Die toten Seelen - Nicolai W. Gogol - E-Book

Die toten Seelen E-Book

Nicolai W. Gogol

4,8

Beschreibung

Seine satirisch-grotesken, teils phantastischen Dramen und Erzählungen machen ihn zu einem der wichtigsten Autoren des 19. Jahrhunderts. Doch mit dem Roman "Die toten Seelen" hat sich der ukrainisch-russische Schriftsteller Nicolai Gogol in die Weltliteratur eingeschrieben! Im Alter von 42 verbrennt er gegen den Protest seines weinenden Dieners den letzten Teil der als Trilogie angelegten "Toten Seelen" und verweigert seitdem die Nahrungsaufnahme.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 710

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (28 Bewertungen)
23
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover
Über den Autor

Über den Autor

Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809–1852), war eines von fünf Kindern einer ukrainischen Gutsbesitzerfamilie. Er besuchte das Gymnasium in Nischyn, sein erstes Erscheinen dort ist kompliziert, da er in Binden, Decken und Pelze eingewickelt ist und die Mitschüler ihn gleich auspacken, »bis sie den kränklichen, äußerst unschönen und von Skrofulose verunstalteten Jungen selbst zu fassen bekamen.« Seine enorme Nase, deren Spitze er mit der Unterlippe berühren kann, tut ein Übriges. Doch er lernt früh, solche Lächerlichkeit durch Überspitzung ins rein Komische emporzutreiben und sich damit Respekt zu verschaffen; »Die Nase« ist nur das markanteste Beispiel dieser Vorwärtsverteidigung. Ende 1828 reiste er nach Petersburg, wo er eine Stellung im Staatsdienst erhielt. 1831 wurde er Lehrer an einer höheren Mädchenschule; in diesem Jahr lernte er auch Puschkin kennen. 1834 wurde Gogol Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Petersburg. Zwischen 1836 und 1848 unternahm Gogol Reisen durch Deutschland, die Schweiz, Österreich, Frankreich und Italien. Im Alter von 42 Jahren starb er an den Folgen übermäßigen Fastens.

»Russlands wunderlichster Russe.« Nabokov

»Was bist du doch für ein kluges und seltsames und krankes Geschöpf?« Iwan Turgenjew

»Puschkin sagte mir immer, noch nie habe es einen Schrift- steller gegeben, der in so hohem Grade das Vermögen besaß, die Gemeinheit und Plattheit in so satten Farben zu schildern, die Hohlheit und die Nichtigkeit eines gemeinen Menschen mit einer solchen Kraft zu zeichnen, wie ich ...«

Zum Buch

Zum Buch

»Prediger der Knute, Apostel der Ignoranz, Verteidiger von Obskurantismus und Dämonenwahn, Lobredner tatarischer Sitten.« Wissarion Belinskij

Seine satirisch-grotesken, teils phantastischen Dramen und Erzählungen machen Nikolai Wassiljewitsch Gogol zu einem der wichtigsten Autoren des 19. Jahrhunderts. Doch mit dem Roman »Die toten Seelen« hat sich der ukrainisch-russische Schriftsteller in die Weltliteratur eingeschrieben. Im Alter von 42 verbrennt er gegen den Protest seines weinenden Dieners den letzten Teil der als Trilogie angelegten »Toten Seelen« und verweigert seitdem die Nahrungsaufnahme.

In einer russischen Provinzstadt führt sich ein gewisser Tschitschikow in die Gesellschaft ein und macht einigen Gutsbesitzern einen ungewöhnlichen Vorschlag: Er will ihnen »tote Seelen« abkaufen, verstorbene Leibeigene, die noch in den Rechnungsbüchern geführt werden. Sie sollen ihm als fiktives Pfandobjekt bei Kreditinstituten Gewinn bringen. Er will aus dem morbiden System der Leibeigenschaft seinen eigenen Nutzen ziehen und sich mit dem Gewinn aus dem Staub machen.

Haupttitel

Nikolai Gogol

Die toten Seelen

Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.  Alle Rechte vorbehalten  Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2011 Der Text wurde behutsam revidiert nach der Ausgabe Berlin um 1925: Ergänzen: akg-images GmbH, Berlin Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH Bildnachweis: akg-images, Berlin Redaktion: Katharina Maier, Augsburg eBook-Bearbeitung: Medienservice Feiß, Burgwitz Gesetzt in der Palatino Ind Uni – untersteht der GPL v2   ISBN: 978-3-8438-0047-1  www.marixverlag.de

Erster Teil

Erstes Kapitel

In das Tor eines Gasthofes der Gouvernementsstadt N. N. rollte ein recht hübscher, federnder Wagen, von der Art, wie mit ihnen die alleinstehenden Herren zu fahren pflegen: Oberstleutnants a. D., Stabshauptleute, Gutsbesitzer, die an die hundert leibeigene Seelen besitzen, mit einem Wort alle, die man Herrschaften mittleren Ranges nennt. Im Wagen saß ein Herr von nicht hervorragend hübschem, aber auch nicht üblem Aussehen, nicht zu dick und nicht zu mager; man könnte nicht sagen, dass er alt, aber auch nicht, dass er allzu jung sei. Sein Einzug erregte in der Stadt gar keinen Lärm und wurde von keinen besonderen Erscheinungen begleitet; nur zwei russische Bauern, die vor der Türe der Branntweinschenke, dem Gasthof gegenüber, standen, machten einige Bemerkungen, die sich übrigens mehr auf die Equipage, als auf den, der in ihr saß, bezogen. »Siehst du«, sagte der eine dem andern, »das ist einmal ein Rad! Was glaubst du: könnte man mit so einem Rad, wenn es nötig wäre, bis Moskau kommen?« – »Bis Moskau, ja«, antwortete der andere. »Bis Kasan könnte man aber damit nicht kommen?« – »Bis Kasan, nicht«, entgegnete der andere. Damit war auch das Gespräch zu Ende. Außerdem begegnete der Wagen kurz vor dem Gasthofe einem jungen Mann in weißer, sehr kurzer und enger Nankinghose und einem Frack, der modern sein sollte und unter dem ein Vorhemd zu sehen war, in dem eine Tulanadel in Form einer Bronzepistole steckte. Der junge Mann drehte sich um, sah den Wagen an, hielt sich mit der Hand die Mütze fest, die ihm der Wind beinahe vom Kopfe gerissen hätte, und ging seinen Weg weiter.

