Die Tierärztin von Fairbanks - Ein neues Leben in Alaska (Die Tierärztin von Fairbanks, Bd. 1) - Christopher Ross - E-Book

Die Tierärztin von Fairbanks - Ein neues Leben in Alaska (Die Tierärztin von Fairbanks, Bd. 1) E-Book

Christopher Ross

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Beschreibung

Leidenschaft und Liebe vor der unberührten Schönheit Alaskas Die junge Alex hat gerade ihre Ausbildung zur Tierärztin abgeschlossen, als ihre Eltern ums Leben kommen. Ihr Wunsch nach einem Neuanfang scheint erfüllt, als sie beschließt nach Alaska zu ziehen. Doch der Start ist schwieriger als gedacht: Sie muss nicht nur ihren Flugschein für ein Buschflugzeug absolvieren und einen geeigneten Ort für ihre Praxis finden, sondern sich auch gegen die Konkurrenz vor Ort durchsetzen. Unterstützung bekommt sie dabei vom geheimnisvollen Werkstattmitarbeiter Kenny und dem Huskywelpen Muffin … Die neue Reihe von Christopher Ross über Wildtiere und Romantik in Alaska: eine selbstbewusste Heldin trifft auf einen Mann voller Geheimnisse!

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Über das Buch

Die junge Alex hat gerade ihre Ausbildung zur Tierärztin abgeschlossen, als ihre Eltern ums Leben kommen. Ihr Wunsch nach einem Neuanfang scheint erfüllt, als sie beschließt nach Alaska zu ziehen. Doch der Start ist schwieriger als gedacht: Sie muss nicht nur ihren Flugschein für ein Buschflugzeug absolvieren und einen geeigneten Ort für ihre Praxis finden, sondern sich auch gegen die Konkurrenz vor Ort durchsetzen. Unterstützung bekommt sie dabei vom geheimnisvollen Werkstattmitarbeiter Kenny und dem Huskywelpen Muffin …

Die neue Reihe von Christopher Ross über Wildtiere und Romantik in Alaska!

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

1

Mit dem Blitz, der krachend in die Bäume am Straßenrand fuhr, kehrte Alexandras Erinnerung zurück. Das grelle Licht über der Straße, das Prasseln des Regens auf dem Autodach, der krachende Donner, der die Erde aufzureißen schien. Sie erinnerte sich an den Aufschrei ihrer Mutter auf dem Beifahrersitz, an die panische Reaktion ihres Vaters, als er das Lenkrad verrissen hatte und ungebremst gegen den nächsten Baum gefahren war. Der Schlag und das Krachen beim Aufprall, den nicht mal ein Airbag hatte abschwächen können, und die beängstigende Stille, als der Donner verstummt war.

Alles kam wieder hoch. Auch der Moment, in dem sie verwundert festgestellt hatte, dass sie kaum verletzt war und sich zu ihren Eltern nach vorn gebeugt hatte, wobei sie hatte erkennen müssen, dass es um die beiden schlimmer stand als um sie. Voller Angst und Verzweiflung war sie aus dem Wrack gekrochen und hatte an der Fahrertür gezerrt. Der Regen war heftig auf sie herabgepeitscht und hatte das Blut, das aus einer Platzwunde an der Stirn gelaufen war, von ihrem Gesicht gewaschen. Sie hatte den Schmerz kaum gespürt, die Tür endlich einen Spalt aufbekommen und gerufen: »Mom! Dad!«, die Augen voller Tränen und die Hände blutig vom zersplitterten Fenster.

»Sagt doch was!«, hatte sie ängstlich geschrien, vergeblich nach dem Puls ihres Vaters gesucht und gegen ihre eigene Benommenheit angekämpft. Nachdem sie auch erfolglos versucht hatte, den Puls ihrer Mutter zu fühlen, hatte sie sofort beschlossen, Hilfe zu rufen. »Ich hol den Krankenwagen … geht ganz schnell.«

Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie nur noch stammelte, und mit zitternden Fingern den Notruf gewählt. »Unfall … meine Eltern … verletzt oder … am Highway 75 … am Galena Summit … nördlich davon … Morrison … Alexandra Morrison … bitte kommen Sie schnell … meine Eltern … kommen Sie schnell!«

Es hatte schier endlos gedauert, bis die Sirenen ertönt waren und die Warnlichter eines Polizeiwagens und eines Krankenwagens durch den Regen schimmerten. Dunkle Gestalten in Regenmänteln hatten sich genähert. Als der Notarzt nach der Untersuchung ihrer Eltern zu ihr getreten war, hatte sie geweint und bereits gewusst, was er sagen würde: »Tut mir leid, Miss … da kann ich nichts mehr tun.« Was er sonst noch gesagt hatte, hatte sie schon nicht mehr gehört …

Alexandra schreckte aus ihren Gedanken und fuhr an den Straßenrand. Die Scheibenwischer ihres Fords kamen kaum noch gegen den Regen an. Tief einatmen, langsam wieder ausatmen, sollte einem das nicht die aufkommende Panik nehmen? Sie versuchte es, atmete ein, atmete aus, begleitet vom Prasseln des Regens und aufgeschreckt von lauten Donnerschlägen. Es gelang ihr allmählich, die quälenden Gedanken zu vertreiben, doch als ein Truck mit dröhnender Hupe so dicht an ihr vorbeifuhr, dass ihr Ford Pick-up zu wackeln begann, merkte sie, dass sie sich in tödlicher Gefahr befand. Von Angst getrieben fuhr sie langsam weiter. Obwohl es noch nicht so spät war, dass es vollends dämmerte, war selbst die Warnblinkanlage in dem Unwetter kaum zu erkennen.

