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Jan Jacobs

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Beschreibung

Mord im Ferien-Idyll: Ein Toter im Schiffswrack wird zum ersten Fall für »Mevrouw Commissaris« Griet Gerritsen aus Holland Eine sanfte Brise wiegt den Strandhafer auf den Dünen Vlielands und umspielt ein pittoreskes altes Schiffswrack – in dessen morschen Planken sich eine Leiche verfangen hat: Der angesehene und allseits beliebte Hotelier Vincent Bakker wurde ermordet, wie das Einschussloch in seiner Brust beweist. Kommissarin Griet Gerritsen wird auf Hollands am weitesten vom Festland entfernte Nordsee-Insel geschickt, um den Fall möglichst schnell aufzuklären, denn Vlieland ist ein beliebtes Urlaubs-Ziel. Doch auf der beschaulichen Insel folgt das Leben noch seinen eigenen Regeln, wie Griet Gerritsen schnell feststellen muss: Trotz der Unterstützung durch den attraktiven Insel-Polizeichef Henk van der Waal sprechen die Vlieländer nur sehr zögerlich mit der Kommissarin, wenn überhaupt. Und niemand scheint dem Mord-Opfer auch nur eine Träne nachzuweinen. Griet Gerritsen muss mehr als ein Geheimnis lüften, bevor sie einer erschütternden Wahrheit auf die Spur kommt. Ein Urlaubs-Krimi aus Holland mit genau der richtigen Mischung aus Spannung, Atmosphäre, Land und Leuten. »Mord auf Vlieland« ist der erste Teil einer Krimi-Reihe von Jan Jacobs, die »Mevrouw Commissaris« Griet Gerritsen in die schönsten Urlaubs-Regionen Hollands führt. »Wer Holland liebt, kommt an dieser Krimireihe nicht vorbei, denn Jan Jacobs zeigt das Land von seiner spannendsten Seite.« Pierre Martin »Nach diesem spannungsgeladenen Auftakt steht für mich fest: Ich werde auf jeden Fall an Gerritsen dranbleiben.« - Arno Strobel

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Jan Jacobs

Mord auf Vlieland

Griet Gerritsens erster Fall Ein Holland-Krimi

Knaur e-books

Über dieses Buch

Mord im Ferien-Idyll:

Ein Toter im Schiffswrack wird zum ersten Fall für »Mevrouw Commissaris« Griet Gerritsen aus Holland

Eine sanfte Brise wiegt den Strandhafer auf den Dünen Vlielands und umspielt ein pittoreskes altes Schiffswrack – in dessen morschen Planken sich eine Leiche verfangen hat: Der angesehene und allseits beliebte Hotelier Vincent Bakker wurde ermordet, wie das Einschussloch in seiner Brust beweist.

Kommissarin Griet Gerritsen wird auf Hollands am weitesten vom Festland entfernte Nordsee-Insel geschickt, um den Fall möglichst schnell aufzuklären, denn Vlieland ist ein beliebtes Urlaubs-Ziel. Doch auf der beschaulichen Insel folgt das Leben noch seinen eigenen Regeln, wie Griet Gerritsen schnell feststellen muss: Trotz der Unterstützung durch den attraktiven Insel-Polizeichef Henk van der Waal sprechen die Vlieländer nur sehr zögerlich mit der Kommissarin, wenn überhaupt. Und niemand scheint dem Mord-Opfer auch nur eine Träne nachzuweinen. Griet Gerritsen muss mehr als ein Geheimnis lüften, bevor sie einer erschütternden Wahrheit auf die Spur kommt.

Ein Urlaubs-Krimi aus Holland mit genau der richtigen Mischung aus Spannung, Atmosphäre, Land und Leuten. »Mord auf Vlieland« ist der erste Teil einer Krimi-Reihe von Jan Jacobs, die »Mevrouw Commissaris« Griet Gerritsen in die schönsten Urlaubs-Regionen Hollands führt.

Inhaltsübersicht

WidmungPrologErster Teil1 Geister der Vergangenheit2 Boven de rivieren3 Das Küken und der Pfannkuchenmann4 Der Tote im Watt5 Ein erster Verdacht6 Ein Haus mit GeschichteZweiter Teil7 Gezeitenstrom8 Das gebrochene Siegel9 De Oude Veermann10 In der Wüste des Nordens11 Alte Wunden12 Familiensache13 Ascophyllum nodosum14 De Lutine15 Ein nasses Grab16 Die Frau im Schatten17 Assepoester18 Das Medaillon19 Der fremde Freund20 Die Nacht, in der Coen Martens starb21 Das Mädchen22 Nacht über dem Wasser23 Ein Schuss im Nebel24 ArtemisDritter Teil25 Verbotene Liebe26 Strandgut27 Böse Menschen28 Zimmer 2429 Amsterdam30 Der Bruder31 In Nije DeiDanksagungLeseprobe
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Für Edda, die Holland liebte und nun für immer dort ist.

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Prolog

Vlieland, 1989

Het Niets, so hat die junge Frau die gigantische Sandfläche, die sich hier im Westen der Insel erstreckt, bei sich immer genannt, das Nichts. Hier gibt es keine Menschen, keine Häuser, keine Straßen, nur Sand, so weit das Auge reicht, eine sturmumtoste Wüste mitten im Meer. Und wie eine echte Wüste ist auch dies ein gefährlicher Ort. Ihr Vater, der niemals erfahren darf, was ihr zugestoßen ist, hat sie als Kind oft gewarnt. Da draußen gibt es Stellen mit Treibsand, poesje, bei Springflut läuft das Wasser so hoch auf, dass die gesamte Ebene meterhoch überspült wird. Er hat recht, es ist ein Ort zum Sterben. Und deshalb ist die junge Frau heute hergekommen.

Ihr Atem geht stoßweise, als sie von dem Dünenkamm hinabtaumelt, der die letzte Grenze zwischen dem bewohnten Land und dem Nichts markiert. Der Wind faucht in Böen über die Ebene, drückt den Strandhafer nieder und zerrt an ihrer Bluse, als wollte er sie mit sich hinaus aufs Meer reißen, dessen Schaumkronen weiß in der pechschwarzen Nacht leuchten. Eisige Regentropfen stechen ihr wie Tausende von feinen Nadeln ins Gesicht.

Sie blickt noch einmal rasch über die Schulter zur Insel zurück, als wolle sie sich versichern, dass ihr das, was sie hinter sich lässt, nicht folgt. Während sie vorwärtsstolpert, legt sie die Hand auf ihren gewölbten Leib. Die Tränen laufen ihr die Wangen hinab, und der salzige Geschmack vermischt sich mit dem der See und des Regens, der auf ihren blau angelaufenen Lippen liegt. Das Geräusch ihres Schluchzens wird vom Tosen des Meeres geschluckt. Natürlich hat sie Angst wie noch nie zuvor im Leben. Doch dies ist der einzige Weg. Ihre Zukunft ist mit der Wucht eines Hammers zerschmettert worden.

Wäre er noch am Leben, sähe die Sache anders aus, denkt sie. Aber so wird es wieder geschehen, wenn sie zurückgeht, da ist sie sich sicher. Es ist noch nicht vorbei.

In der Ferne sieht die junge Frau das Blitzen des Leuchtturms von Texel, und sie folgt seinem kreisenden Lichtstrahl, der sie durch die schwarze Nacht immer weiter hinaus ins Nichts lockt. Sie läuft so lange, bis sich ihre Muskeln vor Kälte verkrampfen und sie am ganzen Leib zu zittern beginnt. Sie sinkt auf die Knie, schlingt die Arme um ihren Oberkörper. Der Regen hat ausgesetzt, und hinter den zerfetzten Wolken, die über den Himmel jagen, kommt der Vollmond hervor. Die Dünen der Insel sind nicht mehr zu sehen. Die junge Frau ist nun weit draußen auf der Sandbank, an deren Rändern die steigende Flut nagt. Ihre Angst wird plötzlich übermächtig, verdrängt jede Entschlossenheit. Voller Panik springt sie auf, will zurück, aber dort, wo sie hergekommen ist, sind ihre Spuren schon vom schwarzen Nass geschluckt worden. Das Blut pulsiert in ihren Schläfen, während sie sich umsieht. Da drüben. Eine Hütte mitten auf der immer kleiner werdenden Sandfläche. Die Flut hat beinahe die Stelzen erreicht, auf denen sie steht. Es kann nicht weit sein.