Als der Wagen in den Hof einfuhr, wurde der Herr vom Gasthofdiener oder einem »Polowoi«, wie man sie in russischen Wirtschaften zu nennen pflegt, empfangen – einem dermaßen lebhaften und beweglichen Burschen, dass man nicht mal sein Gesicht erkennen konnte. Er kam eilig, mit einer Serviette in der Hand, herausgelaufen, hoch aufgeschossen, in einem langen Baumwollrock, dessen Taille ihm beinahe auf dem Nacken saß – schüttelte die Haare und führte den Herrn flink durch eine hölzerne Galerie, um ihm das ihm von Gott bestimmte Gemach zu zeigen. Das Gemach war von der bekannten Art, denn auch der Gasthof war von der bekannten Art, das heißt wie die Gasthöfe in den Gouvernementsstädten zu sein pflegen, wo die Reisenden für zwei Rubel täglich ein ruhiges Zimmer bekommen mit Kakerlaken, die wie die Dörrpflaumen aus allen Ecken hervorgucken, und einer stets mit einer Kommode verstellten Tür zum Nachbarzimmer, in dem sich eben der Nachbar einrichtet, ein schweigsamer und ruhiger, doch äußerst neugieriger Herr, der ein großes Interesse für den Reisenden und dessen Position zeigt. Die Außenfassade des Gasthofes entsprach vollkommen seinem Inneren: Sie war sehr lang und hatte zwei Geschosse. Das untere war nicht getüncht und zeigte dunkelrote Backsteine, die infolge der heftigen Wetterstürze nachgedunkelt, aber auch schon an sich etwas schmutzig waren; das obere war mit der obligaten gelben Farbe gestrichen; unten waren Läden, wo Kummete, Stricke und Brezeln verkauft wurden. Im Eckladen, oder richtiger im Eckfenster, befand sich ein Teeverkäufer mit einem kupfernen Samowar und einem Gesicht, das ebenso rot wie sein Samowar war, so dass man aus der Ferne annehmen könnte, dass sich im Fenster zwei Samoware befänden, wenn der eine Samowar nicht einen pechschwarzen Vollbart hätte.

Während der Reisende sich in seinem Zimmer umsah, wurden seine Habseligkeiten hereingetragen: Zuerst kam ein etwas abgetragener Koffer aus weißem Leder, welcher zeigte, dass er nicht zum ersten Mal auf der Reise war. Den Koffer trugen herein: der Kutscher Sselifan, ein kleiner Mann in einem Halbpelz, und der Lakai Petruschka, ein Bursche von etwa dreißig Jahren, der in einem weiten, abgetragenen Rocke, der offenbar von seinem Herrn stammte, stak, einen etwas strengen Ausdruck, sehr dicke Lippen und eine ebensolche Nase hatte. Nach dem Koffer trug man eine nicht sehr große Schatulle aus Mahagoni, mit karelischem Birkenholz eingelegt, herein, dann ein Paar Schuhleisten und ein in blaues Papier eingewickeltes Brathuhn. Als alle diese Sachen hereingetragen waren, begab sich der Kutscher Sselifan in den Stall, um die Pferde zu versorgen, während der Lakai Petruschka sich in der Vorkammer, einem sehr finstern Loche, einrichtete, wohin er schon seinen Mantel und mit diesem den ihm eigentümlichen Geruch hereingebracht hatte, der auch dem Sack mit seinen Toilettengegenständen eigen war, den er gleich darauf hereinschleppte. In diesem Loche stellte er ein schmales dreibeiniges Bett an die Wand und legte eine Art Matratze darauf, die so zusammengedrückt und flach, vielleicht auch ebenso fettig war wie ein Pfannkuchen und die er mit einiger Mühe vom Gasthofbesitzer erhielt.

