern lagen. Mittlerweile häkelte Hanni neben aufwendigen Blumenmustern auch Karo-, Schachbrett-, Wellen- und Herzmuster, sodass jedes Handschuhpaar eine individuelle Anfertigung war, zudem veredelte sie die Oberfläche gern mit Perlen.

»Nur was machen wir, wenn er sie nicht hübsch findet?«

»Unmöglich, da müsste er blind für Frauenmode sein. Die Damen in Marienburg haben sie uns doch regelrecht aus den Körben gerissen. Die in Lindenthal ebenso. Du bist mit dem Häkeln gar nicht nachgekommen. Hast du das vergessen?«

Hanni zog ein nachdenkliches Gesicht, das sich kurz darauf ein wenig erhellte.

»Und ein Falkenberg erkennt sofort, was sich verkaufen lässt«, fuhr Julia fort. »Der hat ein gutes Auge dafür. Hatte er für Qualität und Schönheit schon immer.« Ihr Magen zog sich zusammen. Immerhin teilte sie mit Karl Falkenberg einen kleinen Abschnitt ihrer Vergangenheit, der nicht der Beste gewesen war. Und Karl hatte offenbar nicht vergessen, was Julia damals getan beziehungsweise unterlassen hatte, denn das hatte er ihr bei der letzten Firmenfeier im Februar angelastet. Dass er nun Gesellschafter der Versicherung war, machte die Sache nicht leichter. Zum Glück waren sie einander seither nicht mehr über den Weg gelaufen. Überhaupt dürfte er mit dem Versicherungsgeschäft nicht viel am Hut haben. Von Charlie wusste Julia – die es wiederum von ihrem Onkel Anton von Siebenthal, dem Finanzchef und Mitgesellschafter des Hauses, erfahren hatte –, dass er ein passiver Gesellschafter war, der sich nur mit seinem Kapital beteiligte. Kapital, dachte Julia, das könnte sie auch gut gebrauchen! Aber da war ihr Karl mit einem dicken Bankkonto voraus, denn auf eine rasche Vermehrung seines Geldes hatte er schon beim Handel auf dem Schwarzmarkt geachtet. Er hatte Julia nicht nur einmal für dumm verkauft und ihr mitunter Schmier- statt Speiseöl angedreht.

Kaum dass Julia die Messingklinke nach unten gedrückt und die Tür geöffnet hatte, eilte eine Verkäuferin herbei, hielt ihnen die Tür auf und fragte nach ihren Wünschen.

»Wir wünschen Karl Falkenberg zu sprechen«, sagte Julia und blinzelte unter ihrem Hut die Verkäuferin an.

»Haben die Damen denn einen Termin bei ihm?«

»Ja, den haben wir«, verkündete Julia ein wenig blasiert. Es hatte sie Wochen gekostet, um diesen Termin zu bekommen. Aber da nun die Haustürgeschäfte verboten waren, musste sie sich nach einer neuen Vertriebsmöglichkeit für Hannis Handschuhe umsehen. Das kreative Pflänzchen konnte man doch nicht verdursten lassen! Außerdem war es längst überfällig, dass die Spitzenhandschuhe im Falkenberg angeboten wurden. »Das ist Hannelore Angersbach, und ich bin die Vertriebsleiterin des Unternehmens. Julia Döring.« Sie grinste beharrlich. Immer wieder hatte Falkenbergs Chefsekretärin Julia abgewimmelt. Erst als sie Karl einen Brief – vielmehr ein Angebot – und zwei Paar Handschuhe geschickt hatte, hatten sie eine Zusage zur Warenpräsentation erhalten.

Die Verkäuferin, die Julia noch nie im Kaufhaus gesehen hatte – und sie war in letzter Zeit oft dagewesen, um die Konkurrenzware zu inspizieren –, verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Ich erkundige mich, ob Herr Falkenberg Sie empfangen wird.« Naserümpfend drehte sie sich um und stieg die Holztreppe nach oben.

Unzählige Verkäuferinnen, die die Kunden bedienten, liefen eilig im Kaufhaus umher und präsentierten die neuesten Hüte, Kleider, Hemden, Einstecktücher und Schuhe. Petticoatkleider wurden in der Luft geschwungen, sodass Hanni sichtlich das Herz aufging, und ein zufriedenes Seufzen kam über ihre Lippen.

