Die Tote in der Gracht - Jan Jacobs - E-Book
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Die Tote in der Gracht E-Book

Jan Jacobs

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Beschreibung

»Welkom« beim Elfstädtelauf: Hollands nationaler Mythos fordert Todesopfer Teil 2 der atmosphärischen Krimi-Reihe aus Holland mit Kommissarin Grit Gerritsen In Holland hält ein Winter Einzug, wie es ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gab: Die Windmühlen stehen still, Schnee bedeckt das weite Land, und auf den Grachten bildet sich eine dicke Eisschicht. Ist das seit 1997 die erste Gelegenheit für Hollands nationalen Mythos, den Elfstädtelauf? Das längste und härteste Schlittschuh-Rennen der Welt auf Natureis führt über 200 Kilometer gefrorene Grachten. Noch während das Planungskomitee darüber streitet, ob die Eisdecke wirklich sicher ist, wird in einer Gracht eine tote Reporterin entdeckt – vergiftet, wie sich herausstellt. Die Ermittlungen führen Kommissarin Grit Gerritsen und ihr Team zu einer Gruppe von Verdächtigen, die alle in die Organisation des Elfstädtelaufs eingebunden sind. Und sie haben noch etwas gemeinsam: Jeder von ihnen nahm am letzten Rennen 1997 teil. Was ist damals geschehen, das keinesfalls ans Licht kommen soll? »Wer Holland liebt, kommt an dieser Krimireihe nicht vorbei, denn Jan Jacobs zeigt das Land von seiner spannendsten Seite.« Pierre Martin »Nach diesem spannungsgeladenen Auftakt steht für mich fest: Ich werde auf jeden Fall an Gerritsen dranbleiben.« Arno Strobel über "Mord auf Vlieland" Die Krimi-Reihe von Jan Jacobs ist perfekte Urlaubslektüre mit spannenden Fällen, einer sympathischen Kommissarin, viel Holland-Flair und einem liebevollen Blick auf Land und Menschen. Ihren ersten Fall löst Kommissarin Grit Gerritsen in »Mord auf Vlieland«.

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Jan Jacobs

Die Tote in der Gracht

Griet Gerritsens zweiter Fall. Ein Holland-Krimi

Knaur e-books

Über dieses Buch

In Holland hält ein Winter Einzug, wie es ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gab: Die Windmühlen stehen still, Schnee bedeckt das weite Land, und auf den Grachten bildet sich eine dicke Eisschicht. Ist das seit 1997 die erste Gelegenheit für Hollands nationalen Mythos, den Elfstädtelauf? Das längste und härteste Schlittschuh-Rennen der Welt auf Natureis führt über 200 Kilometer gefrorene Grachten.

Noch während das Planungskomitee darüber streitet, ob die Eisdecke wirklich sicher ist, wird in einer Gracht eine tote Reporterin entdeckt – vergiftet, wie sich herausstellt. Die Ermittlungen führen Kommissarin Griet Gerritsen und ihr Team zu einer Gruppe von Verdächtigen, die alle in die Organisation des Elfstädtelaufs eingebunden sind. Und sie haben noch etwas gemeinsam: Jeder von ihnen nahm am letzten Rennen 1997 teil.

Was ist damals geschehen, das keinesfalls ans Licht kommen soll?

Inhaltsübersicht

PrologErster Teil1 Elfstedenkoorts2 Liebesgrüße aus London3 Ein Junge namens Edwin4 Die Tote in der Gracht5 Eine Frage der Perspektive6 Ien frysk famke7 TreibholzZweiter Teil8 Die Akte Jonker9 Ein plötzlicher Fall von Dringlichkeit10 Ein Mann von Welt11 Onkel Pieters Tierreich12 Vor aller Augen13 Die Liste14 Der Grutterswinkel15 Hinter Gittern16 Drei Minuten nach Mitternacht17 De Elfstedenkok18 Schnelles Eis19 Mister X20 Auf geheimer Mission21 Elfstedenmoord22 Der Zeh von Tinus Udding23 Schneegestöber24 Der Mann, den es zweimal gab25 Heiße Ware I26 Heiße Ware II27 Überraschende Erkenntnisse28 Künstlerglück29 Ein folgenschwerer Sturz30 Der Besucher31 Der Mann im Schatten32 Pieter de Vries ist nicht zu fassen33 Onder de keldersDritter Teil34 Eine Frage der Ehre35 Das Verschwinden des Jurre Blom36 Am Scheideweg37 Aus Mangel an Beweisen38 Weites Land39 Der letzte Zeuge40 Kalter Grund41 Flucht42 Elfstedentocht43 Die Brücke44 Das Alibi45 LeeuwardenDanksagung
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Prolog

Elfstedentocht, 1997

Ijs kost mensenvlees – Eis kostet Menschenfleisch, so lautet ein altes Sprichwort, und der alte Mann hat es immer beherzigt und Vorsicht walten lassen. Sosehr er es auch liebt, hier draußen in der flachen Weite auf Kufen über die zugefrorenen slooten, meeren und vennen zu gleiten, ist er sich doch bewusst, dass das Eis ein falscher Freund ist. Mehr als ein Mal hat er erlebt, wie es von anderen seinen Tribut gefordert hat. Er selbst hat oft Glück gehabt. Doch er fürchtet, dass dies nun aufgebraucht ist.

Mit den Jahren hat der alte Mann ein besonderes Gespür für Eis entwickelt, und deshalb weiß er, dass es an dieser Stelle gefährlich ist. Die Nacht ist schwarz, und er kann kaum etwas sehen. Doch er fühlt es. Die Kufen seiner Schlittschuhe stoßen immer wieder gegen Risse und Furchen, die sich wie ein Geflecht aus Adern über den gefrorenen Kanal ziehen. Er darf nicht stürzen. Wenn er jetzt fällt, wird er vor Erschöpfung liegen bleiben. Er wird sich der Dunkelheit hingeben, die den Schmerz von ihm nimmt, und sich von ihr forttragen lassen.

Das grelle Licht eines Suchscheinwerfers trifft ihn. Es kommt von dem Hubschrauber, der knatternd über den Kanälen und Seen kreist und nach Läufern sucht, die Hilfe benötigen. Für einen Moment sieht der alte Mann im Lichtkegel das Gesicht des Jungen neben sich, seines treuen Gefährten, der ihm das gesamte Rennen lang nicht von der Seite gewichen ist. Auch er ist mit den Kräften am Ende. Seine Augenlider sind eisverkrustet, seine Lippen blau. Er keucht bei jedem Atemzug.

Wenn der Junge nicht gewesen wäre, denkt der alte Mann, hätte ich es nie so weit geschafft.

Wenigstens haben sie jetzt den Wind im Rücken. Diesen verfluchten Wind, der ihnen die Kräfte geraubt hat. Nachdem sie den kleinen Ort Stavoren am Ijsselmeer passiert hatten, kam er direkt aus Nordost, der Richtung, in der das Ziel lag. Es müssen mindestens sechs oder sogar sieben Windstärken gewesen sein, schätzt der alte Mann, eine Wand aus Luft, die sich ihnen über Stunden entgegengestemmt hat.

Doch sie haben es bis nach Dokkum geschafft, der nördlichsten Station des Elfstedentocht. Und ist man erst in Dokkum, so besagt es ein weiteres Sprichwort, schafft man das letzte Stück bis nach Leeuwarden zur Not auch auf Socken. Denn dann hat man Rückenwind.

Wenn es doch nur so einfach wäre.

Der Wind hat von ihnen abgelassen, aber die Kälte ist geblieben. Sie hat sich wie Zement im Körper des alten Mannes ausgebreitet, ist ihm bis in die Knochen gefahren und droht sie zu zersprengen.

Und seine Beine. Sie haben ihm bei vielen Rennen treu gedient, ihn auch heute fast zweihundert Kilometer getragen. Doch nun fühlen sie sich an wie Streichhölzer, die jeden Moment unter ihm zersplittern könnten.

Vielleicht hat er sich überschätzt.

Eine Hand berührt ihn an der Schulter, und er blickt zu dem Jungen hinüber, der mit ausgestrecktem Arm in die Ferne zeigt. Der alte Mann fährt sich mit dem Handschuh über die Augen und wischt die Eiskristalle weg. Verschwommen erkennt er die hellen Punkte. Es müssen die Lichter der Stadt sein. Leeuwarden. Dann ist es wirklich nicht mehr weit.