Während die Diener mit allen diesen Sachen beschäftigt waren, begab sich der Herr in den Speisesaal. Wie solche Speisesäle aussehen, weiß jeder Reisende: Es sind immer die gleichen, mit Ölfarbe gestrichenen Wände, die oben von Pfeifenrauch geschwärzt und unten durch die Rücken der Reisenden, noch mehr aber durch die der einheimischen Kaufleute geglättet sind, denn die Kaufleute pflegen bekanntlich an Markttagen zu sechs und zu sieben herzukommen, um ihre Portion Tee zu trinken; die gleiche verrauchte Decke; der gleiche verrauchte Kronleuchter mit den vielen herabhängenden Glasprismen, welche hüpften und klirrten, sooft der Polowoi hurtig über den mit abgeriebenem Wachstuch belegten Boden lief, flink das Tablett schwingend, auf dem eine solche Menge von Teetassen saß, wie Vögel am Meeresstrande sitzen; die gleichen die ganze Wand einnehmenden Gemälde; mit einem Wort – es war alles wie überall; höchstens mit dem Unterschied, dass auf einem der Bilder eine Nymphe mit so großen Brüsten dargestellt war, wie sie der Leser sicher noch nie gesehen hat. Dieses Naturspiel ist übrigens auch auf den historischen Gemälden zu finden, die, niemand weiß, woher, wann und von wem, nach Russland eingeführt worden sind; zuweilen sogar von unsern Kunst liebenden Würdenträgern, die sie in Italien auf Rat der sie begleitenden Kuriere aufkauften. Der Herr legte die Mütze ab und wickelte sich ein wollenes, in allen Farben des Regenbogens prangendes Tuch vom Halse; solche Halstücher pflegen gewöhnlich die Ehefrauen für ihre Männer eigenhändig zu stricken und ihnen dann mit angemessenen Belehrungen, wie man sie sich um den Hals zu wickeln habe, zu überreichen; wer sie aber für die Junggesellen anfertigt – weiß ich nicht zu sagen; das weiß Gott allein; ich habe jedenfalls niemals solch ein Halstuch getragen. Nachdem er sich vom Halstuche befreit hatte, bestellte sich der Herr ein Mittagessen. Während ihm die in Wirtschaften üblichen Speisen aufgetragen wurden, also: eine Kohlsuppe mit Pastete aus Blätterteig, die man in Gasthöfen für die Durchreisenden wochenlang aufzuheben pflegt, Hirn mit jungen Erbsen, Würstchen mit Kraut, eine gebratene Poularde, eine Salzgurke und der obligate Blätterteigkuchen; während ihm dies alles, wie im aufgewärmten so auch im kalten Zustande, aufgetragen wurde, ließ er sich vom Kellner oder »Polowoi« allerlei Unsinn erzählen, zum Beispiel wem dieser Gasthof früher gehört habe, ob er viel einbringe und ob der Besitzer ein großer Gauner sei, worauf der Polowoi die gewohnte Antwort gab: »Oh, ein großer Gauner, mein Herr!« Wie im ganzen gebildeten Europa, so gibt es jetzt auch im gebildeten Russland eine Menge sehr ehrenwerter Leute, die nicht imstande sind, etwas in einem Gasthause zu verzehren, ohne zugleich mit dem Kellner zu schwatzen oder sogar zu scherzen. Der Neuankömmling stellte übrigens nicht lauter müßige Fragen: Er erkundigte sich genau, wer in der Stadt das Amt eines Gouverneurs, das des Kammervorsitzenden und des Staatsanwalts bekleide; mit einem Wort, er überging auch nicht einen hohen Beamten; mit einer fast noch größeren Aufmerksamkeit, wenn nicht Teilnahme, zog er Erkundigungen über alle größeren Gutsbesitzer der Gegend ein: wie viel leibeigene Seelen ein jeder besitze, wie weit von der Stadt er wohne, sogar was für einen Charakter er habe und wie oft er in die Stadt komme; dann fragte er auch genau nach der allgemeinen Lage der Gegend: ob es in diesem Gouvernement keine Epidemien, bösartige Fieberkrankheiten, Blattern und so weiter gegeben habe, und er tat dies alles mit einer Ausführlichkeit, die mehr als auf bloße Neugierde hinwies. In seinen Manieren hatte der Herr etwas außerordentlich Solides und schnäuzte sich ungewöhnlich laut. Es ist unbekannt, wie er das machte, aber seine Nase tönte dabei wie eine Posaune. Diese scheinbar durchaus harmlose Eigenschaft verschaffte ihm jedoch die größte Achtung des Gasthofdieners, der, sooft er diesen Ton hörte, seine Haare schüttelte, sich respektvoll aufrichtete und, seinen Kopf über den Gast beugend, fragte, ob der Herr nicht noch etwas wünsche. Nach dem Essen trank der Herr eine Tasse Kaffee und setzte sich aufs Sofa, wobei er sich ein Kissen hinter den Rücken schob; diese Kissen werden in den russischen Gasthöfen statt mit weicher Wolle mit einem Stoff gefüllt, der die größte Ähnlichkeit mit Ziegelsteinen und Kieseln hat. Dann begann er zu gähnen und ließ sich auf sein Zimmer bringen, wo er sich hinlegte und zwei Stunden schlief. Nachdem er ausgeruht hatte, schrieb er auf Wunsch des Gasthofdieners auf einen Zettel, zur Kenntnisnahme der Polizei, seinen Stand, Vor- und Familiennamen auf. Als der Polowoi die Treppe hinunterging, las er nicht ohne Mühe folgendes: »Kollegienrat Pawel Iwanowitsch Tschitschikow, Gutsbesitzer, reist in eigenen Angelegenheiten.« Während der Polowoi den Zettel noch immer buchstabierte, machte sich Pawel Iwanowitsch Tschitschikow auf, um sich die Stadt anzusehen, die ihn offenbar befriedigte, denn er fand, dass sie den andern Gouvernementsstädten in nichts nachstand: Die Steinhäuser waren grellgelb gestrichen, während die Holzhäuser ein bescheidenes Grau zeigten; die Häuser hatten ein, zwei und auch eineinhalb Geschosse, mit den obligaten Mezzanins, die die Gouvernementsarchitekten für besonders hübsch hielten. Stellenweise standen diese Häuser in den wie Felder breiten Straßen, inmitten unendlicher Bretterzäune wie verloren da; stellenweise drängten sie sich eng aneinander, und hier war mehr Bewegung und Leben. Man sah hier und da vom Regen fast verwaschene Schilder mit Brezeln und Stiefeln und eines mit einer ganz primitiv gemalten blauen Hose, unter der zu lesen war: »Schneidermeister aus Arschau«; hier sah man ein Mützen- und Hutgeschäft mit der Inschrift: »Wassilij Fjodorow, Ausländer«; dort war ein Billard mit zwei Spielern in Fräcken dargestellt, wie sie in unseren Theatern die Gäste zu tragen pflegen, die im letzten Akte auftreten. Die Spieler zielten mit ihren Queues und hatten nach hinten gerenkte Arme und krumme Beine, mit denen sie wohl eben einen Luftsprung gemacht hatten. Über diesem ganzen Bilde befand sich die Inschrift: »Etablissement«. Hier und da standen auf der Straße Tische mit Nüssen, Seife und Pfefferkuchen, die wie Seife waren; an einer anderen Stelle befand sich eine Garküche mit einem dicken Fisch, in dem eine Gabel steckte, auf dem Schilde. Am häufigsten sah man aber dunkle Doppeladler, an deren Stelle heute die lakonische Inschrift: »Branntweinausschank« getreten ist. Das Pflaster war überall ziemlich schlecht. Er warf auch einen Blick in den Stadtgarten, der aus dünnen, verkümmerten Bäumchen bestand, die unten von Pfählen gestützt wurden; diese Pfähle bildeten Dreiecke und waren schön mit grüner Ölfarbe gestrichen. Die Bäume waren zwar kaum höher als Schilf, aber in den Zeitungen hieß es von ihnen bei Beschreibung einer Illumination: »Dank der Fürsorge unserer Zivilverwaltung ist jetzt unsere Stadt durch einen Garten geschmückt, der aus schattigen, weitverzweigten Bäumen besteht, welche an heißen Tagen Kühle spenden«; weiter hieß es: »Es war rührend anzusehen, wie die Herzen der Bürger vor überströmender Dankbarkeit zitterten und Tränen des Dankes ob der Verdienste des Herrn Stadthauptmanns vergossen.« Nachdem er einen Polizisten genau ausgefragt hatte, wie man, wenn man es brauchte, auf kürzestem Wege zur Kathedrale, zum Amtsgebäude und zum Gouverneur gelangen könne, begab er sich zum Fluss, der mitten durch die Stadt floss; unterwegs riss er einen an einem Pfahl angenagelten Theaterzettel ab, um ihn zu Hause genau zu studieren, betrachtete aufmerksam eine Dame von recht hübschem Aussehen, die auf dem bretternen Bürgersteig an ihm vor­überging und der ein Knabe in einer Militärlivree mit einem Bündel in der Hand folgte. Nachdem er das Ganze noch einmal mit einem Blick streifte, als wollte er sich die Lage merken, begab er sich nach Hause und stieg, vom Gasthofdiener leicht gestützt, in sein Zimmer hinauf. Nachdem er Tee getrunken hatte, setzte er sich vor den Tisch, ließ sich eine Kerze geben, holte den Theaterzettel aus der Tasche, hielt ihn dicht vor die Kerze und begann zu lesen, wobei er sein rechtes Auge ein wenig zukniff. Auf dem Zettel stand übrigens wenig Bemerkenswertes: Es wurde ein Drama des Herrn Kotzebue gegeben, in dem Rolla von einem Herrn Popljowin und Kora von einem Fräulein Sjablow gespielt wurden. Die übrigen Personen waren noch weniger bemerkenswert; er las jedoch den ganzen Zettel durch, gelangte zu den Preisen der Parterreplätze und erfuhr, dass der Theaterzettel in der Druckerei der Gouvernementsverwaltung hergestellt worden war; dann drehte er den Zettel um, um zu erfahren, ob nicht auch auf der Rückseite etwas stehe; als er aber da nichts fand, rieb er sich die Augen, legte den Zettel ordentlich zusammen und verwahrte ihn in einer Schatulle, in die er alles, was ihm nur in die Hand fiel, zu stecken pflegte. Der Tag wurde, wie ich glaube, mit einer Portion kalten Kalbsbratens, einer Flasche Kwaß und einem festen Bärenschlaf beschlossen, wie man sich in gewissen Gegenden unseres großen russischen Reiches auszudrücken pflegt.