Mit tauben Fingern umklammert die junge Frau das wabenförmige Medaillon, das sie um den Hals trägt, und läuft los, während das Wasser sich um sie herum schließt. Es erreicht zunächst ihre Knie, dann ihre Hüfte, zerrt an ihr und will sie mit sich reißen. Die Distanz zu dem rettenden Pfahlbau verringert sich nicht. Als das Wasser der jungen Frau bis zur Brust reicht, breitet sich die Angst in ihrem Kopf wie ein wild wucherndes Geschwür aus und zerfrisst jeden Gedanken, nimmt ihr jegliche Kontrolle. Sie versucht zu schwimmen, als die ersten Wellen über ihren Kopf schwappen. Doch ihre verkrampften Muskeln lassen keine Bewegung mehr zu. Die junge Frau sinkt hinab in die Dunkelheit wie ein Stein. Für einen langen, letzten Augenblick hält sie die Luft an, lässt sie dann stoßartig entweichen und saugt das Meer und den Tod tief in ihre Lungen.

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Erster Teil

1Geister der Vergangenheit

Leeuwarden, heute

Sie hatte den zweiten Schützen erst bemerkt, als die Kugel in ihren Körper eingeschlagen war, und nun hockte sie hinter einem der großen Seecontainer, presste die Hand auf die Wunde an ihrer Seite und sah zu, wie das Leben aus ihr hinaussickerte und sich in einer dunkelroten Lache auf dem Deck des Frachtschiffs ausbreitete. Erstaunlich, wie schnell es gehen konnte, wenn man einen Moment lang unachtsam war. Sie prüfte ihre Waffe. Ein volles Magazin. Der erste Schütze hatte direkt am Ende der Gangway gestanden, über die sie an Bord gekommen war. Er hatte sofort zur Waffe gegriffen und ihr keine andere Wahl gelassen, als ihn mit einem gezielten Schuss in die Brust niederzustrecken. Der zweite Mann hatte vom Geländer der Brücke aus gefeuert. Es war schon ein verdammter Zufall gewesen, dass er sie überhaupt von dort oben getroffen hatte.

Mit einer schnellen Bewegung spähte sie um die Ecke und sah zur Brücke hoch. Der Mann war verschwunden. Sie ging wieder in Deckung und fuhr erschrocken zusammen, als ein Schatten hinter dem Container neben ihr hervorschoss. Es war Bas.

»Verdammt, warum hast du nicht auf mich gewartet?«, fragte er atemlos, hockte sich neben sie, half ihr, die Jacke auszuziehen, knöpfte ihre Bluse auf und untersuchte die Verletzung. »Das wird schon wieder, Süße.«

Er zog seinen olivgrünen Parka aus und presste ihn auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Dann berührte er ihre Wange und sagte: »Wenn wir das hier hinter uns haben, werden wir beide …«

Bas’ Gesicht erstarrte, als ein lauter Knall durch die Nacht hallte. Er kippte vornüber und landete auf ihr, wobei sein lebloser Körper die zweite Kugel abfing, die der Schütze abschoss, als er hinter dem gegenüberliegenden Container hervortrat. Das gab ihr die Gelegenheit, in einem letzten Kraftakt den Arm hochzureißen und das gesamte Magazin ihrer Waffe abzufeuern.

Der Mann war tot, noch ehe er auf dem Boden aufschlug.

Nur Augenblicke später hörte sie die Sirenen der Einsatzfahrzeuge, das Knattern eines Rotors, eilige Stiefelschritte. Sie ließ die Waffe fallen und legte die freie Hand auf den Kopf von Bas Dekker, Commissaris des Sittendezernats Rotterdam. Dann gab sie sich der Kälte und Dunkelheit hin und wünschte sich, dass sie bald wieder vereint sein würden.

Wie üblich war dies der Moment, in dem Griet Gerritsen schweißgebadet aufwachte. Sie schnellte in die Höhe und stieß mit dem Kopf gegen die niedrige Holzdecke. Der Schmerz explodierte lärmend und in tausend grellen Farben hinter ihrer Stirn. Griet hielt sich den Kopf und sank zurück in die Kissen. Sie würde sich noch an die Enge auf dem Plattboot, das ihr Vater ihr vererbt hatte, gewöhnen müssen. Das alte Segelschiff war nach allem, was geschehen war, fürs Erste ihre Bleibe.

Eine Weile lag sie ruhig da, bis das Pochen in ihren Schläfen langsam nachließ. Das Trommeln des Regens auf das Deck und das Schmatzen des Wassers, das gegen den Bug des Schiffs schwappte, drangen gedämpft zu ihr. Griet atmete tief ein. Die Luft war kühl und roch modrig, und ein Hauch vom Duft des Pfeifentabaks, den ihr Vater immer geraucht hatte, lag noch darin. Danish Mixture, Vanillearoma. Im Laufe vieler Ermittlungen hatte Griet Gerritsen manchmal Behausungen betreten, deren Bewohner bereits vor geraumer Zeit aus dem Leben geschieden waren – die meisten von ihnen nicht freiwillig –, und immer wieder hatte es Griet überrascht, wie lange sich Gerüche hielten, fast so, als würden sich die Räume an die Menschen erinnern, die einmal in ihnen gelebt hatten.

Sie griff nach ihrem mobieltje, dem Smartphone, das auf der Ablageleiste unter dem Bullauge lag, an dessen Außenseite die Regentropfen herabliefen. Auf dem Sperrbildschirm erschienen die Uhr und ein Foto, das Griets Tochter Fenja bei der Einschulung vor zwei Wochen zeigte. Kurz vor sechs Uhr morgens. Griet musste zwar erst in knapp vier Stunden in der neuen Dienststelle erscheinen, doch wie immer, wenn sie von diesem verfluchten Abend vor fünf Jahren geträumt hatte, war an Schlaf nicht mehr zu denken.

Zeit für einen starken koffie.

Griet kletterte aus der Koje, zog Jeans und einen schwarzen Pullover an. In geduckter Haltung trat sie durch die niedrige Tür in das, was ihr Vater immer den Salon genannt hatte − eine völlig übertriebene Bezeichnung für den beengten Raum in der Mitte des Schiffs, in dem sich eine Essecke, ein Navigationspult und eine Kochecke drängten. Ihr Vater hatte den Kahn geliebt, bis zum Schluss. Griet hatte ihn gehasst, seit ihr Vater sie als Kind mit auf das Ijsselmeer genommen und sie sich bei starkem Wellengang die Seele aus dem Leib gekotzt hatte. Noch immer konnte sie sich nicht recht vorstellen, auf dem Ungetüm zu leben, auch wenn es nur vorübergehend war.

Sie betätigte den Schalter einer kleinen Messinglampe an der Decke. Nichts. Griet seufzte, trat zum Sicherungspaneel und legte die Schalter der Reihe nach um. Es blieb dunkel. Erst als sie mit der Faust gegen das Paneel hämmerte, ging das Licht endlich an. Sie würde jemanden kommen lassen müssen, der sich die Elektrik ansah. Und am besten auch den Rest des alten Kahns.

