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Vier Frauen zwischen Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, Petticoats und Emanzipation
Köln, 1948. Der Wiederaufbau ist in vollem Gange. Es sind vor allem die Frauen, die für sich und ihre Familien in der zerstörten Stadt ein neues Leben aufbauen. Als Telefonistinnen sorgen Gisela, Hannelore und Julia in einer großen Versicherung für die richtigen Verbindungen zwischen innen und außen. Jede hat ihre eigene Geschichte, für jede von ihnen ist die Arbeit lebenswichtig, jede hat Geheimnisse. Auch Charlotte, die neue Kollegin, die auftritt, als gehörte ihr das Unternehmen. Während die junge Republik entsteht und in den Bars wieder getanzt wird, gehen die Frauen gemeinsam Schritt für Schritt voran in eine neue Welt, die von Umbrüchen, Sehnsüchten und Träumen geprägt ist ...
Ein bewegender Roman um Verlust und Neuanfang, um Freundschaften und neue Liebe
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2024
Vier Frauen zwischen Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, Petticoats und Emanzipation Köln, 1948. Der Wiederaufbau ist in vollem Gange. Es sind vor allem die Frauen, die für sich und ihre Familien in der zerstörten Stadt ein neues Leben aufbauen. Als Telefonistinnen sorgen Gisela, Hannelore und Julia in einer großen Versicherung für die richtigen Verbindungen zwischen innen und außen. Jede hat ihre eigene Geschichte, für jede von ihnen ist die Arbeit lebenswichtig, jede hat Geheimnisse. Auch Charlotte, die neue Kollegin, die auftritt, als gehörte ihr das Unternehmen. Während die junge Republik entsteht und in den Bars wieder getanzt wird, gehen die Frauen gemeinsam Schritt für Schritt voran in eine neue Welt, die von Umbrüchen, Sehnsüchten und Träumen geprägt ist …
Eine bewegender Roman um Verlust und Neuanfang, um Freundschaften und neue Liebe
Nadine Schojer ist Tourismus-Managerin und lebt mit Mann und Tochter in Wien. Wenn sie nicht physisch verreist, ist sie lesend und schreibend in der Zeitgeschichte unterwegs. Bei den Recherchen für ihre Reihe DIE TELEFONISTINNEN hat sie sich in die Mode der Fünfzigerjahre verliebt. Deshalb ist sie nun stolze Besitzerin eines Petticoat-Mantels. Unter Pseudonym hat Nadine Schojer bereits mehrere Romane veröffentlicht, zuletzt bei Lübbe den Liebesroman WIENER MELANGE FÜR ZWEI.
NADINE SCHOJER
DIE TELEFONISTINNEN
STUNDEN DES GLÜCKS
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Germany.
Copyright © 2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- undData-Mining bleiben vorbehalten.
Lektorat: Dr. Stefanie Heinen
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
Umschlagmotiv: © Paul Almasy /akg-images
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-5614-3
luebbe.de
lesejury.de
Für meine Eltern
»Wie viel kriegen wir, Mama?«, fragte Peter und sah Gisela mit erwartungsvollen Augen an, in denen all der Glanz lag, den sie in den letzten Jahren verloren hatten. So viel Leid, das der Krieg gebracht hatte, und nun so viel Hoffnung, die in das Herz ihres Sohnes und in ihr eigenes zurückgekehrt war.
»Erst mal achtzig Mark. Vierzig Deutsche Mark für dich, junger Mann, vierzig für mich«, antwortete sie.
»Und morgen kaufen wir den neuen Brettspielkoffer. Du hast es versprochen!«
Gisela lächelte. Endlich konnte sie ihrem Kind wieder einen Wunsch erfüllen. »Du bekommst den ganz großen! Versprochen.«
Stolz strich sie ihrem Sohn über das dunkelblonde Haar, das in der Sonne dieses Junitages 1948 wie ein Kornfeld schimmerte. Mit der Währungsreform sollte so vieles besser werden. Unzählige Verheißungen hingen in der Luft, sie waren zum Greifen nah. Ihr war, als könne sie die angepriesenen Waren, die bald wieder in den Ladenregalen liegen würden, schon riechen. Düfte, die viel zu lange aus ihrem Leben verschwunden gewesen waren.
Aus ganz Köln kamen die Leute zusammen und stellten sich erwartungsvoll in die Reihen, die sich vor den Ausgabestellen für die Deutsche Mark gebildet hatten. Es war ein angenehm warmer Sonntagmorgen. Die Sonne blinzelte an den Türmen des Doms vorbei, die sich hinter der Lebensmittelkartenstelle, in der Gisela und Peter für das »Kopfgeld« anstanden, in den Himmel reckten. Ein Vogel hob sich schwungvoll hinauf zur Spitze des Südturms, und Gisela vernahm das fröhliche Pfeifen eines jungen Mannes, der wenige Reihen hinter ihnen das Gezwitscher nachahmte und damit seine Familie unterhielt.
Die Warteschlange war lang, ebenso die Geduld der Menschen. Manche hatten sich Hocker oder Kisten mitgebracht und sich darauf niedergelassen.
»Was werden Sie mit dem neuen Geld anstellen?«, fragte ein weißbärtiger Mann mit Kappe seinen Nachbarn, der auf einem großen Karton saß und sein rechtes versehrtes Bein von sich gestreckt hatte.
»Eine Flönz. Eine richtig deftige Flönz gönn ich mir. Und dazu ein frisch gezapftes Kölsch. Gleich morgen geh ich zum Metzger Hennes. Hoffentlich hat er dann auch eine. Aber der Hennes hat immer die besten Würste in der ganzen Stadt gehabt. Den kennen Se doch, oder?«
»Ja, ja. Hab ich schon von gehört. Aber ich geh immer zum Horst Otto in der Richmodstraße. Dem seine Leberwürste sind ein Genuss … und wenn er frische Blutwurst hat, steht’s auf der Tafel vor dem Laden«, erwiderte der Mann und schob seine Kappe zurecht.
Gisela hatte Blutwurst nicht einmal zu Kriegszeiten vermisst, aber für Heinrich, ihren verschollenen Mann, hatte sie sie oft gekauft. Nur in der Metzgerei Stürmer, eine andere hatte er nicht gegessen. Scharf angebraten, mit Himmel un Ääd, Kartoffel-Apfel-Püree, so mochte er Blutwurst am liebsten. Wie wählerisch die Männer manchmal sind, dachte Gisela und schmunzelte.
Ein lautes Kinderlachen übertönte für einen Moment das Essensgespräch, in dem es sich jetzt um Sauerbraten drehte.
»Na, wenn mein Göttergatte überhaupt mal was kochen würde, wäre mir schon geholfen«, sagte die Ehefrau des weißbärtigen Mannes, die zu Gisela aufgerückt war.
»Mein Heinrich, der kann auch nur gut essen.« Gisela lachte verhalten. »Als ich schwanger war und die letzten drei Monate liegen musste, ist er mir in der Küche zur Hand gegangen. Aber hat mir immer die Kartoffeln verkocht.«
Die Ehefrau schickte ein Stoßgebet gen Himmel. »Meiner weiß noch nicht mal, dass man Kartoffeln überhaupt kochen muss.«
Einige Frauen in der Warteschlange nickten und grinsten sich zu.
