Die Tieferen 8 - Manus Braith - E-Book

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Manus Braith

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Beschreibung

Das Rennen der Hornzwerge, Teil 2. Dieses Buch ist der achte Band der Abenteuer von James Tannot in der geheimen Gemeinschaft “Cymdeithas”, die seit Jahrhunderten am Rande der Allgemeinheit steht und für das Gute in dieser Welt kämpft. Dieser Band eignet sich nicht zum Quer-Einsteigen, sondern bedingt solide Vorkenntnisse in der Welt der Cymdeithas. Er führt nahtlos dort weiter, wo ich mit meinem Bericht in Band 7 (Das Rennen der Hornzwerge, Teil 1) aufgehört habe.In diesem Buch stehen sowohl das Rennen, als auch die Interludien im Vordergrund. Es schildert das Ende des ersten Ausbildungsjahres und legt das Fundament für das Verständnis der weiteren Jahre meiner Ausbildung, über die ich in den nächsten Bänden berichten werde.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Manus Braith

Die Tieferen 8

Das Rennen der Hornzwerge, Teil 2

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorwort

Vorwort

 

Leider musste ich den letzten Band - wie fast schon eine Gewohnheit - abrupt an ungnädiger Stelle beenden. Man mag sich vielleicht besinnen, dass ich auf einem Planeten gestrandet war, weil Dimitri und Hmer mich in ein schwarzes Loch geschubst hatten; figurativ gesprochen. 

 

Nun, hier geht die Geschichte weiter. 

Ich war mitten im Cystadleuaeth, welches zu gewinnen, mein Grossvater mir nah ans Herz gelegt hatte. Scheinbar erhielt man dadurch etliche Privilegien und Zugang zu geheimen Gemeinschaftsdingen. 

Als ob man als Gemeinschafter nicht schon genug privilegiert wäre. Aber die Sache sah nicht gut aus. Näheres entnehme man den folgenden dreihundert Seiten.

 

In diesem letzten Band, der sich mit mir als Erstklässler auseinandersetzt, müssen natürlich wiederum auch andere Geschichtsstränge berücksichtigt werden: 

 

Die Geschichte der beiden Mädchen, Melanie und Melinda, muss weiter ins Ganze hinein geknüpft werden. Die Schwarzen Schlangen und ihr krankhafter Versuch die Gemeinschaft mit einem grossen Pausenzeichen über dem eine endlose Fermate schwebt, auszulöschen.Die Geschichte der Lledrith an sich, mit all ihren Vertretern wie Chandrith, Kuchtar und Kuchtär, und wie sie sonst alle heissen mögen - obwohl gänzlich unwichtig, wie mir schon in der ersten Unterrichtswoche versichert wurde - muss weiter erzählt werden. 

 

Und dann gibt es neue Akteure, die eingeführt werden müssen. Es gibt viel zu tun. Kommen wir zur Sache.

 

James Tannot, Aberystwyth 

Im November

 

 

Interludium

 

Interludium

 

 

Das Buch fiel ihm auf die Nase. Er war wieder einmal eingeschlafen. Es war fast so etwas wie eine all abendliche Standardsituation, dass der harte Kartoneinband des Wälzers ihm auf den zarten Riecher plumpste. Und meist war er danach nicht mehr müde, weil das plötzliche heftige Aufwachen irgendein Alarm-Hormon in ihm freisetzte, welches ihn wach machte.

Jim sass auf. Und dann waren die Gedanken plötzlich wieder dort, wo sie schon seit Tagen weilten.

Sollte er es tun? Oder würde er sich damit noch mehr zum Narren machen? Die Sache beschäftigte ihn enorm. Er war mittlerweile der Einzige in der Redaktion, der die Briefe überhaupt noch las. Und das alleine amüsierte seine Kollegen bereits bestens. Wenn sie dann herausfinden würden, dass er der Sache tatsächlich einen gewissen Glauben schenkte, dann würde er sich damit ganz lächerlich machen. Aber er war ein Kind seiner Zeit: mit Harry Potter und Eragon gross geworden und in Star Wars-Spielen auf seinen Konsolen ein Kämpfer für das Gute gewesen. Konnte er wirklich reinen Gewissens ignorieren, was die Frau da fast jede Woche in ihren Briefen schrieb? Was, wenn sie keine Spinnerin war, und da draussen eine Welt auf ihn wartete, von der er seit seiner Kindheit träumte? Immerhin hatte sie einen Doktortitel in Molekularbiologie, das hatte er überprüft. Und zwar von keiner kleinen unbedeutenden Universität. Und sie hatte weder eine kriminelle Akte noch eine psychiatrische Einweisung in ihrer medizinischen Mappe, die er sich illegitimerweise durch einen Gefallen hatte beschaffen können.

Nein, er konnte es nicht lassen. Er musste es tun.

Es war zwar fast Mitternacht, aber wenn die Frau tatsächlich zu einem Clan von Meistern gehörte, würde sie ein so später Anruf kaum ins Bockshorn jagen. Und laut ihren Briefen musste sie heftigeres als Mitternachtsanrufe erdulden, seit sie zu dieser Gemeinschaft gehörte. 

Jims Handy lag auf dem Küchentisch. Die Nummer, welche Frau Rosenstein im letzten Brief erwähnt hatte, neben dem Telefon. Er hatte sie heimlich auf einen Fresszettel notiert, als niemand hingeschaut hatte. 

Ein letztes Nachdenken mit gerunzelter Stirn. Ein Flattern in den Augenlidern ... dann stand er auf. Er war es sich selbst, dem kleinen Jungen tief in ihm drinnen, schuldig. Mit leicht verkrampftem Griff schnappte er sich sein Telefon und schwups war die Nummer eingegeben. Seine Hand zitterte, als der Rufton erklang. Und dann war es soweit.

„Hallo?“, sagte eine leicht raue Frauenstimme.

Er wollte etwas sagen, aber es kam nichts raus.

„Hallo?“

Er räusperte sich, wenigstens das ging.

„Wer ist da?“

„Mein Name ist Jim Telaney. Ich bin einer der Redaktoren der London Times ...“, stammelte er. Es kam nicht wirklich selbstsicher aus dem Mund, aber immerhin, man konnte ihn verstehen.

„Einer meiner stillen Freunde?“

„Ja. Nicht mehr still, jetzt ...“

„Tatsächlich. Sind Sie in London?“

„Mmh ...“

„Nehmen Sie ein Taxi und treffen Sie mich in der Bar Italia in Soho! Sagen wir in 30 Minuten?“

„Ist die offen, so spät nachts?“

„Die ist immer offen. In einer halben Stunde, ja?“

Dann war Ruhe. Sie hatte aufgelegt.

 

1 Die Suche nach Cyfimiad

 

1

 

Die Suche nach Cyfimiad

 

„Wir brauchen eine innere Rebellion gegen die Faulheit.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 622

 

 

Vor schätzungsweise acht oder neun Stunden war ich aufgebrochen, um Cyfimiad zu suchen und die fremde Welt, in der ich gestrandet war, zu erkunden. Klar, das war mehr eine gefühlsmässige Schätzung, als eine mathematische, aber sie bedeutete, dass meine Muskeln langsam ermüdeten. Das Gehen in dem blauen feuchten Gras war anstrengend und ich war mehr als einmal ausgerutscht und hatte mich wieder aufrappeln müssen.

Zum hundertsten Mal schaltete ich eine kurze Pause ein, um mich umzuschauen. Irgendwo musste es doch etwas geben, das nicht Gras war. Doch soweit meine Augen blickten, ich sah nichts anderes als dieses sich in alle Richtungen ausdehnende Blau. Der Mut, den ich in Relativierungen wie Es geht um die Reise oder Ist doch spannend eine fremde Welt zu erkunden gefunden hatte, war in der Zwischenzeit davon geflogen und liess mich wie einen Schiffbrüchigen zurück. Ich war alleine. Gestrandet in einer fremden Welt fernab meiner Heimat. 

Die Einsamkeit ängstigte mich zwar nicht mehr - diese hatte ich in Gwagedd grundlegend bezwungen, so schien es -, aber die Aussicht hier bis zu meinem kläglichen Verdursten in einigen Tagen herum zu wandern, war eben doch keine, die in mir Sympathie oder Wohlwollen vorgefunden hätte. Vor etwa zwei Stunden hatte ich an dem nach Vanille duftenden feuchten Gras gelutscht, um meinen Durst zu stillen, doch das hatte sich als eine denkbar schlechte Idee erwiesen. Seit diesem Moment hatte sich mein Durst nämlich quasi verdoppelt, als ob die Absonderungen dieser Pflanzen ein Feuer in mir entfacht hätten, das jeden Rest an Flüssigkeit in mir verdampfte. 