Nachdem sie ausgiebig gegähnt hatte, schaltete sie das Autoradio mit CD-Player ein, das neben dem Sicherungspaneel eingebaut war. Ein Song endete, und die Nachrichten begannen. Griet öffnete in der Kochecke den Gasabsperrhahn und kochte auf dem Herd Wasser für den Kaffee. Dann streifte sie den olivgrünen Parka über, der über der Lehne der Sitzbank lag, und stieg mit einem dampfenden Becher in der Hand die schmale Leiter hoch, die an Deck hinaufführte. Auf halber Höhe blieb sie stehen und öffnete die beiden Flügeltüren, deren kleine Fenster mit Messingsprossen versehen waren. In einer der Scheiben erblickte Griet ihr Spiegelbild, vom dicken Glas derart verzerrt, dass es wie ein ungebetener Blick in die Zukunft aussah – ihre grünen Augen wirkten müde, die Falten und Grübchen in ihrem Gesicht schienen tiefer und zahlreicher und ließen Griet um einige Jahre älter aussehen als fünfundvierzig Jahre. Mit der freien Hand wischte sie sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht, dann schob sie die Luke über der Tür gerade so weit zurück, dass sie darunter noch vor dem Regen geschützt war. Aus ihrem Unterstand blickte sie auf die Noorderstadsgracht hinaus. Hinter ihrem Schiff waren weitere Segeljachten und Plattboote vertäut, in deren Masten der flaue Wind seine klappernde Melodie spielte. In den vergangenen Tagen hatten sich zwar die ersten Frühlingsboten gezeigt, doch es war ihnen noch nicht gelungen, den Winter zu vertreiben. Auf der anderen Seite der Gracht erstreckte sich der Prinsentuin, der Stadtgarten von Leeuwarden, über dessen laublosen Bäumen der Oldehove in den Himmel aufragte, jener unvollendete Kirchturm ohne Spitze, aus rotbraunen Back- und Sandsteinen gemauert, der sich im Stadtkern über die Jahrzehnte unmerklich, aber stetig ein wenig mehr zur Seite neigte.

Griet trank einen Schluck koffie. Im Radio endeten die Nachrichten mit der Meldung eines Schiffsunglücks vor der Nordseeinsel Vlieland, im Anschluss folgte der Wetterbericht, der von einem aufziehenden Sturm kündete. Dann erklangen die ersten Takte von Marco Borsatos »De Waarheid«: Ik denk an wat je voelt, ik denk aan hoe je lacht, ik denk aan al die liefde die jij aan me hebt gegeven …

Sie musste an Bas denken, mit dem sie gelacht und der ihr so viel Liebe geschenkt hatte. Das Lied hatte in seiner alten Stereoanlage gespielt, als sie sich zum ersten Mal …

Griet biss sich auf die Lippe und spülte den Kloß in ihrer Kehle mit einem weiteren Schluck koffie hinunter. Über dem Prinsentuin verkündeten die ersten Strahlen der Morgensonne den Beginn eines neuen Tags. Für Bas würde es nie wieder einen neuen Tag geben. Für sie schon, und das empfand sie als grotesk und ungerecht. In wenigen Stunden trat sie ihren Dienst auf dem neuen Revier an. Es war eine Chance, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, vielleicht die letzte. Diesmal würde sie es richtig machen, sie würde nicht noch einmal versagen.

2Boven de rivieren

Warum hast du damals nicht auf die Verstärkung gewartet?«, fragte Wim Wouters, Hoofdcommissaris und Teamchef der Districtsrecherche Fryslân, als er Griet zwei Stunden später in ihren neuen Job einwies.

Wouters war ein untersetzter Mann Mitte fünfzig, dessen Gesicht man die vielen Jahre in seinem Beruf ansah. Leicht zurückgelehnt saß er hinter dem Schreibtisch, hatte die Hände wie zum Gebet unter dem massiven Doppelkinn gefaltet und musterte Griet, die ihm gegenüber am Fenster stand. Mehr als nur ein Hauch seines Aftershaves lag in der Luft.

Das Büro befand sich im obersten Stockwerk des politiehoofdkantoor für den Distrikt Friesland, ein schnörkelloser, rechteckiger Bau aus ockerfarbenem Beton auf der Willemskade. Die Districtsrecherche war für alle Fälle von Kapitalverbrechen zuständig, die sich in der Region Friesland ereigneten, von Mord über Betrug bis hin zu Vergewaltigung. Der Zuständigkeitsbereich erstreckte sich von Stavoren im äußersten Westen bis kurz vor die Stadtgrenze von Assen im Osten und in Nordsüdrichtung von den Watteninseln bis hinunter nach Lemmer.

Griet blickte zu den Ausflugsschiffen in der Gracht, vor denen sich kleine Menschentrauben versammelt hatten. Die Touristensaison trieb erste zarte Blüten. Entlang des Kanals hatten Händler ihre Stände aufgebaut, verkauften Obst, Gemüse oder Blumen an Radfahrer und Passanten. Auf der gegenüberliegenden Seite drängten sich ausdruckslose Hochhäuser mit verspiegelten Glasfronten eng aneinander. Wouters’ Arbeitszimmer war ein abgetrennter Raum in einem Großraumbüro, und die bodentiefen Fenster, die bei Bedarf mit Lamellenjalousien abgedunkelt werden konnten, gewährten ihm freie Sicht auf die Arbeitsplätze der Rechercheeinheit, die er befehligte.

Griet schob die Hände in die Hosentaschen. Sie trug noch immer die Jeans und den schwarzen Pulli von heute früh, und auch den olivgrünen Parka hatte sie nicht abgelegt, als sie Wouters’ Büro betrat. In ihrem vorigen Leben wäre sie an ihrem ersten Arbeitstag sicherlich in einem Businesskostüm erschienen, doch solche Äußerlichkeiten scherten sie nicht mehr. Entweder die Leute akzeptierten sie so, wie sie war, oder eben nicht.

Warum hatte sie nicht auf die Verstärkung gewartet?

Griet hatte diese Frage unzählige Male während der internen Untersuchung gehört, die obligatorisch folgte, wenn ein Polizist Gebrauch von der Schusswaffe machte. Und sie hatte sich die Frage selbst immer wieder gestellt, meistens in den Nächten, in denen sie im Traum den leblosen Körper von Bas Dekker wie ein Zentnergewicht auf sich spürte. Wäre er noch am Leben, wenn sie sich vor fünf Jahren an die Vorschriften gehalten hätte? Wie sie es auch drehte, die Antwort, zu der sie kam, war immer dieselbe.

»Ich konnte nicht warten«, sagte Griet und wandte sich Wouters zu. »Es war Gefahr im Verzug, die Leben von fünfzig Menschen standen auf dem Spiel.«

Dann erzählte sie ihm, was auch in ihrer Personalakte vermerkt stand. Vielleicht hatte er sie nicht gelesen, wahrscheinlicher war, dass er das Ganze noch einmal aus ihrem Mund hören wollte: Sie hatte bei Europol für das EMSC, das European Migrant Smuggling Centre, gearbeitet, eine Einheit, die Schleusern und Menschenhändlern das Handwerk legt. Griet war vom Rotterdamer Morddezernat dorthin versetzt worden, die nächste Stufe auf der Karriereleiter, für die sie hart gearbeitet hatte. Der Dienst beim EMSC hatte sie mit einer neuen, ungekannten Energie erfüllt. Es war nicht länger darum gegangen, toten Menschen Gerechtigkeit zu verschaffen, sondern lebende Menschen zu schützen.

Seit zwei Jahren war sie einem Schleuserring auf der Spur gewesen, der Flüchtlinge aus Afrika nach England schaffte. Die letzte Etappe der Fluchtroute war die kniffligste: Sie verfrachteten die Menschen in Seecontainer und transportierten diese mit Frachtschiffen aus dem Rotterdamer Hafen auf die Insel. Viele Flüchtlinge hatten zu diesem Zeitpunkt schon eine lange Reise hinter sich, waren entkräftet. Ein Jahr zuvor hatte die Polizei zwanzig Menschen entdeckt, die in einem dieser Container erstickt waren, darunter Frauen und Kinder. Griet wusste, dass es Kollegen gab, die einen solchen Umstand mit einem Schulterzucken quittierten, was sie den Erfahrungen zuschrieb, die einige von ihnen im Alltag mit jenen Migranten machten, die sich nicht an die Gesetze hielten. Für Griet handelte es sich einfach um Menschen, schwache und wehrlose noch dazu, und ein solches Desaster hatte sie nicht noch einmal erleben wollen.