»Wünsch dir was, Anne!«, rief ein lachendes Mädchen, hüpfte mit wippendem honigblondem Haar zu ihrer Freundin und hielt ihr eine Pusteblume hin. Sogleich pustete diese an den Kopf des abgeblühten Löwenzahns, und die feinen Härchen schwammen in der Luft, flogen weit davon, Richtung Dom. »Komm, wir laufen hinterher! Wer als Erstes dort ist!« Das Mädchen zeigte auf die Bischofskirche.
»Eins, zwei, dr…«, zählte Anne, aber da lief ihre Freundin bereits los. »Hey, warte auf mich!« Anne rannte ihr nach.
»Unser Dom«, bemerkte eine junge Frau, die rechts von Gisela stand und die Kinder ebenso beobachtet hatte. Vor ihr auf dem Boden spielte ihre kleine Tochter mit einem Sonnenhut. »Hätten sie den auch erwischt, stünden wir alle nicht hier. Zweihundertzweiundsechzig Mal sollen die Alliierten die Stadt bombardiert haben, hat mir mein Mann erzählt. Wussten Sie das? Und der Nordturm hat nur eine Plombe davongetragen.«
Gisela nickte. »Schon ein Wunder, ja.«
Im November 1943 hatte eine Fliegerbombe den Stützpfeiler so stark beschädigt, dass die Stabilität des Turmes gefährdet war. Doch die Kölner hatten dem Unheil getrotzt, indem sie das riesige Loch im Frühjahr 1944 mit Ziegelsteinen gestopft hatten.
»Dem Dom ist es zu verdanken, dass die Menschen wieder in die Stadt zurückgekommen sind. Hätten sie ihn auch dem Erdboden gleichgemacht, dann wäre Köln leer geblieben«, fuhr die junge Frau fort.
»Bestimmt.« Nie würde Gisela vergessen, was sich vor nicht allzu langer Zeit auf der Pattonbrücke abgespielt hatte, als Heerscharen von Menschen zu Fuß in die Stadt zurückgekehrt waren.
»Jetzt hab dich nicht so, Bärbelchen!«, sagte die Frau, die sich eben noch mit Gisela unterhalten hatte. »Setz den Hut auf, sonst wird dir wieder von der Sonne übel! Und dann musst du den ganzen Tag im Bett bleiben. Außerdem ist der doch so hübsch!« Sie beugte sich zu ihrer kleinen Tochter hinunter und setzte ihr den Hut auf. »So ist’s gut. Richtig süß, ja.«
»Aber ich mag den nicht!«, rief das Mädchen und warf den Hut auf den Boden. Sie streckte ihrer Mutter die Zunge heraus und verschränkte die Arme.
»Jetzt sei ja artig!« Ein kleiner Klaps auf den Po folgte.
Bärbelchen riss sich den Hut wieder vom Kopf.
»Schon mit vier ein Sturschädel, mein Mädchen«, seufzte die Mutter und steckte den Hut in ihre Tasche.
»Das wird bestimmt auch nicht besser«, sagte Gisela und zeigte auf Peter, der sich gerade aus seiner Weste schälte.
»Viel zu warm, Mama.« Peter drückte seiner Mutter das Kleidungsstück in die Hand und stellte sich auf seine Zehenspitzen, um besser über die Menge blicken zu können.
»Wieso dauert das eigentlich so lange?«
Mit seinen zwölf Jahren war er es gewohnt, dass alles ganz schnell gehen musste. Mehr als einmal waren er und seine Mutter vor dem Bombenhagel weggelaufen, um sich im nächstgelegenen Luftschutzkeller in Sicherheit zu bringen. Und beinahe täglich war er am Hauptbahnhof und in der Umgebung des Doms herumgeschlichen, um mit raschen, unauffälligen Handgriffen Lebensmittel zu »organisieren«, ehe die »Schmier«, die Polizei, kam und eine Razzia durchführte. Vor allem auf den Schwarzmärkten, auf denen er sich in den letzten Jahren mit seinem besten Freund Albrecht herumgetrieben hatte, galt es, schnell zu sein. Man wartete nicht, sondern organisierte, und darin war Peter gut geworden. In den zerbombten Straßen Kölns hatte er mehr fürs Leben gelernt als in der Schule.
Nicht selten hatte er den Unterricht geschwänzt und Gisela statt Hausaufgaben eine Dose Fett mit nach Hause gebracht, was auch nach dem Krieg noch absolute Mangelware war. Gisela wollte gar nicht wissen, wie ihr Junge es angestellt hatte, und hätte Peter dafür am liebsten ausgeschimpft, aber dann hatte sie seine leuchtenden Augen und sein stolzes Gesicht gesehen und geschwiegen.
Sie war dankbar für die Ausbeute gewesen und doch traurig darüber, dass Peters Kindheit einfach weggewischt worden war wie die Altstadt Kölns, Anfang 1946, als der Rhein über die Ufer getreten war und das Hochwasser ganze Straßen verschluckt hatte. Wie gern hätte sie ihrem Sohn die verlorenen Jahre zurückgegeben, sie wie glänzende Perlen auf eine Kette gefädelt, damit ihm eine schöne Erinnerung nach der anderen in den Sinn kam, wenn er auf seine Kindheit zurückblickte. Aber stattdessen klebte an ihnen der Staub der Straßen, der noch immer auf den Ruinen der Stadt lag.
Peter war inzwischen fast so groß wie seine Mutter. Sein Gesicht, vor allem die markante Kinnlinie und die hohen Wangenknochen hatten kaum noch etwas Kindliches und ähnelten immer mehr denen von Heinrich. Die Gespräche mit ihrem Sohn waren oft von einer Ernsthaftigkeit, die besser zu zwei Erwachsenen gepasst hätte. Zusammen hatten sie nicht nur den Krieg überlebt, sondern auch den Hungerwinter 1946/47 überstanden. Nach all der trostlosen Zeit lag endlich nun eine hellere Zukunft vor ihnen.
Unruhig hüpfte Peter weiter von einem Bein auf das andere und lugte immer wieder an den vielen Menschen vorbei, die artig in der Schlange ausharrten. »Wahrscheinlich ist das Geld nichts mehr wert, wenn wir dran sind.« Er zuckte mit den Schultern und schwieg einen Moment. »Aber egal, dann spazieren Brecht und ich einfach wieder zum Rheinufer und organisieren was«, sagte er dann. Es klang, als würde er mal eben zum Fußballspiel auf die Straße gehen.
»Damit ist jetzt Schluss!« Gisela zog ihn dichter an ihre Seite. Meist brachten Peter und Albrecht von ihren Streifzügen nur ihre dreckverschmierten Gesichter mit nach Hause, manchmal aber auch ein freches Grinsen und geschwärzte Hände, in denen ein Stück Kohle lag. Gisela selbst hatte viel zu oft mit der Lebensmittelkarte und einem leeren Flechtkorb in der Hand Schlange gestanden, um etwas Brot, Milch, Zucker, Mehl, Kartoffeln, ab und an auch ein zähes Stück Fleisch zu ergattern. Geduldig hatte sie ausgeharrt – für ein paar Scheiben Brot, die mit Hafer oder Kartoffeln gestreckt waren und nichts mit dem Brot gemein hatten, das sie vor dem Krieg gegessen hatten.
