Die Toten von Largent - Andreas Reuel - E-Book

Die Toten von Largent E-Book

Andreas Reuel

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Beschreibung

Westfal, Ende des 19. Jahrhunderts. Nach dem Gefängnisausbruch kommen die Chaoten endlich im fabelhaften Treveriam an. Während sie dort auf den Ermittler Reginald Vonderlus warten, stellen sich ihnen in dieser unbekannten Stadt neue Herausforderungen in den Weg. Dabei haftet ihnen noch die ganz große Aufgabe an, das Amulett zu beschaffen und zu zerstören. Unterdessen zieht der geheimbund der Ekpyrosis seine Fäden und der Magus Salomon Tretenville rüstet seine untoten Soldaten im besetzten Teil der Stadt Trivess auf. Alles droht aus dem Ruder zu geraten. Die Fahrt steht auf Messersschneide. Wird Tolumirantos es schaffen, seine Freunde zusammenzuhalten und ihr eigentliches Ziel nicht aus den Augen zu verlieren? Kann Reggie eine Drude finden, die ihnen bei der Zerstörung des Amuletts hilft?

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Für Erich, ein Vorbild, ein Vater, ein Großvater der niemals seinen Humor verlor.

Jeder Mensch hat die Pflicht, unter allen Umständen Gutes zu fördern und Böses zu meiden.

InterAction Council – Allgemein Erklärung der Menschenpfichten, 1997 Fundamente Prinzipien für Humanität, Artikel 3

Greifende Hände in der Dunkelheit schieben die Deckel auf Seite und heben knochige Körper hervor. Träge Schatten wandeln in der Schwärze der Gruft und steigen ins Licht empor.

Leyles van Sant, über eine Abwandlung der Apokalypse

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Ein Albtraum

Ankunft in Mulbeck

Alleingelassen

Das Spielhaus

Vorurteile

Zvedros Zwirn

Vorsehung

Das Glück auf seiner Seite

St. Tiberus

Hänsel ohne Gretel

Jeder trägt sein Päckchen

Dori Buckelbeck

Verstreute Krümmel

Das Koboldküsschen

Das Buch Amlaar

Vir illustris

Die Ruhe vor dem Sturm

Die Dinge nehmen ihren Lauf

Matt gesetzt

Auf Winterburg

Morgenstund, Gold im Mund

Die Boxmeisterschaft

Die dreiköpfige Schlange

Hetzjagd

Marsch der Untoten

Im Findeleck

Des Fängers Rückkehr

Zurück im Findeleck

In Bedrängnis

Wortfechterei

Die gute Backstube

Kurzes Intermezzo

Ein Schreck für Reggie

Die Heimkehr des Fängers

Der Medjev'sche Kreis

Frohnkapelle

Wiedersehen im Kuckucksnest

Van Daal

Das Hauptquartier der Bürgerwehr

Der Meisterplan

Die Lerche und der Kolibri

Gefährliches Terrain

Reggie vermittelt

Das Signal

Festival des Schreckens

Leben

Die Zusammenkunft

Ausgelassenheit im Burhurt

Der Fluch

Abschied und Aufbruch

Epilog

Der Alltag hat einen wieder

Dankende Worte

Der Autor

Namensregister

Prolog

Trivess, Westfal, im Jahr 1888

Der Platz vor dem alten Stadttor war voll mit Menschen. Sie alle waren Bürger dieser Stadt – voller Zorn, Verzweiflung und Erwartung –, gerufen um ihn anzuhören. Seine Rede voller Zuversicht und Hoffnung. Doch konnte er ihnen geben, was sie brauchten, um in diesen dunklen Zeiten zu bestehen?

Nervös prüfte er den Sitz seiner Fliege, schob zum bestimmt zehnten Mal den Vorhang zur Seite und spinste aus dem Fenster. Es wurden nicht weniger, je öfter er nachschaute. Für seine Amtszeit hatte er sich etwas anderes versprochen. Du wirst nur delegieren, hatten seine Parteifreunde der Demokratischen Westfal Partei ihm gesagt. Drei oder vier Sitzungen im Jahr. Mehr waren es dann doch. Und dann dieser Spießrutenlauf. Gedankenverloren bohrte er im Ohr und zwirbelte darauf aus Gewohnheit mit Daumen und Zeigefinger seinen Schnurrbart, der vor lauter Ohrenschmalz wie eine Eins stand.

Dann klopfte es an der Türe.

Sein Sekretär kam herein und teilte ihm mit, dass es an der Zeit für seine Ansprache sei. Bevor er jedoch hinaus ging, prüfte er noch einmal den Sitz seiner vor Pomade triefenden Frisur im Spiegel. Alles saß.

Dann kam die Stunde der Wahrheit – sein Auftritt. Die Menge verstummte beinahe augenblicklich, als die langen Fenstertüren sich öffneten und der Bürgermeister auf den kleinen Balkon heraustrat.

»Heute Mittag habe ich ein Telegramm aus Kalandria erhalten.« Er hob den Zeigefinger, um das Folgende mit dieser Geste zu untermalen. »Vom Kaiser höchstpersönlich.« Er wedelte noch ein wenig mit dem Stecken. Dabei blickte er umher und erfasste somit, ob alle Anwesenden die Tragweite dieses Satzes vernommen hatten.

»Man entsandte Truppen zu uns nach Trivess – noch heute Mittag. So stand es dort geschrieben. Soldaten werden kommen und uns aus dieser Misere befreien. Aber ...«, rezitierte er und machte hier wieder eine künstlerische Pause. »Der Weg ist weit und kostet Zeit. Und die haben wir nicht.«

Einige Bürger riefen zustimmend. Als die Rufe verstummten, setzte der Bürgermeister unmittelbar fort.