Adrenalin schießt ihm durch den Körper, ein letztes Aufbäumen. Der alte Mann beschleunigt mit langen Gleitschritten, und der Junge zieht mit, hängt sich in seinen Windschatten. Wie schon so oft an diesem Tag bilden sie eine Einheit gegen die Kräfte der Natur.

Schließlich macht die abgesteckte Strecke eine Kurve. In einem weiten Bogen biegen sie auf einen schnurgeraden Kanal ein, die Bonkevaart, die Zielgerade des Elfstedentocht. Zu beiden Seiten steht ein Meer aus Zuschauern, wie es der alte Mann noch nicht gesehen hat. Es müssen Tausende sein, wenn nicht gar Zehntausende. Er sieht blau-weiß-rote Fahnen, hört den Jubel der Menge.

Noch ein Mal wird er ihr Held sein.

Das Eis auf diesem Abschnitt ist glatt und frei von Unebenheiten. Sie beschleunigen weiter, gleiten mit langen synchronen Zügen durch das Menschenmeer.

Nein, sie gleiten nicht. Sie fliegen.

Dann richtet der alte Mann sich auf und reicht dem Jungen die Hand. Gemeinsam passieren sie die Ziellinie. Eine Welle puren Glücks durchläuft den alten Mann. Er hat es wieder geschafft. Vermutlich zum letzten Mal in seinem Leben.

Der alte Mann läuft direkt weiter zum Stand der Wettkampfrichter, wo er seine Teilnehmerkarte abstempeln lässt. Auf der kleinen Pappkarte sind die Namen der Orte und Städte, die er heute passiert hat, mit einem Zeitstempel vermerkt. Zusammen mit der Karte überreicht einer der Wettkampfrichter ihm das elfstedenkruisje, jene Medaille in Form eines Malteserkreuzes, die alle Läufer erhalten, die es innerhalb des Zeitlimits ins Ziel schaffen.

Er geht zu den Helfern hinüber, nimmt dankbar einen warmen Tee entgegen, lässt sich eine Decke über die Schultern legen. Der alte Mann schaut auf die Stempelkarte.

Leeuwarden, 22.08 Uhr

Fünf Stunden länger als beim letzten Mal. Unbehagen mischt sich in seine Freude. Denn er muss daran denken, was den Jungen und ihn aufgehalten hat.

Als er aufblickt, sieht er seine Frau. Sie kommt zu ihm gelaufen, umarmt ihn und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Bevor er etwas sagen kann, sind Reporter da, die ihre Kameras auf ihn richten und ihn mit Fragen bestürmen.

Aus dem Augenwinkel bemerkt der alte Mann den Jungen.

Er steht etwas abseits, hält ebenfalls ein elfstedenkruisje in der Hand. Stolz liegt in seinem Blick, doch da ist auch noch etwas anderes, eine unausgesprochene Frage. Die Euphorie des alten Manns verblasst. Er weiß, was der Junge auf dem Herzen hat. Ihn beschäftigt derselbe Gedanke.

Sie wissen beide, was sie heute Nacht gesehen haben, wovon sie Zeuge geworden sind.

Der alte Mann zögert. Dann schüttelt er unmerklich den Kopf. Der Junge nickt, er hat verstanden.

Manchmal, denkt der alte Mann, nennen sie den Elfstedentocht auch den tocht der mysteriёn. Und vielleicht ist es besser, wenn das Mysterium dieser Nacht für immer verborgen bleibt.

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Erster Teil

1Elfstedenkoorts

Bartlehiem, heute

Der Winter hatte Fryslân, wie die nördlichen Niederlande im Volksmund genannt werden, seit Wochen fest im Griff. Eine weiße Kruste bedeckte das flache weite Land, und ein eisiger Nordwind schaufelte beständig weitere Schneemassen heran. Sogar in den Städten hatte der Winterdienst seine liebe Not, die Straßen frei zu halten. Auf vielen Häusern lag inzwischen eine so große Schneelast, dass manche Dachkonstruktion das Gewicht nicht mehr trug. Erst am Wochenende war in der Nacht die Decke einer Turnhalle in Leeuwarden heruntergekommen. Auch die Wasserwege waren nur noch eingeschränkt befahrbar, selbst auf dem Ijsselmeer kamen die Schiffe nicht mehr ohne kleine Eisbrecher durch. Zwar schien heute die Sonne vom wolkenlosen Himmel, doch für den Verlauf der Woche sagte der Wetterdienst neue Niederschläge voraus, und auch ein ausgewachsener Wintersturm war nicht ausgeschlossen.

Der Schnee knirschte unter den Stiefeln von Commissaris Griet Gerritsen, als sie stehen blieb, um die Maschinenpistole zu überprüfen, die sie an einem Ledergurt um die Schulter trug. Es war eine Heckler & Koch MP5. Ihr letztes Training mit einer solchen Waffe lag schon eine ganze Weile zurück.

Sie kontrollierte, ob das Gewehr gesichert und der Feuermodus auf Einzelschuss gestellt war.

Dann ließ sie den Blick prüfend über die Menschenmenge bis zu der kleinen weißen Holzbrücke wandern, die sich bogenförmig über den zugefrorenen Kanal spannte. Dutzende Zuschauer drängten sich darauf und feuerten die Eisläufer an, die unter ihnen hindurchjagten. Am Fuß der Brücke stand ein Reporter mit Mikrofon vor einer Fernsehkamera und berichtete über das Geschehen. Weitere Schaulustige hatten sich zu beiden Seiten des Ufers versammelt. Manche jubelten, schwenkten niederländische Nationalfahnen, andere kümmerten sich um ihr leibliches Wohl und hatten sich am Imbissstand mit einer Portion friet oder poffertjes versorgt.

So unwirtlich das Wetter auch sein mochte, Griet wusste, dass sich ihre Landsleute dieser Tage im Fieber befanden – genauer gesagt, einer besonderen Art von Fieber, dem elfstedenkoorts, hervorgerufen von der feurigen Hoffnung auf eine Neuauflage des Elfstedentocht.

Der Elfstedentocht, ein Nationalmonument der Niederlande, war das weltweit längste und härteste Langstreckenrennen auf Natureis im Eisschnelllauf. Innerhalb von achtzehn Stunden mussten die Läufer – Profis wie Amateure – eine über zweihundert Kilometer lange Strecke zurücklegen, die sie von Leeuwarden aus über Kanäle, Grachten und Seen durch die historischen elf Städte von Fryslân führte, darunter Orte wie Sneek, Sloten, Stavoren, Hindeloopen oder Workum.

Seit seiner Erstaustragung im Jahr 1909 hatte das Rennen bislang nur fünfzehn Mal stattgefunden. Und der letzte Elfstedentocht lag nun schon über zwanzig Jahre zurück. Seit 1997 waren die Winter ausnahmslos zu warm gewesen, das Eis nicht dick genug, wenn sich überhaupt welches gebildet hatte.

Dieses Jahr war der Winter so kalt wie lange nicht mehr. Damit bot sich eventuell die Gelegenheit für eine Neuauflage des sagenhaften Rennens. Und da der Klimawandel unverändert fortschritt, würde es vielleicht für eine lange Zeit die letzte Möglichkeit sein.

Die Vorfreude war gigantisch, und entsprechend hoch stufte die politie den Elfstedentocht ein, nämlich als Ereignis der Kategorie GRIP4, womit das Rennen einem nationalen Katastrophenfall gleichgesetzt war. Dabei handelte es sich nicht um Übertreibung. Der tocht der tochten, die Mutter aller Rennen, wie der Elfstedentocht auch genannt wurde, würde die ganze Nation mobilisieren. Aus allen Landesteilen würden die Menschen nach Fryslân strömen, zudem rechnete man mit Tausenden von Besuchern aus den Nachbarländern. Das allein genügte, um den Schutz der Teilnehmer und Zuschauer für die politie zu einer Herkulesaufgabe zu machen. Erschwerend kam hinzu, dass der Elfstedentocht die maximale Aufmerksamkeit der Medien genießen würde und damit eine perfekte Gelegenheit für einen Anschlag war. Als Horrorszenario galt allen das Attentat auf den Marathonlauf in Boston vor etlichen Jahren. Daher setzte die politie alles daran, das Ereignis zu schützen, was bedeutete, dass derzeit fast jeder Polizeibeamte in den nördlichen Niederlanden in irgendeiner Form mit dem Elfstedentocht befasst war.

Einer der neuralgischen Punkte der Veranstaltung war die kleine weiße Holzbrücke in der Nähe des Weilers Bartlehiem, mitten im friesischen Nirgendwo, wo Griet Gerritsen sich gerade befand. Hier wurden besonders viele Besucher erwartet.