Zum dritten Male seit ich losgegangen war, nahm ich das Horn zur Hand und blies es. Vielleicht würde Cyfimiad - wo auch immer er war - den Kontakt zu seiner Behausung wieder herstellen können, indem er Zwergen-Magie anwandte. Doch wie bei den vorigen Versuchen tat sich gar nichts, weder im Horn, noch um das Horn herum. Enttäuscht liess ich das Instrument wieder sinken.

Was sollte das? Konnte es wirklich sein, dass ich in meinem ersten Cystadleuaeth, kaum hatte es begonnen, bereits an einem weit entfernten Ort gestrandet war und auf meinen eigenen Tod warten musste? War es das?Normalerweise hätte man als Gemeinschafter die Hoffnung auf Rettung durch die Achubiad gehabt, doch während des Cystadleuaeths waren diesen genau solche Rettungsmanöver verboten. Nein, während des Rennens war man auf sich alleine gestellt, das heisst, man hatte natürlich seinen Hornzwerg, der einen mit seiner Weisheit aus genau solchen Situationen retten würde ... doch Cyfimiad war weg.

Wieso verwendete Dimitri solch blöde Ideen um das Rennen zu gewinnen? War er sich zu schade dafür uns mit Fairplay zu besiegen? Oder war es der Stolz von Hmer, seinem Hornzwerg, der ihn dazu ermuntert hatte, solche illegalen Dinge zu tun, die ihn zwar vielleicht in den Sieg führten, ihn aber auch, ob er es wollte oder nicht, ob bewusst oder unbewusst, zu meinem Mörder machte. Ich schüttelte erbost die Mähne. Natürlich gab es nichts Illegales in einem Cystadleuaeth, weil alles ausser Magie erlaubt war, aber meiner Meinung nach verstiess er mit seinem Tun trotzdem gegen eine Regel. Nämlich gegen die des gegenseitigen Respekts. Ich würde so etwas jedenfalls nicht tun, sprach ich zu mir selbst. Nein, ich hätte gedacht, dass uns das Erlebnis, dass wir die Gemeinschaft vor dem sicheren Untergang gerettet hatten, so zusammen geschweisst habe, dass wir uns blind vertrauten. Aber nein, er und Hmer griffen uns mit unlauteren Methoden an liessen uns in ein Schwarzes Loch stürzen. So viel zum Thema wahre Freundschaft.

Über mir flog wieder eine kleine Herde Walfische vorbei. Ich blickte den seltsamen Gestalten nach, bis sie nur noch pflaumengrosse Bälle am Himmel waren. Mussten die nicht auch trinken? Flogen die vielleicht zu einem Wasserloch? Mir fiel auf, dass all die Giganten die gleiche Richtung anpeilten. Mangels anderer Alternativen begann ich den fliegenden Riesen zu folgen. Vielleicht konnte ich das Verdursten ja noch umgehen? Nichts war in Blei gegossen, so viel hatte ich in meiner Ausbildung bereits gelernt. Hatte jemand eine Krankheit, gab es so lange eine Chance sie zu überleben, wie man noch nicht tot war. Beispiele dafür gab es für diejenigen, die recht zu suchen wussten, massenhaft. War man in einer brenzligen Situation, hiess das noch lange nicht, dass sie ausweglos war.

Ich folgte also den Gestalten am Himmel bis sie am Horizont verschwunden waren und ging danach weiter in dieselbe Richtung. Aber auch nach weiteren vier Stunden Fussmarsch hatte sich die Landschaft nicht verändert. Überall blaues Gras, wohin ich auch blickte. Und langsam glaubte ich zu bemerken, dass der intensive Vanilleduft meine Sinne zu betören begann. Das musste ja eine Wirkung haben, dass ich gezwungen war diese - zwar nicht unangenehmen, aber eben doch potenten - Düfte einzuatmen. Ich begann abzudriften, mich in meiner Innenwelt zu verlieren. Graduell und langsam, aber deutlich. Es fing damit an, dass ich überlegte, was Manush wohl gerade tat, und avancierte dann zu einer regelrechten Orgie in meiner Fantasie. Ich verstrickte mich so sehr in diesen extrem realen Vorstellungen, dass ich irgendwann vergass weiter zu gehen. Die Füsse hörten einfach auf sich fort zu bewegen und ich fantasierte an Ort und Stelle. Die innere Welt einer intimen Begegnung mit Manush war einfach attraktiver als die äussere Welt dieses endlosen Blaus, und es gab keinen wirklichen Grund aus dieser Fantasie flüchten zu wollen. Die Wirkung des Vanilleduftes setzte meinen Frontallappen schachmatt, ohne ihm einen weiteren Spielzug zu erlauben. Ich weiss noch, dass mir irgendwann der Gedanke kam, dass es sich um eine Art Vergiftung handeln könnte, und dass ich halluzinierte, aber diese Erkenntnis besass die Attraktivität einer verschimmelten Apfelsine, lockte mich keineswegs zurück in die Realität. Und dann, irgendwann, muss ich eingeschlafen sein.

 

Als ich aufwachte, Augen immer noch geschlossen, hörte ich Vogelgezwitscher. Zwitschernde Walfische?, war mein erster Gedanke. Ich zog meine Augenlider hoch, als handle es sich um Zugbrücken. Sie waren schwer und machten einen Krach, als bestünden sie aus Altmetall und nicht geölten Scharnieren. Was sollte jetzt das? Ich schaffte es gerade einen kleinen Blick zu werfen, da krachten die Lider wieder herunter und wirbelten dabei einen solchen Staub auf, dass ich sowieso nichts mehr gesehen hätte. 

Ich lag also mit geschlossenen Augen da und wartete bis sich der Staub wieder gesetzt hatte, während ich zwanghaft zu verstehen versuchte, wie es kam, dass meine Augenlider plötzlich aus Metall waren und wieso sie beim Schliessen Staub aufwirbelten. Dann hörte ich eine raue Stimme.

„Lichtet den Anker!“, schrie sie.

Und als Antwort bellten etwa zehn Männer Yes, Sir!    

Ich spürte in meinem Bauch, wie jemand den Anker an Bord zu ziehen begann, und weiss noch, dass ich das als angenehm prickelnd empfand.

„Saupack! Wird‘s bald? Oder muss ich euch die Rationen halbieren?“, schrie der Raue.

„Nein, Sir!“, die Antwort. Dann hörte ich ein lautes Hau Ruck Hau Ruck und kurz darauf war der Anker an Bord, sicher in meinen Gedärmen verstaut. Das tat gut. Es war schön wieder komplett zu sein.

„An die Waffen, ehrenwerte Männer! Wir kapern diesen Flugzeugträger dort vorne und dann kann Theo Vaal mit uns ein Wettrudern machen, das er kläglich verlieren wird.“

„Gegen diese Hubschrauber hat er keine Chance!“, antwortete ein kleines Mädchen.

„James!“, rief ein anderes Mädchen.

„Ja?“, antwortete ich, doch dann wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich ja ein Schiff war und kaum gemeint sein konnte. 

Das eine Mädchen, so wusste ich, war die Tochter des Kapitäns, aber das andere Mädchen? Wer war das? 

Ich spürte wie der Kapitän an meinem Steuerrad herum riss und mein ganzes Schiff in eine Backbord-Lage brachte. Diesen Flugzeugträger werden wir locker bezwingen, sagte ich zu mir selbst. Ich wusste zwar, dass ich viel kleiner als der Stahlriese und dass ich vorwiegend aus Holz gefertigt war, aber das verunsicherte mich nicht. Ich konnte auf meine Crew zählen! Die Männer hatten sich auch als Feuerwehrmänner immer bewährt. Wieso sollten sie gegen Hubschrauber verlieren?

„James!“, rief das Mädchen wieder. 

Wer war dieses Mädchen? Es war nicht die Tochter des Kapitäns, das wusste ich. Nein, dieses Mädchen war ziemlich sicher ein blinder Passagier. Ich dachte zurück an meine Zeit im Hafen. Hatte jemand Unbefugtes seinen Fuss an Deck gesetzt?

„James, mach die Augen auf!“

Wusste das Mädchen nicht, dass meine Augenlider Öl brauchten? Wieso musste ich die Zugbrücken schon wieder aktivieren? Hatte der Staub vorher nicht gereicht? Wollte sie wirklich die ganze Welt staubig machen? Das machte doch keinen Sinn. Wieso verlangte das Mädchen solch dummes Zeugs von mir? Und was würde der Kapitän sagen, wenn ich mitten in einem Angriffsmanöver die Zugbrücken hochziehen würde? Nein, das konnte ich nicht tun. 