Sie befand sich auf einer ruhigen Landstraße in South Dakota, keine zwei Meilen von Aladdin entfernt, wo sie hoffte, etwas Schutz vor dem Gewitter zu finden. Behutsam tastete sie sich durch den strömenden Regen, zu langsam für einige Trucker, die sich durch kein Unwetter von ihrem täglichen Pensum aufhalten ließen und alles daransetzten, ihre Lieferzeiten einzuhalten. Sie fuhr so weit rechts wie möglich, immer darauf bedacht, den drängelnden Trucks nicht im Weg zu sein, und atmete erst auf, als Aladdin vor ihr auftauchte.

Im Aladdin Café an der Hauptstraße brannte noch Licht. Sie parkte vor dem Eingang und blieb einen Augenblick sitzen, bis ihre Angespanntheit nachließ. Dann rannte sie in ihrer gelben Regenjacke durch den starken Schauer hinüber, öffnete die Café-Tür und schloss sie rasch wieder hinter sich. Drinnen schob sie ihre Kapuze zurück. Außer ihr befanden sich noch ein älteres Ehepaar und ein Deputy Sheriff in dem Lokal. Die Kellnerin, eine ältere Frau in einer Uniform, wie sie in den 1960er-Jahren in den Diners getragen worden war, begrüßte sie mit einem Lächeln und sagte, dass sie sich ihren Platz aussuchen könne. »Scheußliches Wetter, was?«, bemerkte die Kellnerin und deutete auf die Tafel an der Wand, auf der die Speisekarte stand. »Das Chili ist aus. Die meisten bestellen den Cheeseburger.«

»Klingt gut. Haben Sie auch heiße Schokolade?«

»Sicher. Genau das Richtige bei dem Wetter, was?«

Die Kellnerin ging zur Durchreiche und rief dem Koch die Bestellung zu. Wenige Minuten später kehrte sie mit der heißen Schokolade zurück. »So ein Unwetter hatten wir hier lange nicht mehr«, sagte sie. »Woher kommen Sie?«

»Minnesota«, antwortete Alex. Sie zog ihre Regenjacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. »Ich will in den State Park, mir die Büffel anschauen.«

»Und die Präsidentenköpfe am Mount Rushmore, nehme ich an.«

»Das wollen wohl viele, die hier vorbeikommen?«

»Die meisten.« Die Kellnerin drehte sich zu einem bunten Wandgemälde um, das die in den Felsen gemeißelten Köpfe der ehemaligen Präsidenten Washington, Jefferson, Lincoln und Roosevelt zeigte. »Ist schon einige Zeit her, dass ich dort war, aber die Leute sagen, sie hätten jetzt eine tolle Show dort. Mit Lichtshow und so. Und mit Feuerwerk.«

Die Kellnerin schien die Zubereitungszeit eines Cheeseburgers im Blut zu haben und wusste auch ohne ein Klingelzeichen, wann sie ihn holen musste. Er schmeckte besser, als Alex erwartet hatte, nur die Pommes waren zu kross und bereits etwas kalt geworden. Die heiße Schokolade war für ihren Geschmack zu süß, und die Marshmellows darin fehlten leider.

Alex wischte sich den Mund mit der Serviette ab und blickte in den Regen hinaus. Er trommelte unablässig auf das Vorbaudach. Lediglich die Blitze waren seltener und der Donner leiser geworden. »Gibt es einen Campingplatz in der Nähe? Eigentlich wollte ich nach Rapid City, aber bei dem Wetter …«

»Belle Fourche … zwanzig Meilen weiter östlich, hinter dem Sunset Motel. Sagen Sie Benny, Katy schickt Sie, dann bekommen Sie vielleicht Rabatt.«

Sie bedankte sich, bezahlte und machte sich auf den Weg. »Passen Sie auf sich auf!«, rief die Kellnerin ihr nach.

Alex beeilte sich, in ihren Wagen zu kommen und fuhr langsam weiter. Sie hatte keine Ahnung, ob schon die Nacht hereinbrach oder nur der Regen und die dunklen Wolken den Himmel verdunkelten. Das Scheinwerferlicht zauberte Reflexe auf den nassen Asphalt und strich über die Fichten am Straßenrand. Was hatte sie nur geritten, diesen abgelegenen Highway zu nehmen?

Sie hatte Duluth vor ein paar Tagen verlassen und war zuerst ohne ein bestimmtes Ziel nach Westen gefahren. Eine neue Umgebung, andere Menschen, ungebunden wie die Einwanderer im 19. Jahrhundert, die voller Hoffnung in die Vereinigten Staaten gekommen waren, um dort eine neue Heimat zu finden. Auf der anderen Seite ist das Gras immer grüner, hieß es, und auch wenn das nicht stimmte, weil man dennoch seine Probleme und Sorgen nicht einfach abschütteln konnte, würde sie für einige Tage die längst überfällige Ruhe finden und neue Eindrücke gewinnen.