»Wusstest du, dass Gott höchstpersönlich das bruggetje von Bartlehiem erbaut hat?«, fragte Pieter de Vries, als er neben Griet trat. »Es soll am elften Tag gewesen sein.«

»Was du nicht sagst.« Griet zog die Wollmütze tiefer in die Stirn und betrachtete ihren Kollegen mit einem Schmunzeln. Pieter trug ebenfalls die dunkelblaue Einsatzuniform mit der Aufschrift politie auf dem Rücken, und so, wie die Jacke über seinem Bauch spannte, bestand kein Zweifel, dass er sie lange nicht mehr angezogen hatte.

»So besagt es zumindest eine friesische Legende.« Er strich sich über den grau melierten Vollbart.

»Dann wird es wohl stimmen.«

Pieter liebte seine Heimat, und Griet hatte in dem knappen Jahr, das sie nun zusammenarbeiteten, gelernt, dass es wenig Sinn hatte, mit ihm über friesische Weisheiten und Eigenarten zu diskutieren, selbst wenn sie einem noch so seltsam erschienen. Und im Grunde kamen ihr seine Exkurse durchaus gelegen, denn auf diese Weise lernte sie ihre neue Heimat besser kennen.

Griet hatte sich vor etwas weniger als zwölf Monaten von Europol in Rotterdam nach Leeuwarden versetzen lassen, nachdem ihr Kollege und Geliebter Bas Dekker durch ihre Schuld bei einem Einsatz ums Leben gekommen war. Nun arbeitete sie für die Districtsrecherche Fryslân, die sich in der Region zwischen Stavoren im äußersten Westen, Assen im Osten und von den Watteninseln bis hinunter nach Lemmer mit Kapitalverbrechen aller Art befasste.

Griet wurde nur langsam mit den Leuten hier oben warm. Den Friesen eilte nicht zu Unrecht der Ruf voraus, ein eher kühler, verschlossener Menschenschlag zu sein. Ihr Kollege Pieter de Vries war ihr daher eine große Hilfe. Sie wünschte nur, dass er sich manchmal etwas kürzer fasste.

Während sie ihre Patrouille fortsetzten, die Maschinenpistolen auf den Boden gerichtet, erklärte Pieter, dass die unscheinbare Holzbrücke von Bartlehiem bei den Zuschauern so beliebt war, weil sie von den Läufern zweimal passiert wurde. »Sie kommen zunächst aus westlicher Richtung über die Finkumervaart, laufen unter der Brücke durch auf das Dokkumer Ee in Richtung Norden«, sagte Pieter und wies dabei auf den Verlauf des Kanals. »Wenig später kommen sie aus Dokkum zurück, biegen bei der Brücke nach Osten auf die Ouderkerkvaart ab und machen sich auf die letzten Kilometer bis ins Ziel nach Leeuwarden. Nirgendwo sonst kommst du den Läufern so nahe wie hier! Wirklich fantastisch!«

»Interessant …«, murmelte Griet.

Sie wusste die Begeisterung des Kollegen für das Traditionsrennen durchaus zu schätzen, allerdings galt ihre Aufmerksamkeit gerade jemand anderem, nämlich der Frau vor dem Imbissstand. Sie hatte eine Bobfrisur, und die wasserstoffblonden Haare fielen ihr strubbelig ins Gesicht. Griet hatte sie erstmals bemerkt, als sie sich eine Portion friet kaufte. Das war vor geschätzt zehn Minuten gewesen. Seitdem hatte diese Frau an einem Stehtisch gestanden und keinen einzigen Bissen gegessen. Sie stand lediglich da und schien durch ihre getönte Sonnenbrille die Zuschauermenge zu beobachten.

Ein Knistern erklang in dem kabellosen In-Ear-Kopfhörer, den Griet trug, und der Einsatzleiter meldete sich: »Team zwei. Überprüft den Mann, der sich auf die Brücke zubewegt. Schwarze Haare, Bart, graue Jacke, roter Rucksack, Getränkebecher in der Hand.«

»Negativ«, erwiderte Griet. »Hab ihn schon gecheckt. Keine Gefahr.«

Der Mann hatte vorhin auf der anderen Seite des Ufers bei seiner Freundin gestanden, war herübergekommen und zum Getränkestand gegangen. Nun war er auf dem Rückweg. Davon abgesehen, erschien es Griet wenig wahrscheinlich, dass ein potenzieller Attentäter seine Bombe in einem knallroten Rucksack durch die Gegend trug.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Griet, wie sich die Frau mit der Bobfrisur vom Stehtisch löste und in Bewegung setzte. Die Schale mit Pommes frites ließ sie stehen. Sie tauchte in die Menge ein. Und dann ging alles sehr schnell.

Die Frau öffnete die Jacke. Griet sah die Klinge eines Messers aufblitzen. Im nächsten Moment lagen die ersten Menschen schreiend und verletzt auf dem Boden.

Während Griet eine Meldung über Funk machte, eilte Pieter in Richtung der Frau, die Maschinenpistole im Anschlag. Griet wollte ihm hinterher, kam aber nicht gegen die panisch in alle Richtungen flüchtenden Zuschauer an.

Über Funk hörte Griet die Stimmen der Kollegen.

»Sie ist auf der Brücke.«

»Jemand freies Schussfeld?«

»Negativ.«

Dann Pieters Stimme: »Bin da … sie … oh, potverdikkie …«

Die Menschenmenge löste sich langsam auf, und Griet lief weiter, bis sie endlich freies Sichtfeld hatte.

Die Attentäterin stand auf der Mitte der Brücke. Sie hatte Pieter in ihrer Gewalt, das Messer an seinem Hals. Seine Waffe lag auf dem Boden.

Die Frau blickte kurz um sich, abgelenkt von den Kollegen, die auf der gegenüberliegenden Seite des Ufers herangestürmt kamen. Das genügte Griet.

Es war reine Routine, ein oft geübter Ablauf, der kein Nachdenken erforderte. In einer fließenden Bewegung hob sie die Maschinenpistole, entsicherte, legte an, zielte und schoss.

Auf Pieters Brust breitete sich ein roter Fleck aus. Mit überraschtem Gesichtsausdruck sank er zu Boden.

Griet gab zwei weitere Schüsse ab und schaltete die Attentäterin aus.

Dann wurde es still um sie herum.

In Gedanken war Griet plötzlich wieder im Rotterdamer Hafen, an jenem Abend vor nunmehr sechs Jahren, und blickte in die leblosen Augen von Bas Dekker, ihrem Kollegen und Geliebten. Sie hatte nicht auf die Verstärkung gewartet, sich stattdessen in eine ausweglose Situation gebracht, als sie auf ein Frachtschiff gestürmt war, um das Leben von Flüchtlingen zu retten, die in einem Container geschmuggelt wurden. Sie lag angeschossen auf dem Boden, Bas eilte ihr zu Hilfe. Dann traf ihn die tödliche Kugel.

Hätte sie sich damals an die Regeln gehalten, wäre er noch am Leben. Das Ereignis hatte Griets Leben aus der Bahn geworfen, und Friesland sollte ein Neuanfang sein. Sie hatte sich geschworen, nie wieder das Leben eines Kollegen zu gefährden.

Langsam fand Griet zurück in die Wirklichkeit.

Ihr Blick ruhte immer noch auf Pieter, der am Boden lag. Sie atmete keuchend ein und aus, die eisige Luft brannte in ihrer Lunge.

Pieter blinzelte. Er richtete sich auf und rückte seine Brille mit schwarzem Holzrahmen zurecht. Dann stand er auf, hob seine karierte Schiebermütze auf, die auf den Boden gefallen war, und klopfte sie ab, bevor er sie wieder aufsetzte. Er machte sich nicht die Mühe, den Fleck wegzuwischen, den die Farbpatrone hinterlassen hatte, sondern kam direkt zu Griet herüber. Vorsichtig legte er die Hand auf den Lauf der Maschinenpistole, die sie noch immer im Anschlag hielt, und drückte ihn nach unten.

»Griet …«, sagte er, »es ist alles in Ordnung.«

Sie bemerkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Pieter, ich wollte …«

»Ich weiß. Es ist doch alles gut.«

»Nein, nichts ist gut. Das sollte nie wieder …«

»Griet.« Er fasste sie an beiden Schultern und blickte sie eindringlich an. »Es war nur eine Übung. Ich lebe. Und – hej, du hast die Attentäterin erwischt!«

Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und lockerte ihre Finger, die sich um die Waffe krampften.

