Die Tochter der See - Linda Wilgus - E-Book

Die Tochter der See E-Book

Linda Wilgus

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Beschreibung

Eine große Liebe, die dem Gesetz der See trotzt Die Napoleonischen Kriege haben die junge Londonerin Isabel früh zur Witwe gemacht. Verarmt und verfolgt von unschicklichen Gerüchten, macht sie das Beste aus ihrer Situation und zieht in ein kleines Cottage an der rauen Küste Cornwalls. Was Isabel nicht weiß: Ihr abgelegenes Häuschen dient Schmugglern, die an der Küste ihr Unwesen treiben, dann und wann als Versteck. Eines Nachts lernt sie so den Kapitän eines Schmugglerschiffs kennen. Mehr und mehr fühlt sie sich zu ihm und zu der See, auf die er sie mitnehmen könnte, hingezogen. Eine Sehnsucht, die sie vor dem Leutnant, der unerbittlich gegen die Schmuggler vorgeht, und der gleichzeitig Isabel immer häufiger aufsucht, um ihr seinen Schutz anzubieten, unbedingt verbergen muss …

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Seitenzahl: 504

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Linda Wilgus

Die Tochter der See

Roman

Andrea Fischer

Für Brandon, Noortje, Emma und Sebastian

1. Kapitel

Ihre Ankunft im Dorf ist ein Geflüster. Es beginnt in dem Moment, da sie die zwei Stufen aus der Kutsche auf die unbefestigte Straße hinuntersteigt. Zwei Frauen, die ihre schwarzen Stricktücher eng um die Schultern gezogen haben, stehen vor einem der reetgedeckten Cottages, die fast in die Klippen hineingebaut sind. Auch wenn sie nicht mit dem Finger auf Isabel zeigen, wird sie von ihren Blicken durchbohrt. Sie kann die Worte nicht verstehen, der Wind weht zu stark, doch sie spürt, dass die beiden über sie reden. Hinter dem Fenster des nächsten Cottages bewegt sich ein schmutziger Vorhang.

Ihre Samtpelisse ist nicht für den kräftigen Wind gemacht, der hier draußen weht, doch die Kühle, die sie empfindet, hat noch eine andere Ursache. Sie wissen Bescheid, schießt es ihr durch den Kopf; vielleicht war der Gedanke auch schon die ganze Zeit da, murmelte vor sich hin inmitten all der anderen, die sie heute hatte – Gedanken über die wunderschöne raue Landschaft, über die schreckliche Federung der Kutsche und die Missbilligung im Gesicht des hageren Kutschers, als er in Helston die Pferde wechselte. Obwohl Isabel auf der Fahrt so gut wie nichts getrunken hat, konnte sie dort nicht länger einhalten, und anschließend schimpfte der Kutscher, sie hätte zu lange gebraucht; er hätte Briefe auszuliefern.

Die Kutsche schleppte sich die Klippe hinauf, darin der Kutscher, der Postschaffner der Royal Mail und sie; der Weg immer schmaler, bis sie das Gefühl hatte, durchs Innere des Dorfes gezogen zu werden. Die efeubedeckten hohen Mauern zu beiden Seiten der Straße bedrängten die Kutsche, bis sich unversehens ein Spalt auftat, durch den Isabel einen Blick auf den Fluss erhaschte, funkelnd wie dunkle Diamanten, und die Boote, die in der Dünung auf und ab hüpften. Blumen blühten an den Mauern, Hunderte von ihnen.

Der Fluss ist kein richtiger Fluss, sondern ein Arm des Atlantiks, der sich tief ins Land drückt und an den Ufern von großen Tanghaufen gesäumt wird. Seit Truro sitzen keine anderen Passagiere mehr in der Kutsche. Isabel ist am Ende der Welt angekommen.

Der Kutscher beeilt sich jetzt, löst die Schnallen um ihren Koffer und hievt ihn aus dem Gefährt. Mit einem Brummen stellt er ihn neben ihr ab, während der Schaffner die Kiste mit den Briefen ins Gasthaus bringt. The Shipwrights Arms steht auf dem Schild an einer Stange neben der Tür. Die Frauen tuscheln noch immer. Eine dritte kommt die Straße entlang, einige Jahre jünger. Sie trägt einen Korb auf dem Rücken, der mittels eines Ledergurts an ihrer Haube befestigt ist, dazu hat sie einen Säugling in einem Tuch vor der Brust. Die Jüngere grüßt die anderen beiden und starrt dann ebenfalls zu Isabel herüber. Selbst der Säugling, so tief in den Falten des Stricktuchs verstaut, dass Isabel nur Augen und Näschen sehen kann, scheint ihren Koffer und die Kutsche zu mustern. Sie wissen Bescheid, denkt sie wieder. Sie haben es gehört.

Sie schließt die Augen und atmet tief durch. Das Band ihrer Haube schlägt ihr ins Gesicht, will sich im Wind lösen. Sie spürt, wie die Blicke schwer auf ihren Armen lasten und unter ihr Kleid kriechen, unter den Unterrock und die Korsettstangen. Die Mauern des Gasthauses waren früher einmal weiß. Das Gebäude kauert vor ihr, die schmale Öffnung an der Seite der einzig sichtbare Zugang. Zu seiner Linken erstreckt sich eine felsige Fläche, dahinter kann sie den Fluss sehen. Sein Anblick trifft Isabel jedes Mal, fast wie ein Schlag. Das Meer ist nur eine Biegung entfernt. Falls sie unterwegs an ihren Gründen herzukommen gezweifelt haben sollte, beruhigt sie der Fluss mit seinem kühlen Glitzern: Darum bist du hier. Die Angst verebbt, abgelöst von einem Gefühl der Ruhe. Diese Wirkung hat das Meer auf sie, hatte es immer schon. Der Verlust von George hat nichts daran geändert.

Natürlich ist es Unsinn, was sie denkt. Diese Frauen – was sind es überhaupt, Fischweiber? – können unmöglich wissen, warum sie London verlassen hat. Sie kennen die Gerüchte nicht und werden sie auch nie erfahren. Das alles hat Isabel hinter sich gelassen. Die Frauen gaffen nur, weil sie eine Fremde ist.

Der Kutscher tippt sich noch mal an die Mütze und steigt auf den Bock; der Schaffner nimmt seinen Platz hinten auf dem Gefährt ein. Ein Schnalzen der Zunge, ein Schlagen der Zügel, und die Kutsche dreht mühelos auf engstem Raum. Isabel sieht zu, wie sie den Hang hinunterrollt, und fühlt sich unerklärlich allein. Sie wartet, bis die Hufe nicht mehr zu hören sind, dann wendet sie sich dem Wirtshaus zu.

Mit den Blicken der Frauen im Rücken geht sie zum Eingang. Die dunkelblaue Farbe blättert von der Tür. Bevor Isabel eintreten kann, wird die Tür von innen aufgezogen, und ein Mann mit schütterem Haar duckt sich unter dem Rahmen hindurch. Als er sich wieder aufrichtet, ist er noch größer, als Isabel erwartet hat. Dünn und scharf wie die Klinge eines Brieföffners steht er da und mustert sie mit hellgrünen Augen, in denen dieselbe Neugier steht wie in denen der Frauen.

»Mit dem großen Koffer haben Sie’s aber schwer, was?«, sagt er. Die Finger seiner linken Hand nesteln an seiner Schürze herum, ein grob gewebter Stoff in einem überraschenden Pfirsichrosa. Isabel muss sich anstrengen, ihn zu verstehen; die Aussprache der Wörter ist ungewohnt, manche Vokale klingen anders.

»Wie meinen Sie bitte?«

»Sind Sie nicht die Dame, die in der alten Sardinenhütte wohnen will?«

Jetzt ist sie diejenige, die ihn fragend ansieht. »Ich möchte nach Trevernan Cottage. Nicht zu einer … einer Hütte.«

Der Mann lacht. »Das ist das Cottage neben der Hütte. Wir nennen es immer die alte Sardinenhütte – aber was rede ich da? Wo sind nur meine Manieren?« Er lupft seine Mütze, verbeugt sich und sagt: »Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle? Tom Holder, Inhaber des Shipwrights Arms.«

Isabel neigt den Kopf. »Mrs. Isabel Henley.«

Er sieht sich um, als rechne er damit, dass George hinter einer niedrigen Grundstücksmauer auftaucht. »Natürlich. Sie sind verheiratet. ›Geborene Farnworth‹ stand in dem Schreiben, hat Mrs. Dowling gesagt. Wir haben schon Nachricht von Ihrem Kommen erhalten. Seit Ihrer Bestätigung, dass Sie das Cottage mieten, hat Mrs. Dowling von nichts anderem mehr geredet.«

Isabel schaut auf ihren Reisekoffer. Sie hätte ihn nicht mitnehmen sollen. Er ist zu unhandlich und viel zu schwer, obwohl er nur einen Bruchteil der Dinge enthält, die sie einpacken wollte. Die Luft will ihr nur schwer durch die Kehle. Sie hat Schwierigkeiten zu schlucken. Das geschieht nicht oft, nicht mehr. »Nicht verheiratet«, sagt sie. »Verwitwet.«

»Das tut mir leid.«

»Wie dem auch sei. Mittlerweile gibt es schon so einige von uns.« Ihr Lachen ist so leicht wie leer. Sie verabscheut das Mitleid, das über Tom Holders Gesicht huscht, die stechenden Augen der Fischweiber in ihrem Rücken.

»Stören Sie sich nicht an denen«, bemerkt Tom Holder. »Die tratschen gern.«

»Weil ich eine Fremde bin, nicht wahr?«, sagt sie.