Auf zwei Stockwerken umfasste das Kaufhaus mittlerweile eine umfangreiche Damenkonfektion sowie eine Herrenabteilung, die keine Wünsche offenließ. In dem hauseigenen Atelier wurde den Herren der Anzug auf den Leib geschneidert. Auch der Generaldirektor der Versicherung ließ sich seine Nadelstreifanzüge mit Sakkos in V-Linie nur noch im Falkenberg anfertigen. Hochwertige Kinderbekleidung wurde hier ebenso geboten wie edle Parfüms aus Frankreich und das allseits bekannte 4711 Kölnisch Wasser, das Charlie in Großmengen an Erna und Gisela verschenkt hatte, weil sie etliche Flaschen davon von ihrer Großmutter geerbt hatte. Seitdem wehte zwischen dem neuesten Klatsch und Tratsch auch eine üppige 4711-Duftwolke durch die Eingangshalle der Versicherung.

Hanni beobachtete eine Verkäuferin, die einer Dame geschickt zwei Hüte, darunter einen Sonntagshut, verkaufte, während Julia auf der Suche nach vergleichbaren Handschuhen die Accessoires unter die Lupe nahm. Mittlerweile konnte Julia das Garn sowie die Verarbeitung von Handschuhen beurteilen. Doch kein Paar, das auf dem Tisch auflag, war so schick wie ein Angersbacher Entwurf.

Ein Knarren ertönte von der Holztreppe, gefolgt von klappernden Absätzen. »Herr Falkenberg wird Sie in wenigen Minuten empfangen. Er hat noch ein Telefonat zu führen. Ich darf Sie vorab schon in das Besprechungszimmer führen. Möchten die Damen einen Kaffee oder einen Tee?«

»Oh, Kaffee wäre fein. Haben Sie denn Bohnenkaffee?«

Die Dame rümpfte die Nase, dann brachte sie doch noch ein Lächeln zustande. »Natürlich. Wir sind hier im Falkenberg.«

»Mit Zucker und Milch. Ruhig eine große Tasse … ach, mit viel Zucker! … Wir sind hier ja im Falkenberg«, sagte Julia und lächelte glücklich. Ihre Mutter hatte ihr schon vor einem Jahr aufgetragen, ordentlich Kaffee zu trinken, damit ihr Wachstum gehemmt würde. So die Anordnung ihres Hausarztes, die Dr. Claßen für absoluten Humbug hielt. Und einer wie Claßen musste es wissen, schließlich war er ein wandelndes Medizinlexikon. Nur gegen den Auftrag, Bohnenkaffee in rauen Mengen zu genießen, hatte Julia nichts einzuwenden. Hanni sah Julia ablehnend an, denn ihr behagte es nicht, etwas zu fordern. Das hielt sie für dreist, Julia hingegen für angebracht, immerhin würde Karl Falkenberg demnächst dank ihrer Freundin die schönsten Handschuhe weit und breit anbieten können. »Du nimmst am besten zwei Tassen. Hast du dir verdient«, sagte Julia zu ihr und tätschelte Hannis Schulter, während sie der Verkäuferin folgten. Über die breite Holztreppe, die mit einem roten Teppich ausgelegt war, gelangten sie in das Obergeschoss, wo sie sich in der Herrenabteilung wiederfanden, die auf einer großzügigen Fläche alles bot, was ein Herr mit Geschmack nachfragte. Durch die Alliierten war auch die britische Herrenmode ins Kaufhaus eingezogen und damit ein Stil, der auch bei den Einheimischen gefragt war. Julias Blick fiel auf feine Lederschuhe in einem Cognacton, mit einer auffälligen Naht an der Vorderkappe.

»Das sind die neuesten Schuhmodelle von Roblee. Erst vor Kurzem eingetroffen, aber wir haben schon einige Paare verkauft«, erklärte die Verkäuferin, ohne dass Julia oder Hanni weiter nachfragen mussten. Die Mitarbeiterin schritt auf eine mit Leder verkleidete Tür zu.

»Echtes Leder!«, stieß Hanni aus, die sich noch im Winter über den kleinsten Fetzen Leder gefreut hatte, den Dean ihr gebracht hatte. Und nun war es großflächig zur Polsterung an einer Tür angebracht? Himmel! »Dieser Falkenberg muss wahnsinnig sein«, flüsterte sie Julia zu.

»Sag ich ja«, wisperte Julia zurück, die Karl schon immer einen gewissen Größenwahn attestiert hatte.

Die Verkäuferin, die vorausgegangen war, öffnete die Tür und bedeutete den Fräuleins einzutreten. Schwungvoll drehte sie sich um und beobachtete, wie Hanni und Julia beeindruckt den Raum betraten. »Möchten die Damen vielleicht auch ein Stück Kuchen oder Pralinen zum Kaffee?«

Hanni schüttelte den Kopf, als würde sie dem Kaufhaus dafür ihre Seele schulden.