Der ganze folgende Tag war den Besuchen gewidmet. Der Fremde machte Visiten bei allen städtischen Würdenträgern. Er machte seine Aufwartung dem Gouverneur, der, wie er sich zeigte, gleich Tschitschikow, weder dick noch mager war, den Annenorden am Halse trug und, wie es hieß, auch den Stern dieses Ordens erhoffte, im Übrigen aber ein guter Mensch war und zuweilen sogar Tüllstickereien anfertigte. Dann begab er sich zum Vizegouverneur, zum Staatsanwalt, zum Kammervorsitzenden, zum Polizeimeister, zum Branntweinpächter, zum Direktor der Staatsfabriken … schade, dass man sich alle die Machthaber dieser Welt gar nicht merken kann; es genügt, wenn ich sage, dass der Fremde eine ungewöhnliche Energie im Besuchemachen entwickelte und seine Aufwartung sogar beim Inspektor der Medizinalverwaltung und beim Stadtarchitekten machte. Dann saß er noch lange in seinem Wagen und überlegte sich, wen er noch hätte besuchen können, doch in der Stadt gab es keine Beamten mehr. Im Gespräch mit diesen Machthabern verstand er es sehr kunstvoll, einem jeden irgendeine Schmeichelei zu sagen. Dem Gouverneur sagte er so nebenbei, dass man in sein Gouvernement wie ins Paradies einfahre; alle Straßen seien wie aus Samt, und eine Regierung, die so weise Beamten ernenne, verdiene jegliches Lob. Dem Polizeimeister sagte er etwas äußerst Schmeichelhaftes über die Stadtpolizisten; den Vizegouverneur und den Kammervorsitzenden, die erst Staatsräte waren, sprach er zweimal aus Versehen mit »Exzellenz« an, was den beiden sichtlich gefiel. Die Folge davon war, dass der Gouverneur ihn noch am gleichen Tage zu einer kleinen Abendunterhaltung einlud, während ihn die anderen Beamten ihrerseits teils zum Mittagessen, teils zu einer Partie Boston und teils zu einer Tasse Tee einluden.