Er schüttelt den Kopf. »Eben weil Sie keine Fremde sind.« Er schaut auf den Reisekoffer und fragt vorsichtig: »Ist das alles, was Sie mitgebracht haben?«

Sie sieht ihm in die Augen, und das Verständnis darin steigt in ihr hoch wie die Flut. Noch so ein Blick, und das Wasser wird überlaufen. Sie schluckt mehrmals. »Mein Gatte hatte Schulden. Das Prisengeld … nach seinem Tod … es ist nicht gekommen. Leider zieht es keine finanzielle Belohnung nach sich, in einer Depesche erwähnt zu werden.«

»Ihr Gatte war Seemann?«, fragt Tom Holder.

»Ja, er war Fähnrich auf der HMS Neptune.« Ihre Kehle ist so eng, dass die Worte, die sie hindurchquetscht, piepsig klingen. Tom Holder sieht aus, als hätte er bei dem Wind Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Er beugt sich zu ihr vor, und sie kann seinen säuerlichen Atem riechen. Ihre Hand wandert zu ihrer Brust, wo unter dem Samt ihrer Pelisse Georges Trafalgar-Medaille an einem schwarzen Band ruht. Isabel wird sparen müssen, um es zu ersetzen. Nie zuvor hat sie für etwas sparen müssen.

Sie schiebt die Hand zwischen die Knöpfe der Pelisse. Die silberne Medaille ist tröstlich unnachgiebig in ihrer Hand. Zumindest das wird sich niemals ändern. Sie wird immer Georges Medaille haben. Wenn das Silber anläuft, wird sie es polieren, so wie es früher die Hausmädchen taten. Mit einem kurzen Blick auf die Frauen neben dem Haus sagt Tom Holder: »Es wird über nichts anderes mehr geredet, als dass Sie zurückkommen. Das ganze Dorf ist in Aufruhr, seit bekannt wurde, dass die alte Sardinenhütte – also Trevernan Cottage – an eine Isabel, geborene Farnworth, vermietet wird. Aber jetzt, wo Sie hier sind, wird das Gerede sicher bald aufhören.«

Eine der Frauen hat einen Besen geholt, ohne damit zu kehren. Die dunklen Augen auf Isabel gerichtet sagt sie etwas zu ihrer Gefährtin.

»Damit werden Sie nicht weit kommen.« Tom Holder weist auf den Reisekoffer. »Trevernan liegt ungefähr eine Meile außerhalb des Dorfes am Küstenweg. Ich hole meinen Sohn Richard, der zeigt Ihnen den Weg und trägt den Koffer. Ich werde auch Mrs. Dowling Bescheid geben lassen; sie wird Sie kennenlernen wollen.«

»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen«, sagt Isabel. »Mir war nicht klar … Ich habe angenommen, das Cottage sei direkt im Dorf. Für die Hilfe Ihres Sohnes wäre ich sehr dankbar.«

»Das sind keine Umstände, Mrs. Henley. Der Junge ist zwölf und weiß nicht, wohin mit seiner Kraft.«

Isabel ist froh, dass sie die Frauen mit ihren Stricktüchern zurücklassen kann, und folgt Richard am Meeresarm entlang bis zu der Stelle, wo der Küstenpfad von der Straße abbiegt. Der Weg gleicht einem grünen Tunnel. Oben berühren sich die Zweige der Bäume in der Mitte. Sie erinnern Isabel an die gewölbte Decke einer Kirche. Es duftet nach Frühling, süß und waldig. Der Weg verläuft so hoch, dass sie die Algen im Fluss nicht mehr riechen kann, doch sie hört das Wasser, und als sie sich mit der Zunge über die Lippen fährt, schmeckt sie das Salz.

Tom Holders Sohn, der eher sechzehn als zwölf zu sein scheint, trägt ihren Koffer nach Trevernan Cottage, ohne ein Wort von sich zu geben. Schweiß tropft ihm von der Stirn, und nach einer Weile bleibt er stehen und stellt den Koffer ab, um seine Jacke auszuziehen, die Isabel ihm anbietet zu tragen.

Der Küstenpfad verläuft eine Zeit lang aufwärts, dann wird er schmaler und führt abwärts Richtung Wasser. Hier verschluckt der Fluss den Seetang und schwappt gegen die Felsen. Isabel möchte dahin, wo das Land sich abwendet und der Fluss zum Meer wird. Sie möchte sehen, ob die kieseligen kleinen Wellen dort höher sind. Der Wunsch ist so groß und unmittelbar, dass sie nach Luft ringt und den Atem anhält. Sie möchte das Meer nicht nur sehen; sie will es fühlen, so wie sie sich danach sehnte, Georges Arme um sich herum zu spüren – wie sie es manchmal immer noch tut.

Sie reißt den Blick vom Wasser los. Hier ist niemand außer ihr und dem Sohn des Gastwirts. Der grüne Tunnel scheint immer schmaler zu werden. Wenn sie sich das Cottage fern an der südlichsten Spitze Cornwalls vorstellte, malte sie sich gern aus, dass es abseits und einsam lag, doch nie hätte sie es sich so abgelegen gedacht.

Nach einer guten Viertelstunde stößt der unbefestigte Pfad auf einen breiteren Kiesweg, der auf der einen Seite zu einem gedrungenen Steincottage und auf der anderen hinunter zum Meeresarm führt. Sein Rauschen spült ihre Bedenken hinweg, das Cottage unbesehen gemietet zu haben. Sie muss sich gegen den Drang stemmen, umgehend nach unten zu klettern und ins Wasser zu waten. Das Gefühl hatte sie auch früher, in ihrer Kindheit in Norfolk, und selbst in London spürte sie es schwach, wann immer sie in der Nähe der Themse war. Doch so stark wie hier und heute hat sie den Sog des Meeres noch nie gefühlt.

Richard reißt sie aus ihren Gedanken. »Das hier ist das Cottage.« Überflüssigerweise weist er darauf.

Sie wendet dem Fluss den Rücken zu. Eine kleine Eiche, ein Schössling noch, wächst neben dem Häuschen, unweit der Tür. Das Grau des Schieferdachs ist einen Ton dunkler als die Wände aus grob behauenem Stein. Links vom Cottage steht ein Nebengebäude mit einem Reetdach. Im Mörtel zwischen den Steinen wächst Moos.

»Das ist die Sardinenhütte«, erklärt Richard. »Sie wurde aber nicht mehr genutzt, seit der alte Nance tot ist.«

Der Kiesweg führt zur niedrigen Eingangstür. »Die Steuereintreiber kommen hier öfter vorbei, werden Sie sehen. Sie reiten Patrouille und halten Ausschau nach Schmugglern.«

»Gibt es in dieser Gegend viele Schmuggler?«

Richard antwortet nicht. Er drückt die Tür auf, die geräuschvoll über die Schwelle schrammt. Dahinter kommt eine kleine graue Küche zum Vorschein. Abgesehen von einem Holztisch, zwei Stühlen mit Spindelrücken und tiefen Holzbalken unter der Decke ist dort alles aus Stein: die Platten auf dem Boden, die Arbeitsfläche, die Spüle, der Kamin mit dem geschwärzten Metallrost zum Kochen. Hier gibt es keinen Standherd wie in der Küche in Greenwich. Wie eine Höhle, denkt Isabel. Ebenso kalt und dunkel.

Eine hohe Stufe führt hinein. Das einzige Fenster ist klein und sehr tief in die ungefähr dreißig Zentimeter dicke Mauer gesetzt. Die Scheibe ist von minderer Qualität, taucht alles in ein dämmriges Violettgrau. Richard stellt den Koffer ab, und Isabel gibt ihm einen Shilling, was, nach der unbedachten Freude in seinem Gesicht zu urteilen, eine Menge sein muss. Sie schilt sich innerlich; in solchen Angelegenheiten muss sie besser werden. Sie hat jetzt nichts mehr zu verschenken.

»Mrs. Dowling wird gleich da sein«, sagt Richard. Es klingt, als würde er gerne gehen, hätte aber ein schlechtes Gewissen, sie allein zu lassen. »Kommen Sie so lange zurecht, Mrs. Henley?«

Sein Vater muss ihm ihre Situation geschildert haben. Sie ist kein Kind mehr. Arm, ja, daran wird sie sich gewöhnen müssen, aber sie ist nicht lebensuntüchtig – nicht völlig.

»Danke«, sagt sie. »Ja, das schaffe ich schon. Bitte übermittele deinem Vater meinen Dank für seine Unterstützung.«

Der Junge verspricht es und macht sich sofort auf den Rückweg. Hinter Isabel seufzt die kleine leere Küche. Es riecht feucht und muffig. Sie versucht, das Fenster zu öffnen, doch es klemmt. Schließlich zieht sie die Tür auf, setzt sich auf den Koffer und schlägt die Hände vors Gesicht. Sie weiß, dass sie aufstehen und sich den Rest des Häuschens ansehen müsste. Sie müsste auspacken und sich darum kümmern, wie man den Haushalt bewerkstelligt, wie man die einfachsten Dinge macht, Feuer und Essen beispielsweise. Doch sie ist so müde von der Reise, dass sie an nichts anderes denken, nur hier sitzen kann. Sie hat das Gefühl, in einem Trancezustand zu sein, als seien die Geschehnisse der letzten Monate nur ein Traum. Als würde George, wenn sie aufschaute, mit ausgestreckten Armen auf sie zukommen, die Jahre dazwischen vom Rauschen des Flusses ausradiert.