Über Funk kam die Stimme des Einsatzleiters. »Okay, Leute, es ist vorbei. Einpacken und aufräumen. Tut uns leid um dich, Pieter. Wir werden eine Gedenktafel für dich aufhängen. Ist nicht alles so gut gelaufen heute. Die Nachbesprechung muss trotzdem ausfallen … Der Polizeichef gibt später eine Pressekonferenz zum Elfstedentocht und erwartet mich. Wir holen das dann nächstes Mal nach.«

Um sie herum löste sich die Kulisse langsam auf. Die Verletzten erhoben sich, ein Uniformierter half der vermeintlichen Attentäterin wieder auf die Beine, die Zuschauer, bei denen es sich um Kollegen aus den Hundertschaften handelte, gingen nach Hause oder zum Imbissstand, wo es für alle nach absolvierter Übung wie immer eine kostenlose Stärkung gab.

»Kommende Woche gleiche Zeit, gleicher Ort«, erklärte der Einsatzleiter. »Der Polizeichef und ich werden auf der Pressekonferenz übrigens verkünden, dass wir die Sache im Griff haben und den Elfstedentocht zu einem sicheren Spaß für Alt und Jung machen. Sollte einer von euch auf die Idee kommen, irgendwem zu verraten, dass wir uns hier gegenseitig über den Haufen schießen, wäre das für seine Karriere wenig förderlich.«

Pieter legte Griet den Arm um die Schultern und führte sie über die schneebedeckte Wiese zu ihrem Auto, einem Renault Zoё, den sie für den Tag gemietet hatte.

»Was hältst du von einem schönen Mittagessen im Onder de kelders? Das bringt dich auf andere Gedanken«, schlug er vor.

Das Onder de kelders an der Bierkade war zu Griets Lieblingsrestaurant in Leeuwarden geworden. Es befand sich in einem Gewölbekeller auf Niveau der Gracht, und bei gutem Wetter konnte man auf einem Ponton auf dem Wasser sitzen. Griet hatte im Sommer dort einige laue Nächte bei gutem Wein mit Pieter verbracht.

»Heute lieber nicht«, sagte Griet. »Ich muss noch etwas vorbereiten … Ich bekomme doch Besuch.«

»Natürlich, wie konnte ich das vergessen. Am Wochenende, richtig?«

»Ja.«

»Hast du das Geschenk besorgt?«

»Aber sicher.« Sie waren an ihrem Wagen angekommen, und Griet deutete auf die Rückbank, wo ein großer Teddybär saß. Er war Pieters Idee gewesen.

»Sie wird ihn lieben«, stellte er zufrieden fest.

Griet schloss die Autotür auf.

»Du kommst klar?«, fragte er.

»Ja.« Sie bemerkte, dass ihrer Stimme jede Überzeugung fehlte.

Pieter drückte ihre Schulter und schenkte ihr ein Lächeln, als er auf den Farbfleck auf seiner Jacke deutete. »Ich hoffe, das geht wieder raus.«

Griet setzte sich auf den Fahrersitz und blickte Pieter nach, wie er zu seinem Auto hinüberging. Dann startete sie den Motor, legte die zitternden Hände um das Lenkrad und steuerte den Renault mit einem elektrischen Surren auf die Straße.

In zwei Wochen ist Weihnachten, dachte Griet. Wäre es heute keine Übung gewesen, hätte sie Pieters Frau zur Witwe und seine beiden Kinder zu Halbwaisen gemacht.

Eine schöne Bescherung.

2Liebesgrüße aus London

Die Abenddämmerung hatte sich über Leeuwarden gelegt, und Griet sah hinter den laublosen Bäumen des Prinsentuin den Oldehove in den orangeroten Himmel ragen. Im Mittelalter hatte die Kirche einst das größte Gotteshaus des Landes werden sollen, doch der Erbauer bedachte nicht, dass die eine Hälfte des Fundaments auf sandigem Boden stand, und so waren auch die Niederlande in den Besitz eines schiefen Turms gekommen.

Pieter hatte ihr diese Geschichte einmal erzählt, als sie spätabends auf dem Ponton des Onder de kelders gesessen hatten. Griet erinnerte sich noch so lebhaft daran, weil es das erste Mal gewesen war, dass er seine Frau Nettie mitgebracht hatte. Nettie gehörte zu jener Art Frau, die in jeder Kollegin, mit der ihr Mann zusammenarbeitete, eine potenzielle Bedrohung witterte. Griet hatte die erste Hälfte des Abends mit dem Versuch verbracht, ihr auf subtile Weise zu vermitteln, dass sie kein Interesse an einem verheirateten Mann mit zwei Kindern hatte – was allerdings daran scheiterte, dass Nettie nicht gut im Zwischen-den-Zeilen-Lesen war. Als Pieter schließlich die Anekdote über den Oldehove zum Besten gab und Griet beim fünften Glas Rotwein angelangt war, brach es aus ihr heraus. Sie sagte, dass sie heilfroh wäre, nicht mit einem solchen wandelnden Geschichtsbuch verheiratet zu sein, und sich frage, wie seine Frau das aushalte. Das wiederum verstand Nettie. Und seitdem war so etwas wie eine kleine Freundschaft zwischen ihnen entstanden.

Griet beugte sich über das Heck ihres Plattboots, einer alten Lemsteraak namens Artemis, die sie von ihrem Vater geerbt hatte und auf der sie lebte, seit sie bei der Districtsrecherche arbeitete. Mit einem kritischen Blick prüfte sie ihre Lebensversicherung. Dabei handelte es sich um einen De-Icer der ortsansässigen Firma Dutch Heat. Das Gerät sorgte dafür, dass das Wasser um das Boot herum nicht zufror und Griet nicht eines Morgens auf dem Grund der Noorderstadsgracht erwachte, nachdem das Eis den Rumpf zerdrückt hatte.

Pieter hatte den De-Icer installiert. Als waschechter Friese verstand er nicht nur etwas von hiesigen Gebräuchen, sondern auch von Segelschiffen. Im Sommer hatte er Griet geholfen, die in die Jahre gekommene Artemis wieder in Schuss zu bringen. Der Rumpf hatte eines neuen Außenanstrichs bedurft – er glänzte nun in frischem Weiß –, und auch der Einbau einer neuen Heizung war erforderlich gewesen. Damit hatten sie zwar nur das Nötigste erledigt, dennoch summierte sich die Frischzellenkur am Ende auf drei Monatsgehälter plus die Hälfte von Griets Erspartem, das sie ursprünglich beiseitegelegt hatte, um den maroden Kahn in nicht allzu ferner Zukunft gegen eine Eigentumswohnung zu tauschen. Wie es aussah, musste sie diesen Traum noch eine Weile hintanstellen.

Der Winter war dieses Jahr früh und hart über das Land hereingebrochen, und für Griet hatte sich bald die Frage gestellt, wie das Plattboot auf der zufrierenden Gracht überwintern sollte. Pieter erklärte ihr, dass ein Schiff, das durchgehend bewohnt und beheizt wurde, zwar nicht so schnell vom Eis eingeschlossen würde, doch sicher war sicher. Die Installation der Lebensversicherung verschlang zwei weitere Monatsgehälter.

Der De-Icer ähnelte einer Tonne mit Propeller und wurde mit Leinen unter dem Schiff in Position gehalten. Von dort wirbelte er das am Grund des Gewässers befindliche warme Wasser an die Oberfläche, sodass rund um den Rumpf eine eisfreie Zone entstand.

Griet stellte beruhigt fest, dass er seinen Dienst ordnungsgemäß verrichtete. Zur Sicherheit umrundete sie noch den übrigen Teil des Bootes und überprüfte, ob überall genügend Wasser zwischen Schiff und Eis frei lag.

Als sie wieder am Heck angelangt war, blickte sie sich um. In den meisten Häusern am Rand der Gracht brannte Licht, und einige der Bewohner waren damit beschäftigt, die großen Fenster ihrer Wohnzimmer mit Weihnachtsschmuck zu dekorieren. Aus den Schornsteinen auf den schneebedeckten Dächern quoll Rauch, und der Geruch von Kaminholz lag in der Luft. Aus der Stadt klang das Glockenspiel des stadhuis herüber.