»Was wir allerdings haben, das ist unsere Stadt und seine Bewohner, die darin leben. Mit unseren Familien, unserer Arbeit und allem anderen, was uns im Alltäglichen Freude bereitet. Lasst uns gemeinsam losziehen und dafür kämpfen. Unsere Werkzeuge sollen zu Waffen werden. Leisten wir Widerstand gegen diese Ausbrut der Hölle. Sperren wir sie ein und erkaufen uns somit die Zeit, die die Soldaten für ihren Fußmarsch von Kalandria bis nach Trivess benötigen.«

Eine große Schar jubelte ihm jetzt lauthals und zustimmend zu. Das war die Bestätigung die ihn bestärkte. Stolz schob er seine Daumen in die Taschen seiner Weste und drückte seinen Wanst vor, den das offene Jacket entblöste. Mit gerecktem Kinn sagte er: »Wir lassen uns nicht unterkriegen und werden Trivess, unsere Stadt, zurückero–« Von einem Pferdewiehern unterbrochen stockte er abrupt. Hinter der Balustrade des Balkons spähte der Bürgermeister über die Menschenmenge hinweg in eine Straße. Raunend wandten sich alle Bürger in diese Richtung. Erneut wieherte ein Pferd. Hufschläge hallten auf dem Kopfsteinpflaster wider und sichtbar wurde augenblicklich ein Reiter mit Pickelhaube und in rostiger Rüstung, der gemächlich aus der Seitenstraße heraustrat und dann stehen blieb. Der Kopf hob sich langsam nach oben und rot schimmernde Augen nahmen sie alle in seinen Bann.

»Das ist der Fänger!«, rief ein Mann panisch und mit vor Angst zitternder Stimme aus.

»Lauft um euer Leben!«, kehlte der Bürgermeister laut.

Und sie rannten!

Ein Albtraum

Es war Nacht. Wohl die schwärzeste Nacht in meinem Leben. Dabei bin ich doch nur auf dem Abtritt gewesen. Wie kann sich die Welt in nur wenigen Minuten so verändern? Ich konnte es kaum fassen, während ich vor dem Haus stand und meinen Blick schweifen ließ. Alles wirkte apokalyptisch. Wahrlich, es fühlte sich an wie der Weltuntergang.

Fackeln und das Feuer von Bränden der Häuser, die deren Bewohner selbst und sich gleich mit in Brand gesteckt hatten, beleuchteten die Straßen. Der Rauch biss in den Lungen und brannte in den Augen. Die Schreie lärmten in den Ohren und zerrten an den Nerven. Trivess hatte sich innerhalb weniger Minuten von der schönen Stadt im Tal zur Hölle verwandelt.

Ich schloss mich einer Gruppe von Leuten an und gelangte mit ihnen abgehetzt an einen Platz. Wir schnappten alle nach Atem, vom langen Lauf. Leider war die Luft staubig und stank fürchterlich verfault nach Schwefel. Deshalb war jeder Atemzug eine brennende Qual. Zerfledderte Leichen lagen überall auf dem Platz verteilt.

Der Anblick versetzte die Bürger in bedrückende Stille. So musste es wahrlich in der Hölle sein.

Ein Wiehern durchbrach das Chaos und kurz darauf trat ein Pferd aus dem bräunlichen Nebel hervor. Gleich war da zu erkennen, ein Reiter in rostiger Rüstung, zerfetzten Lumpen und Umhang. Sein Pikenhelm und darin ein Schädel mit dem Ebenbild einer gehässigen Fratze! Ein Schauer lief mir über den Rücken und so, wie die anderen Menschen um mich herum schauten, erging es ihnen genauso. Einer rief: ›Lauft! Das ist ... der FÄNGER!!!‹ Und sie liefen, und ich mit ihnen. Was hätte ich auch sonst anderes tun sollen? Mich tot trampeln lassen? Nein! Während es den Anschein hatte, alle Menschen rannten panisch um ihr Leben, verfolgte ich nur ein Ziel; geradeaus in die Straße, einfach nur runter von dem Platz, weg von dem Fänger – wie sie ihn nannten. Plötzlich tauchten vor uns auch ein paar Wiedergänger auf und versperrten uns, wenn auch noch weit entfernt, den Weg. Der Kerl, der vorhin zum Weglaufen gebrüllt hatte, fand sich nun neben mir und rief jetzt zur Offensive, die Untoten anzugreifen und sie niederzuschlagen. Ich dachte mir nur, nicht mit mir, Leute. Die Lage war aussichtslos, das wusste ich und wollte es ändern.

Einige Männer verschwanden in einem Haus, das vermutlich mal eine Bar gewesen war und kehrten mit Hockern und anderen zum Dreschen umfunktionierten Gegenständen wieder zurück. Ihren Weg, den der Masse, hielt ich in diesem Augenblick für den falschen.

Ich fackelte nicht lange und bahnte mir den Weg seitlich gegen den Strom in die Bar. Keiner beachtete mich. Warum auch? Ich war ja nur ein Elb, und so suchte ich mir in aller Eile ein Versteck. Doch hier, parterre, schien keine Stelle die richtige zu sein. Die Treppe nach oben in den ersten Stock war hinüber und unpassierbar, also musste ich einen anderen Weg finden. Ein Seil, das mir beim entlanghangeln oder zum Klettern hätte helfen können, suchte ich vergebens. So langsam rann mir die Zeit davon. Draußen lärmte es schrecklich. Ich wurde immer nervöser, je näher die Untoten kamen.