Das Sunset Motel war selbst im Regen leicht zu finden. Das Neonschild leuchtete über dem lang gestreckten Gebäude und zeigte ihr den Weg. Sie hielt vor der Rezeption des Campingplatzes, bezahlte ihren Stellplatz und parkte neben einem Wohnmobil mit Alaska-Nummernschild. Das Anschließen von Strom, Gas und Abwasser war für sie schon zur Routine geworden. »Guten Abend!«, rief sie dem älteren Ehepaar zu, das neben ihr ebenfalls gerade dabei war, die Anschlüsse zu befestigen. »Was für ein Mistwetter, nicht wahr?«

Der Mann trug einen grauen Regenmantel und einen Schlapphut, ähnlich dem eines Seemanns. Mit dem grauen Bart und den listigen Augen erinnerte er an Hemingway. »Hallo, Nachbarin!«, grüßte er zurück. »Warum kommen Sie nicht auf einen Drink zu uns rüber? Meine Frau hat heiße Schokolade gekocht.«

Alex horchte auf. »Mit Marshmellows?«

»Was denken Sie denn? Ohne Marshmellows ist eine heiße Schokolade doch nicht komplett. Kommen Sie! Ich bin übrigens Henry Larimer. Sie können gern Henry zu mir sagen. Und das ist Ruth, meine Frau seit einundvierzig Jahren.«

»Zweiundvierzig«, verbesserte sie ihn.

»Alexandra Morrison«, stellte Alex sich vor. »Nennen Sie mich Alex.«

Gegen ihren Ford Pick-up mit Aufsetzkabine war das Wohnmobil der Larimers geradezu luxuriös. Im vorderen Bereich gab es eine gemütliche Sitzecke mit einer Bank, der Stauplatz war enorm und allein der Kühlschrank nahm beinahe so viel Raum ein wie ihre gesamte Küche.

Neben der Tür zum Bad lag eine Katze in ihrem Körbchen. Sie hob nicht mal den Kopf, als sie das Wohnmobil betraten, und ließ nur ein leises Miauen verlauten.

Alex brauchte sie nur anzublicken, um zu wissen, dass sie krank war.

»Unsere Kitty«, sagte Henry, »es geht ihr nicht besonders.«

»Darf ich sie mir mal ansehen? Ich bin Tierärztin.«

»Tierärztin?« Henry strahlte seine Frau an. »Heute scheint unser Glückstag zu sein. Natürlich … wir würden uns sehr freuen, wenn Sie Kitty untersuchen könnten. Wir waren nämlich schon auf der Suche, aber hier in Belle Fourche haben wir leider keinen Tierarzt gefunden.«

Alex holte ihre Arzttasche aus dem Auto, bat Henry, die Deckenlampe einzuschalten und beugte sich über die Katze. Nachdem sie ihre Temperatur gemessen hatte, horchte sie ihre Patientin mit dem Stethoskop ab. »Kein Fieber«, beruhigte Alex das Ehepaar. »Hat sie Futter, Blut oder Schleim erbrochen?«

»Futterstücke«, antwortete Ruth. »Und ein wenig Schleim.«

Alex schob vorsichtig beide Hände unter den Körper der Katze und hob sie an. Selbst für die Larimers war ohne ärztliches Wissen zu erkennen, dass ihre Kitty unter starken Schmerzen litt. »Könnte eine Gastritis, also eine Entzündung der Magenschleimhaut, sein. Hat sie was Falsches gefressen?«

»Keine Ahnung«, sagte Henry. »Wir lassen sie frei laufen. Schon möglich, dass sie irgendwas Übles erwischt hat. Meinen Sie wirklich … Gastritis?«

»Für eine gewöhnliche Magen-Darm-Verstimmung sind die Anzeichen zu heftig. Um Ihnen Konkreteres sagen zu können, müsste ich eine Gastroskopie durchführen … unter Vollnarkose, und das geht nur in einer Praxis. Ich würde Ihnen empfehlen, morgen unbedingt eine Tierarztpraxis aufzusuchen, dort erfahren Sie Genaueres. An der Rezeption wissen sie sicher, wo die nächste Praxis ist.«

»Dort hab ich schon gefragt … ungefähr zwanzig Meilen von hier.«

Alex legte die Katze in ihr Körbchen zurück und strich ihr beruhigend über das weiche Fell. Kitty war noch sehr jung. »Geben Sie ihr bis dahin nur Wasser zu trinken. In der Praxis wird man Ihnen sagen, was weiter zu tun ist.«

»Müssen wir uns ernsthafte Sorgen machen?«

»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Alex. »Wenn es sich, wie ich annehme, um eine bakterielle Infektion handelt, wird man Ihnen Antibiotika mitgeben. Kitty wird nur leichte Speisen verdauen können, aber daran wird sie sich gewöhnen, und spätestens in ein paar Tagen wird sie wieder herumspringen.«

Alex wusch sich die Hände und kam zum Tisch. Die heiße Schokolade mit Marshmellows stand schon bereit. »Genial«, lobte sie nach dem ersten Schluck. »Beinahe so gut wie die von meiner Oma, und das ist ein Kompliment. Sie hat die beste heiße Schokolade westlich des Mississippi gekocht.«

Henry hob seinen Becher. »Vielen Dank. Was sind wir Ihnen schuldig?«

»Die heiße Schokolade ist besser als jedes Honorar. Und ich konnte ja leider noch nicht viel tun.«

»Sie haben uns bereits sehr geholfen.«

Alex leckte die Sahne von ihrer Oberlippe und lehnte sich zurück. »Sie kommen aus Alaska?«, fragte sie. »Was treibt Sie denn so weit in den Süden?«