Der Fremde vermied es anscheinend, viel über sich selbst zu reden; und wenn er etwas sagte, so drückte er sich ganz allgemein, mit sichtlicher Bescheidenheit aus, und das Gespräch nahm in solchen Fällen einen etwas literarischen Charakter an; er sagte, er sei nur ein elender Wurm auf dieser Welt, unwürdig, dass man sich um ihn viel kümmere; er habe in seinem Leben im Dienste viel für die Wahrheit gelitten und viele Feinde gehabt, die ihm sogar nach dem Leben trachteten; um endlich einmal Ruhe zu haben, suche er sich einen ständigen Wohnsitz; in dieser Stadt angelangt, hätte er es für seine vornehmste Pflicht gehalten, ihren ersten Würdenträgern seine Hochachtung zu bezeugen. Das ist alles, was man in der Stadt über diese neue Persönlichkeit erfuhr, die es auch nicht unterließ, sich sehr bald bei der Abendunterhaltung im Gouverneurshause zu zeigen. Die Vorbereitungen zu diesem Abend hatten an die zwei Stunden in Anspruch genommen, und der Fremde zeigte dabei eine so peinliche Aufmerksamkeit für seine Toilette, wie man sie nicht jeden Tag sieht. Nach einem kurzen Nachmittagsschlafe ließ er sich Waschwasser bringen und rieb sich außerordentlich lange mit Seife beide Wangen, die er von innen mit der Zunge stützte; dann nahm er dem Gasthofdiener das Handtuch von der Schulter und trocknete sich damit sein volles Gesicht ab, indem er bei den Ohren anfing und dem Diener zunächst zweimal direkt ins Gesicht nieste; dann legte er sich vor dem Spiegel ein Vorhemd an, zupfte sich zwei Härchen aus der Nase und stand plötzlich in einem Frack von preißelbeerfarbenem Tuche mit Glanz da. Nachdem er sich auf diese Weise angekleidet hatte, fuhr er mit eigener Equipage durch die unendlich breiten Straßen, die nur vom spärlichen Lichte, das aus einigen Fenstern drang, beleuchtet waren. Das Haus des Gouverneurs war übrigens so glänzend beleuchtet, dass es auch bei einem Ball nicht besser hätte sein können; vor der Einfahrt hielten Wagen mit Laternen, vor der Tür standen zwei Gendarmen, in der Ferne schrien die Vorreiter – mit einem Worte, alles war so, wie es sich gehört. Als Tschitschikow den Saal betrat, musste er für eine Weile die Augen zusammenkneifen, weil der Glanz der Lichter, der Lampen und der Damentoiletten einfach blendend war. Alles war mit Licht übergossen. Schwarze Fräcke huschten einzeln und rudelweise durch den Saal, wie die Fliegen an einem heißen Julitage ein Stück weißglänzende Raffinade umschwirren, das die alte Haushälterin vor einem offenen Fenster in funkelnde Stücke zerschlägt; die Kinder haben sich um sie versammelt und verfolgen neugierig die Bewegungen ihrer derben Hände, die den Hammer schwingen, und die leichten, vom luftigen Hauche emporgehobenen Fliegenschwadronen fliegen kühn, wie die rechtmäßigen Herren, herein und umschwirren, sich die Kurzsichtigkeit der Alten und die Sonne, die ihre Augen blendet, zunutze machend, bald vereinzelt und bald in dichten Haufen, die leckeren Stücke. Gesättigt vom reichen Sommer, der ohnehin auf Schritt und Tritt die leckersten Speisen bereitstellt, kamen sie hereingeflogen, durchaus nicht um zu essen, sondern nur um sich zu zeigen, auf den Zuckerhaufen zu spazieren, die Vorder- oder Hinterfüßchen gegeneinander zu reiben oder sich mit ihnen unter den Flügelchen zu kratzen, oder um sich mit vorgestreckten Vorderfüßchen den Kopf zu jucken, umzukehren, hinauszufliegen und dann in neuen lästigen Schwadronen wiederzukommen. Tschitschikow hatte kaum Zeit gehabt, sich umzusehen, als der Gouverneur ihn schon am Arme packte und der Gouverneurin vorstellte. Der Gast kam auch hier nicht in Verlegenheit: Er sagte ihr irgendein Kompliment, wie es einem Herrn von mittleren Jahren ziemt, der weder allzu hoch, noch allzu niedrig im Range steht. Als die tanzenden Paare sich aufstellten und alle gegen die Wand drückten, musterte er sie, die Hände im Rücken, an die zwei Minuten mit großer Aufmerksamkeit. Viele Damen waren gut und nach der Mode gekleidet; die anderen hatten nur das an, was der liebe Gott in so eine Provinzstadt kommen lässt. Die Männer waren hier wie überall von zwei Sorten: Die einen waren dünn und scharwenzelten immer um die Damen herum; einzelne unter ihnen konnte man sogar schwer von Petersburger Herren unterscheiden; auch sie trugen Backenbärte, die mit großer Überlegung oder Geschmack zurückgekämmt waren, oder zeigten einfach wohlgeformte, sehr sorgfältig rasierte Gesichtsovale; sie setzten sich ebenso ungezwungen neben die Damen, sprachen ebenso Französisch und scherzten, wie man es in Petersburg tut. Die andere Sorte der Herren waren die Dicken oder solche wie Tschitschikow, das heißt die weder zu dick noch zu dünn waren. Diese hatten einige Scheu vor den Damen, gingen ihnen aus dem Wege und spähten immer aus, ob der Diener des Gouverneurs nicht schon irgendwo den grünen Tisch für das Whistspiel bereitstelle. Ihre Gesichter waren rund und voll, zum Teil mit Warzen geschmückt; einzelne waren auch blatternarbig; ihr Kopfhaar trugen sie weder in Schöpfen, noch in Locken, noch »à la diable«, wie es die Franzosen nennen; ihre Haare waren entweder kurzgeschoren oder glatt an den Schädel geklebt, und die Gesichtszüge meistens rund und derb. Das waren die geachtetsten Beamten der Stadt. Die Dicken verstehen es leider besser, auf dieser Welt ihre Geschäfte zu machen als die Dünnen. Die Dünnen werden meistens für besondere Aufträge verwendet oder bloß in den Listen geführt und schwanken aus dem einen Ressort in das andere; ihre Existenz ist etwas gar zu leicht, zu luftig