Der Wind frischt auf, jetzt gibt es richtige Wellen, Isabel kann sie hören. Das Tosen lässt die Sehnsucht in ihr wieder aufsteigen. Wenn es doch nur ein Traum wäre, wenn sie doch nur aufwachen und einen neuen Tag zu Hause in Greenwich beginnen könnte!

Als sie knirschende Schritte im Kies hört, blickt sie auf. Mrs. Dowling macht einen unbeholfenen Knicks und sagt: »Mr. Holder hat mir Bescheid gegeben. Es ist mir eine Ehre, Mrs. Henley.«

»Es ist mir ein Vergnügen«, erwidert Isabel, obwohl sie das im Moment ganz anders empfindet.

»Ich führe Sie durch das Cottage«, schlägt Mrs. Dowling vor. Sie trägt kein schwarzes Tuch wie die Frauen im Dorf, sondern ein dunkelblaues mit einem zarten Strickmuster. Die Wolle wirkt fein und weich vom Tragen. Mrs. Dowlings graue Locken scheinen sich gegen die Unmengen von Nadeln in ihrem Haar zu sträuben. Sich dessen bewusst, streicht die Hauswirtin sie ständig aus dem Gesicht. Der Wind ist da sicher nicht hilfreich, denkt Isabel.

Mrs. Dowling betrachtet sie – inspiziert sie regelrecht. Ob sie das denkt, was die Leute früher sagten, wenn sie hörten, wie Isabel zur Tochter von Admiral und Mrs. Farnworth von Wood-bury House wurde? Dass sie mit ihrem Haar in der Farbe nassen Sands, den Augen vom Grau des wintrigen Atlantiks und mit Sommersprossen, die sich im Sommer auf ihren Armen und Beinen sammeln, bis sie ineinander übergehen und eine fast orangefarbene Fläche bilden, wie ein Kind des Meeres aussieht und nicht wie das der hellhäutigen, dunkelhaarigen Mrs. Farnworth?

Isabels Gesichtszüge sind das Gegenteil von denen ihrer verstorbenen Mutter: Ihre Nase und der Mund sind groß, die Augen eher klein, aber immer noch in Proportion zum Rest, sodass sie meistens als hübsch bezeichnet wird, auch wenn die allgemeine Überzeugung herrscht, dass sie nicht annähernd die Schönheit von Alice Farnworth besitzt.

Das alles kann Mrs. Dowling natürlich nicht ahnen. Sie hat Isabels Vater nie gesehen; sie kann Isabel nicht mit ihm vergleichen noch kannte sie ihre Mutter, es sei denn, die beiden begegneten einander damals, vor neunzehn Jahren. Soweit Isabel weiß, hat Mrs. Dowling keine Verbindung nach London. Sie mag Isabel mustern, doch sie kann die Gerüchte nicht gehört haben – kann Isabel kein mangelhaftes Zeugnis ausstellen. So wenig wie die Fischweiber im Dorf kann Mrs. Dowling unmöglich den zweiten Grund wissen, warum Isabel nach Cornwall gezogen ist, neben ihrer offensichtlichen Geldknappheit.

Unten hat das Cottage nur zwei Räume: die kleine Küche und die größere Wohnstube mit einem zweiten steinernen Kamin im Farbton der Wände, dazu zwei weitere Spindelstühle. Rechts und links vom Kamin stapeln sich Holzscheite. Die Türen sind so niedrig, dass selbst Isabel den Kopf einziehen muss. Eine schmale offene Holztreppe führt aus der Wohnstube in eine kleine Schlafkammer unterm Dach. »Hier gibt es eine Treppe«, verkündet Mrs. Dowling, als sei es eine besondere Obstsorte in einem Kuchen. »Die findet man in so einem Cottage nicht häufig. Die meisten haben eine Leiter, wissen Sie, wenn es überhaupt einen oberen Stock gibt. Bettzeug ist in der Truhe. Den Abort finden Sie draußen. Kurz hinter der Gartentür«, erklärt die ältere Frau.

Isabel rechnet mit Spinnenweben, Staub, Schmutz – Mrs. Dowling sagt, seit drei Jahren habe hier niemand gewohnt –, doch die groben Steinflächen sind makellos sauber. Isabel stellt sich vor, nachts zum Abort zu gehen. Sie möchte fragen, ob es einen Nachttopf gibt oder ob sie sich einen zulegen sollte, doch die Frage erscheint ihr zu persönlich, deshalb bittet sie darum, den Garten zu sehen. Mrs. Dowling steigt mit eingezogenem Kopf die Treppe hinunter und geht durch die Hintertür. Dort befindet sich ein kleiner Schuppen, der sich als Abort entpuppt, dazu eine Grasfläche, ein paar Büsche und ein Pfad mitten hindurch. »Wo führt der hin?«, fragt Isabel.

»Das zeige ich Ihnen.«

Mrs. Dowling geht vor. Der hangabwärts verlaufende Weg ist überschattet und zugewuchert. Am Ende treten sie ins Sonnenlicht, das vollkommene Gegenteil zum schlichten, dunklen Cottage – es sieht aus wie im Paradies. Eine weitere Grasfläche reicht bis an eine niedrige Mauer aus vermoosten grauen Steinplatten heran, die scheinbar wahllos übereinandergestapelt sind. Daran ranken Efeu, weiße und rosaviolette Blumen empor. Bienen summen. Andere flache Steine bilden einen kleinen Freisitz mit einer weiß gestrichenen Holzbank und einem viereckigen Holztisch, ebenfalls weiß. Die Farbe ist alt und rissig von der Sonne. An manchen Stellen blättert sie ab, doch irgendwas an dieser Bank, an dem Umstand, dass sich jemand die Zeit genommen hat, sie zu streichen, weckt einen sehnsüchtigen Schmerz in Isabel. Sie wendet sich von Mrs. Dowling ab, damit die Hauswirtin nicht ihre aufsteigenden Tränen sieht.

Vom Freisitz geht der Blick über den Fluss, der in der Sonne ein pudriges Blau angenommen hat. Ein rundlicher Apfelbaum streckt seine Zweige über die Bank. An einem warmen Tag wird er nachmittags Schatten spenden. Der Wind setzt dem Wasser Schaumkronen auf, wie Sahne auf Pudding, schaukelt die vor Anker liegenden Boote, und in der Ferne erstreckt sich die Landzunge in trägem grünen Dunst. Wieder spürt Isabel den Sog, das Wasser zu überqueren und das Land auf der anderen Seite zu sehen; sich aufs offene Meer hinauszuwagen, darin zu schwimmen. Das Gefühl verwirrt sie, und sie ist froh, dass Mrs. Dowling ihr Gesicht nicht sehen kann.

Links von der Wiese, halb versteckt hinter einem struppigen Busch, befindet sich ein steinerner Brunnen. »Dies ist der Brunnen«, erklärt Mrs. Dowling, als sie Isabels Blick folgt. »Er ist so tief, dass das Wasser klar ist. Vielleicht möchten Sie den Weißdorn einmal stutzen.« Es folgt eine kurze Pause, dann, etwas unsicher: »Ich hoffe, alles ist zu Ihrer Zufriedenheit.«

Isabel schaut auf die Boote hinunter. Sie sind schwarz, grün oder weiß gestrichen; manche haben weiße Segel, andere rote. Möwen ziehen kreischend ihre Kreise – es müssen Fischerboote sein, denkt sie. Zwei haben eine schwarze Flagge mit einem weißen Kreuz gehisst. Sie holt tief Luft, schmeckt das Meer, das Salz und das Wasser, den Fisch und den Tang. »Es ist perfekt«, sagt sie.

Mrs. Dowling erwidert, das freue sie zu hören. »Ich bin auch allein«, sagt sie. »Mein Harry ist vor zwei Jahren gestorben.«

Die Art, wie sie »mein Harry«, sagt, findet Isabel irgendwie unangemessen. Sie kann sich nicht vorstellen, »mein George« zu sagen, als würde er ihr gehören. Als könnte ein Mensch überhaupt einem anderen gehören. Mrs. Dowling ist älter, als ihr Vater jetzt wäre, würde er noch leben. Glaubt sie, etwas mit Isabel gemein zu haben, nur weil sie beide Witwen sind?

»Möchten Sie vielleicht irgendwann zu Besuch kommen?«, fragt die ältere Frau, als sei das die logische Folgerung aus ihrer Erklärung, dass auch sie allein ist. Isabel unterdrückt ein Seufzen – zwischen ihnen gibt es einen Standesunterschied. Dann wird ihr klar: Dieser Unterschied besteht nicht mehr. Sie ist ebenso arm wie Mrs. Dowling. Sogar noch ärmer, denn Mrs. Dowling ist immerhin die Besitzerin von Trevernan Cottage, während Isabel mit ihrer Witwenrente sich nur leisten kann, es zu mieten.

Sie ertappt sich bei der Erwiderung, sie wäre ihr sehr verbunden. Dabei wollte sie das gar nicht sagen. Nicht wegen eines ehemaligen Standesunterschieds zwischen ihnen, sondern weil sie lieber für sich bleiben möchte. Sie ist nicht hergekommen, um Freunde zu finden. Sie ist gekommen, um fern von Greenwich zu sein, von der Schande, ihre gesellschaftliche Stellung verloren zu haben, vom Brodeln der Gerüchteküche. Auch um Abstand zu George aufzubauen – zu den Erinnerungen an ihn. Sie in Schach zu halten, versetzt ihr noch immer täglich hundert Stiche.