»Wir verprassen das Erbe unserer Kinder.« Henry grinste. »Die sind beide längst erwachsen und verdienen genug Geld. Matt macht irgendwas mit IT im Silicon Valley, und Abigail ist Ärztin in Seattle, die verdienen in einem Monat mehr als wir früher in einem Jahr und hätten sowieso keine Zeit, es auszugeben.«

»Und jetzt sehen Sie sich Amerika an?«

»Zum fünften oder sechsten Mal. Wir sind immer gern gereist, wissen Sie, und haben vierundvierzig Staaten geschafft. Nicht schlecht, was? Aber wir sind immer froh, wenn wir wieder nach Alaska nach Hause kommen. Die Landschaft dort ist großartig.«

»Wurden Sie dort geboren? Entschuldigen Sie meine Neugier.«

»Aber nicht doch«, winkte Henry ab, »wir sind doch froh, wenn wir mal mit jemandem reden können. Ruth kommt aus Alaska, aus Fairbanks. Und ob Sie’s glauben oder nicht, ich bin in Kalifornien aufgewachsen. Ich hab Ruth auf Hawaii kennengelernt. Irre, was? Wir waren beide in der Reisebranche tätig und zusammen auf einer Tagung in Honolulu. Unseren ersten gemeinsamen Urlaub haben wir dann in Alaska verbracht, und ich war sofort hin und weg von der Gegend. Als ob Sie aus einer hochmodernen Stadt der Zukunft in die Natur zurückkehren. Überall Wildnis, verschneite Berge wie der Mount McKinley oder Denali, wie er jetzt heißt, endlose Wälder, Flüsse und Seen … okay, es kann bitterkalt werden, und im Winter wird es kaum hell, aber daran gewöhnen Sie sich schnell.«

Alex lächelte. »Man merkt, dass Sie in der Reisebranche waren.«

»Und Sie?«, fragte er. »Wo kommen Sie her?«

»Duluth, Minnesota. Am Lake Superior.«

»Kennen wir … eine schöne Gegend, besonders der Leuchtturm …«

»Das Split Rock Lighthouse.«

»Und wohin fahren Sie?« Henry schien nun ebenfalls neugierig. »Um das Erbe Ihrer Kinder zu verprassen, scheinen Sie doch noch zu jung zu sein.«

Alex trank den Rest ihrer heißen Schokolade aus. »Ich musste mal raus aus der Tretmühle, wollte Abstand gewinnen. Meine Eltern kamen vor ungefähr zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben, und ich arbeite seitdem mit meinem Onkel Paul in der Praxis. Er und mein Vater waren Partner.« Sie war selbst überrascht, dass sie so viel von ihrem Privatleben preisgab und offener mit den Larimers sprach als mit ihrer Freundin Bella. Kam das daher, dass sie sich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr ausgesprochen hatte? »Verstehen Sie mich nicht falsch, wir kommen gut zurecht, aber irgendwie hab ich das Gefühl, Duluth ist nicht mehr meine Welt. Obwohl ich mein Leben lang dort gewohnt habe.«

»Ein neuer Anfang? Ein neues Leben?«

»Auf jeden Fall träume ich manchmal davon.«

»Warum denn nicht?«, erwiderte Henry. Seine Frau nickte nur. »Ich habe es doch genauso gemacht, und damals war das noch ein größeres Wagnis als heute. Eigentlich mag ich es lieber, wenn es sehr warm wird, und eigentlich mochte ich meinen Job, aber zum Glück habe ich auch eine interessante Anstellung in der Reisebranche in Alaska gefunden, und in mein neues Zuhause war ich dann genauso verliebt wie in Ruth.« Er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und öffnete es. »Als Tierärztin hätten Sie ein tolles Leben in Alaska.«

»Weil es so viele Tiere gibt?«

»Das auch«, sagte er. »Obwohl die meisten Leute inzwischen mit einem Snowmobil durch die Gegend brausen, gibt es immer noch unzählige Schlittenhunde, vor allem außerhalb der Städte. Als Tierärztin erleben Sie dort genauso viel Abwechslung und Natur wie die Ärztinnen der Menschen. Sie wären alle paar Tage mit dem Buschflugzeug zu abgelegenen Siedlungen unterwegs.«

»Ohne Flugschein?«

»Den kriegen Sie schnell. Mit dem richtigen Fluglehrer haben Sie das Ding in drei Monaten. Und Ihren Flieger mieten Sie oder zahlen ihn in Raten ab.«

»Klingt abenteuerlich.«

»Gehen Sie zum Northern Flight Center in Fairbanks und fragen Sie nach Bubba Roberts … mein Neffe. Der arbeitet als Pilot und Fluglehrer und hilft Ihnen garantiert, wenn Sie ihm sagen, dass Sie von uns kommen.«

»Klingt wirklich verlockend, aber …«

»Es gibt immer ein Aber. Egal, ob es um Beziehungen oder den Job oder sonst was geht. Manchmal muss man dieses Aber überwinden, wenn man vorankommen will.« Er lachte. »Ich klinge schon wie ein Prediger, was? Aber ich hab genug Leute kennengelernt, die auf der Stelle traten, weil sie nicht den Mumm hatten, was Neues zu versuchen. Oder haben Sie einen Partner, der auf Sie wartet?«