Anders als Peter war Gisela daran gewöhnt zu warten. Doch ihre Geduld war nur selten belohnt worden. Die Ausbeute des stundenlangen Herumstehens war immer um einiges bescheidener als die ihres Kindes ausgefallen. Meist hatte sie von der Bäckermeisterin statt Brot ein mitleidiges Kopfschütteln bekommen, und Peter und sie hatten abends wieder hungrig zu Bett gehen müssen, wenn er nicht etwas mit nach Hause gebracht hatte.
Und nun stand sie wieder in einer Schlange. Aber dieses Mal versprach die Warterei eine gnädige Honorierung. Die Währungsreform, die im Rundfunk erst vor zwei Tagen angekündigt worden war, würde eine Wende im Westen Deutschlands einläuten. Und Gisela konnte es spüren. Mit jeder Faser ihres Körpers. Es fühlte sich wie dieser Junitag an. Noch nicht ganz Sommer, noch nicht ganz Vollendung. Aber spürbar und wohltuend wie die Wärme auf ihrer Haut.
Sie ließ ihren Blick schweifen. Dass so viel von ihrer Heimatstadt zerstört war, schmerzte sie. Mittlerweile waren zwar die Trümmer verschwunden, doch Köln war eine Stadt der leeren Flächen. Anstelle prächtiger Gründerzeithäuser drängten sich dort provisorische Blechhütten und Bretterbuden. Statt heller Lichter in den Wohnzimmern flackerte hier abends nur ein schwacher Kerzenschein … aber das Lachen erwachte bereits wieder aus dem Dämmerschlaf. Wie die Margeriten, die mit ihren weißen Blütenköpfen aus den Trümmern hervorblitzten.
Viel war von ihrem alten Leben nicht übrig geblieben. Nur Peter und die verblasste Liebe zu einem Mann, der, in Jahren gemessen, weniger lange an ihrer Seite gewesen war, als er nun schon weg war. Ob Heinrich überhaupt noch lebt? Ob er an Peter und mich denkt?, fragte sie sich wieder einmal, und sie rückten ein Stück auf.
»Wie viele Reichsmark zahlen wir zum Wechseln auf das Konto ein?«, wollte Peter wissen.
Seine Lehrerin hatte ihr vor Kurzem gesagt, er sei ein cleverer Junge. Und er könne noch klüger werden und eines Tages das Gymnasium besuchen, wenn er regelmäßiger und vor allem pünktlich in der Schule erscheinen würde. Gisela hatte mehr teilnahmslos als begeistert genickt, denn Peter wusste genau, was er von seinem Alltag wollte … oder eben nicht wollte. Zu Letzterem zählte leider der regelmäßige Schulbesuch. Er war nun mal ein Junge, der das Leben erfahren und nicht erlernen wollte.
»Ein Vermögen, ein kleines Vermögen! Unser ganzes Erspartes«, antwortete Gisela und küsste Peter auf den Kopf. Sein Haar roch ein wenig nach Kernseife, denn heute war der wöchentliche Badetag gewesen. Längst überfällig wieder einmal. Viel lieber wäre es ihr, Peter würde nicht nur sonntags, sondern täglich baden, um sich seine Abenteuer vom Leib zu waschen. Doch diesen Luxus konnten sie sich nicht leisten.
Aber das war nicht weiter von Bedeutung. Wichtig war Gisela nur, dass sie ihren Sohn an ihrer Seite hatte. In all den Jahren, in denen der Krieg so viele Familien getrennt hatte, Herzen auseinandergerissen und ganze Leben ausgelöscht hatte, hatte sie die Hand ihres Kindes nie losgelassen. Nicht im Luftschutzbunker, nicht zwischen den Trümmern, als sie vor den geschwärzten Mauerresten ihrer ehemaligen Wohnung im Martinsviertel gestanden und auf das Elend hinabgeblickt hatten, das sich Zuhause nannte. Und schon gar nicht jetzt. Wo das in Aussicht gestellte Glück mit einer neuen Währung bezahlt werden sollte.
Aufgeregt nahm sie Peters Hand, und sie rückten noch ein Stück auf.
»Gehen wir danach wieder nach Papa fragen?« Peter sah auf den Boden und schob mit seinen abgetragenen Schuhen ein paar Kieselsteine hin und her. In solchen Momenten war er nicht der starke junge Mann, zu dem er in den letzten Jahren herangereift war, sondern ein kleiner Junge, der seinen Vater vermisste.
»Ja. Nachher fragen wir wieder nach Papa. Und zur Feier seines Geburtstags nächste Woche gehen wir ins neu eröffnete Café Reichard … auf ein Stück Buttercremetorte. Eine köstliche und üppige Buttercremetorte«, wiederholte sie und konnte schon die feine Creme mit echter Butter auf ihrer Zunge spüren.
Peter grinste breit und leckte sich über die Lippen. »Darüber wird sich Papa aber freuen, wenn wir ihm davon erzählen. Können wir mit ihm dann auch mal da hingehen?«
»Auf jeden Fall. Dann werden wir sieben Mal Kuchen essen. An jedem Wochentag!«
Wieder ging es voran. Der weißbärtige Mann mit der Vorliebe für Leberwürste und seine Ehefrau waren dran, danach wären sie an der Reihe. Bärbelchen neben ihnen hatte mittlerweile wieder ihren Hut auf, was die Mutter sichtlich zufrieden zur Schau stellte, denn sie hatte die Kleine auf den Arm gehoben. Auch die Mädchen mit den Pusteblumen waren zurückgekehrt. Dieses Mal hatten sie Gänseblümchen in der Hand und zu Sträußchen gefasst. Und als sich die Schlange erneut in Bewegung setzte, meinte Gisela zu erkennen, wie dem Flönz-Mann bereits das Wasser im Mund zusammenlief.
Ja, auch Gisela hatte einen Herzenswunsch. Sie sah auf ihre abgewetzten Schuhe hinab. Die Plateausohlen aus Kork hatten dicke Risse. Hanni, die eine talentierte Schneiderin war, hatte sie bereits mehrmals repariert, aber das half inzwischen nicht mehr. Sie würde mit ihrer Freundin demnächst einen Stadtbummel machen. Nicht nur sehnsüchtig die Auslagen betrachten, wie sie es gern nach der Arbeit taten, sondern sich neue Schuhe gönnen. Ein richtig schickes Paar Damenschuhe, das nicht erst ausgebessert oder umgenäht werden musste, damit es passte. Vielleicht durfte es sogar aus Leder sein.
»Mama, wir sind dran! Komm schon!«, rief Peter und zog seine Mutter zum frei gewordenen Schalter.
»Eder. Gisela und Peter Eder«, sagte sie und überreichte dem zuständigen Fräulein mit den Victory Rolls – den voluminösen braunen Haarlocken – ihre Unterlagen. Ihr Herz pochte laut in ihrer Brust.
Peter verfolgte wachsam, wie die Dame hinter dem Schalter die Schublade öffnete und ein paar nagelneue Geldscheine herausnahm. Routiniert zählte sie die Scheine ab, während Peters Blick auf ihren Händen ruhte.
Sachte klopfte Gisela ihrem Sohn die Zweifel von der Schulter. Bald Peter. Schon bald wirst du die Unbekümmertheit eines neuen Lebens spüren, das verspreche ich dir, dachte sie und nahm das frisch gedruckte Papiergeld entgegen.