Deshalb hatte sie schnell gehandelt, als ein Informant sie über den bevorstehenden Transport informierte. Das war ihr erster Fehler gewesen. Das EMSC arbeitete in dem Fall mit dem Rotterdamer Sittendezernat zusammen, auf dessen Seite Bas Dekker die Ermittlungen leitete. Griet war bereits auf dem Weg zum Hafen gewesen, als sie ihn verständigt hatte, und es war klar, dass sie früher als er und seine Leute vor Ort eintreffen würde. Es war nur um Minuten gegangen, doch es waren Minuten, die über ein Menschenleben entscheiden konnten. Wie sich herausstellte, war es aber nicht nur das Leben der Flüchtlinge gewesen, über das Griet mit ihrem eigenmächtigen Vorgehen entschieden hatte, sondern auch über das von Bas.

Wouters nickte und fuhr sich mit der Hand durch das lockige graue Haar.

»Was die nächste Frage aufwirft«, sagte er. »Was hattest du überhaupt vor Ort zu suchen?«

Damit war er bei ihrem zweiten Fehler angelangt, dem springenden Punkt. Griet war es bewusst, dass sie nicht nur gegen zahlreiche Dienstvorschriften verstoßen, sondern auch Kompetenzen an sich gezogen hatte, die nicht in ihre Zuständigkeit fielen. Als Europolbeamte hätte sie bei den Ermittlungen lediglich eine koordinierende Funktion übernehmen sollen, das Tagesgeschäft überließ die europäische Polizeibehörde üblicherweise den zuständigen Einheiten vor Ort. Kurz, sie hätte hinter ihren Schreibtisch gehört.

Wouters deutete auf den Besucherstuhl.

»Setz dich bitte endlich«, sagte er, und Griet tat wie geheißen. »Die Menschen in diesem Container verdanken dir ihr Leben. Und mir ist klar, dass der Einsatz für dich persönlich nicht ohne Folgen war …«

Wouters machte eine kurze Pause, und Griet ahnte, dass dies die Ruhe vor dem Sturm war, der nun folgen würde. Sie hatte sich auf einen kühlen Empfang hier oben in Fryslân vorbereitet.

Griet war im limburgischen Thorn aufgewachsen, einem Ort nahe der deutschen Grenze, der wegen seiner vielen weiß getünchten Altbauten auch »das weiße Städtchen« genannt wurde. In Limburg und ebenso im benachbarten Brabant hielt man große Stücke auf die eigene Geselligkeit und Lebensfreude und hatte eine klare Meinung über die Menschen boven de rivieren. Damit war die Bevölkerung jener Landesteile gemeint, die nördlich der großen Flüsse Rhein und Maas und ihres Deltas lagen. Natürlich gehörte auch Rotterdam, ihr bisheriges Revier, dazu, allerdings war das eine Großstadt, und dort galten andere Regeln als auf dem Land. Wenn es in den dicht besiedelten Niederlanden so etwas wie eine tiefste Provinz gab, dann hier im sturmumtosten Fryslân. Seinen Einwohnern eilte der Ruf voraus, ein wortkarger, gefühlskalter, manchmal etwas grobschlächtiger Haufen zu sein. Was vielleicht mit der Gegend zusammenhängt, dachte Griet. Zumindest konnte sie sich gut vorstellen, dass hier im Norden, wo das Wasser mit unzähligen Sturmfluten das Land geformt hatte, sich ein Menschenschlag ausgebildet hatte, der die Dinge geradeheraus benannte, ohne Umschweife und Rücksicht auf Befindlichkeiten, schlicht aus der Not heraus, den Gewalten der Natur ohne langes Geschwafel zu trotzen.

»Dein ehemaliger Vorgesetzter bei Europol ist ein Freund des Polizeichefs. Der wiederum ist mein Chef«, fuhr Wouters fort, »und offenbar schuldete er deinem Vorgesetzten einen Gefallen.«

Tatsächlich hatte ihr alter Chef Griet überhaupt erst auf die Idee gebracht, sich um die Stelle als Ermittlerin bei der Districtsrecherche Fryslân zu bewerben. Als Stadtmensch wäre sie selbst nie auf den Gedanken gekommen, eine Versetzung in die Provinz anzustreben. Er war jedoch der Ansicht gewesen, ein Tapetenwechsel könnte ihr helfen, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, das nach dem Vorfall im Rotterdamer Hafen aus dem Ruder gelaufen war, sowohl beruflich als auch privat.

Wouters stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch, faltete die Hände und blickte Griet aus kalten blauen Augen an.

»Ich wollte dich nicht hier haben«, sagte er. »Jemanden, der nicht nach den Regeln spielt, kann ich nicht gebrauchen. Hier arbeiten junge Beamte mit Familien, die lebend nach Hause kommen möchten.«

Griet nickte. »Ich verstehe.« Allein der Gedanke, dass jemals wieder ein Kollege durch ihr Verschulden den Tod finden könnte, war ein Albtraum.

Wouters stieß die Luft durch die Nase aus. »Dein ehemaliger Vorgesetzter hat dich offensichtlich in höchsten Tönen gelobt. Der Polizeichef meint, du hast vor deiner Zeit bei Europol als Mordermittlerin hervorragende Arbeit geleistet.« Wouters lehnte sich wieder zurück. »Du bekommst eine Chance. Eine. Nicht, weil ich sie dir geben will, sondern weil ich es muss. Ein einziger Fehler, und du bist raus.«

Griet sah zu, wie er eine Ermittlungsakte in die Mitte des Schreibtischs zog und aufschlug.

»Heute Morgen ist auf einer Sandbank vor Vlieland die Leiche eines Mannes gefunden worden«, erklärte Wouters. »Die Kollegen von der Insel haben sich vorschriftsmäßig mit einem Arzt auf die Sandbank begeben und vermuten eine nicht natürliche Todesursache. Du wirst die Ermittlungen leiten.«

»Steht bereits fest, um welche nicht natürliche Todesursache es sich handelt?«, fragte Griet.

Wouters hob die Hände. »Es gibt eine Schusswunde. Mehr wissen wir noch nicht.«

»Wurde die Identität des Toten festgestellt?«

»Ein angesehener Hotelier von der Insel.«

»Aus wie vielen Leuten wird mein Team bestehen?«

Wouters seufzte. »Wir arbeiten derzeit am Limit. Die Kriminaltechnik ist bereits vor Ort, die Rechtsmedizinerin ebenfalls. Hoofdinspecteur Pieter de Vries und Hoofdagent Noemi Bogaard werden dich hier unterstützen.« Wouters deutete durch die Glasfront in das Großraumbüro. »Deine neuen Kollegen sind dort hinten. Da steht auch dein Schreibtisch. Du findest dich sicher zurecht.«

Griet erhob sich zum Gehen.

»Eins noch« – Wouters grinste –, »viel Spaß mit de Vries. Heute Mittag ist er nämlich eigentlich mit Kollegen zum Mittagessen verabredet, unten im T’Pannekoek Ship auf der Gracht. Pfannkuchen sind seine Leibspeise. Er könnte über euren spontanen Einsatz auf der Insel ein wenig verstimmt sein …«

3Das Küken und der Pfannkuchenmann

Im Großraumbüro waren die Arbeitsplätze der Ermittler durch Trennwände voneinander abgegrenzt, auf den Schreibtischen, von denen nur wenige besetzt waren, stapelten sich neben den Computerbildschirmen die Ermittlungsakten. Auf der fensterlosen linken Seite des Raums befanden sich zwei große Besprechungsräume mit Glasfronten. Beide waren besetzt, jeweils mit mehreren Dutzend Beamten.