Selbst für ein kleines Land wie die Niederlande war Leeuwarden ein Provinznest. Der Kontrast zum quirligen Rotterdam, wo Griet einen Großteil ihres Lebens verbracht hatte, konnte nicht größer sein. Dennoch hatte sie das Provinzstädtchen in den zurückliegenden Monaten ins Herz geschlossen. Die Zeit schien hier auf eine angenehme Weise stehen geblieben zu sein, in den Gassen zwischen den alten Häusern mit ihren verzierten Schweif- und Stufengiebeln folgte das Leben einem ruhigen Rhythmus. Wobei von Langeweile keine Rede sein konnte. Im Stadtzentrum lockte ein reiches Angebot an Cafés, Restaurants, Theatern oder Künstlerateliers, schließlich war Leeuwarden nicht ohne Grund vor Kurzem europäische Kulturhauptstadt gewesen. Der kleine, aber feine Unterschied zu größeren Städten, der Griet immer wieder auffiel: Die Menschen hier waren einfach entspannter.

Natürlich lebte Griet auch in einer besonders malerischen Ecke der Stadt: Die Noorderstadsgracht bildete den nördlichen Teil des Singel, einem mittelalterlichen Wassergraben, der das historische Stadtzentrum sternförmig umgab und regelmäßig zum schönsten Liegeplatz der Niederlande gekürt wurde. Ein Ding der Unmöglichkeit, sich hier nicht wohlzufühlen.

Insgeheim fragte Griet sich aber auch manchmal, ob es vielleicht an ihr selbst lag. Früher hätte sie die Betulichkeit hier nicht ertragen. Doch ihre sechsundvierzig Lebensjahre waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Die grauen Stellen in ihrem langen blonden Haar zu verbergen, artete allmählich in Arbeit aus, die Fältchen in ihrem Gesicht vermehrten sich mit jedem Tag, und ihre grünen Augen besaßen nicht mehr dieselbe Strahlkraft wie früher. Die größte Veränderung aber hatte in ihrem Inneren stattgefunden. Es mochte ihr nicht gefallen, doch sie wurde mit den Jahren ruhiger, eine Entwicklung, die vermutlich an den körperlichen Verfall gekoppelt war und mit ihm synchron verlief. Die Hälfte des Lebens war vorüber, und von nun an ging es bergab, erst schleichend, später rasanter. Und hatte man das erst verstanden, relativierten sich viele Dinge.

An manchen Tagen spürte Griet die Veränderung besonders deutlich, so wie heute. Sie dachte an die Übung am Morgen zurück. In ihren besten Tagen hätte sie die Attentäterin mit einem einzigen Schuss erledigt. Es war genügend Abstand zwischen ihr und Pieter gewesen. Doch diese Zeiten waren offenbar vorbei.

Dabei hatte sie die Übung als willkommene Abwechslung empfunden. Pieter und sie hatten das vergangene Dreivierteljahr ausschließlich mit der Arbeit an Cold Cases verbracht, alten ungelösten Fällen. Sie hatten sich jener Fälle angenommen, zu denen es neue Hinweise gab, was gerade mal eine Handvoll gewesen waren, doch in keinem einzigen hatten ihre Bemühungen zu einem Erfolg geführt. Die ungelösten Fälle waren allesamt ungelöst geblieben.

So wie die Dinge standen, würde Griet vermutlich noch viele Jahre mit dieser Arbeit zubringen müssen. Ihr Vorgesetzter, Wim Wouters, hatte sie und Pieter bei den Cold Cases abgestellt, nachdem ihre Ermittlungen in einem Mordfall auf der Nordseeinsel Vlieland aus dem Ruder gelaufen waren – was noch milde formuliert war. Und bislang hatte er nicht durchblicken lassen, dass sich daran etwas ändern würde. Sosehr Griet sich auch an die Stadt gewöhnt hatte, sie fragte sich inzwischen, ob es nicht an der Zeit war, weiterzuziehen und sich eine andere Dienststelle zu suchen.

Griet wurde von lautem Geschrei aus ihren Gedanken gerissen. Eine Gruppe Kinder jagte, mit Hockeyschlägern bewaffnet, auf dem Eis einem Puck hinterher.

Im Winter war es auf der Noorderstadsgracht nicht mehr ganz so idyllisch. Seit die Gracht zugefroren war, hatte sich das öffentliche Leben praktisch auf das Eis verlagert. Die ganze Stadt schien dieser Tage das Schlittschuhlaufen einem Spaziergang vorzuziehen, und auf dem Kanal herrschte fast ununterbrochen buntes Treiben.

Griet hatte die Leute für sich in drei Gruppen eingeteilt: Einmal gab es jene, die für den Elfstedentocht trainierten. Das waren ihr die Liebsten, denn sie fuhren rasch vorüber und sparten ihren Atem. Schlimmer waren die Flaneure, ein geschwätziges Volk, das gemächlich umherlief und ab und an stehen blieb, um die Boote zu bestaunen und ihre Besitzer in endlose Fachsimpeleien zu verwickeln. Am meisten fürchtete Griet aber die dritte Gruppe: spielende Kinder. Man glaubte nicht, welchen Lärmpegel sie entwickeln konnten. Sie waren schlimmer als die Kampfjets, die vom nahe gelegenen Fliegerhorst zu ihren Übungsflügen nach Vlieland starteten.

»Goeie jûn!«, hörte sie eine Stimme hinter sich.

Griet wandte sich um und sah den Postboten, der sein Fahrrad am Straßenrand abgestellt hatte, über die verschneite Wiese auf sich zukommen. Die Boote in der Gracht befanden sich am Ende seiner Route, und nicht selten bekam Griet die Post erst zum Abendessen.

Mit diesem Umstand konnte sie sich noch abfinden. Wesentlich schwerer tat sie sich hingegen mit dem Fries, dem friesischen Dialekt, der sogar als eigene Sprache anerkannt war. Die Bewohner von Leeuwarden pflegten zu allem Überfluss eine eigene Form, das Liwwadders, was die Verständigung manchmal zusätzlich erschwerte. Wollte man jemandem guten Appetit wünschen, sagte man nicht eet smakelijk, sondern lekker ite, ein Kaffee hieß hierzulande nicht koffie sondern kofje, und statt mit goedenavond begrüßte man sich um diese Uhrzeit mit goeie jûn.

Die Liebe zur eigenen Sprache und Kultur ging so weit, dass es, wie Griet erfahren hatte, hier im Norden sogar die FNP, die Fryske Nasjonale Partij – Friesische Nationale Partei –, gab. Sie war ein Kuriosum der niederländischen Parteienlandschaft und schaffte es meistens gerade so über die Fünfprozenthürde. Die Nationalfriesen sahen sich nicht einfach als normale Niederländer, sondern als eigenes Volk, mit eigener Sprache und Kultur, dessen Rechte und Interessen es zu vertreten galt. Vor allem sprachpolitische Aufgaben standen auf der Agenda der Partei, was im Alltag zu abstrusen Situationen führen konnte.

Griet hatte mit einem Vertreter der FNP Bekanntschaft gemacht, als sie neulich einen neuen Personalausweis beantragt hatte. Er hatte beharrlich Liwwaddders gesprochen, sodass sie Mühe gehabt hatte, ihr Anliegen verständlich zu machen. Und natürlich hatte ihr Gegenüber nicht daran gedacht, einfach ins gewöhnliche Niederländisch zu wechseln.

Der Postbote drückte Griet einen Packen Briefe in die Hand, griff sich an die Mütze und brummte: »Oant moarn – bis morgen.« Im Gegensatz zu Thorn, dem kleinen Städtchen in Limburg, aus dem Griet stammte und wo man große Stücke auf Geselligkeit hielt, verlor man hier oben im Norden nicht unnötig Worte.

Griet ging zu den beiden hölzernen Flügeltüren, deren Fenster mit Messingsprossen versehen waren, öffnete sie und kletterte den Niedergang, die schmale Holztreppe, die ins Innere des Schiffs führte, hinunter. Direkt neben der Stiege befand sich eine Kochnische. Griet setzte heißes Wasser auf, ging dann zum Navigationspult hinüber, um am Sicherungspanel den Schalter für das Licht umzulegen. Pieter hatte alle Sicherungen ausgetauscht, sodass Griet nicht mehr mit der Faust gegen das Panel schlagen musste, damit es unter Deck hell wurde.

Der Innenraum des Schiffs war beengt, und Griet musste mit ihren ein Meter achtzig Körpergröße leicht gebeugt gehen. Den Raum in der Mitte des Boots hatte ihr Vater immer den Salon genannt, was sie anfangs für einen Euphemismus gehalten hatte, inzwischen leistete sie ihrem alten Herrn aber nachträglich Abbitte, denn hier war tatsächlich der meiste Platz auf dem Schiff.

Mit einer dampfenden Tasse Earl Grey in der Hand setzte sie sich an den ausklappbaren Esstisch, der mittig im Salon montiert war und ihr gleichzeitig auch als Wohnzimmer- und Arbeitstisch diente.