Drei Jahre sind seit der großen Seeschlacht von Trafalgar vergangen, und es ist kaum besser geworden. Ihre Ehe dauerte ebenfalls drei Jahre, bis eine Kugel aus einer französischen Muskete ihr ein Ende setzte. Isabel war erst siebzehn und George achtzehn, als sie sich vermählten, und er war fast nur auf See. In den Jahren nach seinem Tod spürte sie seine Abwesenheit umso schmerzhafter, weil sie wusste, dass er nicht zurückkehren würde. Wenn sie in Greenwich im Frühstückszimmer saß und ihren Tee einnahm, fühlte sie sich leer. Immer ging sie ohne ihn durch den Park, saß sonntagsmorgens allein in der Kirche, der Platz auf der Bank neben ihr verwaist. Die Abende waren lang, weil er nicht nach einem Ruf in die Admiralität oder einem Treffen mit einem Freund heimkommen würde; weil sie wusste, dass ihr Bett kalt wäre und sie keine Briefe mehr bekäme. In den drei Jahren ihrer Ehe verbrachte sie insgesamt nur fünf Wochen und einen Tag mit George. Deshalb tut es immer noch weh, mehr als alles andere, denn George wurde ihr genommen, bevor ihr gemeinsames Leben beginnen konnte.

Mrs. Dowling folgt dem Pfad zurück. In der Wohnstube sagt sie: »Ich habe Feuerholz vorbereitet.« Im Kamin sind mehrere Scheite gestapelt, darunter liegen Zweige. »Ich habe mich gewundert, dass Sie mich nicht angewiesen haben, Dienstboten zu besorgen. Nicht mal eine Köchin oder ein Küchenmädchen. Werden Sie sich nun, da Sie hier sind, nach jemandem umsehen?«

Hitze steigt Isabel in die Wangen. »Leider macht es meine derzeitige Situation erforderlich, dass ich ohne die Hilfe auskomme, die ich gewohnt bin. Ich kann nur hoffen, dass ich schnell lerne, wenn es um den Haushalt geht.«

Sie spürt den Blick der älteren Frau auf sich. Zu ihrer Erleichterung sagt Mrs. Dowling nur: »Normalerweise ist es im April nicht so kalt wie jetzt. Soll ich Ihnen zeigen, wie man den Kamin anfeuert?«

Isabel erwidert, dafür wäre sie sehr dankbar, und Mrs. Dowling nimmt die Zunderbüchse vom Kaminsims und zeigt ihr, wie man den Feuerstahl gegen den Flint schlägt und so den Leinwandzunder zum Glimmen bringt. Damit wird dann der Holzstreifen entzündet, um das Feuer zu entfachen. »Machen Sie die Büchse schnell wieder zu, sonst ist die Hälfte des Zunders weg«, rät Mrs. Dowling. »Hier, versuchen Sie es.«

Isabel zieht ihre Handschuhe aus und nimmt die Büchse in die Hand. Sie braucht fünf Versuche, um das Holz zum Brennen zu bringen. Schließlich fangen die Zweige Feuer, und die Holzscheite beginnen zu schwelen. Isabel legt die Hände um den Mund, pustet vorsichtig nach Mrs. Dowlings Anleitung und schaut zu, wie sich das Glimmen ausbreitet. Sie muss sich zusammenreißen, um nicht triumphierend zu jubeln.

Mrs. Dowling sagt: »Im Vorratsschrank sind ein paar Kerzen, außerdem Butter, Eier, Brot, ein Krug Milch und ein bisschen Tee.« In vielsagendem Ton fügt sie hinzu: »Wir bekommen den Tee hier zu sehr günstigen Preisen. Ich erkläre es Ihnen, wenn Sie Nachschub brauchen und selbst welchen kaufen müssen. Der nächste Laden ist in Manaccan, aber das wissen Sie ja; Sie haben Mr. Griggs angeschrieben.«

Isabel hatte Mr. Griggs’ Namen in einer Lokalzeitung entdeckt, die sie sich eigens zu diesem Zweck hatte bringen lassen, und schriftlich bei ihm angefragt, ob er jemanden in der Gegend kenne, der ein Cottage verpachte, vorzugsweise im Dörfchen Helford. Wenn sie schon verschwinden musste, fand sie, könne sie genauso gut an den Ort gehen, wo sie aufgetaucht war, und vielleicht herausfinden, was damals geschah. Mr. Griggs schrieb ihr innerhalb einer Woche zurück; keine zwei Wochen später stieg sie in die Postkutsche.

Mrs. Dowling fährt fort: »Zweimal die Woche ist Markt vor dem Shipwrights Arms, am Dienstag- und Samstagmorgen. Dort gibt es so gut wie alles, was man braucht. Brot bekommen Sie bei John Lanyon, dem Bäcker, wenn Sie nicht selbst backen; Fisch kann man jeden Tag kaufen, wenn der Fang eingebracht wird, und für Fleisch müssten Sie mit Josh Angove von der Elm Farm sprechen.«

»Vielen Dank. Wie viel schulde ich Ihnen für die Lebensmittel und die Kerzen?«

»Gar nichts, Mrs. Henley. Sie werden feststellen, dass die Leute hier füreinander sorgen. Wenn Sie bei irgendwas Hilfe brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden. Klopfen Sie, wann immer Sie wollen.«

»Danke«, wiederholt Isabel. »Ich denke, ich komme zurecht.«

Mrs. Dowling steckt eine Haarnadel fest. Sie verharrt auf der Schwelle, geht nicht, noch nicht. Ihre Augen wandern über Isabels Gesicht, hoch zum Haaransatz und ruhen an einem unbestimmten Punkt über ihrem Scheitel. »Ich habe Sie damals gesehen«, sagt Mrs. Dowling. »Damals, als Sie rauskamen. Ich stand am Fenster und hab gesehen, wie Sie die Straße hochkamen. Sie waren ganz klein und barfuß. Klein für Ihr Alter – das fanden wir hinterher alle; das Mädchen wäre klein für sein Alter. Sie hatten nur ein Hemdchen an, aber die anderen sagten, es wäre aus feinster Baumwolle gewesen. Ihr Haar war dunkler als jetzt.«

Fast ehrfürchtig streckt sie die Hand aus, und Isabel weicht zurück, doch zu spät: Mrs. Dowlings rauer Finger streift ihre Stirn. »Es muss dunkler gewesen sein, weil es nass war. Von da, wo ich stand, konnte ich allerdings nicht sehen, dass Sie nass waren. Zuerst wollte ich zu Ihnen rausgehen, dann habe ich mir gesagt, Ihre Eltern wären bestimmt nicht weit. Kurz darauf müssen Sie bei Hardwick in den Garten gelaufen sein.« Eine Pause. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie nass bis auf die Knochen waren, wäre ich vielleicht zu Ihnen gegangen.«

In den Worten der Frau hört Isabel einen unerklärlichen Unterton. Auf einmal hat sie das Gefühl, dass es nicht der Witwenstand ist, der sie beide in Mrs. Dowlings Vorstellung miteinander verbindet, sondern die Möglichkeit, dass sie vielleicht Mrs. Dowlings Tochter geworden wäre, wenn die an jenem Tag vor neunzehn Jahren zu ihr auf die Straße getreten wäre. Natürlich eine absurde Idee. Isabel kann sich nicht vorstellen, jemand anderes als das Kind ihrer Mutter und ihres Vaters zu sein.

Sie kann sich an nichts erinnern, was vor dem Moment geschah, als ihre Mutter sie auf den Arm nahm, obwohl sie, Isabel, durch und durch kalt und nass war und ihr Gesicht im Seidenkleid ihrer Mutter vergrub. Es ist, als hätte es den Anfang ihres Lebens nie gegeben; als sei sie immer für dieses Paar bestimmt gewesen.

Isabel muss husten, damit sich ihre Zunge löst. »Als ich wo rauskam?«, fragt sie.

»Wie meinen, Mrs. Henley?«

»Sie sagten gerade, Sie hätten mich gesehen, als ich damals rauskam.«

»Na, aus dem Meer natürlich. Auch wenn nicht jeder glaubt, dass der Bucca Sie gebracht hat.«

»Der Bucca?« Isabels Stimme verhält sich seltsam, steigt und fällt innerhalb eines Worts, wie in einem Lied. In ihren Ohren rauscht es. Sie spürt, dass Mrs. Dowling es ernst meint, todernst. Sie muss verrückt sein. »Was …?«

Die alte Frau spürte ihre Verwirrung und tätschelt ihren Arm. »Sie haben kein einziges Wort Englisch gesprochen, stimmt’s?«

»Das kann nicht sein. Das hätten meine Eltern irgendwann mal erwähnt.«

»Sie haben gar nicht gesprochen, wurde erzählt«, fährt Mrs. Dowling fort. »Wie auch, mit einem Bucca.« Gereizt fügt sie hinzu: »Sie wissen nichts über den Bucca, oder? Das ist ein Wassergeist, ungefähr so groß«, sie hält die Hand knapp unterhalb ihrer Taille. »Er hat die Haut eines Meeraals und Algen als Haare. Nun, so berichten es manche; ich selbst bevorzuge ein romantischeres Bild.« Ihr Lächeln hat etwas von einem kleinen Mädchen, so wie vorher schon ihr Lachen, doch sie zerstört die Wirkung mit ihren nächsten Worten. Die milchig blauen Augen auf Isabel gerichtet, sagt Mrs. Dowling: »Manche behaupten, Sie wären seine Tochter.«

Kurz angebunden gibt Isabel zurück: »Meine Mutter hat mir erzählt, dass es ein Schiffsunglück gegeben haben muss. Oder vielleicht bin ich weggelaufen; vielleicht hat jemand, der Verantwortung für mich trug, nicht aufgepasst.« In den Worten ihrer Mutter hatte eine Anschuldigung gelegen. Alice Farnworth war überzeugt, dass sie ihre Aufmerksamkeit niemals vom Kind abgewendet hätte, falls der liebe Gott es für richtig gehalten hätte, sie mit eigenem Nachwuchs zu segnen. Sie nannte ihre Tochter so oft ein Geschenk, dass Isabel ihre eigenen Unzulänglichkeiten umso mehr spürte.