Griet war sich einer Sache bereits jetzt sicher: Die Ermittlungen auf Vlieland würde sie wohl mit dem kleinsten TGO in der Geschichte der niederländischen Politie führen. Ein solches Team Grootschalige Opsporing wurde bei jedem Fall neu zusammengestellt, möglichst unter Berücksichtigung der speziellen Fähigkeiten, die bei den Ermittlungen in dem jeweiligen Verbrechen gebraucht wurden. Es gab Verhörspezialisten, Protokollführer, Finanzexperten, IT-Fachkräfte, Koordinatoren für die Kriminaltechnische Untersuchung und sogar einen Ermittler, der als Ansprechpartner ausschließlich Kontakt zu den Angehörigen eines Opfers hielt. Üblicherweise arbeiteten zwischen zwanzig und fünfzig, manchmal sogar hundert Ermittler unter Führung eines Teamleiters an einem Fall. Griet würde mit zwei Kollegen auskommen müssen, und sie hatte die ungute Vermutung, dass ihr neuer Chef damit ein bestimmtes Ziel verfolgte.

Pieter de Vries saß mit dem Rücken zum Gang, als Griet hinter ihn trat. Sein Arbeitsplatz befand sich in einem vorbildlichen Zustand. Es war einer jener Schreibtische, bei deren Anblick sie sich immer fragte, ob die Leute, denen sie gehörten, auch wirklich daran arbeiteten oder den Tag lediglich damit zubrachten, die Dinge um sich herum zu ordnen. Der Aktenstapel auf der rechten Seite des Tischs machte den Eindruck, als wäre er nach einem Bauplan ausgerichtet worden, die Mappen lagen so exakt aufeinander, dass nicht eine einzige die Statik des beträchtlichen Papierturms gefährdete. Auf der linken Seite standen neben der Telefonbasis eine Tupper-Brotdose, eine Thermoskanne und eine Kaffeetasse, die mit einem Lorbeerkranz und der Aufschrift De liefste vader van de wereld – der liebste Vater der Welt – bedruckt war. Der Computerbildschirm in der Mitte des Tischs thronte erhöht auf einem Stapel von kriminaltechnischen Handbüchern, und Pieter de Vries saß auf einem jener ergonomischen Bürostühle, deren diverse Einstellmöglichkeiten denen einer Mondrakete entsprachen. An der Pinnwand hinter dem Monitor waren zahlreiche Fotos angebracht, unter anderem die Bilder eines Mädchens und eines Jungen. Ein anderes Foto zeigte Pieter mit seiner Frau vor einem Esszimmerschrank voller Kaffeegeschirr in Delfter Blau; Motive mit Windmühlen und Schiffen zierten die Teller und Tassen. Auf weiteren Aufnahmen war de Vries einmal in jüngeren Jahren am Steuer eines Segelboots zu sehen, ein andermal in Trekkingausrüstung vor einem Wohnwagen, im Hintergrund eine hügelige, bewaldete Landschaft und ein gelbes Ortsschild mit der Aufschrift Prüm.

Der Schreibtisch neben dem von Pieter war frei. War dies ihr neuer Arbeitsplatz? Griet würde jedenfalls keine Fotos von ihrer Tochter aufhängen – und von ihrem Ex-Mann schon gar nicht –, damit handelte man sich nur Nachfragen ein. Und je weniger Fragen, desto besser.

Ihr neuer Kollege telefonierte. Er hatte Griet nicht bemerkt.

»… aber natürlich, Schatz, ich bin pünktlich zum Abendessen zu Hause«, sagte er. »Ja, die neue Kollegin leitet die Ermittlung … Was? Nein, ich bin nicht aufgeregt … Ja, ich habe sie auch gegoogelt … Ja, Schatz, wirklich eine attraktive Frau … Was? … Nein, so war das doch nicht gemeint, ich … Also bitte, Schatz, wie lange sind wir jetzt schon verheiratet?«

Griet räusperte sich, und Pieter fuhr erschrocken ein Stück in die Höhe. »Schatz, ich mach jetzt Schluss, sie ist da«, flüsterte er ins Telefon. »Zoentjes.«

Er beendete das Gespräch, erhob sich und reichte Griet die Hand. Pieter trug ein kariertes Hemd in den Farben Rot, Blau und Weiß, dazu eine braune Cordhose, die von Hosenträgern in Position gehalten wurde, und Wanderschuhe einer bekannten Marke. Seine vollen schwarzen Haare und der Bart zeigten erste graue Stellen, und sein deutlicher Bauchansatz, über dem sich die Knöpfe des Hemds spannten, verriet Griet, dass er jene Jahre im Leben eines Mannes erreicht hatte, in denen Sport durch die Familie von der ersten Stelle der Freizeitaktivitäten verdrängt worden war. Griet schätzte ihn auf Mitte vierzig.

»Was wissen wir bislang?«, fragte sie, nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht hatten.

Pieter nahm einen Notizblock von seinem Schreibtisch und setzte eine Brille mit schwarzem Holzrahmen auf. »Also … heute Morgen ging gegen acht Uhr dreißig ein Notruf bei den Kollegen auf Vlieland ein«, berichtete er in bedächtigem Ton und machte eine Pause, während er in den Notizen blätterte. »Zwei Männer sind mit einem Boot zu einer Sandbank, Moment, wie hieß die gleich … ah, hier … sie waren zur Sandbank De Richel im Watt direkt vor der Insel gefahren. Einer der Männer ist offenbar von der Insel, er hat auch den Notruf abgesetzt. Auf der Sandbank haben sie eine Leiche gefunden. Die Inselpolizei hat diese Angaben bestätigt und uns verständigt …« Er blätterte noch einmal schweigend durch die Notizen.

Dem ersten Eindruck nach schien ihr neuer Kollege durchaus exakt und gründlich zu sein, Griet wünschte nur, er würde seine Arbeit nicht im Schneckentempo verrichten.

Schließlich blickte Pieter auf. »Ich glaube, das wäre so weit alles. Wer wird noch zu unserem Team gehören?«

»Du, ich und Hoofdagent Noemi Bogaard.« Griet zuckte entschuldigend die Schultern. »Mehr ist wohl nicht drin.«

»Bogaard?« Pieter rollte mit den Augen. »Bitte nicht das hektische Küken …«

»Das ›hektische Küken‹ hat soeben mit Henk van der Waal gesprochen, er leitet das politiebureau auf der Insel«, sagte eine helle Frauenstimme hinter Griet. »Er erwartet uns auf der Sandbank. Hoffentlich zertrampelt der Dorftrottel nicht alle Spuren. Der Hubschrauber hat die Kriminaltechnik und die Rechtsmedizinerin rübergeflogen und ist wieder zurück. Die Maschine wartet abflugbereit auf dem Dach.«

Griet wandte sich um und sah sich einer jungen Frau Mitte zwanzig mit dunkler Hautfarbe und kurzen Rastalocken gegenüber. Sie trug ein blaues Businesskostüm mit weißer Bluse. Noemi streckte Griet die Hand zur Begrüßung entgegen und setzte ein Zahnpastalächeln auf. »Noemi Bogaard. Meinetwegen kann es losgehen.«

»Verlieren wir keine Zeit«, sagte Griet und erwiderte den Handschlag. »Machen wir uns auf den Weg.«

Pieter sah Griet mit großen Augen an. »Heißt das, du willst mit dem Hubschrauber fliegen …?«

Griet zuckte die Schultern. »Da ich nicht selbst fliegen kann: ja.«

»Sollten wir nicht lieber … die Fähre nehmen?«

»Dauert zu lange«, sagte Griet und verkniff sich die Bemerkung, dass sie es nicht mochte, wenn über ihre Anweisungen diskutiert wurde.

Dann wandte sie sich zum Gehen, und Noemi folgte ihr. Pieter erhob sich mit einem Seufzen, griff nach seiner beigen Jacke und setzte eine graue Schiebermütze auf, während er hinter ihnen hertrottete. Er blickte auf seine Armbanduhr.

»Es ist jetzt kurz nach elf«, sagte er im Gehen. »Meint ihr, wir sind bis eins wieder hier? Ich habe dann …«

»… eine Verabredung zum Pfannkuchenessen«, vollendete Griet den Satz, wobei ihr nicht entging, dass Noemi eine Grimasse schnitt. »Das Mittagessen muss heute ausfallen. Wird ein langer Tag.«

»Potverjanhinnekont …!«, entfuhr es Pieter.