„James, es ist nicht echt. Erinnerst du dich an Kjerch?“

Die Stimme des Mädchens wurde tiefer, verformte sich in einer seltsamen Weise. 

„James, wach auf. Öffne deine Augen, Erstklässler!“

Wer war James? Ich war ein Schiff mit Zugbrücke! Oder nicht?

„Augen auf, Erstklässler! Reiss dich zusammen, James!“

Was sollte das James Geschwafel? Erinnerungsfetzen eines fremden Lebens zogen an meinem Horizont vorbei. Verbotene Reisen in die Vergangenheit zu einem Grossvater der Arzt war. Wer war James? Etwa ich? Was wurde aus dem Kapitän und den Männern, wenn ich James war? Konnte ich sie einfach so sich selbst überlassen? Wurde ich dadurch nicht zum Mörder? 

„Angriff!“, schrie der Kapitän und was auf diesen Befehl folgte war ein Schreien, das die pure Leidenschaft für den Sieg nicht deutlicher an den Tag hätte legen können. Ich spürte wie eine Unzahl von Füssen über meinen Bretterboden trampelte. Bei genauem Hinhorchen konnte ich sogar das ungefähre Gewicht der einzelnen Männer eruieren.

„James, denke an dein Tair Fraich-Training. Durch die Kreuzung findest du dich selbst! Fokus, James!“, sagte die Stimme, von der ich jetzt nicht mehr wusste, ob sie einem Mädchen gehörte oder vielleicht doch einem alten Mann. Aber was die Stimme verlangte, machte Sinn. Schiffe trainieren kein Tair Fraich, da war ich mir recht sicher. Und doch hatte ich die klare Erinnerung in mir, dass ich mich in dieser Disziplin geübt hatte. War ich kein Schiff? Wieso spürte ich dann die polternden Füsse und wie sich sich beim Entern des Flugzeugträgers von meiner Reling abstiessen? War ich zweierlei? Ein Schiff namens James? Ein James namens Schiff?

„James! Wir können nicht weiter fliegen, wenn du nicht aufwachst! Du würdest sofort vom Horn fallen und dann haben wir verloren! Jetzt nimm dich endlich zusammen!“. insistierte die Stimme.

Ich wollte tief durchatmen, stellte aber fest, dass das nicht notwendig war, weil ich so schon genügend Luft in mir hatte. 

Dann öffnete ich die Augen. Und diesmal wirbelte diese kleine Bewegung keinen Staub auf.

Vor mir stand Cyfimiad mit verzweifeltem Ausdruck im Gesicht.

„Siehst du mich?“, fragte er. Er winkte grossflächig mit den Armen.

„Cyfimiad?“, stammelte ich.

Dann klopfte er mir mit seiner kleinen Hand auf den Brustkasten.

„Gut! Halt dich fest. Wir müssen Dimitri und Hmer einholen. Die haben jetzt mindestens zehn Minuten Vorsprung.“

Ich blickte um mich. Überall um mich das Schwarz des Weltalls übersät mit weissen Tupfen. Unter mir der Sattel des Horns im Cystadleuaeth-Modus. Ich war kein Schiff. Und ich war auch nicht auf einem Planeten mit fliegenden Walfischen und blauem Gras. Hier gab es keinen Vanille-Duft.

Die Erinnerung holte mich wie ein Düsenjet ein. Ich war James Tannot, Erstklässler in der Gemeinschaft und drauf und dran das Cystadleuaeth zu verlieren, wenn ich mich nicht sofort ganz fest am Lenker festkrallte. 

Und ich war Kjerch auf den Leim gegangen. Wie auch immer das vor sich gegangen war. Wir waren doch in ein Schwarzes Loch gefallen und ich war auf Grund der enormen Geschwindigkeit dort ohnmächtig geworden ... oder nicht?

 

1½ Sergej macht sich auf

 

 

Sergej macht sich auf

 

Oder: Alles ist genau so, wie es scheint.

 

 

 

Sergej öffnete die Email, die sich soeben mit einem leisen Bling angekündigt hatte. Es war Tage her, dass er Ferdinand den Auftrag erteilt hatte. Tage her, dass er das Geld überwiesen hatte. Natürlich, es war kein alltäglicher Auftrag gewesen, das hatte die Sache sicherlich erschwert, weshalb es wahrscheinlich so lange gedauert hatte. Jedenfalls galoppierte sein Herz freudvoll in seiner Brust, als er den Namen des Absenders las. 

 

Von: Ferdinand Tracking Services SA

 

Werter Kollege Sergej

 

Das ist ja ein recht komplexer Auftrag, den du mir da untergejubelt hast. Ich hätte dir mindestens das Doppelte abknöpfen sollen!

 

Nun, nach langem Suchen, unter Einbezug von tausenden von Rechnern auf der ganzen Welt, haben wir dir deinen Mann ausfindig gemacht.

 

In diesem Moment konnte Sergej einen kleinen Freudenjauchzer nicht unterdrücken. Sie hatten ihn gefunden! Seine Augen sprangen sofort zu dem Teil des Emails, wo die Koordinaten des Aufenthaltsorts des Mannes festgehalten waren. Und drei Sekunden später hatte Sergej diese bereits bei Google Maps eingegeben.

Der Mann wohnte also in Indonesien. Das war prächtig, weil Sergej Jahre in Indonesien verbracht hatte und nur beste Erinnerungen an das Land und seine wunderbaren Inseln hatte. Dort wieder einmal an einem Palmenstrand zu liegen und die Señoritas bewundern, was konnte man sich mehr wünschen? Arbeit und Vergnügen zur selben Zeit; besser konnte man das Leben nicht leben. Es war aber auch deshalb prächtig, weil er dort vor Ort beste Beziehungen zu lokalen Verbrechern hatte. Insbesondere an Juanito hatte er warme und freundschaftliche Erinnerungen. Juanito, den Schneider, der keine Kleider schnitt. So las sich sogar der Slogan auf seiner Visitenkarte.

 

Juanito Tan 

 

- für alles, was geschnitten werden kann. 

Der Schneider, der keine Kleider schneidet.

 

... und dann kam die Telefonnummer. Sergejs Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Der Kerl hatte wirklich Humor.

Dann fokussierte er wieder auf den Bildschirm vor sich. Der Buschmann verweilte also auf einer mittelgrossen Insel und zwar mitten im Dschungel. Das bedeutete, dass Sergej sicher Hilfe anheuern musste. Die Dschungel in diesen Breitengraden waren nichts für Stadtmenschen, wie er einer war. Dort gab es allerlei Schlangen, mit denen Sergej nichts anfangen konnte, und sogar den kleinsten Tiger der Welt, den Sumatra Tiger, dem er aber auch nicht unbewaffnet über den Weg laufen wollte. Nein, er würde Juanito und einige lokale Kopfgeldjäger anheuern müssen.

Sergej schüttelte seinen Kopf. Wie konnte jemand nur so dumm sein und ihm - Sergej, dem genialen Waffen-Erfinder - sein Kleinod stehlen? Wusste der Buschmann denn nicht, dass das einem Todesurteil gleich kam? 

Oder hatte er selbst es vielleicht versäumt, seinen Ruf aufrecht zu erhalten? 

Es stimmte natürlich: Die Morde, welche er in den letzten zwei Jahren verübt hatte, waren im Stillen über die Bühne gegangen und hinterliessen - Dank seiner Erfindung - nur ein wenig Schleim am Boden. Ja, vielleicht hatte er seinen Ruf insofern ein klein wenig vernachlässigt. Dann konnte der Buschmann tatsächlich nichts dafür, dass er ihn beraubt hatte. Das Stehlen an sich wollte Sergej niemandem anlasten; es war eine ehrenwerte Tätigkeit, der er, als er noch im Militär diente, selbst nachgegangen war. Das Stehlen bedurfte vielerlei Vorbereitungen und eines scharfen Verstandes, der die Imponderabilien so gut wie möglich bedachte. Und insofern war er dem Buschmann nicht böse; er hatte einfach den falschen Mann bestohlen, sein Opfer vielleicht ein klein wenig zu oberflächlich recherchiert. Er zuckte mit den Achseln; vielleicht war es ja das Schicksal dieses Mannes, dass er von einem Russen erschossen werden würde. Und es gab keinen besseren Tod, als durch einen waschechten Russen in die nächste Welt geschickt zu werden.