»Aber natürlich! Sehr gern! Wir nehmen alles, was wir kriegen können!« Julia stieß Hanni in die Seite. »Sei nicht so zurückhaltend. Wir sind Geschäftspartner!«

»Dann darf es also ein großes Stück sein, sodass es zur großen Tasse Kaffee passt?«, fragte die Verkäuferin, die Julia spätestens mit dieser Aussage liebgewonnen hatte.

»Wenn’s geht!«

»Nichts leichter als das. Wir befinden uns hier, wie gesagt, im Kaufhaus Falkenberg. Wir können alle Herzensträume wahr werden lassen.« Die Dame lächelte den beiden Frauen zu und lud sie ein, sich schon einmal zu setzen, ehe sie aus dem Zimmer verschwand.

»Hast du gehört, Hanni? Sie machen alle Träume wahr! Diese Philosophie passt auch zu Angersbach«, sagte Julia und schritt neugierig durch den Raum, um sich umzusehen und die Landschaftsgemälde an den Wänden ins Visier zu nehmen, die in goldenen Rahmen und in exakten Abständen nebeneinander hingen. »Er hat’s wirklich zu etwas gebracht.«

Hanni seufzte verzweifelt. »Erzähl meinem Vater mal was über diese Philosophie. Der würde uns schallend auslachen!«

»Der wird bald nichts mehr zu lachen haben. Weil du mit Marie, Christa und deiner Mutter endlich das Weite suchen kannst. Und dann ist der fiese Blötschkopp auf sich allein gestellt. Der wird es ohne deine Hilfe sowieso nicht schaffen … Hat er ja nie.«

Kurz nach Weihnachten hatte Herbert, Hannis Vater, das Büdchen verloren und seitdem war die Familie auf Hannis Einkünfte angewiesen. Das Familienoberhaupt hatte keine neue Arbeit gefunden, weil ihm die Gelenke schmerzten und er deshalb tagsüber im Bett liegen musste. Abends ging es ihm wie durch ein Wunder besser, und er konnte durch seine allabendliche Spontanheilung ausgehen, aber statt Geld brachte er spätnachts oder frühmorgens nur einen Rausch mit nach Hause und seine üble Laune, die er immer an Hanni ausließ. Aus genau diesem Grund wollte Julia sie von ihm wegschaffen. Es war auch der Plan von Gisela, Erna und Charlie, die Hanni in letzter Zeit in allem unterstützten. Es war kein Geheimnis mehr, dass Herbert zuschlug, wenn ihm etwas nicht passte, und Hanni nur deshalb noch zu Hause lebte, weil sie ihre Schwestern und ihre Mutter nicht mit ihm allein lassen wollte. Ihr war es lieber, der Zorn ihres Vaters traf sie, nur nie Marie oder Christa. Selbstlos und naiv war Hanni, denn sie hoffte noch immer, dass er sich eines Tages bessern und ihr ein liebevoller Vater sein würde. Hanni sehnte sich nach Liebe und Anerkennung. Zumindest Anerkennung war das, was Julia ihr verschaffen konnte.

Als sie den Raum durchschritten, ertönte ein dezentes Knarren, dessen Klang sich wie eine einladende Melodie anhörte. Julia mochte es, wenn sich das Holz zu Wort meldete. Nur selten fand man echte Holzböden, denn das Material war nach dem Krieg Mangelware gewesen. Rote bodenlange Gardinen rahmten die Fenster. Das Sonnenlicht, das durch das Glas fiel, hinterließ einen goldenen Schimmer auf den Holzdielen und den Wandvertäfelungen, die den Raum einfassten und ihm eine Atmosphäre verliehen, in der man verweilen wollte. Ein großer mahagonifarbener Tisch, auf dem eine weiße Spitzentischdecke drapiert war und um den acht Stühle gereiht waren, stand im Zentrum des Zimmers. Daneben eine Anrichte mit verschiedenen Kristallflaschen, die vollständig gefüllt waren. In Kreisform waren Gläser aufgereiht.

»Nobel, dieser Falkenberg. Lässt sich nach wie vor nicht lumpen!«, sagte Julia und ließ ihre Fingerspitzen über die Flaschenbäuche gleiten.

»Hat das Zehenmädchen denn etwas anderes erwartet?«, ertönte plötzlich eine tiefe Basstimme im Hintergrund.