Griet war es durchaus bewusst, dass die Friesen dafür bekannt waren, ihren Dialekt zu pflegen, der sogar offiziell als eigene Sprache anerkannt war. Dennoch machte sie wohl ein derart verdutztes Gesicht, dass Noemi sich einschaltete.

»Fries«, erklärte die junge Frau mit einem Schulterzucken, »heißt so viel wie: verdammte Scheiße.«

Noemi wies den Weg durch das Treppenhaus zum Dach des Gebäudes. Als sie die Stufen hochstieg, war Griet sich einer weiteren Sache sicher. Wouters hatte ihr nicht nur ein besonders kleines Ermittlungsteam zur Verfügung gestellt, sondern offenbar auch ein besonders unbeliebtes. Pieter de Vries war vermutlich eine ganze Weile nicht mehr am Fundort einer Leiche gewesen, wenn er sich denn überhaupt jemals einem solchen genähert hatte. Sonst wäre er sicher davon ausgegangen, dass die Arbeit vor Ort eine ganze Weile dauerte. Dass er wohl schon länger nicht mehr hinter seinem Schreibtisch hervorgekommen war, hatte Griet zudem eine weitere Beobachtung verraten: Die oberste Akte auf seinem Schreibtisch enthielt nicht nur einen Aufdruck mit der Fallnummer, sondern auch einen Datumsvermerk. Der Fall stammte aus dem Jahr 1992. Pieter bearbeitete Cold Cases, ungelöste Fälle, die lange zurücklagen und mit denen niemand sich abgeben wollte – Fälle, die man gern Neulingen aufs Auge drückte und Kollegen, die sich unbeliebt gemacht hatten oder schlicht zu nichts anderem taugten.

Und auf Noemi Bogaard schien die Bezeichnung hektisches Küken durchaus zuzutreffen. Eine junge Berufseinsteigerin, die sich mit überbordendem Ehrgeiz und einem natürlichen Mangel an Erfahrung dafür qualifizierte, dass alle einen weiten Bogen um sie machten.

Wouters hatte es offenbar darauf angelegt, Griet scheitern zu sehen und sie auf diese Weise möglichst schnell wieder loszuwerden.

Ein rottes Plattboot, ein Toter auf einer Sandbank mitten im Watt, eine Anfängerin und der Pfannkuchenmann. Der erste Tag ihres neuen Lebens verlief in jeder Hinsicht so geschmeidig wie ein Verkehrsunfall.

4Der Tote im Watt

Aus der Luft betrachtet glich das Wattenmeer mit seinen zahllosen Strömungen, die zwischen den Sandbänken und Untiefen verwaschene Schlieren in der grau-grünen See hinterließen, einem Opal, durch die Jahrtausende geschliffen vom Wechsel der Warm- und Eiszeiten, dem Spiel der Gezeiten und den Sturmfluten ausgesetzt, die der Küste ihre heutige Form gegeben hatten. Griet hatte das Wattenmeer noch nie von oben gesehen, und nun, da der blau-weiße Eurocopter EC-135, mit der Aufschrift Politie an der Seite, das Festland auf Höhe von Harlingen hinter sich ließ und Kurs aufs offene Meer und die Inseln nahm, empfand sie Ehrfurcht vor dem, was die Natur hier geschaffen hatte.

Es war nicht das erste Mal, dass Griet in einem Hubschrauber flog, und sie stellte erneut fest, dass er definitiv eines der unbequemeren Fortbewegungsmittel war. Die Regenwolken vom Vortag hatten sich verzogen, doch die Schlieren am Himmel verkündeten, dass das schöne Wetter nur von kurzer Dauer sein würde. Der Wind schüttelte die Maschine kräftig durch. Dem hektischen Küken schien dies nichts auszumachen. Noemi klebte förmlich mit dem Gesicht an der Scheibe, und ihr war anzusehen, dass sie von dem Anblick, der sich ihnen bot, ebenfalls überwältigt war. Bei Pieter lag die Sache anders. Er saß Griet kerzengerade gegenüber, hatte die Augen geschlossen und krampfte die Finger ins Sitzpolster. Seine Gesichtshaut hatte eine leicht grünliche Färbung angenommen.

»Alles goed met jou – Geht es dir gut?«, fragte Griet durch das Headset, das sie trugen, um sich über das Knattern der Rotoren verständigen zu können.

»War schon mal besser …«, murmelte Pieter, ohne die Augen zu öffnen.

Noemi wandte sich zu ihm um. »Stell dir einfach vor, du wärst auf dem Pfannkuchenschiff, und es schwankt ein wenig.«

Er verzog das Gesicht. »Bitte … red jetzt nicht vom Essen.«

Die Unterhaltung wurde von der Stimme des Piloten unterbrochen. »Wir sind gleich da.«

»Okay«, antwortete Griet, »dreh eine Runde, ich will mir das Ganze von oben ansehen.«

Vlieland war die am weitesten vom Festland entfernte Watteninsel und, wie von hier oben gut zu erkennen, deutlich kleiner als ihre Nachbarn Texel im Westen und Terschelling im Osten. Das einzige Dorf, Oost-Vlieland, lag vor einem bewaldeten Hügel, auf dem ein Leuchtturm stand. Im Westen breitete sich eine ausgedehnte Heidelandschaft aus, die in einer gigantischen Sandfläche, dem Vliehors, auslief, die sich weit ins Meer in Richtung Texel erstreckte.

Die Sandbank De Richel, auf die sie zuflogen, lag vor dem östlichen Ende Vlielands und war nicht gerade klein. Griet schätzte, dass De Richel ungefähr so groß wie ein Fünftel der Insel war.

Der Helikopter neigte sich zur Seite, als er in die Kurve ging. Pieter hatte das Headset abgenommen, sodass Griet seine Stimme nicht über den Kopfhörer hörte, doch von seinen Lippen konnte sie die Worte ablesen: lieve hemel! – ach, du lieber Himmel.

Sie umkreisten die Sandbank in einem weiten Bogen, und das verschaffte Griet einen guten Überblick über die Lage dort unten. Am südöstlichen Rand der Sandbank hatten sich einige Menschen versammelt, die sie anhand der typischen weißen Schutzanzüge als Kriminaltechniker ausmachen konnte. Sie standen in der Nähe von etwas, das wie das Gerippe eines Schiffswracks aussah. Westlich davon lagen zwei Boote auf dem Sand, neben ihnen war eine weitere Gruppe von vier Personen zu erkennen, von denen sich eine Person entfernte und in Richtung der nördlichen Spitze der Sandbank ging.

Griet hörte erneut die Stimme des Piloten im Kopfhörer.

»Die Verwirbelungen der Rotoren wühlen den Sand ganz schön auf«, erklärte er. »Vorhin habe ich die Kriminaltechnik und die Rechtsmedizinerin ein gutes Stück entfernt vom Fundort der Leiche am äußersten nördlichen Rand abgesetzt.«

»In Ordnung«, erwiderte Griet.

Es war klar, dass sie nirgendwo anders landen konnten, wenn sie möglichst wenig Spuren zerstören wollten.

»Der Sandboden ist hier allerdings sehr weich. Ich hatte vorhin echt Probleme, ihn hochzukriegen …« Der Pilot setzte ein schiefes Grinsen auf. »Den Helikopter, meine ich. Ich werde diesmal lieber nicht landen, sondern die Maschine dicht über dem Boden halten. Es ist nicht hoch, aber ihr müsst abspringen. Schafft ihr das?«

»Kein Problem«, rief Griet und reckte den Daumen in die Höhe, was Pieter, der den Kopfhörer wieder aufgesetzt hatte und ihrer Unterhaltung folgte, mit einem ungläubigen Blick quittierte.