Ein Schrank, eher eine Anrichte, vereinnahmte dann meine Aufmerksamkeit. Nicht allein, weil ihre Machart mir so gefiel, sondern sie war etwas höher gebaut als gewöhnlich, so dass sie mir ein kleines Stück die Säule hinauf half, von wo ich einen schmalen Sims und einen weiteren ergreifen konnte. Dadurch erreichte ich endlich die Brüstung des Flures im ersten Stock. Gerade als ich mich über das Geländer rollte, hörte ich mitten in der Bewegung Hufe über die Straße klappern. Der Fänger! Es traf mich wie der Blitz und genauso schlagartig ließ ich mich flach auf den Boden fallen, in der Hoffnung, man entdecke mich nicht. Aus dieser Position sah ich die Flanken des verwahrlosten Gauls unter dem Türsturz her traben. Der Reiter ließ sein Pferd genau vor der Bar halten. Es scharrte mit einem Huf. Mir sackte das Herz in die Hose. Ich zitterte am ganzen Leib und diesmal lag es nicht daran, dass ich unterzuckert war. Na gut, vielleicht war das unter anderem auch ein Grund. Aber ich hatte eine Scheißangst. Ich hielt den Atem an und hoffte inständig, er möge doch bitte weiter ziehen, und wenige Herzschläge später tat er es auch. Hatte der Fänger meine Gedanken gehört?

Ich holte erstmal tief Luft. Nachdem ich wieder zu Atem gekommen war erhob ich mich langsam und ging gebeugt in eines der Zimmer. Es gab hier ein einziges Fenster zum Hinterhof. Das war gut, denn im Notfall war es mein Fluchtweg und hier bleiben wollte ich schließlich auch nicht. Wie ich so alleine da stand und von draußen den schrecklichen Schreien des Todes lauschte, lief es mir jedes mal eiskalt den Rücken herunter. Zitternd setzte ich mich zwischen Wand und Nachttisch auf den Fußboden, zog beide Beine kauernd an mich heran und weinte.

Der Elb vergrub das Gesicht in seine Hände, wischte sich den Alptraum aus den Augen und blickte wieder auf. »Ich saß da und konnte nicht mehr. Ob vor Angst, Schock oder purer Überforderung. Ich war wie gelähmt, versteht ihr?« Alle sahen ihn mitfühlend an. Selbst Tomagril konnte nichts Bissiges erwidern.

»Ando, ... Ich …«, stammelte Monty überfragt. »Davon habe ich überhaupt nichts mitbekommen und bin auch ehrlich gesagt ganz froh darüber«, lachte er dann beschämt auf. »Jetzt weiß ich auch, warum du an dem Morgen vor dem Ausbruch so mitgenommen ausgesehen hast.«

Tolumirantos kratzte sich verlegen am Bart. »Ja, das klingt schrecklich. Mit unserer Festnahme hatten wir wohl Glück im Unglück, wie man so schön sagt.«

»Es ist weiterhin schrecklich. Die Bürger von Trivess durchleben das seitdem jeden Tag. Und genau deshalb müssen wir das beenden«, unterstrich Andored ihr Vorhaben. »Reggies Befürchtungen sind wahr geworden. Die Toten wandeln unter den Lebenden.

Tretenville hat es damals an der Klause Mithilfe dieses Amuletts begonnen und die Lage wird nun immer aussichtsloser.«

»Dennoch dürfen wir nichts überstürzen. Oder, Tolu?«, warf Medjev in die Runde und wandte sich an seinen Freund, den Zwerg.

»Richtig. Doch gegen die Untoten – so nenne ich sie mal –, können wir fünf wenig ausrichten. Das überlassen wir mal schön der Stadtwache von Trivess. Unterdessen sollten wir uns auf die Suche nach dem Amulett machen. Unsere Aufgabe bestand schließlich darin, es für Reggie zu beschaffen.«

»Richtig, Tolu. Genau das meine ich.« Andored war erleichtert, einen Fürsprecher zu haben.

»Trotzdem sollten wir uns dazu vorerst mit Reggie besprechen. Er weiß über das Amulett Bescheid. Möglicherweise war er mit seiner Suche nach einer Drude erfolgreicher, als wir mit unserer, nach dem Amulett«, merkte der Zwerg an.

»Hoffen wir es. Sonst war das hier alles umsonst.« Medjev traf es nüchtern. »Wo treffen wir ihn denn? Trivess kommt für uns ja nun nicht mehr in Frage.«

»Ich würde sagen, dort, wo wir gerade hinfahren«, schlussfolgerte Monty. Es war offensichtlich, dass er ihr Ziel kannte. Die nächstgelegene Stadt war eben Treveriam, im Lande Rhonisch. Außerdem hatte er mit Andored die Flucht geplant und diese als ihr Ziel festgelegt. Medjev konnte es nicht wissen, da er mit Tolumirantos und Tomagril durch Gift gelähmt im Gefängnis festgesessen hatte.

»Na toll. Eigentlich wollte ich von Timhold noch eine Mütze kaufen«, spielte Medjev den Betrübten. »Die Tage werden kürzer und kälter, da brauche ich etwas auf dem Kopf.«

»Timhold!«, schreckte Tolumirantos von besagtem Namen erinnert hoch. Dabei schlug sich der Zwerg mit der flachen Hand auf die Stirn. »Den haben wir völlig vergessen.«

Tomagril schenkte dem keine Beachtung, denn er dachte nur daran den Hünen zu necken. »Trägst du nicht die ganze Zeit eine Fleischmütze? Reicht das denn nicht?«, höhnte der Elb und grinste gemein.