Julia erschrak, zuckte jedoch nicht zusammen und versuchte, sich zu fassen, ehe sie sich umdrehte. Karl Falkenberg stand im Türrahmen auf der gegenüberliegenden Seite. Es musste eine Verbindungstür zu seinem Büro geben, sodass er zwischen den Räumen wechseln konnte. In der Hand hielt er den Gehstock, auf dem am Kopf ein Falke thronte. Passend zum Familiennamen und seiner Vergangenheit, in der er immer »der Falke« genannt worden war. Nur, ob die Attribute für ihn zutrafen? Der Falke stand für Intelligenz, Stärke und Tapferkeit. Karls Augen durchbohrten Julia regelrecht, als seziere er ihr Inneres, lösten Schicht für Schicht von ihrem Körper. Sein Blick war durchdringend, mächtig, ja, er wand sich buchstäblich in Julia hinein, als könne er damit sie und ihr Vorhaben von Anfang an in die Flucht schlagen.

Als sie ihn im Februar nach etlichen Jahren wiedergesehen und seine Veränderung wahrgenommen hatte, war sie überrascht gewesen. Statt der löchrigen Hose mit Trägern und der zerschlissenen Filzkappe auf dem Kopf, die ihm zu klein gewesen war, stellte er nun einen eleganten Geschäftsmann dar, der Maßanzüge mit Krawatten und passenden Einstecktüchern sowie teure Lederschuhe trug. Vermutlich aus Italien oder England eingeführt. Noch immer besaß Karl das freche Lächeln, für das sie ihn damals – als Retourkutsche für das Schmieröl – über den Domplatz geschubst hatte. Herr Teufel, ihr Straßenköter, hatte ihr bellend Geleitschutz gegeben. Julia war fünf Jahre jünger als Karl, und sie war nicht nur einmal auf seine Taschenspielertricks reingefallen. Wie oft war sie weinend mit leeren Händen nach Hause zu ihrer Großtante ins entfernte Junkersdorf gelaufen? Bibbernd vor Kälte und Zorn.

»Das Zehenmädchen«, wiederholte Falkenberg, womit klar war, dass sie ihre gemeinsame Vergangenheit so schnell nicht abschütteln würden. Doch es lag mehr eine Neckerei in seiner Tonlage, als erinnere er sich gern an diese Zeit zurück. Zehenmädchen, wiederholte Julia im Stillen und rollte mit den Augen. Wegen ihrer großen Füße hatte sie immer Schwierigkeiten gehabt, ein passendes Schuhwerk zu finden. Meist hatte sie Soldatenstiefel oder die abgetragenen Schuhe ihres Vaters getragen. Nur einmal, zu ihrem fünfzehnten Geburtstag, hatte sie hübsche rote Damenschuhe von ihren Eltern geschenkt bekommen. Doch die hatten nicht gepasst. Kurzerhand hatte sie die Schuhkappen abgeschnitten, sodass ihre Zehen herauslugten. Das hatte ihr den Spitznamen »Zehenmädchen« eingebracht und spöttisches Gelächter von den Leuten, die ihren Weg kreuzten.

»Ich hatte halt schon immer ein Gespür für Mode. Im Erdgeschoss sind Schuhe ausgestellt, an denen die Kappen fehlen. Ist dir bestimmt aufgefallen«, sagte Julia und hielt Falkenbergs Blick stand.

»Ein Peep Toe. Von Holmes Norwich. Nun, die Frauen zahlen heutzutage gutes Geld für löchrige Schuhe.« Einer von Falkenbergs Mundwinkeln wanderte nach oben, sodass Julia Mühe hatte, sein verschmitztes Lächeln mit einem stoischen Blick zu erwidern. Er schwang den Stock, während er auf Hanni und Julia zukam.

»Wie überaus freundlich von Ihnen, Herr Falkenberg, dass Sie uns empfangen«, sagte Hanni schüchtern, als er vor ihnen stehen blieb und einen Diener andeutete. Hanni knickste ehrfürchtig. Julia nickte nur knapp und nannte dabei beiläufig seinen Vornamen. Das fehlte ihr noch, dass sie sich dem Falken als Beute zuwarf und vor ihm das Knie beugte. Zu schade, dass Karl nie einen verachtenswerten Namen besessen hatte. Im Gegenteil, er war immer »der Falke« gewesen. Eine Legende auf dem Schwarzmarkt. Und wieder etwas, das Julia ungern zugab, aber wenn man sich umsah, was er mit dem Kaufhaus und den weiteren Filialen in Westdeutschland vollbracht hatte, schien ihm sein Schaffen recht zu geben. Zumindest verneigte sie sich gedanklich vor seinem Erfolg.