Sergej loggte sich auf seinem Reiseportal ein, wo er all seine Flüge und Hotels jeweils buchte.

Zehn Minuten später war der Flug nach Indonesien gebucht.

Der Rest des Tages hatte in intimer Weise mit Wodka zu tun.

 

2 Das Cystadleuaeth - Unerwartetes

 

2

 

Das Cystadleuaeth - Unerwartetes

 

„Faulheit ist eine Blockade im Lebendigen. 

Kein Wesen ist freiwillig faul.“

 

Callineb Elwedig, Adnod 623

 

 

Ich musste mich am Lenker festkrallen wie noch nie zuvor. Okay, das hab ich sicher schon mal behauptet, aber die anderen Male hatte ich übertrieben. Ob es daran lag, dass Cyfimiad wütend war und mir damit eins auswischen wollte, oder ob es eine nüchterne Entscheidung war, die wirklich nur dazu diente, Hmer und Dimitri einzuholen, weiss ich nicht. Jedenfalls brausten wir durch das Weltall wie zwei angetrunkene, wenn auch professionelle, Formel Eins-Fahrer. Nur der Fahrtwind in meinen Haaren fehlte, weshalb sich die Sache wie ein Ritt auf einem sterilen Blitz anfühlte (was durchaus seinen Reiz hat).

Ja, ich war Kjerch auf den Leim gegangen. Aber was hätte ich genau anders tun können? Die Welt, in der ich gelandet war, war so verdammt echt gewesen ... wie hätte ich sie als eine Illusion erkennen können? Schliesslich war ich noch nie auf einem mir fremden Planeten gelandet und wusste daher auch nicht, wie so einer aussah. Wieso nicht blaues Gras mit Vanille-Geruch? Ohne Vergleiche konnte man doch unmöglich echt von unecht unterscheiden. Mein Versagen beschäftigte mich. Ich kaute auf meiner Unterlippe. Das war definitiv etwas, das ich Cyfimiad fragen musste, wo Klarheit keinesfalls schaden würde. Wobei Klarheit selten schadet, denke ich.

Wir ritten also einem Lichtblitz gleich durch das Weltall. Und obwohl es möglich gewesen wäre, Cyfimiad jetzt in Bezug auf die Illusion zu löchern, entschloss ich mich dazu auf einen besseren Moment zu warten. Jedes Thema hatte seine Zeit, und die Zeit für jenes war nicht jetzt. Stattdessen wollte ich die Stimmung ein wenig auflockern. 

„Wo fliegen wir jetzt hin?“

„Wir müssen deinen Fehler glattbügeln, Dummerchen!“, kam die Antwort.

Dummerchen? Wieso nannte er mich ein Dummerchen?

„Was hätte ich denn anders tun können?“, fragte ich etwas zwischen betupft und seelisch angerempelt.

Und so waren wir mitten in dem Thema, das ich eigentlich hatte meiden wollen, weil es selten half einen ranzigen Zwerg noch ranziger zu machen.

„Du hättest wach bleiben können, anstatt beim ersten Angriffchen in die Illusion hinein zu schlafen ...“

„Und wie bitte hätte ich das getan?“, fauchte ich zurück.

„Wenn der Herr ein klein wenig mehr Grundeln würde, würde er diese Frage nicht stellen.“

Kaltschnäuziger Tonfall.

„Und wenn die Gemeinschaft ein klein wenig besser erklären würde, was dieses Grundeln genau ist, wären die Erstklässler nicht so masslos überfordert.“, antwortete ich nicht minder kaltschnäuzig. Mich für etwas anzugreifen, das ich nicht gemeistert hatte, weil mir nie genau gesagt wurde, um was es eigentlich ging, war unfair. Damit musste ich nicht leben.

Doch Cyfimiad lachte auf.

„War der Herr denn schon mal in der Bibliothek und hat nach den Grundlagen des Grundelns gesucht? He? Oder hat der Herr irgendwann mal seinen Zwerg danach gefragt? He? Nein, der Herr fragt, wie man in den abgeriegelten Trakt des Massut-Turms gelangt. Er gondelt in der Vergangenheit herum, als ob die Gegenwart nicht genug zu bieten hätte. Es ist ganz einfach. Der Herr hat seine Prioritäten falsch aufgefädelt! Das ist es!“

Cyfimiads Tonfall war jetzt anklagend und wütend.

Ich schnaubte, sass aber auf‘s Maul.

Die nächsten zehn Minuten war Ruhe. Ich hatte nicht vor mich weiter beleidigen zu lassen. Und irgendwo in mir spielte ich mit dem Gedanken, dass das mein letztes Cystadleuaeth sein würde. Sei‘s nur, um dem Süchtigen eins auszuwischen. In Gedanken ging ich meine Zeit in der Illusion noch einmal durch. Der Planet mit dem blauen Gras war so echt gewesen, wie je etwas echt gewesen war. Chaotisch war die Welt erst geworden, als ich am aufwachen gewesen war und mich für ein Schiff hielt. Wie absurd! Aber was sagte die enorm reale Welt in der Illusion aus? Sie war genau so real gewesen wie meine Gegenwart jetzt. Wie sollte ich da Illusion von Wirklichkeit unterscheiden können? Mit ein wenig mehr Grundeln? Kaum. 

Ich musste instinktiv an eine Passage aus dem Arsenal der Weisheit von Eleri Haf denken. Du bestimmst deinen Glauben. Dein Glauben bestimmt deine Erfahrung. So hatte Eleri ihr Verständnis von Wirklichkeit in der fünfzehnten Artikelnummer des Arsenals festgehalten. In anderen Worten, ich hatte also daran geglaubt, dass ich auf einem fremden Planeten gestrandet war. Und genau diese Story wurde ja quasi sorgsam eingefädelt, so dass ich garantiert daran glauben würde. Nein, kam ich zum Schluss: Ich war unschuldig. Da würde ein bisschen mehr Grundeln keinesfalls helfen. Aber gut, das von Cyfimiad erwähnte Buch konnte ich mir ja trotzdem holen, wenn das Rennen vorbei war. Schaden würde es nicht.

Als ich also mitten im All über meinen persönlichen Problemen brütete und Cyfimiad schweigend das Horn steuerte, begann ich eine Präsenz neben mir zu spüren. Auf einmal brauste nämlich neben uns ein mit einer Maske bekleideter Mann auf einem Horn. Ich schaute instinktiv zum Hornzwerg hoch, doch auch dieser war maskiert.

„Der Cyfodwr!“, schrie ich.

Doch dann registrierte ich wie der mentale Boden unter mir ins Wanken geriet. War er eine Illusion oder war er echt?

„Ist er echt?“, schrie ich mit den Armen fuchtelnd.

„Du hättest mehr Grundeln sollen!“, sagte der Maskierte. Die Stimme kam mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht einordnen. Und während ich in meinem Gedächtnis kramte, um den Maskierten auf Grund seiner Stimme zu entlarven, verpasste ich doch fast um ein Haar, dass sich das Universum vor mir drastisch zu verändern begann. Wo vor einer Sekunde nur eine Vielzahl von Sternen vor uns gewesen war, befanden sich jetzt plötzlich tausende mit Sattel ausgestattete Schafe, die von kleinwüchsigen bärtigen Männern mit leuchtend roten Haaren geritten wurden.

„Die Fahlrihm!“, schrie der Cyfodwr.

Cyfimiad brachte das Horn abrupt in ein langsameres Tempo und zog es hoch, als sei es ein Motorrad, das jetzt nur noch auf dem Hinterrad fuhr.

Wo das Auge hinblickte, sah ich wütend in die Welt blickende Schafe, die mit ihren Vorderpfoten schabten und scheinbar nur darauf warteten nach vorne preschen zu dürfen. Und die Augen ihrer Reiter waren nicht weniger scharf. Sie blitzten wie frisch geschliffene Schwerter.

„Sind die echt?“, fragte ich Cyfimiad.

„Leider ...“, antwortete dieser.

Ich schaute mich nach der rechten Seite um, wo soeben gerade noch der Cyfodwr gewesen war. Doch von dem gab es keine Spur mehr.

„Und der Cyfodwr? War der auch echt?“

„So echt wie du und ich ... schau dort drüben!“

Cyfi zeigte nach links oben. Ich sah den Cyfodwr in vollem Flug und wie er von hunderten galoppierenden Reitern verfolgt wurde. Sie schwangen Äxte und einige hatten Pfeil und Bogen zur Hand genommen, die sie nun mächtig aufzogen. Einen Augenblick später schwirrten unzählige Pfeile durch den Raum. Der lange Mantel des Cyfodwrs flatterte im luftleeren Raum, was ich nicht nachvollziehen konnte. Wir waren doch im Weltall; wieso also flatterte der Umhang? Und dann bemerkte ich, dass ich die Schafe vor mir mähen hörte. Und die Gestalten schreien. Was war hier los?