»Ihr solltet euch übrigens nicht allzu viel Zeit lassen«, sagte der Pilot. »Die Flut läuft schon wieder auf.«

»Keine Sorge, wir wollen hier nicht übernachten.«

Griet öffnete die Schiebetür, als der Pilot die Maschine in eine stabile Position gebracht hatte. Es mussten gute zwei Meter bis zum Boden sein. Sie hockte sich hin, stellte die Füße auf die Kufen, sprang ab und landete im Sand. Noemi tat es ihr gleich, bevor Pieter der jungen Polizistin nach kurzem Zögern folgte. Offenbar versuchte er, den Sprung abzufedern, indem er sich abrollte, was ihm allerdings nicht gelang. Er kippte zur Seite und blieb wie eine Schildkröte auf dem Rücken liegen, während der Hubschrauber sich in einer aufgewirbelten Sandwolke entfernte.

Noemi wollte ihm helfen, doch er lehnte ihre ausgestreckte Hand ab und rappelte sich auf, richtete seine Schiebermütze und nuschelte etwas in seinen Bart, das für Griet wie das bereits gehörte Potverjanirgendwas klang.

Das Knattern des Hubschraubers verklang, und plötzlich umfing eine unerwartete Stille sie. Kühler Wind wehte aus nordwestlicher Richtung, machte sich hier allerdings nur schwach bemerkbar, da sich die Sandbank im Windschatten der Insel befand. Griet zog den Reißverschluss ihres olivgrünen Parkas hoch und blickte hinüber zu der Gestalt, die sich ihnen über die Sandfläche näherte. Es war ein Mann in dunkelblauer Polizeiuniform und passender Mütze.

»Unser Empfangskomitee«, sagte Griet. »Gehen wir ihm ein Stück entgegen.«

***

Sie trafen den Mann auf halbem Weg, in der Mitte der Sandbank.

»Henk van der Waal«, stellte er sich vor. »Ich leite die Dienststelle auf der Insel.«

Griet machte ihn mit ihrem Team bekannt. Henk war ungefähr in ihrem Alter, hatte dunkelblondes, welliges Haar, das an den Seiten unter der Polizeimütze hervorschaute, und einen Vollbart. Er war auf eine herbe Art attraktiv, aber Griet nahm das in ihrem noch immer anhaltenden Schmerz über Bas’ Tod nur beiläufig zur Kenntnis. Außerdem hatte sie sich sowieso geschworen, in Zukunft nie wieder etwas mit einem Kollegen anzufangen.

»Die Kriminaltechnik und die Rechtsmedizinerin sind drüben bei der Leiche«, erklärte Henk und deutete zu dem Schiffswrack, das Griet aus der Luft gesehen hatte, dann wies er in Richtung der beiden Boote. »Meine Kollegin, Agent Karen den Bosch, ist bei den Männern, die den Toten gefunden haben. Wir haben sie mit Kaffee und Decken versorgt.«

»Wer sind die beiden?«, wollte Griet wissen.

»Marc Martens, ein Mann von der Insel, und Klaas Verhoeven, ein Archäologe der Universität Leiden«, erklärte Henk. »Martens hat Verhoeven heute Morgen mit dem Boot zur Sandbank gebracht. Verhoeven hat dann die Leiche in den Überresten des Schiffswracks entdeckt.«

»Wie lange sind die beiden schon hier?«

»Ihr Notruf ging gegen halb neun bei uns ein. Soweit ich weiß, sind sie erst kurz zuvor hier eingetroffen.«

Griet blickte auf ihr mobieltje, es war jetzt ein paar Minuten nach elf, also hielten sich die beiden Männer schon seit knapp drei Stunden hier draußen auf. Es war nicht unüblich, dass derjenige, der eine Leiche entdeckt hatte, an Ort und Stelle zur ersten Befragung blieb – seine frischen Eindrücke und Beobachtungen beim Auffinden des Toten konnten bei den weiteren Ermittlungen eine wichtige Rolle spielen. Allerdings gab es hier keinen zwingenden Grund, die Männer noch länger festzuhalten, sie konnten alles Weitere genauso gut in der Polizeiwache auf Vlieland erledigen.

Griet wandte sich an Pieter und Noemi: »Ihr beiden bringt die Auffindungszeugen gemeinsam mit Karen den Bosch zur Wache auf die Insel. Nehmt ihre Aussagen zu Protokoll. Und denkt daran, die Befragungen getrennt durchzuführen, sie sollen sich nicht gegenseitig beeinflussen.«

»Heißt das, ich darf einen von den beiden ganz allein vernehmen?« Noemi sah sie mit aufgerissenen Augen an.

»Ich fürchte …«, stammelte Pieter entschuldigend, »sie hat das noch nie gemacht … also, allein zumindest nicht.«

Griet runzelte die Stirn. »Lässt sich jetzt nicht ändern, oder? Irgendwann ist immer das erste Mal«, meinte sie und blickte Noemi aufmunternd an. »Vergiss auf keinen Fall, den Zeugen über seine Rechte zu belehren, bevor du loslegst, sonst ist die ganze Arbeit für die Tonne. Also dann …«

Pieter und Noemi machten sich auf den Weg, und Griet blickte den beiden nach. Die junge Kollegin war noch grüner hinter den Ohren, als sie ohnehin befürchtet hatte.

»Gehen wir«, sagte Griet zu Henk und deutete mit einem Nicken zu der Stelle, wo das Wrack lag. »Was weißt du über den Toten? Er ist ein Mann von der Insel, richtig?«

»Vincent Bakker, er war Besitzer und Betreiber des Badhotels in Oost-Vlieland«, sagte Henk. »Das Hotel ist das älteste auf der Insel.«

»Hatte er Familie?«

»Eine Frau und eine Stieftochter. Sie arbeiten beide im Hotel, ein klassischer Familienbetrieb«, erklärte er. »Ich habe seine Frau bereits über seinen Tod unterrichtet, sonst hätte sie es über den Dorftratsch erfahren. Sie weiß allerdings noch nicht, dass es sich um Mord handelt. Ich dachte, das sagen wir ihr lieber persönlich. Wir können zu ihr fahren, sobald wir auf der Insel sind.«

»Einverstanden«, sagte Griet. »Können wir sicher sein, dass es sich um einen Mord handelt?«

»Sieht ganz danach aus. Ich meine, wer würde sich schon selbst in eine Plastikfolie wickeln, nachdem er sich erschossen hat?« Henk lachte gezwungen.

»Eine Idee, wer einen Grund gehabt haben könnte, Bakker zu töten?«

Henk schürzte die Lippen. »Absolut nicht. Er war ein angesehener Mann.«

Sie erreichten die Fundstelle, wo sich zwei Frauen in weißen Schutzanzügen unterhielten. Im Hintergrund packten die Kriminaltechniker, die blaue Jacken mit der Aufschrift Forensische Recherche trugen, ihre Ausrüstung bereits wieder zusammen. Ein Polizeifotograf dokumentierte den Fundort von allen Seiten.

Die beiden Frauen unterbrachen ihr Gespräch, als sie Griet und Henk bemerkten, und Griet stellte sich ihnen vor.

»Noor van Urs«, sagte die Linke der beiden und streckte Griet die Hand entgegen. »Ich leite die kriminaltechnische Untersuchung. Wim Wouters hat dich bereits angekündigt. Mein Labor befindet sich übrigens im Stockwerk unter deinem Büro.« Sie lächelte und zog die Schutzhaube vom Kopf, unter der lange, weiße Haare zum Vorschein kamen, die sie zu einem Zopf geflochten hatte und die im Kontrast zu ihrem jugendlichen Gesicht standen. Ihre Augenbrauen waren ebenfalls weiß, und in den Pupillen ihrer Augen lag ein roter Schimmer. Noor van Urs war ein Albino.

»Mein Name ist Mei Nakamura«, sagte die andere Frau, eine Asiatin mittleren Alters. »Ich bin Rechtsmedizinerin am Forensischen Institut des GGD Friesland.«

»Gut, wie weit seid ihr mit der Arbeit?«, fragte Griet.