»Vielleicht wollte Ihre Mutter Sie vor der Wahrheit schützen«, sagt Mrs. Dowling. »Es geht das Gerücht, dass sie Helford nicht schnell genug verlassen konnte, nachdem sie Sie gefunden hatte.«

Eisig läuft es Isabel über den Rücken. Auch hier haben die Menschen über sie geredet, genauso wie in London, nur aus anderen Gründen. Seit fast zwanzig Jahren spotten und urteilen die Leute über sie. Isabel taumelt ins Cottage zurück. Am liebsten würde sie sagen: Das ist eine Unverschämtheit oder Wie können Sie es wagen, so von meiner Mutter zu sprechen. Doch am Ende begnügt sie sich mit: »Wenn Sie mich entschuldigen, ich muss jetzt wirklich auspacken.«

»Natürlich. Falls Sie noch irgendwas brauchen, zögern Sie nicht, mir Bescheid zu geben«, sagt Mrs. Dowling in einem völlig normalen Tonfall, als hätten sie gerade nicht über Meergeister gesprochen.

Als Isabel die Tür hinter sich schließt, stellt sie fest, dass auf der einen Seite ein Spalt ist, während das Holz auf der anderen bis auf die Schwelle hinunterreicht, sodass die Tür jedes Mal, wenn sie bewegt wird, über den Boden schrammt. Isabel wartet ein paar Minuten und öffnet die Tür dann erneut. Der Kiesweg ist leer. Die frische Seeluft drückt herein, bemächtigt sich der Zimmer, vertreibt den Geruch aus dem muffigen alten Haus. Sie ist nun allein, und es tut nicht weh – noch nicht. Vielleicht ist es die ungewohnte Situation, die sie aufrecht hält. Vielleicht ist es das Meer. Isabel hört es durch das offene Fenster, nicht das Tosen der sich an den Felsen brechenden Brandung, auch nicht das Krachen der Wellen, sondern ein unablässiges leises Plätschern. Irgendwie klingt es tröstlich. Und vielleicht ein wenig verheißungsvoll, doch was es verspricht, weiß sie nicht.

In einer Holzkiste auf der Anrichte findet sie ein Messer, in einem der Schränke einen Teller, und damit setzt sie sich an den Kamin und isst eine Scheibe Brot mit Butter als frühes Abendmahl. Das Brot ist grob, aber hat einen guten, kräftigen Geschmack, als hätten beim Backen Kräuter im Ofen gelegen. Die Glut des Feuers breitet sich in ihr aus. Sie hat es selbst entzündet – das ist doch was, oder?

Während des Essens wird ihr klar, dass sie weniger Butter hätte verwenden sollen. Als sie fertig ist, stellt sie den Teller auf die Steinplatte. Sie müsste ihn abwaschen, doch sie ist zu müde, um Wasser aus dem Brunnen zu holen. Stattdessen öffnet sie den Koffer und holt die abgegriffene Ausgabe von Robinson Crusoe heraus. Das Buch klappt an der Stelle auf, wo sie den Zeitungsausschnitt aus dem London Chronicle vom 20. Oktober 1789 aufbewahrt. Ihre Mutter hatte die ganze Zeitung behalten, die viele Nachrichten aus Frankreich enthielt, wo drei Monate zuvor die Revolution ausgebrochen war, doch Isabel schnitt nur den einen kleinen Artikel aus, in dem stand:

Falmouth, Cornwall. EINKINDVONUNGEFÄHRVIERJAHRENAUFGEFUNDEN an der wunderschönen wilden Küste Cornwalls Ende letzten Monats, ohne dass sich eine Familienzugehörigkeit feststellen ließ. Der Bevölkerung zufolge ist das Kind nach einem Schiffsunglück aus dem Meer gekommen, obwohl es keine Berichte von einem solchen gibt. Wenn sich kein Verwandter meldet, werden Admiral und Mrs. Farnworth, Woodbury House, Norfolk, das Kind als ihre Tochter annehmen und aufziehen. Sollte jemand Informationen hinsichtlich des Kindes besitzen, so melde er sich bitte bei den Rechtsanwälten Enright & Pickering, Mayfair, London.

Das Unbehagen in ihr wächst wieder, bis es geradezu schreit. Mrs. Dowlings Geschichte über den Wassergeist hat es geschürt, ebenso wie die Erkenntnis, dass selbst hier die Leute über sie geredet haben. Warum interessiert sich Mrs. Dowling so für ihre Vergangenheit? Hat sie irgendeinen Verdacht? Unmöglich, sagt sich Isabel.

Ihre Nerven sind anderer Meinung, sie flattern. Mit dem Zeitungsausschnitt in der Hand geht sie zur Tür und zieht sie weit auf. Draußen wird es dunkel. Der Wind drückt gegen die Tür, der junge Baum daneben wiegt sich. Den Kiesweg hinunter tanzt der Fluss im letzten Sonnenlicht. Eine Erinnerung daran, dass sie dem Meer nah ist – so nah. Isabel atmet tief ein und schmeckt es: Salz, Wasser, die Schärfe nassen Seetangs. Allmählich breitet sich Frieden in ihr aus, geboren aus Wellen und Schaum, Ebbe und Flut. Die Strömung bringt sie zur Ruhe. Als sie die Tür schließlich wieder zumacht, empfindet sie ein erneuertes Gefühl von Zielstrebigkeit. Sie wird dieses Cottage zu ihrem Heim machen, komme, was wolle.

2. Kapitel

Nachts im Bett lauscht sie dem Fluss und dem Wind, der ums Cottage herum tobt. Sie ist ganz allein. Das darf sie nicht denken. Sie ist nicht allein – der Wind hat Stimmen. Sie rufen: Kommheim. Das Meerist direkt hinter der Biegung des Flusses. Das ist ein Traum, natürlich. Oder ein Halbtraum im benommenen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, in dem ihre Gedanken vom Hundertsten ins Tausendste springen und Verbindungen schmieden, die nicht wahr sein können.

Ein Knarzen weckt sie auf. Das Haus stöhnt an unerwarteten Stellen; es klingt, als liefen Füße übers Dach. Das harte Bett reicht für zwei Personen. Die Matratze ist mit Stroh gefüllt, das ihr in den Rücken sticht, aber die Laken sind sauber. Wer hat hier vor ihr gewohnt? Mrs. Dowling sagte, das Cottage habe drei Jahre leer gestanden. Bestimmt ein alter Mann mit seiner Frau, denkt Isabel. Ob sie in diesem Bett gestorben sind?

Der Meeresarm ist nachts lauter, die Wellen vom frühen Abend haben sich zu mächtigen Brechern entwickelt. Das Geräusch beruhigt Isabel, und schließlich schweifen ihre Gedanken wieder ab, so wie sie es immer tun, wenn sie auf der Schwelle zum Schlaf ist: das Haus in Greenwich, ihre Eltern, George und sie nach der Hochzeit, in den zwei Tagen, bevor er zurück auf See musste. Sie wären zu jung, hatte Georges älterer Bruder gesagt. Nach dem Krieg wäre noch jede Menge Zeit. Nur gab es die nicht.

 

Der Morgen bringt schweren Regen. Es ist Ebbe; der Meeresarm hat sich in einen breiten Streifen aus Tang und Steinen verwandelt. Der Wind peitscht den Regen gegen die Fenster. Tief hängt der Himmel über dem Fluss. Beide sind grau, das Wasser steingrau, der Himmel vom Grau zu oft gewaschener Baumwolle. Dem Regen trotzend wirft Isabel ihre Pelisse über, stellt sich in ihren Paradiesgarten und sieht zu, wie sich der Fluss im Wind hebt und senkt. Sie weiß nicht genau, was sie jetzt tun soll. Leben Menschen so?, fragt sie sich. Sieht es so aus, wenn man wirklich und wahrhaftig allein ist?

Wieder im Cottage legt sie Anzündholz in den Kamin. Konzentriert ahmt sie nach, was Mrs. Dowling ihr gezeigt hat: den Flint anschlagen und damit den Leinwandzunder entzünden, doch das Feuer will sich nicht entfachen lassen. Sie hat bereits die Hälfte ihres Zunders verbraucht und weint fast vor Verdruss, da züngelt plötzlich eine Flamme empor. Vor Erleichterung könnte Isabel weinen. Seit sie hier ist, sind zu viele Gefühle in ihr; ständig kämpft sie mit den Tränen.

Gegen Mittag klopft es an der Tür. Ob das schon wieder Mrs. Dowling ist? Isabel kennt sonst niemanden im Dorf, abgesehen vom Gastwirt und dessen Sohn, und die haben keinen Grund, sie zu besuchen. Als sie die Tür öffnet, ist sie überrascht, das rote Hemd und die blauen Beinkleider eines Zöllners vom Steueramt zu sehen. Sein Gesicht über der steifen Baumwollkrawatte erinnert sie an den Mond; es ist blass und rund, und die in den Winkeln herabhängenden Augen haben etwas Trauriges. Er scheint ungefähr zehn Jahre älter als sie zu sein.

Der Mann lupft seinen Hut, verbeugt sich tief und sagt: »Leutnant Arthur Sowerby, berittener Zöllner des Steueramts, zu Ihren Diensten, Madam«, als gäbe es kein armseliges Cottage, als sei es ganz und gar üblich, dass sie persönlich die Tür öffnet.