„Wieso höre ich die Schafe?“, fragte ich hysterisch. „Hier gibt es doch keine Luft ...“

„Wo immer die Fahlrihm sind gibt es Luft und vieles mehr. Siehst du die Berge dort hinten?“, fragte Cyfi. „Die Fahlrihm nehmen ihre Umgebung überallhin mit; egal, wo sie hingehen: Ihr Tal und die umrundenden Berge gehen mit ihnen.“

„Und die sind gefährlich, diese Fahlrihm?“

„Für dich schon. Für mich nicht. Aber, da wir ein Team sind, schätze ich sie nicht besonders. Sie pflegen die Gemeinschafter, die sie fangen können, zu braten und dann zu essen.“

„Sie sind Kannibalen?“

„Nein, sie essen nicht ihresgleichen. Aber sie essen Menschen. Und insbesondere gerne Gemeinschafter. Hat irgendetwas mit dem Tair Fraich-Training zu tun, das die Muskeln scheinbar besonders zart macht.“

Plötzlich erschien mir die Flucht des Cyfodwrs viel wichtiger. Das war kein Spiel. Der Mann flog um sein Leben. Weiter konnte ich dann aber nicht mehr denken. Cyfimiad riss das Horn herum und düste in die gleiche Richtung wie der Cyfodwr davon.

„Halt dich fest, James!“, schrie er.

Gemeinschafter wurden gefangen genommen und gebraten, klangen seine Worte in mir nach. Da war mir das  Gestrandet-Sein auf einem Vanilleplaneten doch gleich wieder sympathisch. Trotzdem hatte es etwas beruhigendes zu wissen, dass es sich für einmal nicht um eine Illusion handelte, da Cyfimiad bei der Flucht ruderführend war. Wenigstens war der Feind diesmal real.

Wir sausten also durchs Weltall. Nur hatten wir diesmal gehörig Gepäck. Es war ein markerschütterndes Getöse, das hinter uns losging. Schreie purzelten übereinander, Trommeln wurden geschlagen, Trompetenfanfaren gepustet, und dann flogen auch in unsere Richtung Speere, Pfeile und Äxte. Wie auch immer diese kleinwüchsigen Herren es schafften ihre Kriegsgeräte so weit zu schleudern; jetzt wäre ich um einen Wreduk sehr dankbar gewesen. Aber solche Dinge waren im Rennen ja verboten.

„Aber sie erwischen die Gemeinschafter normalerweise nicht, oder?“, schrie ich nach hinten.

„Nein, nicht immer. Aber manchmal schon. Ich sagte dir doch, dass in jedem Rennen einige Gemeinschafter ihr Leben lassen müssen ...“

Ich schluckte leer.

„Und einige davon werden gebraten?“

Cyfimiad antwortete nicht. Stattdessen konzentrierte er sich auf den Flug, was mir natürlich recht war. Doch dann wurden wir plötzlich langsamer. Drei Pfeile sausten nahe an meinem rechten Ohr vorbei.

„Cyfi? Was ist los? Du musst schneller fliegen!“

„Ich fürchte, wir sind nicht all ihren Schlingen ausgewichen ...“

„Was heisst das?“, fragte ich, wobei mir meine Stimme fast den Dienst versagte. 

„Du wirst kämpfen müssen!“

Ich bin sicher Cyfimiad hätte noch mehr gesagt und mich nicht einfach im Ungewissen gelassen, doch einen Moment später wurde ich vom Horn gerissen und grob in eine Decke gewickelt, so dass ich nichts mehr sehen konnte. Mein Tastsinn zählte sieben Hände, die mich kurz darauf holprig weg trugen. Wo auch immer hier der Untergrund war.

Ich wäre natürlich stolz, wenn ich mehr über die Reise bis ins Dorf der Fahlrihm berichten könnte, aber ich verlor das Bewusstsein einige Sekunden später und schützte mich so selbst vor unschönen Zukunftsvisionen. 

Wie viel Zeit verstrichen war, als ich wieder zu mir kam, weiss ich nicht. Ich lag alleine in einem abgedunkelten Raum auf einem Bretterboden. Es war aber keineswegs still. Ich hörte röhrendes Gelächter, klapperndes Geschirr und von weiter her Töne aus einer Mundharmonika. Sofort wanderten meine Hände zu meinen Füssen. War ich gefesselt? Gott sei Dank, schien man das nicht als nötig befunden zu haben. Ich erhob mich blitzschnell, es gab keine Zeit zu verlieren. Mit ausgestreckten Armen tastete ich mich voran und ging Schritt für Schritt dem einzigen kleinen Fenster, das mit einem Vorhang verhangen war, entgegen. Doch dann stolperte ich über etwas am Boden und fiel der Länge nach hin. Das Etwas stöhnte und murmelte dann vier Worte.

„Wo verdammt bin ich?“

Ich kannte die Stimme nicht.

„Wer bist du?“

„Dein Albtraum. Der Gewinner des Cystadleuaeths. Und wer bist du?“, kam die kecke, wenn auch immer noch beduselt gesprochene Antwort.

„Ich bin der wahre Gewinner. James Tannot ...“

„Ein Erstklässler?“

„Fast Zweitklässler ... und in welcher Klasse bist du?“

„Fast Vierte. Und dass ich von den Fahlrihm gefangen geworden bin, behältst du für dich, ja?“

Dass es auch Gemeinschafter gab, die mir auf den Keks gehen würden, wurde mir in eben diesem Moment klar.

„Und wenn nicht?“

„Dann gibt‘s Haue, Erstklässler.“

„Und so was will Arzt werden? Willst du dich nicht erst mal um deine Aggressionen kümmern, bevor du das vierte Jahr antrittst?“

„Wer sagt ich sei ein Meddyg, Kleiner?“

„Was bist du dann, du Grosskotz?“

„Ich bin ein Heriwr! Aber als Erstklässler weisst du wahrscheinlich noch nicht mal was das ist, nicht wahr, Baby?“

Der Typ hatte eindeutig nicht alle Tassen im Schrank. Wie konnte man in einer so brenzligen Lage sein und anstatt sich mit seinem Mitgefangenen zu verbünden, ihn beleidigen und sich neue Feinde schaffen? Ich dachte kurz an Leonardo und wie er immer sagte, man müsse sich das Problem anderer Menschen nicht zu eigen machen. Psychologisches Tair Fraich hatte er diese Haltung genannt. Und genau dieses Tair Fraich gedachte ich anzuwenden. Es war nicht meine Aufgabe das Geschirr in seinem Schrank aufzufüllen. Sollte er doch dezimiert durch sein Leben schreiten; ich jedenfalls würde kein Geld für Tassen ausgeben.

„Mach mal Platz, du Robbe!“, fuhr ich ihn an und stieg dann über ihn drüber, weil er immer noch am Boden lag.

Doch anstatt mich zum Fenster gehen zu lassen, klammerte der Trottel sich jetzt an meinem rechten Fuss fest und brachte mich so zu Fall.

„Bist du denn jenseits von jeglichem Verstand?“, schnauzte ich ihn an.

„Die Robbe kann Kung-Fu!“, erwiderte er aber nur und verdrehte mir den Fuss.

„Aua! Willst du mir das Fussgelenk brechen?“

Er erhöhte den Druck. „Wieso nicht? Wenn es sein muss, breche ich dir jeden Knochen im Leib!“

Das war zu viel. Ich holte aus und betonierte dem Spinner einen scharfen Fauststoss auf‘s Kinn.

„Wer Leid sät, soll den Donner spüren!“, kommentierte ich   trocken.

Er lies los und drehte sich weg.

„Das soll ein Donner sein, du Mücke?“, lächelte er.

Die Galle begann in mir zu kochen. Einfach nicht beachten, sagte ich zu mir selbst. Ausblenden! Ich stand auf und tat die letzten zwei Schritte bis zum Fenster. Mit zwei Fingern schob ich den Vorhang zur Seite. Den Spinner würdigte ich keines weiteren Blickes.