Andored überging einfach Tomagrils Stichelei und wandte sich an den Zwerg. »Sein Fahrgeschäft steht im Hof des Kuckucksnest. Der Wirt versprach mir, ein Auge darauf zu haben«, bezog er sich auf das Trivesser Gasthaus, in dem sie anfangs abgestiegen waren.

Erleichtert atmete Tolumirantos aus. »Aber wie lassen wir ihm nun eine Nachricht zukommen, wo wir sind und wo sein Wagen steht?«

»Ich habe ihm natürlich auch eine Nachricht hinterlassen«, beruhigte ihn Andored erneut. »Falls er nach Trivess geht. Wenn er seinen Verstand benutzt, wird er die Gasthäuser abgrasen. Irgendwann werden wir ihn schon finden.«

»Der Ando«, sagte Monty anerkennend, »denkt einfach an alles.«

»Gut gemacht, Ando«, unterstrich der Zwerg nochmal und äußerte dann ein anderes Problem. »Da wäre noch etwas, das ihr noch nicht wisst.«

»Und das wäre?«, hakte Monty neugierig nach und machte große Augen.

Andored lehnte sich mit verschränkten Armen im Stuhl zurück. »Ich bin ganz Ohr. Schlimmer kann es doch nicht mehr werden. Oder?«

»Irgendwie schon«, gestand Tolumirantos ihnen leidvoll und platzte dann mit seiner Neuigkeit heraus. »Tretenville lebt!«

Ankunft in Mulbeck

Was Tolumirantos ihm offenbarte, war schwer zu verdauen, obwohl er es bereits geahnt hatte. Gewissheit zu haben war eben eine andere Hausnummer. So stand es stets mit der Wahrheit. Sie war hart, aber schließlich wusste man einfach, was man an ihr hatte. Manchmal brauchte sie eben etwas Zeit, damit sie ans Licht kam. Wie ein guter Käse eben Luft benötigte, um seinen Geschmack richtig zu entfalten.

Eine Gischt Wasser spritzte hoch, als die Usis, der Kutter, die Welle eines passierenden Schiffes streifte. Andored war so in Gedanken versunken, dass er zu spät reagierte und ihn das Flusswasser ins Gesicht traf. Während der Elb sich trocken und dabei Dreck aus seinem rechten Auge rieb, näherte sich sein Freund Tolumirantos von hinten.

»Andored, was sehen deine elbischen Augen?«, sprach er.

»Nichts!«, antwortete ihm der Elb gequält.

»Wie, du siehst nichts?«, erwiderte der Zwerg sichtlich verwundert.

»Ich hab Dreck im Auge und kann nichts sehen!«, jammerte der Elb und rieb sich mit beiden Händen die Lider.

»Ne ne ne, du bist mir ein Elb. Ständig hast du irgendwas«, moserte der Zwerg spaßend und kam seinem Freund näher. »Lass mal sehen. Ugh, sind die rot. TOMA!!!«, wandte er sich zum Heck. »Bring mal Wasser. Ando hat's erwischt.«

»Schon wieder? Ich komme!«, entgegnete der andere Elb kühn. »Was hat er denn, der Klene?«

»Hat was im Auge!«

»Besser, als woanders«, kommentierte Tomagril neckend.

Für seine Albernheit tadelten Tolumirantos und Andored ihn mit Blicken. Das juckte Tomagril wenig.

»Wo ist eigentlich Monty?«, erkundigte sich Andored beim Zwerg, als beide Augen endlich vom Dreck befreit waren.

»Der ist unten, mit Bella.«

»Oh. Und Beppo erlaubt das?«

»Ja, warum nicht? Er hat es sogar angeboten. Sie verabschiedet sich von ihm.«

»Wie bitte?« Ando glaubte sich verhört zu haben.

»Hast du was in den Ohren oder in den Augen? Sie macht Schluss!«, antwortete ihm Tomagril genervt.

»Oh! Der Arme.«

Am Nachmittag kam Beppo zu den Männern aufs Deck und teilte ihnen mit, ihre Fahrt nähere sich dem Ziel. Dazu verwies er sie auf einen tollen Ausblick am Horizont, wenn sich der Fluss weitete, bevor sie endlich den Hafen Mulbeck und seine Anlegestellen erreichten. Neugierig drängelten sie sich allesamt mit Gerangel an den Bug. Ganz vorne, in der Mitte stand der Zwerg auf einer Kiste. Links von ihm Monty, der sich gegen Tomagril behaupten konnte und rechts von ihm Medjev. Gelassen hatte Andored ihnen den Kampf überlassen und gesellte sich als Letzter dazu. Mit der Sonne im Süden schipperte die Usis dahin. Auf dem welligen, dunkelgrünen Wasser reflektierte ihnen das Sonnenlicht entgegen und wärmte wohltuend ihre Gesichter, der recht kühlen Flussbrise trotzend.

Schließlich öffnete sich der Fluss vor ihren Augen in die Breite. Allein die weite Aussicht übermannte sie. Es war so überwältigend, man fühlte sich für einen Moment so unglaublich klein auf dieser Welt.