»Mrs. Henley. Sehr erfreut.« Sie macht einen Knicks, und zu ihrem Entsetzen greift der Mann nach ihrer Hand und drückt seine Lippen darauf. Die Berührung ist kalt. Regen tropft aus seinen rötlich blonden Locken, läuft ihm über die Wangen in den Hemdkragen. Irgendwo draußen schnaubt ein Pferd. »Aber kommen Sie doch herein, Leutnant«, sagt sie und tritt zur Seite.

Er duckt sich unter der Tür hindurch. »Danke, Madam, sehr verbunden.« Seine anmutigen Bewegungen strafen seine Größe Lügen: Er geht, als würde er tanzen. Am Küchentisch dreht er sich um. »Ich bin hier, Madam, um Sie zu warnen.«

»Mich warnen? Wovor denn?« Ihre Stimme klingt seltsam laut, als gehörte sie nicht in dieses Cottage, bräuchte mehr Platz.

»Ich habe vernommen, Sie leben hier allein?«

»Erstaunlich, wie schnell sich das herumspricht.«

»Ich bin in St Keverne stationiert. Das ist nur fünf Meilen entfernt. Wir wurden über Ihr Kommen unterrichtet. Die Gattin meines speziellen Freunds, des stellvertretenden Lordleutnants Sir Hugh Darby, möchte Ihnen auch bald einen Besuch abstatten, habe ich gehört. Lady Darby ist ganz erpicht darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen, genau wie ich. Wie Sie bemerkt haben dürften, gibt es in dieser Gegend nicht viele Menschen unseres Stands.«

Sie würde ihm gern einen Tee anbieten, weiß aber nicht genau, wie man ihn zubereitet. Etwas anderes hat sie nicht da. Ihr wird warm, sie greift nach der Medaille um ihren Hals. Das Band, an dem sie hängt, hält das Metall nah an ihrem Herzen. »Wie Sie sehen können, Leutnant, bin ich in meinen Lebensumständen sehr reduziert.«

Leutnant Sowerby besitzt den Anstand, so zu tun, als würde er es erst jetzt bemerken. »Ich verstehe. Gleichwohl. Ich empfinde es als meine Pflicht, Sie zu warnen, Madam, dass es in dieser Gegend vor Schmugglern nur so wimmelt. Als alleinstehende Frau sind Sie besonders gefährdet. Ich würde Ihnen raten, nachts die Türen und Fenster zu verriegeln.«

Isabel wirft einen kurzen Blick auf die Tür hinter sich. Sie hat kein Schloss.

»Oder lassen Sie ein Schloss anbringen«, sagt Leutnant Sowerby. »Für Ihre Sicherheit und die Ihres Besitzes. Sollte jemals etwas fehlen, geben Sie mir bitte umgehend Bescheid. Es wäre mir eine Ehre, Ihnen zur Hilfe zu eilen, sollten Sie mich benötigen.«

Er klingt furchtbar dienstbeflissen. Mit seinen durchgedrückten Schultern und dem hochgereckten Kinn sieht er auch so aus. Die Küche ist zu klein; er überragt sie förmlich. Isabel macht einen Schritt nach hinten, er rückt nach, tänzelt näher. Mit gesenkter Stimme fragt er: »Sie sind doch Witwe, nicht wahr?«

»Ja.« Ihre Hand umklammert die Trafalgar-Medaille. Die Konturen von Admiral Nelsons Profil drücken sich in ihre Finger. Auf der anderen Seite prangt eine Szene der Schlacht, in der George starb, darüber die Losung, die Nelson vorher ausgegeben hatte: England erwartet, dass jeder Mann seine Pflicht tut.

»Sie brauchen Schutz«, stellt Leutnant Sowerby fest. »Wenn nicht als vermögende Frau, so doch als Frau von Rang, die allein in einem rauen, gefährlichen Land lebt.«

Sie denkt an die Schönheit des Paradiesgartens, an die Blumen, den Fluss. »Bisher habe ich nur sehr wenig davon gesehen, aber es scheint mir nicht rau zu sein«, erwidert sie. »Ich finde es außerordentlich hübsch.«

»Weil sie eine Frau sind. Sie haben ein romantisches Herz. Aber ich habe gesehen, wie dieses Land wirklich ist. Ich musste auf den Wellen und Klippen gegen seine Söhne kämpfen. Gesetzlos, das sind die Leute hier. Jeder ist am Schmuggel beteiligt – Fischer, Bergarbeiter, Ladenbesitzer, Bauern. Selbst Frauen und Kinder! Alle haben ihre Finger darin.«

Wut steigt in Isabel auf, wie von Sowerby an einem Haken hochgezogen. Sie denkt an Tom Holder und dessen Sohn Richard, an Mrs. Dowling. Isabel ist gerade erst in Cornwall angekommen, doch es erscheint ihr ungerecht, die gesamte Bevölkerung derart zu beschuldigen. Sie hat nichts für Schmuggler übrig, hält sie für gefährlich. Aber die Bauern und Fischer? Sogar deren Kinder? Sie lässt Georges Medaille los und ballt die Hände zu Fäusten. »So schlimm kann es doch nicht sein, oder?«

»Es ist noch schlimmer, Madam. Früher dachte ich, ich würde die Männer, die ich ergreife, einer gerechten Strafe zuführen. Ich ließ sie einsperren und für ihre Verbrechen vor Gericht stellen. Schmugglerei, Seeräuberei. Doch fast alle wurden freigesprochen. Selbst die Geschworenen waren auf ihrer Seite!«

Er überragt sie, sein Mondgesicht ist viel zu nah. Isabel kann seinen Atem riechen, der sonderbar süßlich ist, als hätte er etwas Alkoholisches getrunken; sie spürt die Wut, die hinter seiner höflichen Fassade brodelt. Er hasst es hier, denkt sie. Er hasst Cornwall; hasst die Menschen.

Sie denkt an seine kalten Lippen auf ihren Fingerknöcheln. Zum ersten Mal wünscht sie, es würden noch die Regeln gelten, die vor ihrer Ehe ihren begrenzten Umgang mit Männern bestimmten. Als Witwe hat sie deutlich mehr Freiheiten, aber jetzt würde sie am liebsten darauf verzichten. Wäre sie noch ledig, würde Leutnant Sowerby nicht im Traum einfallen, hier allein mit ihr zu stehen.

»Mittlerweile riskiere ich gar keinen Prozess mehr«, bemerkt er.

»Wie meinen Sie das?«

»Was glauben Sie denn, wie ich das meine, Madam?« Seine Stimme wird schärfer. »Ich stelle sicher, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Ich lasse sie hängen, wie es Verrätern gebührt.«

»Verrätern?«, piepst sie und verdrängt das Bild, das vor ihrem inneren Auge aufkommt. Er hängt sie? Jungen wie Richard Holder?

»Halten Sie Schmuggler nicht für Verräter?« In ihm grollt Wut, doch er kontrolliert sie, lässt sie unter der Oberfläche seines höflichen Lächelns sieden. »Die Schmuggelei hilft den Franzosen. Wir befinden uns im Krieg, Madam.« Sowerbys Blick fällt auf Georges Medaille. Seine Stimme, sein ganzes Verhalten wird argwöhnisch. »Woher haben Sie die?«

Verblüfft tastet ihre Hand nach dem Metall. »Mein Ehemann, George Henley, war als Fähnrich vor Trafalgar auf dem Schiff seiner Majestät, der Neptune. Er erlag einer Kugel, die vom Mast der Bucentaure abgeschossen wurde.« Isabel hat diese Sätze so oft ausgesprochen, dass sie fast bedeutungslos geworden sind. Sie vermitteln nicht, wie die Welt schwarz wurde, als sie die Nachricht von seinem Tod erhielt; wie eingeschränkt ihr Alltag ist, wie sehr sie ihn immer noch vermisst und wie sehr sie sich wünscht, ihn besser gekannt zu haben.

»So, so … ein richtiger Held«, sagt Leutnant Sowerby mit einer Spur Sarkasmus, und Isabel will nur noch, dass er verschwindet, wünscht es sich mit einer Vehemenz, die ihren Wunsch, allein zu sein, als Mrs. Dowling nicht von ihrer Schwelle wich, im Vergleich dazu erblassen lässt. Bevor Isabel die Möglichkeit hat, etwas zu erwidern, legt Leutnant Sowerby wieder seine Dienstbeflissenheit an den Tag, greift zum Heft seines Säbels und sagt: »Hiermit biete ich Ihnen meinen Schutz an, Madam.«

Sie verschluckt ein Seufzen. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Sir, aber ich glaube nicht, dass ich ihn brauche.«

Wie sein Gesicht in sich zusammenfällt … Hat er wirklich geglaubt, sie würde ihn hier und jetzt als ihren Beschützer akzeptieren, wozu auch immer diese Rolle ihn seiner Ansicht nach berechtigt? »Madam, ich bestehe darauf. Eine Dame wie Sie, von Ihrer …« Er schüttelt den Kopf, als suche er nach Worten. »Von Ihrer Tugend und Reinheit. Haben Sie eine Vorstellung, Madam, was eine Schmugglerbande mit einer Dame wie Ihnen macht, wenn sie Sie hier allein vorfindet?«

Er streckt die Hand nach ihr aus, als wollte er es demonstrieren. Seine Mundwinkel sind feucht geworden. »Was würde Ihr verstorbener Gatte dazu sagen?«

»Mein sehr geehrter Herr!«, stößt Isabel keuchend aus. Sie bewegt sich rückwärts auf die Tür zu und reißt sie auf. »Bitte entschuldigen Sie, aber ich muss … ich muss mich ums Feuer kümmern. Vielen Dank für Ihren Besuch, Sir. Ich werde Ihre Warnung im Hinterkopf behalten.«

Einen unheimlichen Moment lang sieht er sie an, und sein Kiefer malmt, als würde er eine Gegenrede zerkauen und schlucken. Sein Atem kommt stoßweise; die Süßlichkeit des Alkohols darin legt sich wie eine Wolke um sie. Er ist so nah, dass sie fast an die Tür gedrückt wird. Entsetzt verfolgt sie, wie er die Hand hebt und nach ihr greift. Er starrt auf etwas unter ihrem Kinn – auf ihre Brust, wird ihr klar. Ein Schrei entfleucht ihr. Der Leutnant blinzelt. Er tritt zurück, wischt sich die Schweißperlen von der Stirn und verbeugt sich steif. »Nun gut«, sagt er. »Ich habe meine Pflicht getan.«

»Das haben Sie, und dafür danke ich Ihnen.« Und jetzt geh. Lass mich in Ruhe.