und nicht ganz sicher. Die Dicken bekleiden dagegen niemals indirekte, sondern stets direkte Posten, und wenn sie sich irgendwo festsetzen, so sitzen sie so sicher da, dass eher der Sitz unter ihnen in die Brüche geht oder sich biegt, als dass sie herunterfliegen. Äußeren Glanz lieben sie nicht; ihre Fräcke sind nicht so kunstvoll zugeschnitten wie bei den Dünnen, dafür ruht aber auf ihren Geldschatullen der Segen Gottes. Der Dünne hat oft schon nach drei Jahren keine leibeigene Seele mehr, die nicht verpfändet ist; der Dicke lebt in aller Ruhe, doch ehe man es sich versieht, steht plötzlich an dem einen Ende der Stadt ein auf den Namen seiner Frau gekauftes Haus da; dann erscheint am anderen Ende ein zweites Haus, dann ein Gütchen in der Nähe der Stadt und dann ein ganzes Kirchdorf mit allem Zubehör. Schließlich quittiert der Dicke, nachdem er Gott und dem Kaiser gedient und allgemeine Achtung erworben hat, den Dienst, zieht aufs Land und wird Gutsbesitzer, ein guter, gastfreundlicher russischer Grandseigneur und lebt in Herrlichkeit und Freuden. Wenn er aber tot ist, so bringen seine dünnen Erben das ganze väterliche Gut nach russischer Sitte im Eiltempo durch. Es lässt sich wohl nicht verheimlichen, dass auch unser Tschitschikow mit ähnlichen Betrachtungen beschäftigt war, während er die Gesellschaft musterte, und die Folge davon war, dass er sich schließlich zu den Dicken gesellte, unter denen er lauter bekannte Personen vorfand: den Staatsanwalt mit den sehr dichten schwarzen Augenbrauen, der mit dem linken Auge immer blinzelte, als ob er sagen wollte: »Komm, Bruder, ins andere Zimmer, ich werde dir etwas sagen« – einen im Übrigen sehr ernsten und schweigsamen Herrn; den Postmeister, einen kleingewachsenen, doch witzigen und philosophisch veranlagten Mann; den Kammervorsitzenden, einen äußerst vernünftigen und liebenswürdigen Herrn, die ihn sämtlich wie einen alten Bekannten begrüßten, worauf Tschitschikow sich zwar etwas schief, doch nicht ohne Anmut verbeugte. Hier lernte er auch den sehr höflichen und zuvorkommenden Gutsbesitzer Manilow kennen und den etwas plump aussehenden Ssobakewitsch, der ihm sofort auf den Fuß trat und sagte: »Bitte um Vergebung.« Sofort reichte man ihm eine Karte für eine Whistpartie, die er mit der gleichen höflichen Verbeugung annahm. Sie setzten sich an den grünen Tisch und blieben bis zum Abendessen sitzen. Alle Gespräche hörten sofort auf, wie das immer der Fall ist, wenn man sich endlich an eine ernste Arbeit macht. Der Postmeister war zwar sehr gesprächig, aber auch er nahm, sobald er die Karten in der Hand hatte, einen nachdenklichen Ausdruck an, bedeckte die Oberlippe mit der Unterlippe und behielt diese Stellung während des ganzen Spiels. Wenn er eine Figur ausspielte, so schlug er mit der Hand fest auf den Tisch und sagte dabei, wenn es eine Dame war: »Geh, alte Popenfrau!«, war es aber ein König, so hieß es: »Geh, Tambower Bauer!« Der Gerichtsvorsitzende aber pflegte zu sagen: »Dem gebe ich eins auf den Bart! Der gebe ich eins auf den Bart!« Zuweilen entfuhren ihnen, wenn sie die Karten so auf den Tisch schlugen, Ausdrücke wie: »Ach! Nobel geht die Welt zugrunde! Wenn man nicht weiß, was man ausspielen soll, so spielt man eben Schellen!« Oder einfache Ausrufe wie: »Herz! Gebrochene Herzen! Grün!« oder: »Grüner Junge! Grünschnabel!«, lauter Namen, die sie in ihrem Kreise den Farben beigelegt hatten. Nach Beendigung einer jeden Partie gerieten sie, wie das so üblich ist, in Streit. Auch unser Gast stritt mit, machte es aber so kunstvoll, dass alle ihn zwar streiten hörten, aber zugeben mussten, dass er es auf eine sehr angenehme Manier machte. Niemals sagte er: »Sie spielten aus«, sondern immer: »Sie waren so freundlich, auszuspielen; ich hatte die Ehre, Ihre Zwei zu stechen!« und dergleichen. Um seine Gegner noch versöhnlicher zu stimmen, reichte er ihnen seine silberne Schnupftabaksdose mit Emaille, auf deren Grunde man zwei Veilchen liegen sah, die er des Aromas wegen hineingelegt hatte. Die Aufmerksamkeit des Fremden wurde ganz besonders von den Gutsbesitzern Manilow und Ssobakewitsch gefesselt, von denen schon oben die Rede war. Er nahm sogar sofort den Kammervorsitzenden und den Postmeister auf die Seite und erkundigte sich nach diesen beiden. Die Fragen, die er stellte, zeugten nicht nur von Neugierde, sondern auch von einer gewissen Gründlichkeit, denn er erkundigte sich vor allen Dingen, wie viele leibeigene Seelen ein jeder von ihnen besitze und in welchem Zustande sich sein Gut befinde; dann erst fragte er nach dem Vor- und Familiennamen. In kürzester Zeit brachte er es fertig, alle Herzen zu bezaubern. Der Gutsbesitzer Manilow, ein noch recht junger Mann, mit Augen so süß wie Zucker, die er, sooft er lachte, zusammenkniff, war ganz hin. Er drückte ihm sehr lange die Hand und bat ihn inständig, ihm auf dem Lande die Ehre seines Besuches zu erweisen, wobei er erwähnte, dass das Gut nur fünfzehn Werst von der Stadtgrenze entfernt sei, worauf Tschitschikow mit höflichem Kopfneigen und aufrichtigem Händedruck erwiderte, dass er dieser Einladung nicht nur mit dem größten Vergnügen Folge leisten, sondern dies sogar für seine heiligste Pflicht halten werde. Ssobakewitsch sagte etwas lakonisch: »Auch ich bitte Sie darum«, und scharrte dabei mit dem Fuß, der mit einem Stiefel von so gewaltiger Größe bekleidet war, dass man wohl kaum einen zweiten, diesem Stiefel entsprechenden Fuß finden könnte, besonders heute, wo die Recken in Russland im Aussterben sind.