Nun wollte Julia davon profitieren und mit ihm verhandeln. Sie hatte sich gut darauf vorbereitet. Ihre bloßen Zehen zeigte sie schon lange nicht mehr, weil sie ihr eigenes Geld verdiente und einen Schuster gefunden hatte, der ihre Träume wahr machen konnte. Aber ihre Zähne, die würde sie Karl in der nächsten Stunde zeigen. Und sie war ganz erpicht darauf, sie blitzen zu lassen.

»Setzen wir uns doch, damit wir mit der Präsentation beginnen können.« Karl sah auf Julias und Hannis Hände, die beide Angersbacher Häkelhandschuhe trugen. Hanni hatte ihre Lieblinge, die cremefarbenen mit den roten Mohnblumen gewählt, Julias Hände ummantelten schlichte lilafarbene mit weißen Blütenblättern, die auf dem Handrücken aussahen, als hätte der Wind sie aus der Knospe gelöst.

»Wie du siehst, präsentieren wir dir heute außergewöhnliche Handschuhe, die es so noch nicht am Markt gibt. Es sind Angersbacher Spitzenhandschuhe. Eine sehr elegante und exquisite Ware.« Ihn zu Siezen kam ihr nicht in den Sinn.

Während Julia und Hanni Karl Falkenberg gegenübersaßen, fischte er mit ernster Miene nach einem Notizbuch in einem Ledereinband, das vor ihm auf dem Tisch lag. Dann schrieb er etwas auf eine der hinteren Seiten. Ein großes Fragezeichen prangte neben dem Satz, den Julia nicht lesen konnte. »Ich habe mir die beiden Entwürfe angesehen, und ja, sie haben mein Interesse geweckt. Nur bezweifle ich, dass es für einen Auftrag genügen wird. Bedaure.«

»Bedaure?«, schnaubte Julia und sprang auf, um sich gleich wieder zu setzen, denn Hanni zog sie zurück. »Bedaure?«, wiederholte Julia. »Und dafür bestellst du uns her?«

»Eine junge Dame war sehr hartnäckig und hat sich von meiner Sekretärin nicht abwimmeln lassen. Nun muss ich eben auf diese Weise vermitteln, dass ich kein Interesse habe.«

»Hast du etwas anderes vom Zehenmädchen erwartet?«

Karl warf ihr einen Blick zu, der keinerlei Belustigung in seinen Augen zuließ, die Julia allerdings trotzdem zu erkennen glaubte. »Verehrte Damen … Wir verkaufen hier exklusive Mode bekannter Marken wie Dior, Vuitton oder Hermès … Waren von unbekannten Produzenten führen wir nicht. Gibt es überhaupt eine Adresse des Ateliers?«

Julia und Hanni schwiegen. Ein Kellerloch im Agnesviertel. Mehr hatte Hanni nicht zu bieten.

»Unsere Kunden wollen wissen, aus welchen Manufakturen ihre Kleidung kommt … Und alles Französische verkauft sich gerade am besten.«

»Dann nenn es eben Modèles d’Angersbach und rümpfe dabei arrogant die Nase …«, sagte und Hanni kicherte. »Sei halt erfinderisch, Karl! So wie früher. An Kreativität und Verkaufsgeschick hat es dir ja noch nie gemangelt.«

Karl Falkenberg hob eine Augenbraue, erwiderte allerdings nichts darauf.

»Komm schon, Julia, er hat recht, lass uns wieder gehen. Wir verschwenden seine Zeit!« Hanni erhob sich von ihrem Stuhl, doch Julia packte energisch ihren Arm, sodass sie auf den Holzstuhl zurückplumpste. »Seine Zeit?« Wütend funkelte Julia ihre Freundin an. Da war sie wieder, die Wut, die sie immer in Zaun halten musste. »Wir sind hier noch nicht fertig. Haben noch nicht mal angefangen! Und Kaffee und Kuchen hat’s auch noch nicht gegeben.«

»Hungrig wie immer.« In Karls Augen blitzte etwas auf.

»Natürlich! Ich bin noch lange nicht satt! … Vor dir, Karl, sitzt eine wahnsinnig talentierte junge Frau, die eine ungeheure Kreativität in ihrem Kopf und ihren flinken Händen besitzt. Und die bereits Großmengen an Handschuhen in Köln verkauft hat.«

»Haustürgeschäfte … die mittlerweile verboten sind. Und ihr würdet gut daran tun, euch an das Gesetz zu halten.« Karl lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Sagst ausgerechnet du! Irgendwie muss man ja anfangen, das weißt du am besten. Die Nachfrage nach den Angersbacher Handschuhen ist hoch. Gleichermaßen im Sommer wie im Winter. Und speziell für diesen Sommer, der mit seinen warmen Temperaturen schon längst da ist, hat das Fräulein Angersbach ganz besondere Entwürfe mitgebracht. Diese gäbe es dann exklusiv im Kaufhaus Falkenberg. In all deinen Filialen, wenn du es so haben willst.«