Normalerweise hätte sie geantwortet, dass ihn das nichts anginge. Aber einem Mann wie Henry konnte man nichts übel nehmen, auch wenn ihm seine Frau einen strafenden Blick zuwarf. »Ich bin weder verlobt noch verheiratet.«

»Sonst wären Sie ja wahrscheinlich kaum allein unterwegs.«

»Ich habe eine gute Freundin in Duluth, die wäre sicher auch traurig.«

»Wer weiß, wie lange die noch in Duluth bleibt? Außerdem können Sie mit ihr skypen oder texten oder was es sonst noch an Technikkram gibt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will Sie nicht überreden. Was hätte ich auch davon? Aber ich hab schon einige Jahre auf dem Buckel und weiß, wie wichtig Veränderungen im Leben sein können. Noch eine heiße Schokolade für unterwegs?«

»Gern«, sagte sie.

Ruth nahm einen verschließbaren Pappbecher aus dem Schrank neben dem Herd und füllte ihn mit heißer Schokolade. Ihr Mann hatte inzwischen eine Visitenkarte aus einer Schublade gekramt. »Eine meiner alten Visitenkarten«, erklärte er, »aber Adresse und Telefonnummer stimmen noch. Besuchen Sie uns mal, wenn Sie nach Alaska kommen. Ruth backt den besten Cherry Pie von Alaska. Ich sag immer, wir hätten ein Restaurant aufmachen sollen.«

»Können Sie doch immer noch. Was Neues wagen.«

»Mit vierundsiebzig? Nee, jetzt ist Dauerurlaub angesagt.«

Alex nahm die Visitenkarte und griff nach dem Becher. »Es war sehr schön, mit Ihnen zu reden. Vielen Dank für Ihre Ideen«, sagte sie. »Gute Reise nach Alaska!«

»Ebenso. Und vielen Dank noch mal für die ärztliche Hilfe.«

Inzwischen war das Gewitter weitergezogen. Alex winkte den Larimers zu und kroch in die Aufsetzkabine ihres Wagens. Diese war lange nicht so komfortabel wie das Wohnmobil ihrer neuen Freunde, aber mollig warm, nachdem sie die Heizung eingeschaltet hatte. Sie setzte sich auf ihr Bett und schaute sich die Visitenkarte der Larimers an.

»Alaska«, flüsterte sie. »Klingt irgendwie verrückt, aber vielleicht ist es ja Zeit für was Verrücktes.«

2

Viel verändert hatte sich nicht in Duluth. Es war immer noch die geschäftige Stadt am Ufer des Lake Superior mit den vielen Industriegebäuden, touristischen Gässchen und kleinen Hafencafés. Bekannt war Duluth vor allem für seinen Hafen und für die riesige Aerial Lift Bridge, eine Hubbrücke, die nach oben gezogen werden konnte, wenn sich größere Frachter dem Hafen näherten. Alex kannte die Stadt bereits in- und auswendig und hatte deshalb kaum mehr Augen für all das, als sie nach ihrer Rückkehr zu ihrem Haus und der Praxis im Stadtteil Duluth Heights fuhr.

Das Wohnhaus, ein zweistöckiges Gebäude mit Giebeldach, hatte sie von ihren Eltern geerbt, die Praxis im Erdgeschoss gehörte zu gleichen Teilen ihrem Onkel Paul und ihr. Neben dem Haus lagen etliche Gehege für kranke oder verletzte Tiere, die länger bei ihnen bleiben mussten. Ihr Onkel wohnte mit seiner Frau einen Wohnblock entfernt. Er war gerade in der Praxis, als Alex eintrat.

»Sieh an, die verlorene Tochter«, neckte er sie, als die ältere Dame, deren Pudel er geimpft hatte, gegangen war. »Ich hatte schon Angst, du würdest nicht mehr zurückkommen. Die Arbeit wächst mir langsam über den Kopf.«

»Noch mehr Pudel?«

»Hunde, Katzen, Hamster, sogar eine Schlange war dabei.«

»Und heute?«

»Noch zwei Impfungen, dann sind wir durch.«

»Okay, ich bin gleich wieder zurück.«

Sie brachte ihr Gepäck in ihre kleine Wohnung im zweiten Stock und vermied es auch diesmal wieder, zur Wohnung ihrer Eltern im ersten Stock zu blicken. Seit dem Unfall war sie unberührt geblieben, und Alex betrat sie nur, wenn es nicht zu vermeiden war. Jedes Mal, wenn sie dort war, kam es ihr so vor, als würden ihre Eltern noch leben, bis sie die Realität in ihre Trauer zurückwarf. Es würde noch einige Zeit dauern, bis sie darangehen konnte, einige Erinnerungsstücke aus der Wohnung zu holen. Ihrem Onkel Paul erging es anscheinend ähnlich. Er hatte bereits laut darüber nachgedacht, die Wohnung zu übernehmen, eine Entscheidung aber ständig vor sich hergeschoben. Vor allem auch wegen seiner Frau, die auf keinen Fall als Untermieterin ihrer Nichte einziehen wollte. Sie war mit Alex und ihren Eltern nie besonders gut ausgekommen, hatte sich oft benachteiligt gefühlt und war überzeugt gewesen, man wolle ihren Mann ausnutzen.