Das Haus, in dem wir festgehalten wurden - oder war es ein Gefängnis? - stand etwas abseits des Dorfs. Links neben unserem Gebäude schien es Wald zu geben und hinter der Wiese, auf der die Feier stattfand, sah man die Konturen eines Dorfs mit im Sternenlicht rauchenden Kaminen. Rechterhand grasten die Schafe, die ich jetzt genauer erkennen konnte. Ihre Augen waren mehr nach vorne gerichtet als bei irdischen Schafen, und das Fell an ihrem Hals war nicht wollig, sondern mutete mehr wie die Mähne eines Löwen an. Sie sahen bedrohlich aus.

Ich war zwar sicher, dass sie mich nicht sehen konnten, aber sie schauten wie hungrige Wachhunde, die auf den nächsten Eindringling warteten, den sie zerfleischen konnten. Ihre Blicke kämmten die Umgebung ab, als lauere der Feind hinter jedem Grashalm.

„Wir müssen nach links flüchten ...“, hauchte ich dem Spinner zu.

Dieser jedoch seufzte nur.

„Du dummer Möchtegern-Arzt! Hier gibt es nichts zu flüchten. Die Fahlrihm leben auf einer Insel, die im Kosmos umhertreibt. Der einzige Fluchtweg wäre ein Mynedfa, und dann würdest du die Regeln des Rennens brechen und du hättest verloren, Dummerchen. Es gibt nur einen Ausweg aus dieser Misere: Du musst den Kampf annehmen und dann ein klein wenig härter zuschlagen als bei mir vorher.“

„Welchen Kampf annehmen?“

„Bevor sie dich braten, wollen sie dass du deine Muskeln brauchst, also fordern sie dich zum Kampf heraus. Wenn du gewinnst, wirst du frei gelassen, wenn du verlierst, wirst du gebraten.“

„Was für ein Kampf?“

„Faust gegen Faust, oder Keule gegen Keule. Die Wahl überlassen sie meist den Gefangenen. So sagen jedenfalls die Wenigen, die von den Fahlrihm zurück gekommen sind. Tja, Kleiner. Fürchte dein Leben endet hier inmitten des grossen Nirgendwo.“

„Du weisst wahrscheinlich nicht, wer mein Hornzwerg ist, nehme ich an?“

„Spielt keine Rolle. Die Fahlrihm sind HZR ... hier kommt keiner hin. Alles abgeschirmt.“

„HZR?“, fragte ich.

„Horn-Zwergen-Resistent, du Pfeife!“

Das wäre wohl der Zeitpunkt gewesen, wo ich ihm den zweiten Donnerschlag auf den Kiefer platziert hätte. Doch in dem Moment wurde die Türe aufgerissen.

Drei bärtige kleine Männer, alle vielleicht so gross, dass ihre Scheitel bei mir auf Schlüsselbeinhöhe kamen, betraten unbewaffnet das Innere des Zimmers. Sie trugen Fackeln, so dass ich jetzt das Gesicht des Spinners sehen konnte. Sofort machte sich in mir eine gewisse Enttäuschung breit. Das war ein echter Bubi, wie er im Buche steht. Starke Brille, schmale Schultern, nervöser Blick, dünne Gliedmassen und eindeutig schwächlich. Dazu war er bleich und hatte rot unterlaufene Augen, als sei er mit dem bisherigen Verlauf des Cystadleuaeths gehörig überfordert.

„Seid ihr bereit für euer Ende, Gemeinschafter?“

„Metzelt euch doch gegenseitig ab, ihr Penner!“, sagte der Bleiche.

„Du bist ein Heriwr?“, fragte der Mittlere der Männer.

„Und du ein Tintenfisch, du gebratene Zahnspange?“

Der Mann ging nicht auf die Beleidigungen ein; vielleicht wusste er auch nicht, was eine gebratene Zahnspange war. Stattdessen ging er zu meinem Mit-Gemeinschafter packte ihn am Oberarm und zerrte ihn aus dem Zimmer. Er setzte sich nicht zur Wehr, sondern ging brav mit, wenn er auch den Fahlrihm weiter beleidigte.

„Wieso trägst du kein Flohhalsband, du abscheuliche Ente?“

Den Rest hörte ich nicht mehr deutlich genug, weil die Menge zu johlen begann, kaum wurde er auf die Wiese geführt. Ich hörte nur noch Wortfetzen, denen ich keinen Sinn einhauchen konnte. Dann wurde ich selbst links und rechts gepackt und genauso grob auf die Wiese eskortiert, worauf das Johlen der alkoholisierten Menge noch lauter wurde.

Wir wurden zu einer mit einem Holzzaun abgetrennten Fläche gebracht, die mit weichen Spänen bestreut war. Sie leuchtete hell im Sternenlicht; das mussten so was wie Fichtenspäne sein, dachte ich. Mir war sofort klar, dass es sich hierbei um das Kampfareal handelte, um den Ort, wo mein weiteres Schicksal besiegelt werden würde, wenn Cyfimiad nicht bald etwas unternehmen würde. 

„Cyfimiad! Jetzt wäre es Zeit einzugreifen und mich zu holen!“, dachte ich so laut ich konnte. So etwas wie HZR gab es ja sicher nicht, das hatte der Schwächling sicher nur erfunden, um mich zu verunsichern.

Ich wurde neben dem Zaun zu Boden gestossen, was gar nicht so unangenehm war, weil man dank der Späne schön weich fiel. Nur der Bubi landete nicht ganz so weich; er schlug sich den Kopf an einem Holzpflock an.

Mein Blick wanderte die Menge langbärtiger Gestalten ab. Die meisten hatten eine Holztasse in den Händen, an der sie immer wieder nippten. Sicher etwas Hochprozentiges, dachte ich. An manchen Orten stand ein Schaf zwischen ihnen, das aus einem Holzbecher am Boden trank; wahrscheinlich denselben Schnaps. Jedenfalls wurde mächtig geschwankt, sowohl unter den Bärtigen, als auch unter den Schafen. 

Schliesslich ebbte die Lautstärke des Gejohles ab, als ein Mann mit geschulterter Keule die Menge verliess und zur Mitte der Arena ging.

Er wandte sich uns zu.

„Gemeinschafter, wir werfen eine Münze. Kopf oder Zahl?“

Der Schwächling bellte sofort. „Zahl!“

„Kopf ...“, antwortete ich.

Der Bärtige nickte, nahm eine Münze aus einer gestrickten bunten Tasche und warf sie in die Luft ohne uns auch nur den Ansatz einer Verschnaufpause zu gönnen. Keinerlei Spannungsaufbau. Er wollte möglichst schnell zur Sache kommen, so schien es. 

„Zahl!“, brüllte er. „Der Heriwr kämpft zuerst.“

Ohne ein weiteres Zeichen abzuwarten, traten aus der Menge zwei Männer hervor und gingen schnurstracks zu meinem Gemeinschaftskollegen, wenn ich ihn denn so betiteln darf. Sie packten ihn wiederum an den Armen und zogen ihn hoch.

„Heriwr, du kämpfst heute gegen Schnorl, den Trinker. Du darfst laut alter Tradition die Waffen wählen. Faust oder Keule?“

„Der Alkoholiker soll ruhig die Keule nehmen. Mir genügen gegen den Halbwüchsigen die Fäuste ...“, sagte der Bleiche.

Mut hatte er, das musste ich ihm lassen.

„Wie sollen wir das Gefäss mit den Knochenresten beschriften? Wie wirst du genannt, Heriwr?“ 

„Mein Name ist Giuseppe de la Lombardia der Neunte.“, sagte der Bleiche stolz.

Doch der Bärtige war nicht der Spur nach beeindruckt.

„Hatten wir nicht schon mal so einen?“, fragte er einen Mann mit grünlichem Bart, der sofort einen Notizblock aus seiner Manteltasche zückte. Er blätterte in dem Büchlein bis sein Zeigefinger auf einer Seite zum Stillstand kam.

„Doch, doch vor hundertdreissig Jahren Giuseppe de la Lombardia den Dritten und vor dreiundsiebzig Jahren Giuseppe bla bla bla den Fünften.“, sagte der Mann.

„Beide Heriwr?“

„Ja. Der eine recht zäh, der andere kaum was dran ... laut den Akten.“

„Dann werden deine Knochen wenigstens gute Gesellschaft haben.“, sagte der Mann, der so etwas wie der Boss zu sein schien.

„Schnorl! Tritt an!“

Aus der Menge löste sich eine Gestalt und trat auf die Manege. 

„Ich nehme das Angebot an. Ich mit Keule gegen ihn mit Fäusten!“, raunte er halblaut, und hervor zog er eine mächtige Keule, so lang wie mein Arm und so dick wie mein Knie. Dazu waren spitzige Metallstücke in das Ende gearbeitet, so dass die Keule quasi wie eine Axt verwendet werden konnte. 