Das Fräulein schob ihr einen Zettel zu. »Bitte quittieren Sie hier«, sagte sie und reichte Gisela einen Stift.
»Los, Mama, du musst unterschreiben«, sagte Peter, weil Gisela nur dastand und das Geld in ihrer Hand anstarrte.
»Keine Sorge«, sagte sie und schrieb ihren Namen auf das Formular, bevor sie die Scheine einsteckte. »Von jetzt an lassen wir uns nichts mehr nehmen. Wir holen uns alles zurück!«
»Tag, Herr Stoler!«, rief Gisela von der gegenüberliegenden Straßenseite, als sie auf dem Heimweg an der Tischlerei in der Großen Neugasse vorbeikamen. Der Inhaber stellte gerade ein Margeritenstämmchen neben die Tür.
Schwungvoll drehte er sich zu Gisela und Peter um, die die Seite wechselten und auf ihn zugingen.
»Was für eine schöne Überraschung! Die Familie Eder«, sagte er und stutzte kurz. »Ach, der Heinrich. Noch nichts Neues von Ihrem Mann?« Er nahm seinen Hut ab.
Gisela schüttelte den Kopf. »Nein, leider. Wir warten … Ein schönes Bäumchen.«
»Hat mir meine Frau aufgetragen. Sie meint, mit den Blumen kämen die Kunden zurück.«
Gisela lächelte. »Bestimmt. Wie ist denn die Auftragslage?«, fragte sie, da die Tischlerei erst vor Kurzem wieder aufgemacht hatte. Früher hatte Herr Stoler aufgrund der vielen Aufträge sogar Anfragen ablehnen müssen.
»Schleppend, sehr schleppend … Es gibt kein Holz, und die Nägel fehlen ebenfalls. Und der Heinrich fehlt auch. Der hat so ein gutes Augenmaß.«
Gisela nickte. Ihr Mann war ein talentierter Tischler gewesen. Für ihr Esszimmer hatte er einen Tisch aus Eichenholz mit aufwendigen Schnitzereien angefertigt, den die Gäste immer bewundert hatten.
»Sobald er zurückkommt, soll er gleich zu mir kommen. Er kriegt seine Anstellung zurück, darauf geb ich Ihnen mein Wort!« Herr Stoler klopfte Gisela sachte auf den Oberarm. »Nur nicht den Mut verlieren. Keine Nachricht ist erst mal keine schlechte. Viele kehren erst jetzt heim.«
Gisela lächelte schwach.
Nach all den Jahren hielt sie sich nur noch vage an der Hoffnung fest, dass Heinrich eines Tages zu ihnen zurückkommen würde.
Ihr Blick fiel auf die Eingangstür der Tischlerei, und sie erinnerte sich daran, wie sie jeden Morgen ein Stück des Weges gemeinsam gelaufen waren. Heinrich war zur Arbeit gegangen, sie mit dem kleinen Peter am Arm zum Lebensmittelladen, um die Einkäufe für die Schwiegereltern zu erledigen. An der Stelle, wo jetzt das Margeritenstämmchen stand, hatten sie sich immer verabschiedet. »Bis zum Abendbrot, Gillchen«, hatte er gesagt und ihr einen Kuss auf den Mund gedrückt. Dann hatte er liebevoll die blonden Locken seines Sohnes verwuschelt.
Nun, sieben Jahre später, nachdem sie sich das letzte Mal geküsst hatten, schien es, als wäre die Hoffnung auf seine Rückkehr wie ein Mauersegler über die Ruinen der Stadt davongeflogen.
»Wir werden es Papa ausrichten«, sagte Peter und nickte.
Nur ihr Sohn, der wollte den Glauben nicht loslassen, dass sein Vater eines Tages zu ihnen zurückkehren würde. In all den Jahren hatte er das sorgenfreie Vertrauen eines Kindes behalten, das noch Magie und Wunder in einer zerstörten Welt entdeckte. Das leichtfüßig über ein unendliches Trümmermeer getrippelt war, obwohl Ballast auf seiner kleinen, unschuldigen Seele lag. Und die geborgte Leichtigkeit, die er sich jeden Tag zunutze machte, stimmte Gisela wehmütig.
In ihrem Herzen klaffte eine Einsamkeit, die mehr wog als der Funken Hoffnung, der ihr geblieben war. Wenn Peter abends im Bett und Gisela allein in der Küche am improvisierten Tisch aus alten Brettern saß, fühlte sie die Verlassenheit, die mit eisigen Armen nach ihr griff. Genau an der Stelle, wo sie früher die warmen, schützenden Hände Heinrichs gespürt hatte.
Ja, sie wollte daran glauben, dass sie sich alles zurückholen konnten.
Aber viel wahrscheinlicher war es, dass einer nie wieder bei ihnen sein würde.
Mit breit gewölbter Mauerbrust thronte das Gebäude der Versicherung Pering im Friesenviertel. Es hatte sich nach dem Krieg stark verändert, was Walter Pering, dem Inhaber und Gründer der Versicherungsanstalt, missfiel, woraus er keinen Hehl machte. Rund um den Friesenplatz hatte sich ein Rotlichtviertel entwickelt, das Pering am liebsten mit einem Tintenstrich seines Parker-Füllfederhalters auf dem Stadtplan in einen der äußersten Winkel Kölns versetzt hätte. Allabendlich durfte er sich darüber bei seiner Frau Hilde beschweren, die eine geduldige Zuhörerin sein konnte. Meistens schlief sie nämlich vor dem warmen Kamin im Salon ihrer Villa ein. Ja, die Hilde, die friert auch im Mai, hatte Pering auf der letzten Firmenfeier erzählt und dafür großes Gelächter bei der Belegschaft geerntet.
Mittlerweile dürfte er sich aber damit abgefunden haben, dass spätabends, wenn die Tore zur Versicherung längst verschlossen sind, ein Geschäftstreiben der etwas anderen Art in der Friesenstraße vonstattengeht, dachte Gisela. Als Visionär, der er ist, hat er bestimmt schon Pläne gemacht, wie »sein« Friesenviertel eines Tages aussehen wird.
Sie schritt zum Eingangstor des Versicherungshauses, das von einem Spitzbogen überwölbt war, und stieg die fünf breiten Stufen hinauf. Sie betrat die prachtvolle Halle, die ihr stets das Gefühl vermittelte, in die Goldenen Zwanziger zurückversetzt worden zu sein. Eine Zeit, in der die Versicherung vom vorherrschenden Aufschwung und dem Wohlstand im Land profitiert hatte.
Auffällig war der hellblaue mit cremefarbenen und goldenen Mosaiksteinen durchsetzte Terrazzoboden, der an den Seiten in einem Blumenmuster auslief. Ein italienischer Architekt hatte den Eingangsbereich geplant und den feudalen Aspekt, den Pering sich gewünscht hatte, aufwendig umgesetzt: Die großen Fenster ließen so viel Licht hinein, dass man sein Gesicht in den Sonnenstrahlen baden konnte, wenn man sich im Innenbereich des Gebäudes aufhielt.
Vor dem Krieg war die Eingangshalle in einen großzügigen Lichthof übergegangen, der zu den zahlreichen Büros geführt hatte. Doch eine Bombe hatte das Atrium mit grausamer Präzision getroffen – eine Tatsache, die Pering sicher noch immer schmerzte.