Am folgenden Tage begab sich Tschitschikow zum Mittagessen und einer Abendunterhaltung beim Polizeimeister, wo man sich um drei Uhr nachmittags an den Whisttisch setzte und bis zwei Uhr nachts spielte. Hier lernte er unter anderem den Gutsbesitzer Nosdrjow kennen, einen sehr geriebenen Herrn von etwa dreißig Jahren, der ihn gleich nach den ersten drei oder vier Worten zu duzen anfing. Mit dem Polizeimeister und dem Staatsanwalt stand Nosdrjow gleichfalls auf dem Duzfuß und in einem recht familiären Verhältnis; als aber das große Spiel begann, verfolgten der Polizeimeister und der Staatsanwalt sehr genau alle seine Stiche und beachteten jede Karte, die er ausspielte. Den nächsten Abend verbrachte Tschitschikow beim Kammervorsitzenden, der seine Gäste, darunter auch zwei Damen, in einem ziemlich fettigen Schlafrocke empfing. Dann machte er eine Abendunterhaltung beim Vizegouverneur, ein großes Diner beim Branntweinpächter und ein kleineres Diner beim Staatsanwalt mit, das übrigens dem großen ebenbürtig war; er wohnte auch nach der Messe dem Frühstück beim Bürgermeister bei, das sich ebenfalls mit dem Diner messen konnte. Mit einem Worte, er brauchte kaum eine Stunde zu Hause zu bleiben und kam in den Gasthof, nur um zu schlafen. Der Fremde fand sich in jede Situation und zeigte sich als erfahrener Weltmann. Wovon auch die Rede war, er verstand es immer, sich am Gespräch zu beteiligen: Kam die Rede auf Pferdezucht, so sprach er von Pferdezucht; kam sie auf gute Hunde, so machte er auch hierüber einige treffende Bemerkungen; unterhielt man sich über eine vom Rentamte angestellte Untersuchung, so zeigte er, dass ihm auch die gerichtlichen Kunstgriffe nicht unbekannt waren; war die Rede vom Billardspiel, so erwies er sich auch hier als Kenner; sprach man von der Tugend, so verstand er sehr schön, selbst mit Tränen in den Augen, auch von der Tugend zu sprechen; vom Schnapsbrennen – auch im Schnapsbrennen kannte er sich aus; von den Zollwächtern und Zollbeamten sprach er so, als ob er selbst ein Zollwächter oder Zollbeamter gewesen wäre. Das Bemerkenswerteste war aber, dass er alles in eine gewisse Würde zu kleiden verstand und einen feinen Takt zeigte. Er sprach weder zu laut noch zu leise, sondern gerade, wie es sich gehört. Mit einem Worte: Er war ein in jeder Hinsicht anständiger Mensch. Alle Beamten waren über die Erscheinung dieser neuen Persönlichkeit sehr erfreut. Der Gouverneur äußerte über ihn, dass er ein wohlgesinnter Mann sei; der Staatsanwalt – dass er tüchtig sei; der Gendarmerieoberst sagte, er sei ein gelehrter Mann; der Gerichtsvorsitzende – er sei ein gebildeter und ehrenwerter Mensch; der Polizeimeister meinte, er sei ehrenwert und liebenswürdig, und die Frau des Polizeimeisters, er sei über die Maßen liebenswürdig und über die Maßen wohlerzogen. Sogar Ssobakewitsch, der nur selten über jemand gut sprach, sagte, als er spät abends aus der Stadt zurückkehrte und sich ausgekleidet zu seiner mageren Frau ins Bett legte: »Schätzchen, ich war heute Abend beim Gouverneur und aß beim Polizeimeister zu Mittag, dabei habe ich den Kollegienrat Pawel Iwanowitsch Tschitschikow kennengelernt: ein ungemein angenehmer Herr!«, worauf seine Gattin »Hm!« sagte und ihn mit dem Fuße stieß.