»Falls es Ihnen nicht ungelegen kommt, werde ich von Zeit zu Zeit vorbeischauen, wenn ich auf Patrouille bin, um mich davon zu überzeugen, dass Sie in Sicherheit sind.«

»Dafür wäre ich Ihnen sehr verbunden, Sir«, entgegnet sie mit bebender Stimme.

Er nickt, als stelle ihn ihre Antwort so gerade zufrieden. Sie wartet in der Tür und sieht zu, wie er auf sein Pferd steigt, eine kräftige braune Stute. Der Regen hat ein wenig nachgelassen. Isabel denkt an die Schmuggler, die er gerne hängt. Auf der Hand spürt sie noch immer seine kalten Lippen. Erst als das Grün des Küstenpfads Leutnant Sowerbys übergroße Gestalt verschluckt und Isabel sich dem wallenden Fluss zuwendet, kann sie wieder richtig atmen. Während der Regen auf die Wasseroberfläche prasselt, lässt das Zittern in ihren Gliedern allmählich nach.

Zurück im Haus setzt sie sich an den Tisch, die Finger um Georges Medaille geschlossen. Vielleicht sollte sie zu Mrs. Dowling gehen und fragen, wie man Tee kocht. Die Gattin meines Freundes, des stellvertretenden Lordleutnants, möchte Ihnen auch einen Besuch abstatten, hat Leutnant Sowerby gesagt. Bei der Vorstellung, dass die Ehefrau des stellvertretenden Lordleutnants von Cornwall an die Tür ihres Cottages klopft, würde Isabel am liebsten gleichzeitig lachen und weinen. Sie wüsste gar nicht, was sie der Frau anbieten sollte. Keinen Tee, so viel steht fest. Isabel lebt jetzt in einer anderen Welt.

Die Stunden, die vor ihr liegen, erscheinen ihr so lang wie früher, wenn sie auf einen Brief von George wartete. Sie schielt auf ihren Reisekoffer, der immer noch in der Ecke hinter der Wohnstubentür auf dem Boden liegt. Er sieht aus, als würde er gähnen. In seinem Schlund sind Baumwoll- und Leinenwäsche sowie das seidene Unterkleid, das sie für Georges Rückkehr gekauft hatte. Damals hatte sie sich die Szene immer und immer wieder ausgemalt: wie sie, nur in dem Unterkleid, ins Zimmer kommen würde, sein Gesichtsausdruck; wie es sein würde, wenn sie nicht nervös waren, weil es das erste Mal war oder weil er am nächsten Tag zurück auf See musste. Sie weiß gar nicht, warum sie das Unterkleid mitgenommen hat. Es gehört nicht an so einen Ort. Sie hat es noch nie getragen und wird es auch nie tun. Der vertraute Stich bei diesem Gedanken; das Gefühl, als schnürte sich ihre Kehle zu.

Sie legt das Unterkleid in den Koffer zurück, schließt den Deckel und verdrängt die Erinnerung zugunsten einer glücklicheren: sie und George beim Spazierengehen im Hyde Park, Arm in Arm. Wie er etwas Lustiges sagte und über seinen eigenen Scherz lachte. Sie möchte ihn packen und an sich ziehen, möchte an ihm die Mischung aus Rasierwasser und Verdauungs-Brandy riechen, dazu die Wolle seines Mantels, wenn sie das Gesicht in seine Halsbeuge drückt.

Dann weint sie, als sei es in dieser Woche passiert, als hätte sie die Nachricht gerade erst bekommen. Sie gibt den Tränen nach, verschränkt die Arme auf dem Tisch und legt den Kopf darauf, lässt sich vom Schluchzen erschüttern. Sie hat ihn geliebt, aber manchmal hat sie Angst, es sei nicht genug gewesen.

Nach wenigen Minuten wischt sie sich übers Gesicht. Sie muss nach draußen. Zuerst schaut sie aus der Tür, um sich zu vergewissern, dass Leutnant Sowerby tatsächlich fort ist, dann geht sie zur Hütte. Vor die Tür ist ein Riegel gelegt, doch sie ist nicht versperrt. Licht fällt durch zwei schmale Fenster an der hinteren Wand, daran entlang zieht sich ein Regal, taillenhoch, auf dem ein Holzkasten steht. Bei näherer Prüfung findet sie darin einen Hammer, eine Handvoll Nägel und ein Werkzeug mit einem flachen Ende, das ein Meißel sein könnte. Sie bildet sich ein, dass die Hütte nach Fisch riecht, aber das kann nicht sein. Der Sohn des Gastwirts hat erzählt, dass sie nicht mehr in Gebrauch ist; schon seit Jahren nicht mehr.

Isabel dreht sich zur Tür um und sieht im hereinfallenden Licht etwas an der Wand blitzen. An einem Haken hängt ein Schloss, fast so groß wie ihre Handfläche. Es ist versperrt, ein Schlüssel nirgends zu sehen. Sie fragt sich, wer es dort hingehängt hat. Es ist nicht verrostet.

Als sie die Hütte verlässt, lockt sie der Küstenpfad. Der Regen hat aufgehört, und die Sonne versucht, hinter den Wolken hervorzukommen. Alles riecht frisch. Nach wenigen Metern windet sich der Weg um die Klippe herum. An einigen Stellen ist er so schmal, dass Isabel in das Gras am Hang treten muss, um nicht zu nah an den Rand zu geraten. Weiß Gott, wie die berittenen Zöllner des Steueramts diesen Weg auf dem Pferderücken bewerkstelligen.

Sie kommt an einer kleinen Bucht vorbei, in der der Schaum hochspritzt. Als sie vom Kliff hinabschaut, fühlt es sich an, als würde ein unsichtbares Band vom Wasser zu ihrer Brust reichen und jede an den Felsen brechende Welle würde daran zerren. Das Meer hat sie schon immer angezogen, jedoch nie wie jetzt, mit solcher Beharrlichkeit. Nichts wünscht sie sich mehr, als hineinzuspringen, das Wasser um sich herum zu spüren, doch der Gedanke an Leutnant Sowerby und seine Leute, die auf dem Pfad Patrouille gehen, hält sie davon ab.

Gerade will sie nach Hause zurückkehren, da erblickt sie ein oder zwei Meilen weit draußen ein Schiff. Es ist ein Kutter, vermutet sie und schützt die Augen vor der Sonne, vielleicht auch eine Schaluppe. George hätte es gewusst. Der Rumpf ist schwarz gestrichen, und die sich in den Segeln fangende Sonne blendet so stark, dass Isabel fast nicht hinsehen kann. Das Schiff segelt davon, hinaus aufs Meer, wo die Tiefe kein Ende zu haben scheint.

Sie denkt an ihren Vater, der so viele Jahre auf See war. Fühlte er es auch, dieses Ziehen und Sehnen? Kannte George es? Sie wünscht sich, sie hätte ihm erzählen können, wie sehr sie der Anblick des Meeres bewegt. Fast hätte sie es ihm einmal gestanden, doch der Moment verflog, ehe sie die richtigen Worte gefunden hatte. Was hätte er wohl davon gehalten? In seinen neun Jahren als Fähnrich wuchs ihm die See allmählich ans Herz, doch anders als Isabel spürte er nicht das Bedürfnis, in der Nähe des Wassers zu sein, um frei atmen zu können. Welch Ironie des Schicksals – verbrachte er doch den Großteil seines kurzen Lebens auf dem Wasser, das es ihm schließlich nahm.

Seit seinem Tod ist Isabels Wunsch, dorthin zu gehen, wo er war, das zu sehen, was er sah, nur stärker geworden. George ist auf See geblieben; sie hat kein Grab, das sie besuchen könnte. Sie hat nur den Atlantik. Nie würde sie George beneiden, doch es ist zutiefst ungerecht, dass sie nie wie er wird segeln können. Das Deck eines Schiffs ist ihr ebenso verwehrt wie die Türen des Parlaments.

Sie schaut dem Schiff nach, bis es nur noch ein weißer Punkt am Horizont ist. Der Rückweg zum Cottage erscheint ihr irgendwie länger.