Die Briefe, die sie anhand der Absender eindeutig als Rechnungen identifizieren konnte, legte sie zur Seite. Dann stieß sie auf eine selbst gedruckte Postkarte mit einem Foto auf der Vorderseite. Es zeigte eine junge Frau, die in dunkelblauem Kostüm und James-Bond-Pose – die eine Hand zur Pistole geformt – vor einer Polizeistation stand. Unter der Weihnachtsmütze, die sie trug, ragten schwarze Rastalocken hervor. Den Eingang des Gebäudes hinter ihr umrahmten vier Steinsäulen, darüber stand in großen Lettern: Charing Cross Police Station. Griet drehte die Karte um und las den Text.

Hallo Griet! Meine letzten Monate im Dienste Ihrer Majestät. Im Februar bin ich wieder zu Hause. Hoffe, wir sehen uns dann. Ihr fehlt mir! Groetjes, Noemi

Griet warf einen Blick auf den Poststempel, die Karte war vergangene Woche abgeschickt worden.

Noemi Boogard hatte mit Griet und Pieter in der Mordsache auf Vlieland ermittelt. Noemi besaß großes Talent, legte allerdings oft ein ungestümes und eigenmächtiges Verhalten an den Tag. Im Laufe der Ermittlungen hatte sie einen jungen Mann der Tat verdächtigt und auf ihn schießen müssen, als dieser einen Kollegen mit dem Messer attackierte. Der Junge war an den Folgen der Schussverletzung gestorben, hatte sich später aber als unschuldig herausgestellt. Die internen Ermittlungen kamen zu dem Schluss, dass Noemi in dieser Situation nicht anders hatte handeln können. Allerdings blieb die Frage offen, ob sie den labilen Jungen mit ihren Verdächtigungen nicht erst in jene Situation gebracht und ihn praktisch zu einer Kurzschlussreaktion verleitet hatte. Natürlich machte dieser Vorwurf schnell bei den Kollegen die Runde.

Wim Wouters, der Leiter der Districtsrecherche, hätte Noemi am liebsten umgehend aus seiner Abteilung entfernt. Doch wie sich herausstellte, war sie ein Protegé des Polizeichefs, und dieser hatte als Kompromiss eine Bestrafung vorgeschlagen, die eigentlich keine war: Noemi wurde in das Austauschprogramm abgeschoben, das die politie mit anderen europäischen Polizeibehörden unterhielt, und landete für ein Jahr beim Metropolitan Police Service, besser bekannt als Scotland Yard. Wouters konnte mit dieser Lösung gut leben, denn viele Kollegen mit Auslandserfahrung empfahlen sich für höhere Weihen, und er spekulierte wohl darauf, dass Noemi nach ihrer Rückkehr nicht mehr zur Districtsrecherche zurückkehren würde. Und den Gerüchten zufolge, die von den Kollegen über den Flurfunk verbreitet wurden, plante man bereits die Neubesetzung ihrer Stelle.

Griet hatte Noemi zu ihrer eigenen Überraschung in den vergangenen Monaten vermisst. Der Ärger, den die junge Frau ihr eingebrockt hatte, war zwar einer der Gründe, weshalb sie bei den Cold Cases gelandet war. Dennoch mochte sie Noemi. Ihre engagierte, manchmal brachiale Art, sich im Dienst der Wahrheitsfindung über alle Hindernisse und Vorschriften hinwegzusetzen, hatte Griet an sich selbst erinnert. In jungen Jahren war sie ähnlich ungestüm zu Werke gegangen, was ihrer Karriere nicht abträglich gewesen war – und zur Lösung zahlreicher Fälle beigetragen hatte.

Griet legte die Karte von Noemi zur Seite und schnappte sich den Teddybären, der neben ihr auf der Sitzbank lag. Er trug einen blauen Hoodie über dem flauschigen braunen Fell, bedruckt mit einem Herz und der Aufschrift Knuffel.

Auf dem Weg nach vorn in die Koje schaltete Griet das alte Autoradio ein, das in einem Schlitz neben dem Sicherungspanel verbaut war. Es lief, wie fast nicht anders zu erwarten, ein Bericht über den Elfstedentocht. Seit den ersten Frostnächten wurde die Berichterstattung in den Medien von der Frage dominiert, ob das Rennen dieses Jahr erneut stattfinden würde.

Der Radioreporter analysierte gerade die Chancen auf eine Neuauflage des Elfstedentocht und sprach dazu mit Marit Blom. Sie war, wie Griet erfuhr, erst vor wenigen Wochen als erste Frau in der Geschichte zur Vorsitzenden der Koninklijke Vereniging de Friesche Elf Steden berufen worden, der Vereinigung, die den Elfstedentocht organisierte. Ihr Vorgänger, Jaap van der Horst, hatte aus persönlichen Gründen das Amt niedergelegt und zuvor zwanzig Jahre lang vergeblich darauf gewartet, das monumentale Rennen ausrichten zu dürfen. Marit Blom würde diese Ehre nun bereits wenige Wochen nach ihrer Ernennung zuteilwerden, wenn denn alles »glatt lief«, wie der Radiomoderator meinte, wobei er sich mit einem kurzen Lachen über sein Wortspiel amüsierte. Alles schien sich in dem kleinen Örtchen Sloten zu entscheiden, in dessen Gracht das Eis nicht dick genug werden wollte …

Weiter hörte Griet nicht zu.

In Thorn, wo sie aufgewachsen war, gab es ein Sprichwort: Die gaat van het land op het ijs is niet wijs. Sinngemäß: Wer sich vom Land auf das Eis wagt, ist nicht ganz bei Trost. Und daran hatte sich ihr Vater immer gehalten. Obwohl Griet das Schlittschuhlaufen geliebt hatte, hatte er ihr verboten, im Winter auf die vereisten Seen und Flüsse zu gehen. Vielleicht war dies der Grund, warum sie nie das gleiche Faible für den Elfstedentocht entwickelt hatte wie viele ihrer Landsleute.

Griet zog den Kopf ein, als sie die vordere Koje betrat. Der Raum hatte ursprünglich Platz für vier Etagenbetten geboten. Ihr Vater hatte ihn so umgebaut, dass ein Doppelbett, ein Nachttisch, ein schmaler Kleiderschrank sowie ein Bücherregal hineinpassten. Griet setzte sich auf die Matratze und legte den Teddybären auf das Kopfkissen neben dem ihren. Er war für ihren kleinen Gast bestimmt.

In zwei Wochen war Heiligabend, und in den Weihnachtsferien kamen ihre Tochter Fenja und ihr Ex-Mann Fleming zu Besuch. Einerseits freute sich Griet darauf, die beiden zu treffen, andererseits machte sie die Aussicht nervös, besonders, was das Wiedersehen mit ihrer Tochter betraf. Es war nun schon eine ganze Weile her, dass sie Fenja gesehen hatte, und sie war sich nicht sicher, an welchem Punkt die Beziehung stand.

Familie war nie ihr Ding gewesen, und dass es Fenja gab, war weniger einer bewussten Entscheidung als einer wilden Nacht geschuldet. Liebte sie ihr Kind? Natürlich. Dennoch hatte sie in der Rolle als Mutter versagt, zumindest gemessen an den allgemein gültigen Vorstellungen.

Wenn eine Frau ein Kind bekam, ging alle Welt automatisch davon aus, dass sie sich freudig in ihr neues Leben einfand und damit glücklich wurde. Bei vielen Frauen mochte das der Fall sein. Doch für Griet hatte dies nicht gegolten.

Sie dachte noch heute mit Grauen an die Schwangerschaft zurück, als sie sich über Monate wie ein Walross gefühlt hatte. Danach die schlaflosen Nächte, das nervenzehrende Geschrei, die endlos öden Tage, die sie zwischen Wickelkommode, Stillkissen und Kinderbettchen verbrachte, vollgekleckert mit Babybrei, Erbrochenem oder anderen Flüssigkeiten und Ausscheidungen. Sie hatte bei Müttertreffen nach Gleichgesinnten gesucht, in der Hoffnung, von ihnen zu erfahren, wie man mit der Situation umging. Doch zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass andere Frauen offenbar ein großes Vergnügen daran hatten, sich stundenlang über Milcheinschuss, die besten Maxi-Cosis oder die Konsistenz der Exkremente ihres Nachwuchses zu unterhalten.

Griet hatte gelangweilt danebengesessen und war in Gedanken an ihren Sehnsuchtsort gereist: ihren Schreibtisch im Hauptquartier von Europol. Sie hatte endlich wieder ihrer Arbeit nachgehen wollen.