Dabei lag Alex nichts ferner. Doch das war ein Problem, das sich ohnehin von selbst lösen würde, falls sie tatsächlich von Duluth wegziehen sollte. Die Worte der Larimers waren nicht ohne Wirkung auf sie geblieben. In einem Traum hatte sie sich sogar schon im Cockpit eines Buschflugzeugs gesehen, hoch über den verschneiten Gipfeln der Alaska Range, vor sich den Himmel und die scheinbar unendliche Weite des riesigen Landes. Unterwegs zu neuen Ufern und Abenteuern, weit weg von der eifersüchtigen Miene ihrer Tante, die immer noch verärgert war, weil Alex’ Eltern nicht ihrem Mann das Haus vererbt hatten.

Sie legte ihre Jacke ab und überprüfte ihre Frisur vor dem Spiegel. Wenn sie nicht gerade zu einem Date verabredet war, was in letzter Zeit eher seltener vorkam, steckte sie ihre Haare hoch oder band sie zu einem Pferdeschwanz. In ihren Jeans, dem sportlichen T-Shirt und den weißen Sneakern sah sie eher wie ein College Girl aus, doch der Eindruck schwand sofort, als sie in ihr dunkelblaues OP-Hemd wechselte, ihr übliches Outfit während der Arbeit mit den Tieren.

»Bereit für dein Comeback?«, fragte Paul. Im Gegensatz zu seiner Frau war er ein aufgeschlossener und sehr freundlicher Mann, immer optimistisch gestimmt, auch bei der Behandlung seiner Patienten. »Wir haben, wie gesagt, noch zwei Impfungen heute, der Cocker Spaniel von Mrs. Webb und eine Katze.«

Auch nach zwei Wochen Pause brauchte Alex keine Anlaufzeit. Die Impfung des Cocker Spaniels übernahm sie selbst, auch wenn der Hund extrem unruhig war, Mrs. Webb unentwegt plapperte und Alex nach der Behandlung bestens über den Streit in ihrer gesamten Familie informiert war. Ihr Onkel übernahm die Katze, ein geduldiges Wesen mit einer geduldigen Besitzerin, die stumm dabei zusah, wie ihr Liebling behandelt wurde. Alex musste an die Katze der Larimers denken und hoffte, dass sie inzwischen gesund war.

Nachdem die Dame mit der Katze gegangen war, räumten sie die Praxis auf, und Paul wollte natürlich wissen, wie es Alex im Westen gefallen hatte. Sie erzählte ihm vom Mount Rushmore und der Bisonherde im Custer State Park und erwähnte auch das Ehepaar, das sie auf dem Campingplatz getroffen hatte. »Es regnete in Strömen, als ich in Belle Fourche ankam. Wir waren Nachbarn auf dem Campingplatz und ich habe mir ihre kranke Katze angesehen.« Sie räumte einige Instrumente weg und blickte aus dem Fenster, als könnte sie bis nach South Dakota sehen. »Stell dir vor, die Leute kamen aus Alaska, und waren auf großer Tour, weil sie so gerne die Welt erkunden. Aber in Alaska hat es ihnen am besten gefallen. Die Natur dort muss toll sein, alles eine Nummer größer als in Minnesota. Laut den beiden der beste Arbeitsplatz für eine Tierärztin. Nicht so eintönig wie hier. In Alaska erreicht man viele Patienten nur mit dem Buschflugzeug. Wahnsinn, du fliegst eine Stunde oder länger mit deiner Maschine über Berge und Wälder und landest irgendwo in einem entlegenen Dorf, meilenweit von der Zivilisation entfernt, und behandelst dort Huskys und andere Tiere. Vielleicht sogar Wölfe … das wäre mal was anderes.«

Paul blickte seine Nichte forschend an. »Das klingt ja fast so, als wolltest du nach Alaska zu ziehen?« Er hielt diese Möglichkeit anscheinend für unvorstellbar und seine Worte wurden von einem ungläubigen Lächeln begleitet.

»Du wirst lachen«, sagte sie, »ich denke ernsthaft darüber nach.«

Er hielt mitten in der Bewegung inne. »Du willst nach Alaska ziehen? Weißt du, wie weit weg das ist? Über dreitausend Meilen!«

»Ich habe nur gesagt, dass ich darüber nachdenke.«

»Da ist es kalt und den ganzen Winter über stockdunkel.«

»Ich weiß.«

»Und deine Verwandten? Deine Freunde und Bekannten?«

»Mit dir und Bella kann ich skypen oder telefonieren, und zu Thanksgiving oder Weihnachten komme ich sicher mal nach Duluth. Tante Abigail würde sich bestimmt freuen. Dann könntet ihr in dieses Haus ziehen und hättet die Praxis für euch allein. Das wollte Abigail doch immer.«

»Du darfst nicht zu streng mit deiner Tante ins Gericht gehen«, erwiderte Paul. »Sie gibt sich Mühe.« Er wusste von den Misstönen zwischen seiner Frau und Alex und hatte sie immer weggelächelt. »Sie ist nur ein wenig sauer, weil deine Eltern uns nicht das Haus oder zumindest einen Anteil davon vererbt haben.«

»Wenn ich gehen würde, und ich spreche noch immer im Konjunktiv, würde ich euch das Haus und meine Praxishälfte verkaufen. Euer eigenes Haus werdet ihr bestimmt los, dann hättet ihr das Praxishaus ganz für euch allein.«

»Und was würdest du verlangen?«

»Den Marktwert … den kann ein Gutachter bestimmen.«

»Das wäre toll, aber so viel bekomme ich nicht durch den Verkauf meines Hauses.«

»Du kennst doch sicher jemanden, der sich die Praxis mit dir teilen würde. Dann könntet ihr die Praxiskosten gemeinsam tragen. Hast du nicht von einem Studiumskollegen erzählt, der unbedingt eine Tierarztpraxis eröffnen wollte? Vielleicht macht er gemeinsame Sache mit dir.«

Er nickte. »Eric Moore … ja, den könnte ich fragen.«

»Wie sagt man so schön? Eine Win-win-Situation.«

Beide grinsten.