Die hohen Fenster im Eingangsbereich zogen sich an den mit Sperrholzplatten verkleideten Seiten entlang. Der untere Teil war mit Palisanderflächen zu einer geschlossenen Wandtäfelung verbunden. An der oberen Hälfte der Seitenwände schimmerten blassgelbe und himmelblaue Farbtöne, die den Leitspruch der Versicherung widerspiegelten. Bei uns ist alles in sicherer Hand, war Perings Maxime, die auch auf der Messingtafel am Eingang prangte.
Durch einzelne Flachglasstücke, die durch U- und H-Bleiruten eingefasst und an den Kanten entlang verlötet worden waren, hatte die großzügige Halle eine lichtdurchflutete Offenheit besessen. An den Wänden erhellten Messingleuchten in Tulpenform den Raum und schufen vor allem abends, wenn die Sonne hinter den Türmen und Dachfirsten verschwunden war, eine angenehme Atmosphäre. Drei achtarmige Kronleuchter hingen in exakten Abständen an der Decke, als wollten sie kopfüber Spalier stehen. Sie tauchten die Halle in ein breitflächiges Licht. Angeblich hatte Pering die Lüster zu Kriegsbeginn abmontieren lassen und sie in seinem Keller vor den Bombenangriffen und späteren Plünderungen in Sicherheit gebracht. Nun befanden sie sich wieder an Ort und Stelle und erstrahlten in einem fürstlichen Schein.
Ein Kronleuchter hing über dem geschwungenen goldenen Empfangstresen, der die Besucher, vor allem jene, die das Gebäude zum ersten Mal betraten, einen Moment lang staunend innehalten ließ. Erna Schmitz, die Empfangsdame des Hauses, die seit der Gründung der Versicherungsanstalt im Jahr 1925 mit äußerster Korrektheit ihren Dienst versah, konnte mit einer simplen Geste alle Zweifel wegwischen: Sie lächelte. Milde und auch ein wenig mütterlich, sodass man sich willkommen fühlte, wenn man Sorge hatte, sich in der Weite und Schönheit der Halle zu verlieren. Immer akkurat gekleidet, mit einem schwarzen Schlupfrock und einer makellos weißen Bluse. Ernas Kennzeichen waren nicht nur ihre Hochsteckfrisur und die Brille mit dem braunen Rahmen, sondern auch ihre angenehme Stimme, mit denen sie die Kunden begrüßte, die wegen eines zu schützenden Gegenstands die Versicherung aufsuchten.
Gisela konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als sie im September 1945 zur Arbeitsprobe eingeladen war. Zögerlich hatte sie in der Halle verharrt und sich nicht getraut, mit ihren abgetragenen Schuhen einen Schritt auf den kunstvollen Terrazzoboden zu setzen. So viel Schönheit hatte sie im Trümmermeer Kölns lange nicht mehr gesehen. Als sie es dann doch gewagt hatte und über den edlen Boden schlich, hatte sie den Wunsch verspürt, hier tagtäglich ein und aus gehen zu dürfen. Vorsichtig hatte sie das unversehrte Holz an den Seitenwänden berührt und war mit den Augen in das Farbspiel aus Blau- und Gelbtönen eingetaucht, das über ihrem Kopf im Schein der Kronleuchter tänzelte. Die pure Schönheit der Eingangshalle hatte ihr ein Gefühl von Sicherheit vermittelt und ihr die Beteuerung zugeflüstert, dass bessere Zeiten folgen würden.
Und nun hatte sie eine Buttercremetorte in der Hand. Ein köstliches Zugeständnis des Schicksals.
»Guten Morgen, meine Liebe«, flötete Gisela, während sie zügigen Schrittes auf den Empfangstresen zuging. Das tat sie jeden Morgen. Ein Schwätzchen mit Erna brachte den notwendigen Schwung für den Tag.
»Morje, Darling«, sagte Erna und sah hoch. Seit die Alliierten die Stadt besetzten, streute sie immer wieder ein paar englische Wörter in ihren kölschen Dialekt ein.
»Ganz schön warm heute, was?«, bemerkte Gisela und sah auf die vollen Terminlisten, die Erna für die Geschäftsführung und die Versicherungsvermittler angefertigt hatte. Das Versicherungsgeschäft schien endlich wieder anzulaufen.
»Ich halt meinen Hintern jään in die Sonne. Ist mir lieber als die Kälte.« Erna schüttelte sich kurz, als würde sie an den Hungerwinter denken.
»Ich hab übrigens eine sehr delikate Überraschung für dich«, sagte Gisela geheimnisvoll.
»Eine Überraschung? So etwas mag ich doch überhaupt nicht!« Erna lachte. »Du bist mir wirklich ein Schatz! Was isses denn?« Sie schielte auf das kleine Paket in Giselas Hand.
»Ich muss dir was Delikates – sehr Delikates erzählen. Da wirste Augen machen«, sagte Erna und reckte ihr Kinn. Das tat sie immer, als würde sie der Klatsch und Tratsch, den sie sammelte, ein Stück größer machen. Zugegeben … ein bisschen stolz darf sie schon darauf sein, was sie alles herausfindet, dachte Gisela.
Sie beugte sich über den Tisch. »B-u-t-t-e-r-c-r-e-m-e-t-o-r-t-e«, sagte sie leise. Gisela hatte sie am Vortag nach der Arbeit gekauft und im Keller frisch gehalten.
»Ach, du liebe Güte! Torte! Mit echter Buttercreme? Darling … womit habe ich das verdient?«
»Weil du mir die beste Lehrerin bist.«
»Ach, das bisschen Steno«, winkte Erna ab. »Doch nicht etwa vom Reichard?« Sie klatschte in die Hände.
Gisela nickte. »Peter und ich waren gestern dort. Und wir haben auf der Terrasse gesessen, mit Blick auf den Dom.«
»Ganz schön nobel.«
»Das hat mein Peter verdient«, sagte Gisela.
»Aber gib mir die Torte erst später. Sonst denken alle, ich hätt ein Fisternöllche mit irgendeinem Liebhaber.« Sie lachte, wurde aber im nächsten Moment ganz ernst. »Ich wünschte, der liebe Theo könnte auch mit mir ins Reichard gehen«, sagte sie. Gisela legte eine Hand auf Ernas, denn sie konnte ihren Schmerz nachvollziehen. Ernas Sohn galt noch immer als vermisst. Das letzte Lebenszeichen von ihm war aus einem Gefangenenlager in der Bretagne gekommen. Das lag Monate zurück.
Er war erst achtzehn Jahre jung gewesen, als sie ihn aus der Glaserei gerufen hatten. Von der einen Minute auf die andere war er kein Glaser mehr, sondern ein Soldat gewesen, hatte Erna Gisela erzählt.
»Nichts Neues?«, fragte Gisela, obwohl sie die Antwort kannte.
Erna schüttelte den Kopf. »Und bei dir?« Gisela hatte ihr erzählt, dass sie einmal wöchentlich zum Suchdienst des Roten Kreuzes ging. Peter bestand darauf.
Gisela schüttelte ebenso den Kopf.
Diese Geste war das unsichtbare Band zwischen den beiden Frauen. Sie warteten auf die Heimkehr eines geliebten Menschen, und doch gab es anstelle einer sich erfüllenden Hoffnung immer nur das Kopfschütteln.