„Dich dreh ich durch den Fleischwolf!“, knurrte mein Kollege. Er befreite sich von den Männern, die ihn immer noch an den Oberarmen festhielten, und schritt auf den zwar kleineren, aber deutlich massiveren Schnorl zu. 

„Seid ihr bereit?“, schrie jetzt der Häuptling.

Ein wildes Durcheinander von Schreien war die Antwort. Allen war klar, dass nicht die Kämpfenden gemeint waren.

Dann ging alles recht schnell. Der Häuptling machte Platz und stand neben mich. Die beiden Kämpfer standen sich gegenüber und schnaubten sich an als seien sie wilde Eber.

„Heute Abend werde ich dein Fleisch verdauen!“, raunte der Fahlrihm.

„Heute Abend werde ich die Rätsel der Triangulum Galaxie lösen und über deinen Tod lachen, du schimmlige Amöbe!“, antwortete der Heriwr.

Als nächstes begannen sie im Kreis zu gehen während sie sich abschätzig anstarrten. Und dann wie aus dem Nichts kam der erste Schwung der Keule, der dem Heriwr den Kopf zersplittert hätte, wäre der nicht blitzschnell ausgewichen.

Die Meute: „Aaaahhhhh ...!“

Einen kurzen Moment lang hatte der tapfere Heriwr Gleichgewichtsprobleme zu meistern, aber dann stand er wieder und bot seinem Gegner die bleiche ungefaltete Stirn. Zwei Runden wurden gedreht, ohne dass einer der Beiden den nächsten Angriff lancierte. Schnorl warf die Keule von der Linken in die Rechte; Giuseppe de la Lombardia der Neunte begann zu tänzeln, als sei er ein Boxer im Ring. Wer je Prinz Naseem Hamed zu seiner Blütezeit im Ring gesehen hat, weiss, wie der Heriwr sich in Szene zu setzen verstand. Leichtfüssig tänzelte er im Kreis nach innen, dann wieder nach aussen, dann wieder nach innen. Seine überheblichen Gesichtszüge wurden von einem noch überheblicheren Lächeln übertüncht. Doch genau eine halbe Sekunde später spaltete die Keule ihm den Schädel in zwei Teile. Das Lächeln blieb unten, während der obere Teil des Kopfs - etwa Nase aufwärts - von der Wucht des Schlags einen guten Meter in den Nachthimmel geschleudert wurde. Einen Moment war es still. Dann hörte man wie der leblose Körper des Heriwrs zu Boden fiel und dort ein dumpfes Plumps-Geräusch verursachte. Eine Sekunde später lachte die Meute los und Schnorl liess sich von der vordersten Reihe der Zuschauer feiern.

Innerlich taumelte ich und verlor die Balance.

„Cyfimiad!“, dachte ich zwanzig Mal nacheinander. Ich schaute flehend in den Sternenhimmel. Doch auf eine Antwort meines Hornzwergen wartete ich vergebens.

Dann wurde es plötzlich wieder ruhig.

Der Häuptling stand vor mich. „Keule oder Faust?“

Mit weichen Knien erhob ich mich. „Faust ...“

„Gute Wahl. Dein Name für das Gefäss?“

„James Tannot.“

Ich schluckte leer.

„Auch ein Heriwr?“

„Nein, Meddyg. Und Fforiwr Süü!“

Irgendwie musste ich mir ja Mut machen.

Er hob eine Augenbraue. „Ein Fforiwr Süü? Hatten wir schon mal einen solchen?“

Er warf dem Mann mit Notizblock und grünlichem Bart einen Blick zu. Dieser begann sogleich wieder wild in dem Büchlein zu blättern. Er blätterte es ganz durch, dann schüttelte er den Kopf. „Noch nie ...“

Der Chef nickte. „Gut, James Tannot. Dein Gegner heute ist Gwerl, der Böse.“

Er blickte in die Menge. „Gwerl! Antreten!“

Ich wusste nicht, ob ich in die Menge starren oder in den Himmel blicken sollte. Mir war schlecht. Und die Knie waren jetzt noch weicher als zuvor.

Bevor ich Gwerl zu Gesicht bekam, wurde der Körper des Heriwr abtransportiert, während ein Schaf angerannt kam und am oberen Teil des Schädels, der etwas abseits lag,  zu lecken begann. 

„Wirst du das wohl lassen, Bamba?“, schrie der Chef das Schaf an. „Du weisst, dass dieser Teil mir gehört!“

Er ging zu dem Schaf und verpasste ihm einen harten Tritt.

Und dann sah ich Gwerl, den Bösen. Er gehörte zu den Grössten der Fahlrihm, was ihn etwa gleich gross wie mich machte. Er schaute grimmig in die Welt und spuckte vor mir auf den Boden.

„Du wirst der erste Süü sein, den wir braten!“, fauchte er mich abschätzig an.

Ich erwiderte nichts. Was sollte ich auch sagen? Dass ich eigentlich nur am Cystadleuaeth teilnahm, um Cyfimiad einen Gefallen zu tun? Dass ich mich lieber verabschieden würde, um mit Manush ins Kino zu gehen? All das ging mir durch den Kopf. Aber ich schwieg.

Der Häuptling ging zur Seite, dorthin, wo er beim letzten Kampf auch schon gestanden hatte.

„Der Kampf soll beginnen!“, schrie der Grünbart.

Man johlte. Der Grund unter meinen Füssen schien zu schwanken. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass das nicht mein erster Kampf auf Leben und Tod war, dass ich bereits gegen viele Schwarze Schlangen gekämpft hatte, die mich ebenfalls liebend gern ins Jenseits geschickt hätten. Die hätten mich zwar nicht gebraten, aber was spielte es schon für eine Rolle, was mit dem Leichnam geschah, wenn man das Irdische gesegnet hatte. Dann dachte ich an meine Zeit in Gwagedd zurück und wie ich dort von einem Drachen verspiesen worden war, und daran, dass das gar nicht so schlimm gewesen war. Und durch diesen Gedanken fand ich wieder zu mir selbst.

Ja, natürlich, ich wollte mit Manush Kinder haben und die Gemeinschafts-Ausbildung abschliessen, aber wenn das Schicksal anderes mit mir vor hatte, so wollte ich zumindest doch der Gemeinschaft Ehre machen und nicht wie ein Feigling untergehen. Der Heriwr war tapfer und mutig von uns gegangen. So sollte auch mein Ende sein!

 

2½ Die Enthoffung

 

 

Die Enthoffung

 

Oder: Gregory in Not.

 

 

Greg schrie, was seine Lungen hergaben. Doch der Raum in der Maschine war so klein, dass es nicht einmal den geringsten Halleffekt gab. Er versuchte sich die Elektroden vom Körper zu reissen, aber seine Arme waren mit breiten Lederfesseln an die Sitzvorrichtung geschnallt. Und auch seine Beine konnte er keinen Zentimeter bewegen.

„Verdammt!“, schrie er.

Dann begann er zu weinen, was ihn zu einem zweiten Fluch animierte. „Verdammt!“ 

Wie kam es, dass er so gute Karten in den Händen gehabt hatte, bei einem kompromisslosen Vater hatte in die Lehre gehen dürfen, immer mehr als genug Geld gehabt hatte, und jetzt in dieser jämmerlichen Situation war? Wie konnte man sein Leben nur so sehr vermasseln?

Dann hörte Greg wie die Maschine angeworfen wurde. Ein leises Summen ertönte und die Temperatur in der Maschine schien zu sinken.

„Scheisse!“, schrie er.

Doch dann kam das Ding in Fahrt. Greg spürte, wie ihm seine eigene Essenz geraubt wurde, wie ein Teil von ihm durch die Kabel in das Gefäss unter der Maschine abwandern musste. Er spürte wie er schwächer wurde. Sein Augenlicht fühlte sich an als habe jemand einen inneren Dimmer betätigt und sein Atem fing an schneller zu gehen, wehrte sich gegen den Abgang der eigenen Energie.

Und dann erinnerte Greg sich daran, dass eine Enthoffung runde dreissig Minuten dauerte. Seine hatte eben erst gerade begonnen! Das würde er nie und nimmer überleben. Ein weiteres Mal bäumte er sich auf, doch wie er sofort registrierte, hatte er bereits einiges an Muskelkraft eingebüsst. Er fühlte sich wie ein Blatt im Wind, das die eigene Richtung der Bewegung nicht selbst bestimmen konnte, sondern ganz den Elementen ausgeliefert war. Selbst die Finger konnte er nicht mehr anheben.