Entfernt vor ihnen lagen die Anlegestellen und dahinter die Stadt Treveriam. Im Osten lag eine weite Ebene mit Bruchwäldern, dahinter entfernt ein Gebirge mit einem Berg in seiner Mitte, dessen Gipfel weiß und von Wolken umgarnt. Im Westen fiel ihr Blick auf ein naheliegendes Gebirge, im Süden dagegen auf Wälder, soweit das Auge reichte.

Alle Fünf genossen sie den Anblick. Abgesehen von Andored. Ihn ärgerte der Wind, der ihm seinen Scheitel verwehte. Er versuchte jedes Mal sich so gegen die Böen zu stellen, dass sie ihm nichts anhaben konnten. Vergeblich. Die Frisur war dahin, seine Laune am Boden.

Die raue Stimme Beppos holte sie unsanft auf das schmuddelige Deck der Usis zurück.

»Sachen an Deck!«, rief er ihnen zu und klatsche in die Hände. »Los doch! Wir legen gleich an.«

»Aber ...«, wollte Monty protestieren, doch Tolumirantos stieß ihm hart in die Seite.

»Lass es. Es hat keinen Sinn. Wir wissen alle, dass wir noch locker eine halbe Stunde brauchen, bis wir anlegen. Wenn Beppo sagt, wir sollen es tun, dann tun wir’s. Bei ihm gibt es keine Diskussion. Hast du das noch nicht gemerkt?«

Monty Michel gab klein bei und holte mit den anderen wortlos ihre Sachen hinauf. Gestapelt lagen ihre Taschen und Säcke im Handumdrehen auf dem Deck.

Wie so oft behielt Tolumirantos mit seiner Einschätzung Recht. Nach etwa einer halben Stunde traf die Usis im Hafen ein. Beppo blaffte Monty an, mit einer Zugstange das Boot an den Steg heranzuziehen und dann das Bugtau daran gut zu verschnüren. Ohne ein Wort half ihm Andored dabei. Der Kapitän tat dasselbe am Heck.

Andored bemerkte, dass der Kapitän die Segel nicht vollständig einholte. Deshalb ahnte er bereits voraus, was Beppos Plan war.

»Herr Andored, auf ein Wort?«, bat ihn der alte Mann und rief dem Rest zum Abschied mit einem Hauch Sarkasmus herüber: »Viel Vergnügen auf dem Spielplatz.«

Im Steuerraum reichte Beppo ihm dann ein Päckchen. »Hier! Wie vereinbart.« Andored nahm es leichtfertig entgegen, um es darauf in seinem Sack zu verstauen. Währenddessen gab der Kapitän der Usis ihm eine kurze Erklärung. »Du begibst dich damit ins Koboldküsschen und fragst beim Wirt nach Fundux. Vorsicht, denn er ist launisch. Dieser schickt dich dann weiter. Folge seinen Anweisungen.«

Ein kurzer Moment der Stille.

»Das war’s? Nichts weiter?«, erkundigte sich der Elb.

»Wenn du das erledigt hast, sind wir quitt«, bestätigte ihm Beppo und reichte seine Hand, womit sie die Abmachung nochmals besiegelten.

»So, da bin ich, Beppo«, stand plötzlich Tolumirantos in der Tür. Hatte er sie etwa belauscht?, fragte sich Andored und verwarf den Gedanken im nächsten Moment wieder. Selbst wenn, er hatte nichts Verwerfliches getan. Also wandte er sich zum Gehen. »Wir sehen uns am Steg«, klopfte der Elb seinem kleinen Freund auf die Schulter und verschwand nach draußen.

»Was hast du ihm gegeben?«, musste Tolumirantos seiner Neugier doch Luft machen.

»Ein Gefallen für eine Überfahrt. Nichts weiter«, antwortete ihm der Kapitän.

»Pah!«, schnaubte Tolumirantos. »Weiter nichts? Ist das dein Ernst? Was soll der Elb für dich überbringen, das du dich selbst nicht traust?«

»Werd nicht frech, Zwerg. Vergiss nicht, auf wessen Schiff du dich befindest und wem du deine Freiheit zu verdanken hast«, warnte ihn Beppo aufgebracht.

»Dank gebührt einzig meinen beiden Freunden. Für dich hoffe ich, dass es keine Probleme gibt. Falls doch, weiß ich ja, auf welchem Schiff ich war.«

»Es wird keine Probleme geben«, versicherte Beppo und zeigte sich nun doch etwas reumütig. »Bitte, denke nicht schlecht von mir. Ich kann einfach nicht die Stadt betreten. Das ist alles.«

»Ist es nicht«, erschien Bella plötzlich in der Türe. »Warum sprichst du nicht offen darüber?« Sie wandte sich dem Zwerg zu. »Er ist ein Spieler. Deshalb setzt er keinen Fuß in diese Stadt. Pass auf dich und deine Freunde auf, Tolumirantos. Das ist der Fluch von Treveriam.« Prompt sah sie wieder kühl ihren Vater an. »Legen wir wieder ab? Ich will weiter« Damit verschwand Bella unter Deck.

Tolumirantos warf Beppo einen verständnisvollen Blick zu und wollte gehen, da hielt ihn der Kapitän zurück.

»Warte!«, sagte er. »Wenn du den Rat eines alten Mannes annimmst, nächtigt nicht in Mulbeck. Es ist ein Drecksloch. Geht in die Stadtmitte und sucht das Baroness auf. Es ist ein Varieté und bietet außerdem Schlafzimmer an.«

»Danke für alles«, entgegnete ihm Tolumirantos freundlich und ging auf direktem Wege von Bord. Trug nicht jeder sein Päckchen?