»Es ist so lieb, dass du an mich gedacht hast!«
Gisela lächelte und war froh, dass sie Erna damit eine Freude bereiten konnte. Nach all den Entbehrungen tat es gut, wenn man sich ab und an wieder etwas gönnen durfte.
Gleich nach dem Krieg hatte das Kaffeehaus in der Nähe des Doms wieder eröffnet, und sehr bald hatten sich viele Kunden auf ein Tässchen Kaffee und einen Baumkuchen eingefunden, für den das Café bekannt war.
Am liebsten trank Erna zu einem Stück Kuchen oder einer Torte echten Bohnenkaffee. Ein feiner Mokka mit einem Likörchen musste es sein. Doch einen richtigen Kaffee bekamen die Angestellten in der Versicherung nicht. Pering, der ansonsten durchaus großzügig zu seiner Belegschaft war, enthielt ihnen den Genuss von Bohnenkaffee vor – den kredenzte er nur den Firmenkunden und exklusiven Privatkunden. Den Leuten also, die ihre Geschäftssitze und Wertgegenstände gegen eine fürstliche Summe bei ihm versichern ließen. Ihnen servierte er den Kaffee in Tassen mit dem typischen indischblauen Dekor der Porzellanfirma Kalk, die er, wie andere Teile aus dem Inventar des Versicherungsgebäudes, rechtzeitig im heimischen Keller in Sicherheit gebracht hatte.
Einmal täglich durften sich die Telefonistinnen eine Tasse Malzkaffee genehmigen. Das war die Ration, die ihnen als Draufgabe zum Tageslohn zustand.
»Für die Buttercremetorte serviere ich dir auch ein frisches Geheimnis. Es hat noch nicht die Runde gemacht.« Erna bedeutete Gisela mit dem Finger, näher zu kommen. Sie setzte ein diskretes Lächeln auf, obwohl Verschwiegenheit nun nicht eine der Tugenden war, die sie sich zuschreiben durfte. Man konnte Erna als Sammelgefäß für alle Arten von Geschichten, Wahrheiten, Unwahrheiten und Gerüchten bezeichnen, die in der Versicherung die Runde machten … oder auch nie hätten machen sollen. Ihre Augen und Ohren waren wie die Antenne eines Radios auf Dauerempfang gestellt, und man tat gut daran, ein Auskommen mit ihr zu finden. Hinter der vorgegebenen vertraulichen Fassade schlummerte Ernas Durst ihrer Neugier, der ganze Bäche an Geschichten benötigte, um gestillt zu werden. Und wenn man ihn austrocknen ließ, konnte er müßig werden …
»Es geht um das Fräulein Anna aus der Verwaltung«, flüsterte Erna. »Du weißt schon, die mit den aufwendigen Pin Curls und dem betuchten Vater, der sie jeden Morgen mit dem nagelneuen Volkswagen zur Arbeit fährt. Da hat letztens sogar der Pering große Augen gemacht … Na, jedenfalls war die gute Anna gestern ziemlich lange bei unserem Herrn Generaldirektor. Und danach saßen die Locken so, als wäre sie in ein Sommergewitter gekommen.« Erna kicherte hinter vorgehaltener Hand, als wäre ihr die Geschichte unabsichtlich über die Lippen gepurzelt. »Es dürfte wahrlich ein Donnerschlag durch ihren Körper gefahren sein. Bei … na … den Rest kannst du dir ja denken.«
Giselas Augen wurden groß, und ihr blieb kurz der Mund offen stehen. »Und das ist wirklich wahr?«
Erna nickte heftig. »Natürlich war ich nicht dabei, aber ich hab auf die Uhr geschaut. Gut eine Dreiviertelstunde war sie beim Direktor. Für eine äußerst wichtige Besprechung …«
»Und ich dachte, der Böck würde Besuch von der Trude bekommen.«
Erna schüttelte den Kopf. »Nä, nä. Nicht mehr, meine Liebe. Ich glaub, die hat er langsam über. Ist ja auch schon ziemlich alt, die Gute. Dreiunddreißig. Und bei dem heutigen Männermangel muss sogar so ein hübsches Ding wie die Anna sich beeilen, dass sie unter die Haube kommt. Was bin ich froh, dass mir der Franz geblieben ist! Auch wenn mich schon lange kein Donnerschlag mehr erwischt hat.«
Gisela schluckte. Sie selbst war schon fünfunddreißig. Aber immerhin verheiratet. Wenn auch nicht spürbar verheiratet.
»Und dein Heinrich wird auch zurückkommen, wirste schon sehen. Wie der Theo«, verkündete Erna auf eine Weise, die keinen Widerspruch duldete. »So ein alter Bock wie der Böck braucht eben ein wenig Treibstoff für seine rostigen Eingeweide«, fuhr sie fort, und ihr schrilles Lachen hallte in der Halle nach.
»Aber was, wenn der Vater von der Anna das rausfindet? Dann wird er den Böck bestimmt lynchen … oder mit dem neuen Volkswagen überfahren.«
»Das kannste annehmen. Oder er muss das junge Ding noch am selben Tag heiraten.«
»Das arme Fräulein Anna. Stell dir vor, der macht ihr noch ein Kind. Nicht auszudenken!« Gisela schauderte allein beim Gedanken, mit dem Generaldirektor ausgehen zu müssen. Seine Nase war so riesig, als trüge er den Südturm des Doms im Gesicht. Jedes Mal, wenn Gisela ihm gegenüberstand, musste sie sich zwingen, nicht auf die prominente Nase zu starren … und schaffte es dann doch nie. »Hat der Böck denn nicht schon vier Kinder?«
»Sieben, wird gemunkelt.« Erna stupste sich die Brille zurecht.
»Sieben? Und dabei könnte er in seinem Alter bereits Enkel haben.«
»Hat er auch schon längst, Darling. Der Bart des Direktors kratzt ja schon am Ruhestand. Nicht mehr lange, dann folgt ihm das Söhnchen vom Pering nach. Ein studierter Betriebswirt soll der sein. Ziemlich ehrgeizig, hab ich gehört. Wird also nicht besser werden. Wirst schon sehen. Wird alles so weitergehen. Und der Böck, der muss dann bei seiner bitteren Frucht zu Hause bleiben und der Süßen bei uns in der Versicherung abschwören.« Sie beugte sich zu Gisela vor. »Angeblich schlafen der Böck und seine Frau schon lange in getrennten Schlafzimmern.« Erna zog zufrieden einen Mundwinkel nach oben, als würde sie dem Generaldirektor das Keuschheitsgelübde, das seine Ehefrau abgelegt zu haben schien, gönnen.
Gisela staunte. Nicht über das Gelübde an sich, sondern wegen der zwei Schlafzimmer. Sie besaß ja nicht mal eins.
»Du kannst doch mal genauer hinhören, Gisi. Das Fräulein Anna muss heute oder morgen bestimmt mal zum Herrn Generaldirektor verbunden werden.« Erna wischte sich einen Fussel von ihrer blütenweißen Bluse. Zu Recht hegte sie die Hoffnung, Gisela würde ihr später nicht nur die Buttercremetorte, sondern auch den passenden Tratsch zur neuen Liebschaft in der Versicherung servieren. So gesehen harmonierte Erna hervorragend mit den Telefonistinnen, und sie wusste, was sie an ihnen hatte. Die Fräuleins aus der Telefonzentrale bekamen so einiges von den internen Geschehnissen mit. Dazu mussten sie keine großen Anstrengungen unternehmen. Nur sichergehen, dass die Verbindung hergestellt war und etwas länger als nötig in der Leitung zugeschaltet bleiben.