Etwas musste geschehen und zwar sofort, sonst war er Vergangenheit. Ein Gedanke jagte den nächsten. Was konnte er Chandrith anbieten, das dieser unbedingt wollte, damit diese Katastrophe jetzt und hier endete und er ihn befreien würde. Auf was war er scharf? Gemeinschafter, ja, aber solche konnte er momentan nicht bieten. Plötzlich entzündete sich in seinem Kopf ein Blitz, ja eine ganze Abfolge von Blitzen. Natürlich, das war es!

„Chandrith! Ich habe Tertiär-Technologie, die ich dir sofort geben kann!“, schrie Greg, so laut er konnte.

Greg achtete sich auf das Geräusch der Teufelsmaschine, in der er sass. Änderte sich etwas? Das Summen ging weiter und die Kraft wurde ihm weiter abgezogen. Doch dann, ganz plötzlich, hörte das Ding auf zu brummen.

In seinem Kopf hörte Greg die Stimme Chandriths. 

„Deine letzte Chance! Die Tertiär-Technologie jetzt und in drei Stunden mindestens drei Gemeinschafter in einem Enertrans! Verstanden?“

„Ja, Chef!“, dachte Greg ganz fest.

Dann spürte er, wie sich die Fesseln lösten. Er wurde Kopf voran in ein schwarzes Loch gezogen und befand sich einen Moment später wieder vor dem Kaffee, den er sich im oberen Stock des Kleiderladens in der Unterwasserstadt gemacht hatte.

„Wo soll ich die Tertiär-Technologie hinbringen?“, fragte er.

„Lege sie heut Nacht unter dein Kopfkissen. Dann hol ich sie mir, Schleimbeutel!“

„Gerne, Chef!“

Greg spürte, wie sich eine Präsenz in seinem Kopf ausklinkte. Er war wieder alleine.

Mt zitteriger Hand nahm er die Tasse zur Hand. Der Kaffee war noch heiss, als sei keine Sekunde verstrichen.

„Hilf mir, Papa, hilf mir!“, flüsterte er. Das war ihm alles zu viel und zu unverständlich. Greg begann erneut zu weinen und schluchzte gute zehn Minuten - Kopf in den Armen auf dem Tisch vergraben - vor sich hin.

 

 

Einige Stunden später

 

Geraume Zeit später hatte er sich wieder gefangen. Mittlerweile waren drei Stunden vergangen, seit er und das kleine Team von treuen Schwarzen Schlangen sich im Kleidergeschäft mitten in der Unterwasser-Stadt eingenistet hatten. Drei Stunden, in denen nichts geschehen war und in denen sie von einer Ruhe ohne Erbarmen umhüllt waren. 

Manche Männer nahmen zum zigsten Male ihre Waffen auseinander und setzten sie wieder zusammen. Einige waren eingeschlafen und zwei Männer probierten in allem Ernst Kleider an, die an einem Ständer mit dem rosaroten Schild Blumenverzauberung hingen. Gregory liess sie alle gewähren. Die Männer mussten sich ja irgendwie beschäftigen. Und es machte nicht den Anschein, als käme der Feind bald wieder zurück. Alles war ruhig. Nirgends gab es das geringste Lebenszeichen. 

Gregory hatte sich so verbarrikadiert, dass er freie Sicht auf die Strasse vor dem Geschäft hatte, so dass ihm garantiert nichts entgehen würde. Doch nicht einmal ein Windchen wehte hier unten. Die Stadt war einfach wie ausgestorben. Da ihm die Beine langsam einschliefen, erhob er sich aus seinem Versteck und machte einige kleine Runden in dem Geschäft. Und da fiel es ihm auf. 

Die Wand hinter dem Tresen waberte, als sei sie aus Wasser. Zunächst rieb er seine übermüdeten Augen. War er so übermüdet? Hatte ihm Chandrith so sehr zugesetzt? Doch als das Wabern sich auch durch intensives Drücken nicht wegreiben liess, tat er drei vorsichtige Schritte zu der Wand. Wie fühlte sich eine wabernde Wand an? Dass es sich hierbei um Tertiär-Technologie handelte, war ihm auf Anhieb klar. Er streckte den Zeigefinger aus, doch als dieser durch die Wand hindurch stach, zuckte er trotz geschulten Reflexen und trotz innerer Vorbereitung kurz zusammen. Das war eine Scheinwand. Eine illusionäre Scheiss-Tertiär-Wand, keine richtige.

„Männer!“, zischte er. „Drei Freiwillige vor!“

Die zwei Männer, mittlerweile in rosarot geblumten Pyjamas gekleidet, meldeten sich sofort. Und ein Dritter, der mit seinem Wurfmesser an einem Mannequin übte, trat ebenfalls hervor.

Greg zeigte auf die Wand. „Tertiär-Technologie!“

Die Schwarzen Schlangen nickten. 

„Untersucht was dahinter ist und wenn es was Wichtiges gibt, bringt es mir!“, befahl er. 

Die Männer in Rosarot rollten die Ärmel ihrer Pyjamas hoch. 

„Ja, Chef!“, bellte der Andere.

Mit durchgeladenen Waffen traten sie an die Wand heran und dann nach einem kurzen Zögern durch die wabernde Schein-Wand hindurch. Was genau sie auf der anderen Seite  taten, war nicht zu sehen.

„Alles klar?“, rief Greg.

„Alles klar, Chef. Hier gibt es nur Schachteln mit Kundendetails. Ist so eine Art Archiv, Chef.“, brüllte einer zurück.

„Bringt mir eine dieser Schachteln! Sonst gibt es nichts?“

„Nichts, Sir.“

Drei Sekunden später tauchte in der Wand ein rosaroter Ärmel auf. Greg hatte die Handfeuerwaffe direkt auf den wieder auftauchenden Mann gerichtet, weil man nie wusste, was die Gemeinschafter für Trümpfe bereit hielten. Doch als er sah, dass es wirklich nur sein Mann war, der mit einer Schachtel in den Händen zurück kehrte, senkte er die Waffe, legte sie auf die Schachtel, die er sofort an sich nahm und ging diese dann sofort inspizieren.

Die Schachtel war mit Archivkarten gefüllt. Greg liess den Daumennagel durch die eng aneinander liegenden Karten gleiten und zog willkürlich eine hervor. In fein säuberlicher Handschrift standen oben einige Worte, die er nicht verstand, aber weiter unten etwas, das er in der Bedeutungsdimension sofort erkannte: Es war die Adresse eines Gemeinschafters.

 

Narek Altounian

26 Rue des Alpes

Marseille

France

 

Sicher, sie hatten schon einige Adressen von Gemeinschaftern ausfindig gemacht, ihre Häuser und Wohnungen durchsucht, ihnen in Büschen aufgelauert und so auch einige ermorden können. Aber über einen solchen Stapel von Adressen hatten sie noch nie verfügt. Das mussten Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Anschriften sein.

„Gibt es noch mehr solche Schachteln, Männer?“, rief er.

„Rund fünfzig, würde ich schätzen ...“, antwortete der Mann im Pyjama.

Greg jauchzte kurz auf. Selbst wenn der Angriff hier misslingen würde; jetzt hatte er einen Trumpf in Händen, mit dem er Chandrith garantiert zufrieden stellen konnte. So viele Adressen, das musste ihn einfach glücklich machen. Dann musste er heute Abend nur noch die Tertiär-Technologie unter‘s Kopfkissen legen und drei kleine Gemeinschafter fangen und enthoffen. Das sollte ja wohl möglich sein, sprach Greg mit sich selbst. Der Mut und sein Selbstwertgefühl waren wieder da.

 

3 Erste Cymdeithas-Erfahrungen

 

3

 

Erste Cymdeithas-Erfahrungen

 

„Die Kraft bedient sich der Geometrie, um zu wirken.“

 

Aus: Memoiren einer Gemeinschafterin

 

 

Hatten sich die Mädchen doch erst gerade mit dem Gedanken abgefunden, dass es hier Geldgarderoben gab, wo man mir nichts dir nichts einfach so Dollar, Euro oder Franken beziehen konnte, so hatte ihr Lehrer offenbar nicht vor, Verdauungszeit für solche Tatsachen in die Einführung einzubauen. 

Die beiden von Eleri Haf prophezeiten Waliserinnen standen vor dem letzten Schalter im Hangar zu Aberystwyth, wo man anscheinend individuelle Aufgaben beziehen konnte. Was auch immer das hiess ... und sie hörten Serge Renoir, ihrem Klassenlehrer, zu, wie er über die Details seiner eigenen letzten - hier bezogenen - Aufgabe berichtete.