 

Die nächsten zwei Tage vergehen so langsam und leer wie der erste. Um sich die Zeit zu vertreiben, erkundet sie den Küstenweg, entdeckt, wohin er führt, wo sie die Felsen hinunterklettern und ihre Füße ins Wasser halten kann. Am Morgen ihres vierten Tags in Helford, einem Freitag, besteht ihr Frühstück aus einer steinharten Brotscheibe. Nach einigem Ringen mit sich selbst sucht sie eine erfreute Mrs. Dowling auf und lernt im Laufe der nächsten Tage, wie man Tee, Brot und Eintopf macht, wie man Fisch ausnimmt und zubereitet. Alles, was sie ausprobiert, dauert viermal so lange, wie es sollte. Als sie die erste Kartoffel schält, ist am Ende kaum noch etwas übrig. Bei der zweiten und dritten ebenso. Mit einem unterdrückten Schrei der Verdrossenheit macht sie sich an die vierte, die noch länger dauert, aber passabler aussieht. Einerlei. Sie wird schneller werden – behauptet Mrs. Dowling jedenfalls. Wer es irgendwann zur Meisterschaft bringt, kann die Schale entfernen, ohne abzusetzen.

Isabel nimmt ein kleines Notizbuch mit und schreibt Mrs. Dowlings säuberlich eingetragene Rezepte ab. Die alte Frau ist ebenso stolz darauf, lesen und schreiben zu können, wie auf die Handvoll Cottages, die sie von ihrem verstorbenen Ehemann geerbt hat und die sie hauptsächlich an Händler und Fischer vermietet.

Eines Nachmittags zeigt Mrs. Dowling ihr, wo man fangfrischen Fisch bekommt und wie man den besten Preis aushandelt. »Der größte ist immer für den Bucca«, erklärt die alte Frau und weist auf die dargebotene Ware.

Der Bootsbesitzer, ein grauhaariger Fischer, hört ihre Erklärung. »Eine Opfergabe für eine glatte See und einen guten Fang«, bestätigt er und nickt. »Ich habe ihn heute rufen gehört, Mrs. Dowling.«

Die alte Frau schaut hoch. »Glauben Sie, es gibt heute noch ein Gewitter, Mr. Penrose?«

»Könnte sein.« Er wendet sich an Isabel. »Wenn es aus Südwesten bläst, dann ruft der Bucca.« Mit gesenkter Stimme fügt er hinzu: »Aber damit kennen Sie sich ja aus, Mrs. Henley, nicht wahr?« Seine Augen sind dunkel, fast schwarz, und sein Blick scheint anzudeuten, dass sie ein gemeinsames Geheimnis haben.

Ein Frösteln kriecht Isabels Rücken hinauf. Sie kann nicht sagen, was sie mehr verunsichert: Mrs. Dowling und der Fischer, die sich völlig sachlich über ein Fabelwesen unterhalten, als ginge es ums Wetter, oder Mr. Penrose’ Worte Damit kennen Sie sich ja aus. Doch unter ihrer Besorgnis verbirgt sich eine seltsame, beharrliche Ahnung von Vertrautheit. Könnte sie vom Bucca gehört haben, als sie ein Kind war? Sie schaut auf den Fluss, und das Gefühl wird stärker, vermischt sich mit dem Locken des Wassers und lässt Mr. Penrose’ Unterhaltung mit Mrs. Dowling in den Hintergrund treten.

Als Isabel deren Worte wieder als solche wahrnimmt, redet Mrs. Dowling über einen Sturm, bei dem eins ihrer Cottages sein Dach verlor. Isabel hat ein schlechtes Gewissen, weil sie das Freundschaftsangebot der älteren Frau ablehnen wollte. Ohne irgendeine Gegenleistung bringt Mrs. Dowling ihr all das bei, was sie von ihrer Mutter gelernt hätte, wäre die die Tochter eines Kötters gewesen. Isabel fragt sich, ob in Wirklichkeit vielleicht sie die Tochter eines Kötters war. Sie mustert die Gesichter der Menschen, denen sie begegnet. Könnte die Frau mit dem Fischkorb ihre Mutter sein? Hat der Mann dort dieselbe Augenfarbe wie sie? Die Menschen von Helford behandeln Isabel, als sei sie heimgekehrt.

Es gibt kein Gewitter, aber der Südwestwind wühlt das Wasser auf. Das Meer ist eine Konstante, stets da, flehend, drängend, tröstend. Wann immer Isabels Verdrossenheit wächst, wann immer die Nacht in dem einsamen Cottage zu lang ist, muss sie nur nach draußen gehen und den Wellen lauschen, um wieder ruhig zu werden.

Manchmal sieht sie, wie die Männer des Steueramts auf Pa-trouille vorbeikommen, die berittenen Zöllner, allein oder paarweise, gelegentlich auch zu Fuß. Sie sollte froh sein, dass sie so häufig nach dem Rechten sehen, doch sobald sie daran denkt, steht ihr vor Augen, wie Leutnant Sowerby sie überragte, wie sein süßer, alkoholschwerer Atem in ihr Gesicht schlug; sofort sieht sie seinen Blick, als er nach ihr griff. Sie erinnert sich an die Wut in ihm, als er sich dafür aussprach, Schmuggler zu hängen, sie hat vor sich, wie er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, als er sich die Dinge ausmalte, denen sie seiner Behauptung nach ausgesetzt sein würde.

Als sie Mrs. Dowling nach den Patrouillen fragt, erwidert ihre Hauswirtin, das Schmuggeln sei inzwischen so weit verbreitet, dass die Steuereintreiber immer skrupelloser würden. Noch im letzten Monat hätten sie in Coverack einen Bauern gefasst, der Schmuggelware auf seinem Hof lagerte, und ihn erschossen – ohne Untersuchung, ohne Prozess, einfach so. Mrs. Dowlings Entrüstung ist so glühend heiß wie der Tee, den sie zu einem, wie sie sich ausdrückte, »besonders günstigen Preis« erwirbt.

Am Dienstag geht Isabel auf den Markt und kauft Käse, Mehl, Möhren und ein Stück Schinken. Ebenso Fisch: Makrele, frisch gefangen. Mr. Penrose wirft ihr wieder einen bedeutsamen Blick zu, sagt diesmal aber nichts.

Von Mrs. Dowling weiß Isabel, dass der Markt immer gut besucht ist, aber sie hat nicht damit gerechnet, dass es dermaßen voll sein würde. Als sie sich auf den Rückweg zum Cottage macht, drängen sich Männer, Frauen und Kinder auf der schmalen Straße, schieben sich in Richtung des nahegelegenen Orts Manaccan. Ein aufgeregtes Stimmengewirr schwirrt in der Luft wie Hitze über einem frisch gebackenen Laib Brot. Neugierig geworden verlässt Isabel den Küstenweg und folgt den anderen.

Als die Menge sich der Kreuzung nähert, verstummen alle. Einige weisen nach vorn, doch Isabel sieht nur ein Meer aus Hüten, Hauben, Kappen und Tüchern. Irgendwo links stört eine Amsel das Schweigen mit einem langen, schleppenden Trillern. Es ist kühl an diesem Morgen, doch die Sonne wirft Flecken auf die Straße. Isabel hat eine Suppe zu kochen – ihre erste überhaupt. Sie müsste umkehren und nach Hause gehen, doch die Neugier hält sie fest. Sie drängt sich vor, schlängelt sich zwischen nach Schweiß riechenden Körpern hindurch, vorbei an den weichen und harten Gestalten anderer Frauen. Ein Ellenbogen trifft sie in der Seite, dann sieht sie es.

Zuerst hält sie es für eine Konstruktion, um etwas hochzuhieven, wie man sie auf einer Werft finden könnte. Vielleicht ist es auch ein Schiffsmast, aus dem Rumpf geholt und unpassenderweise hier abgeladen, am Rand der Straße nach Manaccan. Dann jedoch fällt ihr Blick auf die Reihe von Männern des Steueramts, bewaffnet mit Pistolen und Säbeln, und auf den Gefangenen, der mit auf dem Rücken gefesselten Händen zum niedrigen Schafott gebracht wird.

Und sie sieht den Mann, der den Gefangenen führt. Eine Hand um dessen Arm, die andere am Griff seiner Pistole. Es ist kein Geringerer als Leutnant Sowerby. »Oh!«, stößt Isabel aus und lässt fast ihren Korb fallen.

Als hätte er sie gehört, sieht Leutnant Sowerby hoch. Ein Grinsen erscheint auf seinem geröteten Mondgesicht; keine Spur mehr von der Wut, die sie in ihm sah. Wenn überhaupt, wirkt er zufrieden, so wie ein Mann aussehen könnte, wenn er einen selbst erlegten Hirsch aufschneidet.

Leutnant Sowerby nickt ihr kurz zu, dann schubst er den Gefangenen auf das Schafott, stößt ihn mit solcher Wucht zur wartenden Schlinge, dass der Mann stolpert und auf die Knie fällt. Der Leutnant reißt ihn auf die Füße. »Willst du türmen, Ferries? Dafür ist es ein bisschen zu spät! Der Galgen wartet – und danach die Hölle!«

Seine vor Boshaftigkeit bebende Stimme übertönt das Gemurmel der Schaulustigen. Der Blick des Gefangenen schweift über die Menge, dann wendet er sich wieder seinem Peiniger zu und sagt etwas. Leutnant Sowerby lacht und ruft laut: »Dafür werde ich schmoren? Da verwechselst du was, Mann! Das ist ganz allein dein hübsches Schicksal.«

Beim Anblick des Galgens geben die Knie des Gefangenen nach. Der Leutnant fährt den nächsten Steuereintreiber an: »Hilf mir, ihn zu halten.« Dann sagt er zum Gefangenen: »Reiß dich zusammen! Mit Sicherheit guckt deine Frau zu.« Er stößt ein kurzes Lachen aus. »Willst dir doch nicht vor ihr in die Hosen machen, oder?«