»Psst!«, machte Erna plötzlich. Mit einem Kopfnicken deutete sie zum Eingang der Halle.
Walter Pering trat durch die Tür und nahm seinen Hut ab. Wie immer trug er einen Maßanzug, eine helle Brille und hatte die Haare akkurat nach hinten gebürstet. Mit einem Pfeifen setzte er sich in Bewegung und kam auf den Empfangstisch zu.
»Guten Morgen, Herr Pering«, riefen Gisela und Erna unisono und machten einen kleinen Knicks.
»Meine Damen, den wünsche ich Ihnen auch! Ist ja heute sogar besonders schön«, antwortete er und deutete einen Diener an.
»Frau Eder, hier ist der Dienstplan«, sagte Erna geschäftig und überreichte Gisela eine handgeschriebene Liste, damit es so aussah, als stünde die Telefonistin nicht grundlos an der Rezeption.
Für den Dienstplan kam Gisela tatsächlich jeden Morgen zum Empfang. Eine Telefonistin musste schließlich wissen, welcher Angestellte wann an seinem Platz saß, um die Telefonate ordnungsgemäß verbinden zu können.
»Sie wünschen die Terminliste, Herr Pering?«, fragte Erna und überreichte dem Inhaber eine handgeschriebene Auflistung. Sie war um einiges schöner geschrieben als Giselas Liste, und zwar in einer perfekt geschwungenen Schreibschrift. Erna legte auf die Ästhetik ihrer Handschrift Wert. Einen ähnlich großen Wert legte sie auf den Neuigkeitsfaktor eines Gerüchts. Schließlich war ein Gerücht nur dann von Belang, wenn es noch nicht die Runde gemacht hatte.
Perings Blick flog prüfend über die eingetragenen Termine. »Karl Falkenberg … soso … will wohl endlich sein nobles Kaufhaus Ecke Schildergasse versichern lassen. Recht hat er, der Kerl. Hat wohl eingesehen, dass es notwendig ist, eine ordentliche Feuerversicherung zu haben. Den schicken sie aber gleich zu mir hoch, wenn er aufkreuzt. Nicht warten lassen, Frau Schmitz, verstanden?«
Erna nickte eilig.
»Sonst irgendwelche Vorkommnisse, von denen ich wissen muss?«, fragte Pering an beide Frauen gerichtet und steckte die Liste in seine Aktentasche aus feinstem Leder. Giselas Kollegin Hanni hätte bestimmt die ganze Zeit darauf gestarrt.
»Nein, Herr Pering. Nichts«, sagte Erna und verkniff es sich, von den Dutzend Neuigkeiten zu berichten, die ihr in den letzten Tagen zugetragen worden waren. Aber für solche Themen war Pering nicht empfänglich. Klatsch und Tratsch prallten an seinem Verstand und dem auf das Geschäft gerichteten Fokus wie ein unrentabler Versicherungsfall ab.
Auch Gisela verneinte.
Mit einem kurzen Nicken wünschte er den beiden Frauen einen erfolgreichen Arbeitstag, drehte sich um und schritt pfeifend durch die Halle. Dabei sah er erst auf den Boden, als überprüfe er ihn auf Risse, dann an die Decke, wodurch sich sein Pfeifen verstärkte. Zufrieden nickte er.
Gisela wusste, woran er in diesem Moment dachte, denn er hatte schon oft davon erzählt.
Für Walter Pering war der Fortbestand der Eingangshalle stets ein gutes Geschäftsomen gewesen. Bei Festen sprach er oft davon, dass Gott seine Hand über den Kölner Dom und seine Versicherung gehalten habe, was die Gäste zumeist mit einem aufgesetzten Lächeln quittierten. Vielleicht war es aber tatsächlich ein Wunder, dass die Halle unversehrt geblieben war. Der Lichthof, in dem einst ein Springbrunnen aus Marmor vor sich hin geplätschert hatte, war verschwunden. Ebenso die Arme links und rechts, die vom Atrium in die umliegenden Büros geführt hatten. Zu Kriegsende war eine Fläche mit Trümmern übrig gewesen, die danach lechzte, von den Gesteinsbrocken befreit zu werden. Pering sagte, er habe erleichtert aufgeatmet, kaum, dass die Niederlage Deutschlands verkündet worden war, und sich sogleich auf den Weg ins Friesenviertel gemacht.
Im Schutt habe er gestanden und sich einen Überblick über die Zerstörung verschafft. Dann habe er eine Melodie gepfiffen, die Ähnlichkeit mit Haydns Oratorium Die Schöpfung hatte, und Stück für Stück des zerbombten Marmorspringbrunnens aufgesammelt. Wenige Tage später sei er bei den Alliierten erschienen und habe sie mit seinen perfekten Englischkenntnissen davon überzeugt, dass er kein Mitglied einer nationalsozialistischen Organisation gewesen war. So habe er die Geschäfte rasch wieder aufnehmen können, und die Versicherungsanstalt Pering war das erste deutsche Versicherungsunternehmen, das kurz nach Kriegsende wieder tätig wurde. Und darauf war er stolz, weshalb er die Geschichte immer wieder bei der einen oder anderen Gelegenheit erzählte.
Die neue Belegschaft, die er noch 1945 eingestellt hatte, nahm in improvisierten Büros Platz. Bald danach war auch wieder das Klingeln der Telefone zu hören gewesen.
Für die erfolgreich zustande gekommenen Gesprächsverbindungen im Haus waren die Telefonistinnen verantwortlich, die eifrig ihren Dienst in der Telefonzentrale versahen.
Sieben Fräuleins bemühten sich täglich darum, die Gespräche entgegenzunehmen und zu den Angestellten im Haus durchzustellen. Insgesamt dreiundachtzig Mitarbeiter beschäftigte Pering mittlerweile. Zwar hatte er keinen Lichthof mehr, aber dafür unzählige Pläne im Kopf, wie er das Versicherungsgeschäft in den kommenden Jahren wieder aufbauen wollte. Und so herrschte in den Büros von früh bis spät ein emsiges Treiben. Und das war bestimmt Musik in seinen Ohren. Vermutlich noch besser als die, die er sich gerne in der improvisierten Oper in der Universität mit seiner Hilde anhörte.
Gisela öffnete den Garderobenschrank, nahm ihre Uniform vom Haken und strich sich eine kupferbraune Locke, die ihr vor die Augen gefallen war, hinters Ohr. Die sanften Wellen schmeichelten ihrem ovalen Gesicht und umrandeten die kleine Kerbe an ihrem Kinn.
Sie streifte den eleganten dunkelblauen Etuirock über, der am Saum mit einer hellgelben Borte verziert war. Dazu gehörten ein hellblaues Oberteil und ein blassgelbes Halstuch mit blauem Muster, das Gisela immer locker um ihren Hals drapierte. Die Telefonistinnen machten häufig Scherze darüber, dass sie nach den Farben des Deckenmusters der Eingangshalle eingekleidet worden wären.