Fenja war nur wenige Monate nach dem traumatischen Ereignis im Rotterdamer Hafen zur Welt gekommen. Fleming, Griets damaliger Ehemann, hatte daher zunächst Verständnis für Griets Verhalten gezeigt. Doch irgendwann waren sie beide zu der Einsicht gelangt, dass es so nicht weitergehen konnte.

Fenja war bei Fleming geblieben. Er war ein erfolgreicher Krimiautor – woran Griet ihren Anteil hatte, da sie ihn zu dieser Zeit immer mit inspirierenden Geschichten aus dem Polizeialltag versorgte. Und nach der Trennung hatte sich Fleming eine Auszeit genommen, um ganz für Fenja da zu sein. Er hatte nie auch nur angedeutet, dass Griet ihm Unterhalt zahlen sollte, eine noble Geste, für die sie ihm bis heute dankbar war, denn sonst wäre ihr der Start in ein neues Leben deutlich schwerer gefallen.

Der anstehende Besuch der beiden würde ein erster Schritt bei dem Versuch sein, eine neue Basis für Griets Beziehung zu Fenja zu finden.

Griet wurde aus ihren Gedanken gerissen, als von Deck her plötzlich Männergesang erklang.

Sie stand auf und eilte durch den Salon, wobei sie mit dem Kopf an einem der niedrigen Deckenbalken anschlug. Sie massierte sich die Stirn, während sie über den Niedergang ins Freie kletterte.

An Deck stand Pieter, in eine dicke Winterjacke gepackt, die karierte Schiebermütze auf dem Kopf, und sang. »Sien ik weer naar de Oldehove, voelt mien hart weer geel en blauw, want dat gevoel kan niemand dove, dat is de stad waar ik van hou …«

Griet folgte seinem Blick, der zum Kirchturm des Oldehove ging, der inzwischen hell erleuchtet war.

»Entweder liebst du deine Stadt wirklich über alle Maßen«, stellte Griet fest, »oder du willst dich mit dem Katzengejammer dafür rächen, dass ich dich heute Morgen erschossen habe.«

»Das ist ein sehr bekanntes Volkslied von Ricky Junior van Daalen.« Pieter lächelte. »Also, ja, ich liebe meine Stadt. Und nein, ich bin nicht nachtragend. Im Gegenteil, ich dachte, es wäre gut, wenn du heute Abend nicht allein bist. Die Regierung hat mir Freigang erteilt.«

»Die Regierung?«

»Meine Frau.« Er nahm das Paar Schlittschuhe, das er über der Schulter trug, und hielt es Griet hin. »Ihr habt übrigens die gleiche Schuhgröße. Wie wäre es?«

»Serieus – im Ernst?« Griet runzelte die Stirn. »Ist schon eine Weile her, dass ich auf Schlittschuhen gestanden habe.«

»Das verlernt man nicht. Außerdem … man lernt eine Stadt nur wirklich kennen, wenn man sie einmal vom Eis aus sieht.« Pieter drückte ihr die Schlittschuhe in die Hände. »Ich bin übrigens sicher, dass uns das Christkind dieses Jahr einen Elfstedentocht bescheren wird.«

»Und das heißt, du möchtest daran teilnehmen?«

»Nein, dafür bin ich wohl zu alt. Ich habe als Kind immer davon geträumt. Aber du bist gut in Form, vielleicht wäre das was für dich. Das Training kann gleich heute beginnen …«

Griet verdrehte innerlich die Augen. Wenn der Kollege sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, standen die Chancen, ihn davon abzubringen, ziemlich schlecht. Andererseits hatte er vermutlich recht, ein wenig frische Luft täte ihr gut.

Griet seufzte, stieg zurück ins Schiffsinnere und holte ihren olivgrünen Parka, Handschuhe und eine Wollmütze. Wieder an Deck, band sie sich die blonden Haare zusammen.

»Schreib dir eines hinter die Ohren«, sagte sie, den Haargummi zwischen den Zähnen. »Nichts und niemand werden mich jemals dazu bringen, zweihundert Kilometer auf Schlittschuhen zu laufen!«

3Ein Junge namens Edwin

Sie glitten lautlos durch die Nacht, vorbei an den hell erleuchteten Häusern der Noordersingel auf der einen und dem Prinsentuin auf der anderen Seite. Leichte Schneeflocken fielen vom Himmel und wehten ihnen entgegen. Trotz ihrer anfänglichen Abneigung konnte Griet eine gewisse Freude nicht verbergen. Leeuwarden auf dem Eis zu erkunden, das rückte tatsächlich alles in eine neue Perspektive. Rechts von ihnen lagen die Neubaugebiete, links das historische Zentrum. Ein wenig konnte sie sich vorstellen, wie die Stadt früher auf die Bauern, Händler oder Reisenden gewirkt haben musste, wenn sie aus den umliegenden Dörfern oder von weit her mit Pferden, Karren und Waren angereist kamen und vor dem Singel hatten haltmachen müssen, bis man ihnen Einlass gewährte.

Die Gracht beschrieb einen weiten Bogen und führte sie zur Vrouwenportbrug. Im Schatten des Oldehove standen dort im Halbkreis aufgebaut ein halbes Dutzend kleinere Holzhütten und Zelte auf dem Eis, die mit bunten Lichterketten miteinander verbunden waren. Zahlreiche andere Schlittschuhläufer hatten sich in dem Halbrund versammelt und unterhielten sich, dampfende Becher in den Händen, während Kinder um sie herum spielten.

»Gönnen wir uns eine Stärkung, bevor wir richtig loslegen«, meinte Pieter. »Sonst kommen wir nicht weit.«

Griet blickte flüchtig auf die Uhr an ihrem Handgelenk, sie waren keine zehn Minuten unterwegs gewesen. Pieter schien seine eigenen Vorstellungen sportlicher Betätigung zu haben. Andererseits wusste sie, wie wichtig ihm die Einnahme regelmäßiger Mahlzeiten war.

Pieter deutete auf ein Rundzelt, das etwas größer war als die umstehenden Zelte. »Das beste koek en zopie in der Stadt.«

Noch bevor Griet ihn fragen konnte, was ein koek en zopie war, verschwand er durch den Eingang. Sie folgte ihm.

Das Innere des Zelts war spärlich beleuchtet, mit antiken Gaslampen, die auf Stehtischen standen. Stimmengewirr lag in der Luft, es roch nach Erbsensuppe, Glühwein und Kuchen. Unter den Umstehenden erkannte Griet einige Kollegen, die sie mit einem kurzen Nicken grüßten.

»Ein echtes Stück friesische Tradition«, stellte Pieter mit Stolz in der Stimme fest. Er erklärte ihr, dass die ersten koek en zopies im 17. Jahrhundert entstanden waren, dem goldenen Zeitalter der Niederlande. Unter dem Einfluss der kleinen Eiszeit, mit extrem kalten und langen Wintern, kultivierten die Leute damals das ijspret, das Vergnügen auf dem Eis. Sie bauten Zelte und kleine Hütten auf den gefrorenen Grachten und Seen. Dabei war der Begriff Vergnügen weit gefasst: Neben Glücksspiel und reinen Ess- und Trinkzelten, den koek en zopies eben, gab es auch Etablissements, in denen sich Damen gegen Bares auf eine andere Art und Weise um das leibliche Wohl kümmerten. Ränge und Stände spielten auf dem Eis keine Rolle, Prinzen und Grafen wärmten sich am selben Feuer wie Seilmacher, Huren oder Gauner.

»Dann war das Eis eine Art mittelalterlicher Vergnügungspark?«, fragte Griet.

»Ja«, bestätigte Pieter und grinste, »allerdings hatte das bunte Treiben einen Hintergrund: Die Aufbauten auf dem Eis, also auch die koek en zopies, waren allesamt von den sonst üblichen Steuern und Abgaben ausgenommen.«

Griet ließ sich von Pieter zu einer behelfsmäßigen Theke führen, die aus gestapelten Europaletten bestand, auf denen eine breite Holzplatte befestigt war. Dahinter stand ein untersetzter Mann mit Glatze, der in einem Kochtopf rührte.

»Joop«, sagte Pieter, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen, »darf ich dir Griet Gerritsen vorstellen, den heimlichen Star der Districtsrecherche?«

Der Mann sah auf und verzog erfreut das Gesicht. »Pieter, schön, dich zu sehen.«

Sie reichten sich die Hand.