»Aber noch sprechen wir im Konjunktiv, wie du sagst, nicht wahr?« Paul zog seine Jacke an und hielt noch einmal inne. »Könntest du denn Duluth wirklich zurücklassen? Du bist doch an den Großen Seen aufgewachsen.«

»Und ich fühle mich heute noch sehr wohl hier«, meinte Alex nachdenklich, »aber irgendwie hab ich auch Lust, was Neues zu beginnen. Nicht hier, wo ich überall an den Verlust meiner Eltern erinnert werde. Ich brauche eine neue Umgebung, eine Herausforderung, um besser über den Tod meiner Eltern hinwegzukommen. Eine andere Welt, in der ich mich erst beweisen muss.«

»Vor dem Schmerz kannst du nicht weglaufen.«

»Das weiß ich ja«, sagte Alex, »aber ich kann doch auch an meine Eltern denken, ohne ständig in Trauer zu versinken. Und das Aufbauen einer neuen Existenz wird mich auf Trab halten und frischen Wind in mein Leben bringen. Ist das so abwegig?«

Paul runzelte die Stirn. »Na ja, die meisten würden eine gewohnte Umgebung und eine eingeführte Praxis vorziehen, um sich als Tierärztin selbstständig zu machen. Waghalsige Abenteuer tut man sich doch nur an, wenn es nicht mehr anders geht. Alaska … ausgerechnet Alaska. Hawaii, Arizona oder Kalifornien hätte ich ja verstanden, aber …«

Die Tür ging auf und Alex’ Tante Abigail kam herein. Trotz ihres steigenden Alters war sie eine attraktive Frau geblieben, sodass sich oft etliche Männer nach ihr umdrehten. »Hab ich es doch richtig gesehen«, sagte sie. »Du bist wieder hier. Willkommen zu Hause, Alex!«

Obwohl sie den schnippischen Tonfall ihrer Tante allmählich gewöhnt war und wusste, dass es besser war, nicht darauf einzugehen, sagte sie: »Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Tante Abigail. Hast du mich sehr vermisst?«

»Müsst ihr gleich wieder aufeinander rumhacken?«, mischte sich Paul ein.

»Ich hacke nicht rum«, erwiderte Abigail, »aber ich habe auch keine Lust, jeden Abend mit dem Essen auf dich zu warten, weil du nicht mit der Arbeit nachkommst, Paul. Wenn Alex unbedingt Karriere machen will, soll sie genauso hart arbeiten wie du und nicht drei Wochen in der Gegend herumfahren.«

»Wir brauchen alle mal Urlaub, Schatz. Das ist doch nichts Böses.«

»Ja, ja, du nimmst sie wieder in Schutz.«

Alex hing das alte Thema schon zu den Ohren raus, antwortete aber dennoch: »Ich arbeite bereits genauso hart und angestrengt wie Onkel Paul, und ich denke nicht, dass er sich über mich beklagen kann. Das war mein erster Urlaub in zwei Jahren.«

Tante Abigail hatte anscheinend keine Lust mehr, sich weiter mit ihr zu streiten, fügte aber noch höhnisch hinzu: »Du solltest dir einen Mann suchen, Alex, dann wäre vieles leichter. Unser Herrgott hat sich bestimmt etwas dabei gedacht, als er der Frau die häuslichen Pflichten und dem Mann die Versorgung der Familie zuteilte.«

Wahrscheinlich war es sogar diese respektlose Aussage, die Alex endgültig davon überzeugte, sich eine neue Herausforderung zu suchen. Onkel Paul mochte ein freundlicher Mann und ein fairer Partner sein, aber solange seine Frau Abigail ständig dazwischenfunkte, ihren Frust an ihr abreagierte und ihre harte Arbeit nicht anerkannte, blieb Alex kaum eine andere Wahl.

Sie würde sich nicht in das alte, gemachte Nest setzen, das ihr ihre Eltern hinterlassen hatten. Sie würde von vorn beginnen, so wie man es üblicherweise nach dem Abschluss der Ausbildung vor sich hatte. Die Heimat und ihre Stammkunden verlassen und sich im fernen Alaska eine neue, ganz eigene Existenz aufbauen. Weil sie sich selbst beweisen wollte, dass sie dazu fähig war. Weil es höchste Zeit wurde, dass sie sich von ihrem Onkel und ihrer Tante abnabelte. Und weil sie in Duluth an jeder Straßenecke, in jedem Lokal, im Kino und im Theater daran erinnert wurde, wie wertvoll die Zeit mit ihren Eltern gewesen war, und welchen Schmerz und welche Leere ihr plötzlicher Tod hinterlassen hatte. Sie wären stolz auf mich, sagte sie sich, auch wenn ihre Mutter sicher mit den Tränen gekämpft hätte.