Aufgrund der Stoffknappheit, die im ganzen Land herrschte, lag die Uniform eng an ihrem Körper an. Sie brachte Giselas schmale Figur zur Geltung, die sie den harten Hungerjahren zu verdanken hatte. Vor dem Krieg hatte sie ein paar Rundungen gehabt, die Heinrich in trauten Minuten der Zweisamkeit gerne liebevoll mit seinen Lippen erkundet hatte. Doch nun waren nicht nur die Kurven verschwunden, sondern auch die Küsse auf ihren Brüsten, die ihr immer ein sehnsuchtsvolles Wispern entlockt hatten.
Laute Schritte rissen sie plötzlich aus ihren Gedanken. Jemand kam hastig die Treppe hinuntergelaufen. Sie kannte das Poltern und wusste, dass nur eine im Haus dafür verantwortlich sein konnte. Sogleich wurde die Tür zum Umkleideraum aufgerissen, und Hannelore Angersbach stand im Türrahmen.
Ihre gute Freundin Hanni.
»Guten Morgen, Liebes!«
»Ach, so gut ist er heute nicht, Gisi. Trotzdem, dir auch einen guten Morgen.« Sie versuchte, so breit zu lächeln, als wolle sie dunkle Wolken über den Rhein davonschieben, und eilte zu ihrem Umkleideschrank.
»Was ist denn passiert?«
»Ach, nichts …« Hanni seufzte. »Vater ist vorhin erst heimgekommen. Er war mal wieder die ganze Nacht nicht zu Hause«, antwortete sie und schlüpfte aus ihren Schuhen. »Keine Ahnung, wo er sich rumgetrieben hat. Mutter war krank vor Sorge.«
Mit einem knappen Schulterzucken nahm sie ihre Uniform vom Haken. Die blonden langen Haare, die die Farbe eines Karamellbonbons hatten, flogen bei den eiligen Bewegungen mit.
»Und jetzt muss ich am Nachmittag auch noch im Büdchen aushelfen.« In einer perfektionierten Routine stieg sie aus ihrer Hose und zog den Sloppy Joe – einen lässigen Strickpullover – über ihren Kopf.
»Der ist ja schön! Selbst gestrickt?«, fragte Gisela und war wieder einmal von Hannis modischem Auftreten beeindruckt. Hannis Garderobe war aufgrund ihres Einfallsreichtums besser als die Kleider im Modehaus Falkenberg, das vor wenigen Tagen mit Blasmusik an der Hohen Straße, Ecke Schildergasse, eröffnet hatte. Langsam siedelten sich wieder Geschäfte in der ehemals hoch frequentierten Einkaufsstraße an.
Hanni nickte und fuhr mit der Hand über ihren Pullover, als würde sie liebevoll ein Kätzchen streicheln. Gisela schmunzelte, denn sie wusste, dass Hanni lieber über einen edlen Stoff als über eine flauschige Katze strich.
»Woher hast du das Garn?«
»Hab ich mir mit der neuen Mark gekauft«, sagte Hanni und lächelte ein bisschen verlegen. »Ich konnte einfach nicht widerstehen.« Rasch stieg sie in den Uniformrock und zog das dazugehörige Oberteil über. »Eins ist sicher. Sobald der Pering wieder ordentlich Versicherungen verkauft, muss er uns neu ausstatten. Hast du gesehen, was für hinreißende Kleider die Chefsekretärinnen neuerdings tragen? Zwei Lagen Stoff sind da verarbeitet, mit Sicherheit. Wenn nicht sogar drei. Da hat der Pering tief in die Tasche gegriffen.«
»Ja, richtig dekadent. Schämen sollen sie sich für ihr hübsches Aussehen!«
Gisela und Hanni lachten.
»Du hast gut daran getan, dich als Sekretärin zu bewerben. Vielleicht sollte ich das auch machen. Allein schon wegen der hübschen Kleider.« Hanni stellte sich vor den kleinen Wandspiegel. Sorgfältig schlang sie das Tuch um ihren schmalen Hals, doch das Ergebnis gefiel ihr nicht. Also nahm sie es noch einmal ab und legte es erneut an.
»Eigentlich ist das wirklich ungerecht. Wir können ja schon froh sein, wenn wir die Uniform nicht tausend Mal flicken müssen«, sagte sie, als sie es endlich geschafft hatte, das Halstuch so zu drapieren, dass das blaue Muster vorne war, damit es ihre blaugrüne Augenfarbe unterstrich.
»Bei uns zählt eben die Stimme und nicht das Aussehen.« Gisela zuckte mit den Schultern.
»Ich mag es aber, wenn du gut aussiehst.«
»So geht’s mir auch mit dir.« Giselas Mundwinkel wanderten nach oben.
»Als Draufgabe zu unserem mickrigen Lohn wären zumindest ein paar schicke Schuhe fein«, fuhr Hanni fort, während sie in die Schnürschuhe stieg, die Gisela immer an Herrenschuhe erinnerten. »Schuhe aus feinstem Leder, mit einem schönen Absatz, damit es ordentlich klackert und jeder weiß, dass da ein Fräulein aus der Telefonzentrale kommt, wenn wir durch die Eingangshalle schreiten.« Hanni zog den Reißverschluss hinten am Rock hoch. »Und einen Petticoat. Bei Falkenberg gibt’s jetzt einen. Aus versteiftem Perlonstoff, mit rüschen- und spitzenverzierten Stufen! Davon kann ich nur träumen. Hach … Du hast ihn bestimmt schon gesehen!«
Gisela verneinte, woraufhin Hanni ihr einen Blick zuwarf, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf.
»Ich hab eine Stunde davorgestanden und ihn angestarrt. Solltest du auch mal machen. Danach fühlst du dich um Welten besser. … Dunkelblau kann die neue Uniform schon sein, damit der Pering seine Farbe bekommt. Meinetwegen. Aber mit feiner Spitze am Saum. Und eine weiße, gestärkte Bluse! Damit wir wie richtig elegante Fräuleins aussehen, die wir in Wahrheit ja auch sind«, sagte Hanni und nahm ein Paar Häkelhandschuhe aus ihrer eleganten schwarzen Handtasche, die sie mit Gänseblümchen bestickt hatte, auf deren Blütenköpfen sie weiße Perlen angebracht hatte.
Gisela wusste, dass Hanni bereits eine fertige Skizze einer neuen Uniform für die Telefonistinnen in der Schublade hatte. Nun musste sie nur noch die Courage aufbringen und sie dem Pering oder dem Böck auf den Tisch legen. Doch ihr Mut brauchte ebenso viel Zeit, um zu wachsen, wie die Kleiderideen in ihrem Kopf.
Mit der notwendigen Andacht zog Hanni ihre gehäkelten Handschuhe über, die mit der Farbe des Halstuchs harmonierten. Die Spitzenhandschuhe waren ihre persönliche Erweiterung der Uniform, für die sie mittlerweile in der Versicherungsanstalt bekannt war. Oft wurde sie gefragt, wo sie sie gekauft habe. Dann lächelte sie immer etwas schüchtern und erwiderte: »Selbstanfertigung. Nähatelier Angersbach.«
Am Anfang hatte die Aufseherin Gudrun es Hannelore untersagt, die Handschuhe während der Arbeit zu tragen. Hanni hatte versucht, es wegzulächeln – hatte jedoch keine Verbindung mit ihr herstellen können. Seitdem verschwendete sie auch kein Lächeln mehr an Gudrun.