»Ich kann es kurz machen: Für uns gibt es hier nicht viel zu tun«, antwortete Noor. »Der Fundort ist erheblichen Witterungseinflüssen ausgesetzt. Wind, Ebbe, Flut – und in der vergangenen Nacht hat es auch noch geregnet.«

Sie deutete hinüber zu der Stelle, wo die Sandbank ins Wasser überging. Eine Reihe von Schiffsspanten ragte dort aus dem Schlick. Das dunkle Holz war morsch, durchlöchert und an vielen Stellen abgebrochen, sodass nur schwer vorstellbar war, dass es einmal den Rumpf eines Schiffs gebildet hatte. Etwa hundert Meter von den Wrackresten entfernt war ein kleines Schutzzelt aufgebaut worden. Darunter musste sich der Tote befinden.

»Die Leiche hatte sich zwischen den Spanten des Schiffs verfangen«, erklärte Mei. »Wir haben auflaufendes Wasser, deshalb waren wir uns einig, dass wir den Toten am besten dort wegschaffen.«

»Wir haben keine weiteren Spuren außer der Leiche selbst gefunden, was mit den Witterungseinflüssen zu tun haben kann – zu viel Wind, und der Regen und das Meer könnten Fußabdrücke ausgewaschen haben, falls es welche gab«, fügte Noor hinzu. »Also nichts, was darauf hindeutet, dass die Tat hier begangen wurde. Da sind lediglich die Fußspuren der beiden Männer, die den Leichnam entdeckt haben. Außer ihnen hat in letzter Zeit niemand diese Sandbank betreten – mal abgesehen von denen da drüben.«

In gebührendem Abstand von den Schiffsspanten und den Anwesenden lagen am Saum zwischen Sand und Meer einige Robben.

»Die Kleider des Opfers und die Plastikplane sehe ich mir dann im Labor an«, fuhr Noor fort.

»In der Plane lagen noch einige Steine, die offenbar zur Beschwerung dienten«, ergänzte Henk. »Was aber wohl nicht ganz erfolgreich war.«

»Hatte der Tote irgendwelchen persönlichen Besitz bei sich?«

»Nein, kein Portemonnaie, kein Handy, nichts. Er trug lediglich eine Armbanduhr, die wir sichergestellt haben.«

Damit lässt sich nicht ausschließen, dass es sich um einen Raubmord handelt, überlegte Griet. Allerdings würde es sich um eine sehr umständliche Art von Raub handeln, denn dazu gehörte üblicherweise nicht die anschließende Entsorgung der Leiche. So etwas bedurfte vorausgehender Planung. Der Aufwand hätte sich wohl nur gelohnt, wenn Vincent Bakker eine große Geldsumme oder Gegenstände von hohem Wert mit sich führte.

Der Himmel hatte sich in der Zwischenzeit verfinstert, und ein leichter Nieselregen setzte ein. Griet zog sich die Kapuze ihres Parkas über den Kopf.

Mei, die Rechtsmedizinerin, bedeutete Griet mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. Sie gingen hinüber zu dem Zelt, unter dem der Leichnam lag.

Einer der Kriminaltechniker reichte Griet Schutzkleidung, die sie anlegte. Sie betraten das Zelt und knieten sich neben den leblosen Körper. Der Mann war noch immer der Länge nach in eine durchsichtige Plastikplane eingewickelt. Lediglich der Bereich vom Kopf bis zur Brust war freigelegt. Die Haut war schrumpelig und dunkel, an einigen Stellen schwarz verfärbt, die Haare lagen wie dünne Fäden um das Gesicht. Ein Mann, der seine besten Jahre hinter sich hatte, dachte Griet. Sicher hatte er einmal gut ausgesehen, aber sein feistes Gesicht ließ vermuten, dass er zu sehr dem Alkohol zugesprochen hatte – und fettem Essen nicht abgeneigt gewesen war. Die Augen waren geschlossen, die Arme gestreckt an den Körper angelegt, die Beine parallel nebeneinander. Soweit Griet durch die Plane sehen konnte, trug der Tote Arbeitsstiefel, eine Cargohose und ein kariertes Hemd. Auf der Kleidung waren Farbflecken zu erkennen. Das Hemd war aufgeknöpft. Die entblößte Brust offenbarte, woran Vincent Bakker vermutlich gestorben war: ein kreisrundes Einschussloch auf Höhe des Herzens.

»Die Leiche hat nicht lange im Wasser gelegen«, sagte Mei. »Es ist noch kein Algenbesatz vorhanden, ebenso wenig gibt es Bissspuren von Fischen, obwohl die Plane an einigen Stellen gerissen ist, und die für Wasserleichen typische Waschhaut ist auch kaum ausgeprägt.«

Sie deutete mit einem Stift auf etliche Stellen im Gesicht, die wie tiefe Kratzer aussahen. »Diese Verletzungen haben nicht geblutet, sind also post mortem entstanden. Es könnten Treibverletzungen sein, wie sie oft bei Wasserleichen entstehen. Würde mich nicht wundern, wenn wir an den Beinen weitere solcher Verletzungen finden.« Ihr Stift wanderte zu dem Einschussloch in der Brust. »Schusswunde. Direkt ins Herz. Durch die Lagerung im Wasser sind die Spuren nicht deutlich, aber es befindet sich am Einschussbereich keine Stanzmarke, keine Schmauchhöhle, also war es kein aufgesetzter Schuss. Ich vermute, der Täter hat aus mittlerer Distanz geschossen.«

Mei bedeutete Griet, ihr zu helfen, und gemeinsam drehten sie die Leiche um.

»Siehst du«, sagte sie, »wir haben keine Austrittswunde, das bedeutet, das Projektil steckt noch im Körper.« Sie legten den Toten wieder auf den Rücken.

»Gibt es noch weitere Verletzungen?«

»An Kopf und Torso habe ich auf den ersten Blick nichts gefunden, Unterleib und Beine werde ich mir bei der Leichenschau ansehen.«

»Die Schussverletzung war mit Sicherheit die Todesursache?«

»Sehr wahrscheinlich.« Mei erhob sich, und sie verließen das Zelt. Draußen legten sie die Schutzkleidung ab.

»Meiner ersten Schätzung nach ist die Leiche nicht länger als vierundzwanzig Stunden im Wasser gewesen«, sagte Mei, während sie den Reißverschluss des weißen Overalls öffnete. »Das bedeutet, der Tod ist gestern Abend eingetreten, womit das Zeitfenster für die Tat zwischen siebzehn Uhr und Mitternacht liegen dürfte. Genaueres dann nach der Obduktion.«

Da der Hubschrauber nicht auf der Sandbank landen konnte, traten die Rechtsmedizinerin und die Kriminaltechniker die Heimreise mit einem Boot der Küstenwache an, das inzwischen neben dem Polizeiboot angelandet war. Griet würde mit Henk van der Waal nach Vlieland fahren. Zuvor ging sie noch einmal zu der Stelle hinüber, wo die Reste des Wracks inzwischen beinahe vollständig in der steigenden Flut versunken waren. Sie zog ein schwarzes Notizbuch aus der Jackentasche. Anders als manche jüngeren Kollegen hielt sie ihre Beobachtungen gern schriftlich fest – bei einem Notizbuch konnte nie der Akku leer sein.

Ein gezielter Schuss in die Brust, die Leiche in eine Plane gewickelt, mit Steinen beschwert, dann der Versuch, den Toten im Wasser zu entsorgen. Wer auch immer der Mörder von Vincent Bakker war, er hatte vermutlich nicht im Affekt gehandelt. Er hatte sein Vorgehen geplant und mit kühlem Kopf umgesetzt.

Griet klappte das Notizbuch zu, blickte aufs Meer hinaus. In der Ferne waren die braunen Segel eines Plattboots zu erkennen, das Richtung Ameland oder Schiermonnikoog unterwegs sein musste. Vom Festland her näherte sich eine Fähre, und zwischen Vlieland und Terschelling stampfte ein Seenotrettungsschiff der KNRM, der Koninklijke Nederlandse Redding Maatschappij,