»Und wie würde Fräulein Angersbach das bewerkstelligen können? Ohne Atelier?«

Hanni hob den Korb vom Boden hoch, stellte ihn vor Karl auf den Tisch und zog das Tuch weg, sodass Spitzenhandschuhe in bunten Farben und mit unterschiedlicher Bemusterung zum Vorschein kamen. Sonnenblumen, Rosen, Mohnblumen und Gänseblümchen waren auf die Oberseiten genäht, die mit den kräftigen Grundfarben harmonierten und sich durch ihre sanfteren Nuancen davon abhoben.

»Die gibt es in allen Farben und Variationen. Fräulein Angersbach kann auch Bestellungen für Sonderanfertigungen passend zu Kostümen oder Kleidern annehmen. Schachbrett- oder Karomuster sind sehr beliebt bei den Damen. Somit wird jeder Auftritt ein Hingucker. Es muss nicht immer Französisch sein, wie es alle haben, Karl. Hollywoodreif wird das! Und die gibt’s dann nur im Falkenberg.«

Karls nachdenklicher Blick fiel auf Julias rechten Zeigefinger, der rhythmisch auf den Tisch klopfte. Abrupt hielt sie inne und legte ihre Hand in den Schoß.

Karl beugte sich nach vorn und nahm das obere Handschuhpaar – gehäkelt in einem schwarz-cremefarbenen Schachbrettmuster – aus dem Korb und drehte den Spitzenhandschuh prüfend in seinen Fingern. Zupfte daran, roch sogar am Garn, was Julia verwunderte, obwohl sie bei Karl Falkenberg nichts verwundern sollte. Dann wendete er den Handschuh, um die Innennähte zu begutachten. Er zog an den Längen und prüfte damit die Nachgiebigkeit.

»Feinarbeit, keine Frage. Würden sich bestimmt verkaufen lassen. Nur, von welchen Mengen sprechen wir? Fünf, zehn Stück … einhundert?«

Beim letzten Wort schnappte Hanni nach Luft und öffnete den Blusenknopf an ihrem Kragen, der eng an ihrem Hals anlag.

»Wie viele Mitarbeiterinnen beschäftigen Sie, Fräulein Angersbach?«, fragte Falkenberg mit einem Stirnrunzeln.

Hanni räusperte sich, ihr Mund klappte auf, doch sie blieb ihm eine Antwort schuldig. Das Klappen einer Tür mischte sich in die peinliche Stille. Es war eine der Verkäuferinnen, die ein Silbertablett in ihren Händen balancierte und in ihrer eleganten Uniform – einem schwarzen Ensemble aus Rock und Bluse mit Stickereien und einem goldenen Falken auf Höhe der linken Brust – an den Tisch schritt. Eilig und etwas schusselig, weil sie offenbar zu spät war, was Karls argwöhnischer Blick auf die Uhr verriet, stellte sie zwei Kaffeekännchen und eine Platte mit Kuchen, Printenstücken und Pralinen in der Mitte ab. Dazu servierte sie jedem einen Porzellanteller und eine Kaffeetasse mit Unterteller sowie einen glänzenden Silberlöffel, den sie vorsichtig hinlegte, sodass es sanft klirrte. Würfelzucker und eine Kanne Milch platzierte sie neben die Kuchenplatte, in exakten Abständen, als würde sie nicht nur die Maße ihrer Stammkunden auswendig kennen. Ehe sie ging, schenkte sie Falkenberg Kaffee ein. Schwarz. Er griff nach seiner Tasse, dabei fiel Julias Blick auf seinen Mund, über dessen Oberlippe eine Narbe verlief. Sein dunkles Haar, das sie an die Farbe von Kohlestücke erinnerte, die sie früher von den Zügen gestohlen hatten und das ihm in seiner Jugend wild in die Augen gehangen hatte, schien frisch geschnitten zu sein. Er trug es nach hinten gekämmt, wodurch er älter wirkte.

»Herrlich, Bohnenkaffee!«, sagte Julia mit übertriebener Betonung auf dem ersten Wort, denn sie wollte nicht länger an damals zurückdenken. Statt der Schwere ihrer Vergangenheit lud sie sich ein Stück Kuchen auf den Teller.