Monty stand an eine hölzerne Brüstung gelehnt, mit verträumten Blick in den Süden, den Paldan hinab gerichtet. Als Andored ihn sah, dachte er zuerst, sein Freund würde sich übergeben. Tat er nicht.

»Na, Träumer!«, sprach ihn der Elb an, bevor er sich neben ihn gesellte. »Tolu erkundigt sich gerade nach einem Gasthaus.«

»Ich war in einem bittersüßen Tagtraum versunken«, gestand Monty und seufzte schwer. »Sie war schon toll«, sprach er von seiner verflossenen Liebe.

»Ach, hör doch auf«, sagte Ando nüchtern. »Glaub mir, es ist besser so. Sie war nur soo toll für dich, weil sie nun unnahbar und nicht mehr zu erreichen scheint.«

»Sie sagte, sie müsse fort von den Unruhen. Vielleicht kommt sie irgendwann wieder und ich glaube, ich hätte sie wirklich geheiratet.«

»Hättest du nicht.«

»Doch!« Monty grinste streitsüchtig.

»Gut. Wie du meinst«, gab sich Andored geschlagen. Er wusste, wann es hoffnungslos war, mit dem Gestaltwandler zu diskutieren. »Spätestens in Treveriam hast du wieder ein anderes Mädel im Arm.«

»Ich will kein anderes Mädel. Bella war toll. Diese Augen und der süße Mund. Ihre Küsse schmeckten nach Pfirsich.«

Pfirsich? Dieser Tuppes konnte herrlich übertreiben. »Welche Augenfarbe hatte sie eigentlich?«, unterbrach ihn der Elb mit trockener Absicht, bevor Monty aus der Schwärmerei nicht mehr herauskam.

Der Gestaltwandler überlegte ernsthaft. »Braun«, antwortete er schließlich. »Nein, dunkelblau. Oder? Nein, ganz sicher dunkelblau.«

»Mir wird schlecht«, äußerte sich Andored kritisch.

»Kräuterschnaps kann helfen«, grinste Monty schelmisch herüber.

Der Elb zog argwöhnisch seine rechte Braue hoch und sah ihn schräg an. »Du willst so verliebt sein, kannst dich aber nicht mal an ihre Augenfarbe erinnern?«

»Tu ich doch«, entgegnete Monty frech.

Andored lachte. »Lass gut sein, Monty. Wir sprechen in Treveriam nochmal über das Thema.«

Monty stimmte lachend mit ein: »Abgemacht. Wir sprechen dann nochmal. Aber glaub mir, es wird sich nichts geändert haben.«

»Jedenfalls bin ih froh, dass der Plan zur Flucht einigermaßen gut über die Bühne ging«, lenkte der Elb auf eine andere Angelegenheit.

»Gut?« Jetzt war es an Monty ihn skeptisch anzusehen. »Wir hatten echt Schwein. Geschnappt hätte man uns fast. Tolu ist schon ein gewitzter Hund. Der kommt innerhalb von Sekunden auf Ideen, da bräuchte ich Tage für.«

»Ja. Das stimmt«, pflichtete der Elb beide Aussagen bei.

»Ach komm, Ando. Du wärst niemals so schnell wie er auf die Idee mit dem Schlauch gekommen.«

Zur Antwort zuckte er nur mit den Schultern. »Wichtig ist, wir haben es geschafft. Doch das Schwierigste steht uns noch bevor.«

»Du meinst, wie wir Tolus Bierdurst gestillt bekommen?«, erwiderte Monty spaßend. Damit beabsichtigte er nur den Elb von ihren Problemen abzulenken.

»Das auch«, lachte Ando auf. »Doch das wird noch das geringste Hindernis. Ich dachte da eher an Medjevs Glatze. Der Herbst steht vor der Tür und er hat noch keine Mütze. Da wir Timholds Wagen in Trivess stehen ließen wird ihm der Hutmacher kein gutes Angebot machen können.«

Monty tat ernsthaft betroffen. Mit Daumen und Zeigefinger am Kinn überlegte er theatralisch. »Das ist wahrlich ein Problem, denn Mützen sind ja soo teuer«, meinte er darauf sarkastisch.

Alleingelassen

Alleine wanderte Timhold auf der Straße und pfiff ein Lied. Wie schnell sich doch die Welt wandelt, dachte er, bevor er stehen blieb und sein Blick über eine Lichtung am Wegrand schweifte. Es war noch früh am Morgen. Ein leichter Nebelschleier hing über dem Gras und ein kleiner Rehsprung ruhte nahe am Unterholz etwa einhundert Schritte von ihm entfernt.

Vor ein paar Tagen war er noch mit einer Gruppe unterwegs. Wie schnell man sich doch an Gesellschaft gewöhnen konnte. Dazu noch eine so Vortreffliche. Das fand man nicht aller Tage. Selbst Mikael, diesen Schwätzer, vermisste er jetzt gerade. Dabei lag ihm stets sehr daran, alleine zu sein. Sogar den selbsternannten Ritter hatte er widerwillig akzeptiert und nun ... stand er mitten im Fallbörn an einer Lichtung und wurde bei dem Anblick des Rehsprungs im Nebel sentimental.