Diese für den Gast höchst schmeichelhafte Meinung, die sich über ihn in der Stadt bildete, erhielt sich so lange, bis eine gewisse seltsame Eigentümlichkeit und Unternehmung des Fremden oder eine Passage, wie man in der Provinz zu sagen pflegt, fast die ganze Stadt in höchstes Erstaunen versetzte.

Zweites Kapitel

Schon mehr als eine Woche lebte der Fremde in der Stadt; er besuchte Abendunterhaltungen und Diners und verbrachte die Zeit, wie man so sagt, auf eine höchst angenehme Weise. Endlich entschloss er sich, seine Besuche auch auf das flache Land auszudehnen und die Gutsbesitzer Manilow und Ssobakewitsch aufzusuchen, denen er das Wort gegeben hatte. Vielleicht bewegte ihn hierzu auch ein anderer, wesentlicherer Grund, eine ernstere Sache, die ihm mehr am Herzen lag… Von alledem wird aber der Leser allmählich und zu seiner Zeit erfahren, wenn er nur die Geduld hat, die vorliegende sehr lange Erzählung zu lesen, die später, je mehr sie sich dem Ende, das dem Ganzen die Krone aufsetzt, nähert, immer weitläufiger und breiter werden wird. Der Kutscher Sselifan bekam den Befehl, am frühen Morgen die Pferde vor den uns schon bekannten Wagen zu spannen; Petruschka aber sollte zu Hause bleiben und auf das Zimmer und den Koffer achtgeben. Es wird für den Leser nicht überflüssig sein, diese beiden leibeigenen Diener unseres Helden kennenzulernen. Sie sind zwar gar nicht hervorragende, eher zweitrangige oder sogar drittrangige Personen; auch beruhen die wichtigsten Vorgänge und Triebfedern dieses Werkes nicht auf ihnen, sondern streifen sie nur ab und zu aber der Autor liebt es, in allen Dingen äußerst ausführlich zu sein und will, obwohl er selbst Russe ist, doch so genau sein wie ein Deutscher. Dies wird übrigens nicht viel Zeit und Raum in Anspruch nehmen, weil dem, was der Leser schon weiß, nämlich dass Petruschka einen etwas zu weiten braunen Rock, der von seinem Herrn stammte, trug und wie die Leute seines Standes eine dicke Nase und ebensolche Lippen hatte, nicht mehr viel hinzuzufügen ist. Von Charakter war er eher schweigsam als redselig und hatte sogar einen edlen Hang zur Bildung, das heißt zur Lektüre von Büchern, deren Inhalt ihm übrigens keine Schwierigkeiten machte: Es war ihm völlig gleichgültig, ob er die Abenteuer eines verliebten Helden oder eine Schulfibel oder ein Gebetbuch in die Hand bekam; er las alles mit dem gleichen Interesse; hätte man ihm ein Buch über Chemie gegeben, so gäbe er sich auch damit zufrieden. Vergnügen bereitete ihm nicht das, was er las, sondern das Lesen selbst, oder richtiger der Prozess des Lesens; ihn freute es, dass aus den Buchstaben immer irgendein Wort entstand, das mitunter, der Teufel weiß was, bedeutete. Mit diesem Lesen befasste er sich gewöhnlich in liegender Stellung, in seiner Kammer, auf dem Bette und auf der Matratze, die infolge dieses Umstandes so fest und flach wie ein Pfannkuchen geworden war. Außer dieser Eigenschaft hatte er noch zwei andere Angewohnheiten, die zwei charakteristische Züge seines Wesens bildeten: Er schlief immer, ohne sich auszukleiden, immer in dem gleichen Rock und trug stets einen eigenen Geruch mit sich herum, der ein wenig an stickige Zimmerluft erinnerte, so dass er nur irgendwo, und selbst in einem bisher unbewohnten Zimmer, sein Bett aufzustellen und seinen Mantel mit den übrigen Habseligkeiten hereinzuschleppen brauchte, um dem Zimmer einen Geruch zu verleihen, als sei es schon seit zehn Jahren von Menschen bewohnt. Tschitschikow, der recht empfindlich und in manchen Fällen auch launisch war, pflegte, wenn er des Morgens mit frischer Nase diese Luft einatmete, nur das Gesicht zu verziehen, den Kopf zu schütteln und dabei zu sagen: »Weiß der Teufel, du schwitzt wohl, oder was. Wenn du doch wenigstens mal ins Bad gehen wolltest.« Worauf Petruschka nichts erwiderte und sich nur bemühte, irgendeine Arbeit vorzunehmen: Entweder ging er mit der Bürste zu dem zum Putzen aufgehängten Frack seines Herrn oder räumte einfach etwas auf. Was dachte er sich wohl, während er so schwieg? Vielleicht sagte er zu sich selbst: »Auch du bist gut: Es ist dir doch nicht zu dumm geworden, vierzigmal dasselbe zu wiederholen…« Das weiß Gott allein, es ist schwer zu ergründen, was sich so ein Leibeigener denkt, wenn ihm sein Herr eine Rüge erteilt. Das ist also alles, was man zunächst von Petruschka zu wissen braucht. Der Kutscher Sselifan war jedoch ein ganz anderer Mensch… Der Autor kann sich aber nicht entschließen, seine Leser so lange mit Leuten der niederen Klasse zu unterhalten, da er aus Erfahrung weiß, wie ungerne sie die Bekanntschaft der niederen Stände machen. So ist einmal der Russe: Er ist sehr darauf erpicht, einen Menschen, der auch nur um eine Stufe höher steht als er, kennenzulernen, und die flüchtigste Bekanntschaft eines Grafen oder Fürsten ist ihm mehr wert als die intimste Freundschaft eines anderen Menschen. Der Autor hat sogar einige Bedenken, dass sein Held nur Kollegienrat ist. Hofräte werden vielleicht seine Bekanntschaft nicht verschmähen, aber diejenigen, die dem Generalsrange nahestehen, werden ihm vielleicht einen jener verächtlichen Blicke zuwerfen, die der Mensch hochmütig auf alles wirft, was ihm zu Füßen kriecht; oder sie werden, was noch schlimmer wäre, an ihm mit einer für den Autor tödlichen Nichtachtung vorbeigehen. Wie traurig aber auch das eine wie das andere sein mag, wir müssen doch zu unserem Helden zurückkehren. Nachdem er also noch am Vorabend die nötigen Befehle erteilt hatte, erwachte er früh am Morgen, wusch sich, rieb sich vom Kopf bis zu den Füßen mit einem nassen Schwamm ab was er nur an Sonntagen zu tun pflegte , rasierte sich so sorgfältig, dass die Wangen in Bezug auf Glätte und Glanz dem echten Atlas gleich wurden, zog den Frack von preißelbeerfarbenem Tuch mit Glanz an, darüber einen mit einem ausgewachsenen Bären gefütterten Mantel, stieg, bald auf der einen, bald auf der anderen Seite vom Gasthofdiener gestützt, die Treppe hinunter und setzte sich in den Wagen. Der Wagen rollte mit Donnergepolter aus dem Gasthoftore auf die Straße. Ein vorbeigehender Pope zog den Hut, und einige Jungen in schmierigen Hemden streckten ihre Hand aus und bettelten: »Herr, schenk etwas der armen Waise!« Als der Kutscher merkte, dass der eine von ihnen großer Liebhaber war, auf das hintere Trittbrett zu steigen, zog er ihm eins mit der Peitsche über, und der Wagen begann über die Steine zu springen. Nicht ohne Freude erblickte man in der Ferne den gestreiften Schlagbaum, welcher verhieß, dass das schlechte Pflaster, ebenso wie jede andere Qual, bald ein Ende nehmen würde. Nachdem Tschitschikow seinen Kopf einige Male ziemlich heftig am Wagenkasten angeschlagen hatte, fuhr der Wagen endlich auf weichem Boden weiter. Kaum war die Stadt hinter ihnen geblieben, als zu beiden Seiten der Landstraße die bei uns überall verbreiteten unharmonischen Bilder auftauchten: Erdhügel, Tannengestrüpp, niedere, verkümmerte, junge Fichten, angebrannte Stämme alter Fichten, wildes Heidekraut und ähnlicher Unsinn. Hie und da fuhren sie durch Dörfer, die sich schnurgerade hinzogen und deren Häuser an aufgestapeltes altes Brennholz erinnerten; sie waren mit grauen Dächern gedeckt, unter denen geschnitzte Verzierungen in Form gestickter Handtücher herabhingen. Wie gewöhnlich saßen einige Bauern müßig in ihren Schafpelzen auf den Bänken vor den Toren; die Weiber mit dicken Gesichtern und eingeschnürten Brüsten blickten aus den oberen Fenstern heraus; aus den unteren Fenstern sah hie und da ein Kalb heraus oder steckte ein Schwein seine blinde Schnauze hervor. Mit einem Worte, die bekannte Landschaft. Nachdem er schon die fünfzehnte Werst hinter sich hatte, erinnerte sich Tschitschikow, dass hier nach Manilows Aussage dessen Gut liegen musste; aber auch der sechzehnte Werstpfahl flog vorbei, ohne dass vom Gute etwas zu sehen wäre. Wären sie nicht zwei Bauern begegnet, so hätten sie sich kaum zurechtgefunden. Auf die Frage: »Ist das Dorf Samanilowka noch weit?« zogen die Bauern die Mützen, und der eine von ihnen, der etwas klüger war und einen Knebelbart trug, antwortete: »Vielleicht Manilowka und nicht Samanilowka?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!