»Also … wie viele Schneiderinnen beschäftigt Ihr Atelier, Fräulein Angersbach?«

»Eine.«

»Aber es werden noch mehr werden«, warf Julia ein. »Es gibt Pläne dazu. Fräulein Angersbach möchte ein Handschuhatelier eröffnen. Ein großes mit Angestellten.«

»Klingt nach einem hübschen Traum, meine Damen. Ebenso hübsch wie die Spitzenhandschuhe!« Karl Falkenberg zischte, als würde er sich an der Naivität der jungen Frauen die Zunge verbrennen, und leerte die Kaffeetasse in einem Zug. Schwungvoll stellte er sie zurück und griff nach seinem Gehstock, bereit aufzustehen. »Nur habe ich leider keine Zeit für Tagträumereien. Melden Sie sich bei mir, Fräulein Angersbach, wenn das Atelier eröffnet ist und Sie eine entsprechende Fertigungsmenge vorzuweisen haben.«

»Wir haben schon den Vertrieb ausgebaut und auch Mannequins angestellt, die die Handschuhe präsentieren. Damit bieten wir dir Waren an, die einen gewissen Bekanntheitsgrad in Marienburg und Lindenthal genießen. Und ich bin mir sicher, dass die bevorzugte Kundschaft des Kaufhauses aus diesen vornehmen Vororten stammt. Und denk dran … nur das Kaufhaus Falkenberg würde dann die Angersbacher Handschuhe verkaufen. Exklusiv, versteht sich!«

Karls Griff um den Stock lockerte sich, und er lehnte sich mit einem Brummen im Stuhl zurück. »Gibt es noch mehr Modelle?«

»Natürlich!« Hanni zog aus dem Korb zwei Paar Handschuhe aus feinem Garn, die ideal für die heiße Jahreszeit waren. Ein grobes Maschenmuster in kräftigen Farben und Perlenstick zeichneten ihre Sommerkollektion in diesem Jahr aus. Manche der Handschuhe hatten am Ende eine Blumenmanschette, sodass sie einen interessanten Akzent zu kurzärmeligen Kleidern boten.

Mit einem knappen Kopfnicken bedeutete er Hanni, ihm das Paar zu reichen. Er prüfte die Häkelhandschuhe erneut auf ihre Verarbeitung, Qualität und Fehler, wie er es schon vorhin gemacht hatte. »Zugegeben, auf den ersten Blick gibt es nichts zu bemängeln«, sagte er in einem sanften Tonfall, was Hanni erleichtert aufatmen ließ. Kurzerhand schnappte er sich den Korb und seinen Gehstock. Dann stand er auf und verließ wortlos den Raum.

»Läuft er jetzt damit davon?«, fragte Hanni.

»Einer wie Karl läuft nicht davon.« Auch ohne seine Knieverletzung würde er nicht davonrennen, fügte Julia in Gedanken hinzu. Karl hatte immer seinen Mann gestanden. »Wahrscheinlich zeigt er sie der Verkaufsleiterin oder der des Ateliers und bespricht sich. Nur Geduld!«

Julia fischte nach einem Stück Zitronenkuchen, das sie sich auf den Teller lud.

Hanni seufzte und steckte sich eine Praline in den Mund. Wenn sie schon warten mussten, dann durften sie den Moment zumindest voll auskosten. Julia wollte nach einem Printenstück, vermutlich aus der Konditorei Printen Schmitz, greifen, doch Hanni hielt sie davon ab, indem sie ihr die Hand auf den Unterarm legte. »Das macht man nicht. Wir wollen ja nicht bedürftig wirken!«

»Sind wir aber. Und das hat Falkenberg längst erkannt«, sagte Julia und griff mit einer Zange nach der Printe.

Nach einer Weile, in der Hanni wie ein Hund auf die Tür gestarrt und Julia das erste Stück Kuchen und dazu noch die Printe vernascht hatte, kam Karl Falkenberg wieder zurück. Nur der Korb in seinen Händen fehlte. Ein paar Schritte vor den beiden jungen Frauen blieb er stehen und blickte Hanni an. »Frau Herrmann, die Leiterin des Ateliers, und Frau Sachs, die Verkaufsleiterin, haben sich angetan von Ihren Modellen gezeigt. Die Sommermodelle, die Sie mitgebracht haben, möchten wir probehalber zum Verkauf anbieten. Ich zahle Ihnen drei Mark pro Paar.«

Hanni sprang vor Freude auf.

Julia schlug mit der Hand auf den Tisch. »Drei? Nur?« Dabei fragte sie sich, ob er auf dem Schwarzmarkt nicht nur seine Ehre, sondern auch den Verstand verloren hatte. Aufgebracht, wie sie war, blieben ihr die Krümel der Printe im Halse stecken, sodass sie husten musste. »Das ist ein mieser Stundenlohn und deckt noch nicht mal die Ausgaben für das Garn und die Perlen.«

»Dann werden wir wohl nicht ins Geschäft kommen.« Karls Miene verdüsterte sich.