»Joop hatte früher mal eine Kneipe«, erklärte Pieter. »Abends hat sich dort immer das ganze Revier getroffen.«

»Das war damals, als Pieter noch in seine Streifenuniform passte«, meinte Joop und stieß ein kehliges Lachen aus. Er reichte Griet die Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen, Griet Gerritsen. Mir kommt noch immer manches zu Ohren. Und was dich betrifft, scheint Pieter nicht zu übertreiben.«

»Gerüchte«, antwortete Griet. »Vermutlich stimmt nicht mal die Hälfte davon.«

Wim Wouters hatte zwar dafür gesorgt, dass Pieter und sie seit beinahe einem Jahr an keinem heißen Fall mehr beteiligt gewesen waren, doch den Flurfunk konnte er nicht abstellen. Und so hatte sich herumgesprochen, wie Griet sich bei den Ermittlungen auf Vlieland über den Kopf von Wouters hinweggesetzt, den Fall trotz aller Widrigkeiten gelöst und mit ihren Entscheidungen dabei am Ende noch die Reputation der politie bewahrt hatte. Bei den Kollegen hatte ihr dies Respekt eingebracht.

Joop stellte zwei dampfende Becher vor Griet und Pieter auf die Theke. »Een zopie – ein Schnäpschen?«

»Bedankt«, meinte Pieter, winkte aber ab. »Ich muss noch fahren.«

»Hab dich nicht so. Auf alte Zeiten.«

Pieter gab nach, und sie prosteten sich zu. Auch Griet probierte einen Schluck und musste husten. Das zopie schmeckte, als habe eine Brauerei ihre gesamten Alkoholvorräte mit verdorbenen Gewürzen zusammengepanscht.

»Gut, was?« Joop lehnte sich an die Theke. »Das ist zopie nach Originalrezept aus dem 17. Jahrhundert.«

»Müssen harte Zeiten gewesen sein«, meinte Griet. »Was, zum Teufel, ist da drin?«

Joop grinste und beugte sich über die Theke. »Du bringst zuerst Dunkelbier zum Kochen. Auf einen Liter eine Prise Zimt, dazu zwei Gewürznelken und zwei Scheiben Zitronen. Dann nach zwanzig Minuten die Kräuter und die Zitrone rausholen und etwa hundertzwanzig Gramm braunen Zucker reingeben. Und anschließend noch zwei rohe Eier. Die binden mit dem Zucker das Bier. Zum Schluss noch zwei Deziliter Rum.«

Griet betrachtete den Becher in ihrer Hand. Vielleicht sollte sie mit dem Zeug die Heizung ihres Schiffs befeuern.

»Noch eins?«, fragte Joop.

Griet schüttelte vehement den Kopf, woraufhin Joop wieder in sein kehliges Lachen ausbrach.

»Griet bewohnt ganz in der Nähe ein Schiff auf der Noorderstadsgracht«, schaltete sich Pieter ein, und Griet war ihm dankbar, dass er das Gespräch von dem furchtbaren Schnaps wegführte.

»So ein Jammer.« Joop schnalzte mit der Zunge. »Früher hättest du dort als Zuschauer beim Elfstedentocht in der ersten Reihe gestanden.«

»Warum?«, fragte Griet.

»Bis 1956 befand sich die Ziellinie auf der Noorderstadsgracht«, erklärte Pieter.

»Das waren noch Zeiten«, sagte Joop. »Das Feld bestand mehr oder weniger aus Amateurläufern. Selbst ein einfacher Bauernjunge konnte über Nacht zum Volkshelden werden. Auf der Noorderstadsgracht gab es einige dramatische Entscheidungen.«

»O ja«, sagte Pieter mit glänzenden Augen. »Der Pact van Dokkum!«

»Natürlich«, bestätigte Joop, »das wird man nie vergessen.«

»Jongens«, sagte Griet, »ich komme nicht mit.«

»Erzähl du es, Pieter«, forderte Joop seinen Freund auf.

Bei dem Pakt von Dokkum, so erfuhr Griet, handelte es sich um eine Absprache der fünf Läufer, die das Rennen von 1940 angeführt hatten. Die Gruppe lag so weit in Führung, dass sie sich im Städtchen Dokkum eine Pause gönnten. Sie waren zu dem Zeitpunkt schon so lange gemeinsam unterwegs gewesen, dass sie sich verbrüderten und beschlossen, zusammen Hand in Hand über die Ziellinie zu laufen. Als sie schließlich auf die Noorderstadsgracht einbogen, hielt sich einer von ihnen, Auke Adema, nicht an die Abmachung und sprintete davon. Piet Keijzer setzte ihm nach, holte ihn sogar noch ein, doch da die Zuschauer bereits in Massen auf das Eis strömten, war nicht mehr festzustellen, wer von den beiden als Erster die Ziellinie passierte. Als die Jury später von dem gebrochenen Pakt erfuhr, beschloss sie kurzerhand, alle fünf Läufer zu Siegern zu erklären.

»Und noch heute kennt jedes Kind hier in Fryslân ihre Namen«, schloss Joop andächtig.

»Noch verrückter war nur der Zieleinlauf 1954«, sagte Pieter. »Anton Verhoeven lag vor Jeen van den Berg in Führung. Als er das Schild mit der Aufschrift Finish passierte, riss er die Arme in die Luft und begann zu feiern …«

»… aber offenbar hatte er seine Brille vergessen«, stieg Joop grinsend ein. »Denn ihm war entgangen, dass unter dem Wort Finish der Zusatz stand: in 500 Metern.«

»Jeen van den Berg bemerkte den Irrtum als Erster. Er lief weiter und ging als Sieger über die echte Ziellinie auf der Noorderstadsgracht«, schloss Pieter.

»Dann wohne ich ja wirklich auf geschichtsträchtigem Gebiet«, sagte Griet, und zum ersten Mal keimte in ihr eine Ahnung auf, warum der Elfstedentocht eine solche Faszination auf die Leute ausübte.

»So«, sagte Pieter, »und jetzt ist es Zeit für einen Teller von Joops famoser snert.«

Auch in Limburg, wo Griet herstammte, war snert der weniger feine Ausdruck für Erbsensuppe. Joop trug ihnen zwei große Teller davon auf, schnitt dazu für jeden eine frische Scheibe Graubrot ab, und im Gegensatz zum zopie schmeckte die Suppe vorzüglich. Griet sortierte lediglich die Speck- und Wurststückchen aus und schob sie an den Rand. Sie hatte vor langer Zeit das Fleischessen aufgegeben, nachdem Ermittlungen sie in einen Schlachthof geführt hatten. Sie hoffte, dass Joop es nicht als Affront auffasste, doch so weit kam es gar nicht, da Pieter den Speck mit Freuden auf seinen Teller schaufelte.

Nach einer Weile gesellte sich Joop wieder zu ihnen.

»Griet, wenn du eine echte Leeuwarderin werden willst«, sagte er, »solltest du wissen, dass es in dieser Stadt nur zwei wahre Helden des Elfstedentocht gibt: Kaarst Leemburg und Mart Hilberts.«

Griet machte ein fragendes Gesicht, woraufhin Pieter ihr zwischen einem Löffel Suppe und einem Bissen Graubrot erzählte, dass Kaarst Leemburg 1929 als erster und bislang einziger Leeuwarder den Elfstedentocht gewonnen hatte – mit einem abgefrorenen Zeh als Andenken, den man ihm hatte amputieren müssen.

»Der Elfstedentocht ist heute ein Volksfest«, sagte Joop, das Gesicht halb im Schatten, halb im Schein der Gaslaterne. »Dabei vergessen die meisten, dass es ein Kampf Mensch gegen Natur ist. Zweihundert Kilometer gegen Wind und Kälte. Manche haben dafür mit dem Leben bezahlt.«

»Und kein anderer aus Leeuwarden hat sich der Herausforderung so oft gestellt wie Mart Hilberts«, ergänzte Pieter. »Er fuhr zum ersten Mal 63 mit, da war er gerade achtzehn, das Mindestalter für die Teilnahme. Danach lief er die Rennen von 85 und 86 und zuletzt 97 bei den Amateuren. Er gewann keines davon, gab aber nie auf und schaffte es immer – völlig erschöpft – ins Ziel. Seine Hartnäckigkeit hat ihm den Respekt der Leute eingebracht.«

»Tja … und jetzt ist unser Mart im Elfstedenhimmel«, sagte Joop. Er nahm drei Becher, füllte sie mit zopie und reichte sie ihnen. »Auf Mart.«

Pieter und Joop tranken ihr zopie in einem Zug leer, Griet nippte nur daran und stellte den Becher wieder auf die Theke.