Er empfand Reue, während er an Mikaels heldenhaften und selbstzerstörerischen Einsatz dachte. Doch letztlich hätten er und die Männer nichts ausrichten können, ohne nicht auch verletzt oder sogar getötet zu werden. Es war schon ein Riesenglück, dass das Monster, dieser Eber, nicht hinter den Wagen gekommen war. Es tat ihm dennoch Leid. Dieses Gefühl war ihm lange Zeit fremd gewesen. Plötzlich ärgerte er sich über sich selbst. »Weichei. Scheiß Gefühlsduselei. Hör auf damit und steh deinen Mann«, sagte er sich mahnend und wischte mit dem Ärmel eine Träne fort.

Eigentlich müsste er wütend auf die Männer sein, weil sie einfach ohne ihn abgehauen waren und dann noch sein Fahrgeschäft entwendet hatten. Sie hatten ihn im Stich gelassen und mit Timhold Reidt spielte man dieses Spiel nicht. Die gleiche Wut wie jetzt war an jenem Abend aufgekommen. Im Suff hatte er Streit mit anderen Leuten angefangen. Bis dieser Wildhüter plötzlich bei ihm stand, ihm aufhalf und erklärte, er sei ein Freund der Fünf. Nachdem dieser Mothas berichtete, was sich zugetragen hatte, konnte Timhold sich beruhigen. Wer wäre nicht verärgert, wenn man ihn aus seiner Komfortzone reißen würde? An diesem Morgen musste er sich eingestehen, dass er sich zwar einsam fühlte, andererseits auch irgendwie befreit. Der Hutmacher wandte seinen Blick zur Straße zurück. Vorne sah er ein Wegekreuz. Das musste der Scheideweg sein. Trüb war seine Erinnerung darüber, ob der Zwerg Tolumirantos Trivess oder Treveriam gesagt hatte. In welche Stadt wollten sie? Und wenn ich dort ankomme, was mache ich dann? Wie sollte er nun sein Geld verdienen? Die Männer sollten sich was einfallen lassen, wenn er seinen Gegenwert einforderte. Denn das wollte er tun.

Zu seinem Glück versteckte er stets ein paar Silberlinge im Futter seines Hutes. Das Gesparte würde über eine kurze Zeit hinweghelfen. Aber dann ...

Bis zum Wegekreuz grübelte er über diese Dinge nach. Schließlich kam der Moment, wo er sich für eine der beiden Städte entscheiden musste. Was würden die Männer in Trivess wollen? Es war eine langweilige Stadt. Gut, es gab ein paar Sehenswürdigkeiten. Wer's mochte. Timhold waren andere Dinge lieber. Aus seiner Sicht war alles, außer Wetten, Kartenspiele und Schnaps, öde. Genau das gab es in Treveriam. Tag und Nacht lebte diese Stadt. Die verschiedensten Musikanten spielten auf den Straßen oder in den Kneipen, das Rotlichtmilieu, das Bier, die Schnäpse, tanzende und singende Frauen. Viele gute Erinnerungen hatte er an diesen Ort. Oft brachten ihn seine Geschäfte dorthin. Jedes Mal erfolgreich, sodass er anschließend nach Glorreichel, dem äußeren Stadtteil von Kalandria, heimkehren musste, um neue Hüte herzustellen. Nur deshalb entschloss er spontan die Route in den Süden zu nehmen, zu bekannten und den amüsanteren Gewässern. Zur Kräftigung nahm er einen großen Schluck Melissengeist aus seinem Flachmann und ging entschlossen los.

Das Spielhaus

Nachdem er bei ein paar Hafenarbeitern Erkundigungen eingeholt hatte, führte Tolumirantos sie aus dem Viertel Mulbeck in die Stadtmitte.

Wider Erwarten war der Weg nicht verworren, denn sie gelangten schnell auf eine große Allee, über die sie auf direktem Weg das Baroness erreichten. Im Stadtkern spielte sich alles ab. Kneipen und Spielhäuser soweit das Auge reichte. Verrückt gekleidete Leute liefen umher. Hier traf offensichtlich alles zusammen, was es in der Welt gab. Oger als Türsteher, worauf sich Tomagril es nicht verkneifen konnte, sie als Medjevs Brüder zu titulieren. Kobolde verkauften Zeitungen und priesen andere Waren auf offener Straße an. Einer wollte Monty für einen Schnapper-Preis eine Uhr verkaufen, doch Andored zog ihn einfach weiter. Eine Halborkin bot sich Andored zum Beischlaf an, mit der Begründung, einen so hübschen Elben habe sie bisher noch nicht gehabt. Verlegen lehnte der Elb dankend ab. Tomagril wollte sich ihr anbieten, doch da wurde sie sauer und ohrfeigte ihn für seine Respektlosigkeit.

Treveriam entpuppte sich als eine wundersame Stadt. Überall war Musik zu hören, das Volk auf den Straßen unterwegs. Ein riesiger Rummel. Beinahe wie der Allfäller Rummel, auf dem sie noch vor wenigen Monaten in ihrer Heimat gewesen waren.

»Sag mal, Tolu. Meinst du, hier ist jeden Abend so viel los?«, rief Andored dem Zwerg herüber. Der zuckte nur ahnungslos mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen?«

Prompt schaltete sich ein kleines Männchen ein. »Heee! Ihr seid neu hier!«, stellte es fest und beäugte sie belustigt. »Das ist Treveriam. Natürlich ist es jeden Abend so. Und auch jeden Morgen, Vormittag, Mittag, Nachmittag und in der Nacht sogar auch. Die Stadt schläft nie«, grinste es so breit, dass man seine Backenzähne erkennen konnte. Der kleine Mann hatte einen merkwürdigen Überbiss. Die Eckzähne oben rechts und unten links standen hervor.