Alex ging hinauf in ihre Wohnung und packte ihren Koffer aus. Es war erst halb sechs, noch Zeit genug, ein paar Sachen einzukaufen und sich mit ihrer Freundin Bella zu treffen. Sie nahm ihr Handy und wählte deren Nummer.

»Alex! Du bist wieder hier?«, rief Bella erfreut.

»Und schon wieder im Einsatz. Jetzt muss ich erst mal zum Supermarkt, ein paar Sachen einkaufen. Wollen wir uns anschließend beim Italiener am Hafen treffen?«

»Klingt gut. In einer Stunde?«

Es war immer noch hell, als Alex unweit des Hafens am Straßenrand parkte. Bella wartete im Lokal. Ihre Freundin war ein Jahr älter als sie, stets elegant gekleidet und hatte mit ihren kurzen Haaren und ihrer Stupsnase etwas Elfenhaftes. Sie hatte es allerdings faustdick hinter den Ohren und arbeitete als Anwältin für eine große Kanzlei.

»Alex! Wie schön, dich zu sehen! Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr zurück.«

Sie bekamen einen Tisch am Fenster und bestellten Linguine mit frischem Lachs und Tomaten. Dazu gab es Rotwein aus Kalifornien.

Während des Essens berichtete Alex von ihrem Urlaub, nahm sich aber fest vor, ihre Freundin noch an diesem Abend über ihre Zukunftspläne aufzuklären und war entsprechend angespannt. Auch Bella kam ihr etwas verkrampft vor. Sonst meist fröhlich und ausgelassen und nie um eine freche Bemerkung verlegen, schien sie an diesem Abend mit ihren Gedanken woanders zu sein.

Erst als nach dem Essen der Cappuccino kam, sagte Bella zögerlich: »Ich muss dir was sagen.«

»Ich muss dir auch was sagen«, erwiderte Alex.

Bella lachte. »Du zuerst. Lass mich raten … ein neuer Freund?«

»Nein … ich trau mich gar nicht, es zu sagen.«

»Nur raus damit! So schlimm wird’s schon nicht sein.«

Alex fasste ihren ganzen Mut zusammen. »Ich habe vor wegzuziehen.«

»Du hast was vor?«

»Ich möchte wegziehen, Bella. Ich verkaufe mein Haus und meine Praxis an Onkel Paul und einen neuen Teilhaber und mache in Alaska eine eigene Praxis auf.«

»Wo?«

»Alaska. Das riesige Land im Norden?«

»Ich weiß, wo Alaska liegt.« Bellas Augen waren groß geworden. »Was willst du denn ausgerechnet da? Du willst mich verarschen, oder? Weißt du, wie kalt es dort im Winter wird? Und dass es dort sechs Monate stockdunkel ist?«

»Ganz so schlimm ist es nicht. Das sind Übertreibungen.«

»Willst du dort wirklich leben? In der Wildnis wie ein Einsiedler? Allein mit Wölfen, Elchen und Huskys?«

Ihr Gesicht verzog sich zu einem leichten Grinsen. »Jetzt hab ich’s! Du nimmst mich auf den Arm! Du hast doch jemanden kennengelernt. Und wahrscheinlich will dich dieser attraktive Naturbursche mit in sein Blockhaus in die Berge Alaskas nehmen und du sollst dich dort um seine Huskys kümmern.«

Alex schüttelte amüsiert den Kopf. »Nein, es steckt kein Mann dahinter. Ich meine das ganz im Ernst. Ich werde nach Alaska gehen und mir dort etwas Eigenes aufbauen. Ich hatte Angst davor, es dir zu sagen, weil ich ja wusste, dass du nicht begeistert reagieren würdest, aber ich habe mir das nun mal in den Kopf gesetzt.« Sie trank einen Schluck. »Du denkst, ich bin irre, stimmt’s?«

»Wieso denn? Je länger ich darüber nachdenke, desto cooler finde ich die Idee. Falls du recht hast und die Dunkelheit und Kälte dort wirklich nicht so schlimm sind. Ein Neuanfang in Alaska … das hat was, Alex. Und du hast dir das wirklich gut überlegt?«

»Natürlich, das ist ja eine große Sache.«

»Und wann hast du dich entschieden?«

»Vor ungefähr einer Stunde.«

»Vor einer Stunde?« Bella hatte so laut gesprochen, dass sich einige Gäste nach ihnen umdrehten. Sie beruhigte sich aber gleich wieder und fragte etwas leiser: »Und wie bist du auf Alaska gekommen? Ausgerechnet Alaska?«

Alex erzählte ihr von der Begegnung mit den Larimers und ihren Schwärmereien von Alaska. Schon einen Tag später hatte sie sich einen umfangreichen Reiseführer über Alaska gekauft und ausführlich darin gelesen. »Die Arbeit in der Praxis meines Dads hat mir sehr gefallen, aber Alaska ist halt noch mal was anderes. Spannender und abwechslungsreicher. Stell dir vor, zu manchen Patienten kommst du nur mit dem Buschflugzeug. Ist das nicht aufregend?«

»Sag bloß, du willst einen Flugschein machen?«

»Warum denn nicht? Ohne den bist du in Alaska als Tierärztin aufgeschmissen, sagt Henry. Da soll es mehr Flugzeuge als Autos geben, hab ich irgendwo gelesen.«

»Ich finde das ganz schön mutig von dir.«

»Was ist mit dir? Was wolltest du mir sagen?«