»Hanni braucht viele Stunden, um ein einziges Paar anzufertigen. Vor allem die aufwendigen mit Muster oder Blumenmanschette. Das, was du ihr bietest, ist nicht angemessen!«

Karl musterte Julia nachdenklich. Sein Kiefer mahlte.

»Du willst schöne Handschuhe haben, also musst du sie auch gerecht dafür entlohnen.« Julias Blick war unnachgiebig, und sie streckte ihm aufmüpfig das Kinn entgegen.

Abermals ein Mahlen seines Kiefers. »Drei Mark und fünfzig Pfennige. Mein letztes Angebot … Ich habe keine Gewissheit, ob sich überhaupt ein Paar davon verkaufen lässt. Aus dem Grund erwarte ich eine entsprechende Vorleistung. Sollten sich die Handschuhe absetzen lassen, werde ich darüber nachdenken, auch mehr dafür zu bezahlen. Sie eventuell sogar in weiteren Filialen anbieten.« Nun sah er Hanni auffordernd an. »Aber dazu bräuchten Sie dann definitiv weitere Mitarbeiterinnen. Und vorab«, Karl hob seine Hand, »möchte ich zehn Paar in einer speziellen Ausführung haben. Passend zu zwei Kostümen, die wir unten ausgestellt haben. Bis kommenden Montag. Schaffen Sie das in fünf Tagen?«

Hanni sah ihn sprachlos an und brachte, nach einem dezenten Seitenhieb von Julia, statt einem Nein, zu dem sie angesetzt hatte, ein schwaches Nicken zustande.

»Dann sind wir im Geschäft. Die genaue Farbzusammenstellung und Musterung besprechen Sie bitte mit Frau Sachs. Sie erwartet Sie unten und wird Ihnen die beiden Kostüme zeigen. Aber nur keine Eile …« Er blickte auf Julias leeren Teller, auf denen kaum Krümel zurückgeblieben waren. »Im Falkenberg darf der Hunger einer Frau gestillt werden.« Ein verführerisches Lächeln trat auf seine Lippen, was Julia dazu veranlasste, auf seinen Mund zu starren. Dann ging er auf Hanni zu und reichte ihr die Hand. »Ich gratuliere Ihnen, Fräulein Angersbach, zu Ihrem ersten offiziellen Abschluss. Nun müssen Sie nicht mehr von Haus zu Haus gehen, sondern meine Verkäuferinnen laufen sich die Füße für Sie ab, um die Handschuhe an die Frau zu bringen.«

Hanni wäre ihm am liebsten begeistert um den Hals gefallen, das konnte Julia an ihrer Haltung bemerken. Stattdessen erwiderte sie das Händeschütteln eine Spur zu inbrünstig, sodass Karl Mühe hatte, seine Hand nach einer Weile aus ihrer zu ziehen.

»Wir werden uns schon bald wiedersehen, vermute ich, Fräulein Döring«, sagte er knapp und nickte Julia zu, während er sich an seinem Gehstock schwungvoll umdrehte und davonschritt. In einem geschmeidigen, beinahe trotzigen Gang, der Julia an die Zeit auf dem Schwarzmarkt erinnerte. Sie hatte ihn oft von hinten gesehen. Er war ihr immer um Längen voraus gewesen. Aber das würde sich demnächst ändern! Von nun an bekäme sie Speise- statt Schmieröl!

»Es war mir ein Vergnügen, mit dir ehrliche Geschäfte zu machen, Karl«, rief sie ihm nach.

Ehe er die Tür erreichte, drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Natürlich, Julia!« Der Sarkasmus lag in seinen Augen: Natürlich, Zehenmädchen, es war das reinste Vergnügen! Wie immer, hätte er wohl am liebsten gesagt.

Kapitel drei

»Wie du bereits des Öfteren angekündigt hast, befindet sich die Versicherung in einem Umbruch. Dabei sollten wir die Belegschaft nicht außer Acht lassen. Richtig fortschrittlich wird es sein, einen Betriebsrat im Haus zu haben.« Charlie, die Viktor Pering bereits aus Kindheitstagen kannte, rückte auf der Sesselkante nach vorn, sodass sie ihm näher kam. Der Generaldirektor rutschte als Antwort ihr gegenüber im Stuhl zurück.

»Einen Betriebsrat? Jetzt klingst du aber übergeschnappt!«