»Ahahahaha!«, lachte Tolumirantos laut auf, nachdem sie das kleine Männchen stumm und versteinert angesehen hatten. »Das ist ein Kobold, dem dürft ihr nichts glauben. Lasst uns weiter gehen und gebt auf eure Wertsachen Acht. Wenn sie nicht schon weg sind.« Unbeirrt schritt der Zwerg voran und seine Freunde mit ihm.

Andored bemerkte, wie sauer der Kobold drein blickte und fühlte sich beschämt. Wenn jedoch Tolumirantos recht behielt und das eine typische Masche war ... Der Zwerg hatte oft Recht, denn er war sehr klug. In seinen jungen Jahren war er viel herum gekommen, hatte viele verschiedene Arbeiten verrichtet und war dazu sehr belesen. Viele Leute machten häufig den Fehler, den Zwerg zu unterschätzen.

Während des Weges prüfte ein jeder natürlich sein Hab und Gut, und zu ihrem Glück war noch alles da.

Prunkvoll und festlich wirkte die Eingangshalle, als die fünf Männer das Baroness betraten. Die Lokalität wirkte wahrlich wie ein Varieté. Es zeigte sich jedoch schnell, dass es mehr war, als das. Unten gab es eine große Bar, kleine runde Tische mit Sitzplätzen und eine Bühne. Ein quadratisch angelegter Großraum, der sogar über Balkonplätze im Flur in der ersten Etage verfügte.

Ein adrett gekleideter Mann trat auf sie zu. »Guten Tag, die Herren. Kennen Sie unser Etablissement?«, fragte er und blickte in ausdruckslose Gesichter. »Ihnen hat es wohl die Sprache verschlagen. Ich bin Willem, der Concierge des Baroness. Wir bieten hier nicht nur ein Varieté, sondern haben auch Zimmer zu vermieten. Diese befinden sich im Zweiten und dem Obergeschoss. Zudem servieren wir für unsere Gäste auch Speis und Trank in Form eines Buffets. Im Untergeschoss befindet sich ein Badehaus. Grübeln Sie nicht lange und buchen Sie ein. Dort vorne befindet sich unsere Anmeldung. Viel Vergnügen.« Prompt begab sich der ältere Herr zu einem Pagen und gab ihm Anweisungen, worauf er schließlich zu anderen Aufgaben verschwand.

»Eh, ja«, fand Tolumirantos langsam seine Worte wieder. »Klingt doch ganz gut.« Er wandte sich seinen Freunden zu. »Was meint ihr? Ich gehe dann mal zur Anmeldung rüber«, entschied er darauf.

Derweil der Rest sich umsah, begleitete Andored den Zwerg. Am Schalter erklärte ihnen eine junge Frau, die zweite Etage sei komplett ausgebucht und zudem ziemlich teuer. Daher entschieden sie sich für zwei Zweibettstuben unterm Dach. Weil sie hier nicht mehr in Westfal waren, sondern in Rhonisch, half ihnen Reggies Kostenübernahmewisch wenig weiter. Das war auch der Grund, weshalb es un galt ihre Finanzen im Auge zubehalten.

Als Andored und Tolumirantos sich vom Schalter abwandten und langsam gingen, sammelten sich die anderen wieder um sie.

»Wo und wann gibt es Essen?«, wollte Medjev unmittelbar wissen.

Tolumirantos seufzte schwer: »Lasst uns doch erstmal die Stuben begutachten und unsere Sachen verstauen. Wir sind alle hungrig. Doch alles der Reihe nach. In Ordnung?«

Niemand hatte Einwände.

Wenig später war ihr Gepäck verstaut, die Betten vergeben und somit alle zufrieden. Dann konnte es endlich los gehen. Unten in der Vorhalle bekundete Andored, er müsse die Latrinen begutachten gehen. Da niemand anderes mitging, versprach Tolumirantos, sie würden im Foyer auf ihn warten.

Daraus wurde leider nichts, denn natürlich kam es anders.

Da gehe ich nur mal kurz pinkeln und die verpissen sich, dachte der Elb erbost, als er herauskam und keinen seiner Freunde mehr antraf. Diese treulosen Hunde. Direkt die Flinte ins Korn werfen war nicht seine Art. Obwohl er es am liebsten getan hätte. Deshalb fand er wenig später Monty an einem Roulettetisch, ganz in der Nähe.

»Ich hab dich im Auge gehabt. Siehst du?«, rechtfertigte sich Monty, obwohl Ando noch gar nichts gesagt hatte, und wies in Richtung Foyer. Ganz glauben wollte Andored seiner Aussage nicht.

»Weißt du, das ist jetzt nebensächlich. Wo sind die anderen?«, wechselte der Elb das Thema, da er keine Lust auf eine Diskussion hatte.

»Spielen?«, klimperte Monty mit unschuldig großen Augen.

Ando fiel vom Glauben ab. »Ist das wirklich euer Ernst? Muss ich euch wahrhaftig darauf hinweisen, wie schwachsinnig es ist, euer Geld beim Glücksspiel zur verpulvern?«

Da er lauter wurde beäugten ihn die anderen Spieler bereits kritisch. Offensichtlich fühlten sie sich von ihm gestört, weshalb sich der Kartengeber meldete: »Der Herr, wir sind mitten in einer Runde. Das Zusehen ist gestattet. Aber bitte unterbrechen oder stören sie das Spiel nicht.«

Der Gestaltwandler nahm dies zum Anlass, den Elb in die Schranken zu weisen. »Herrje, Ando. Du bist so spießig. Du musst viel lockerer werden. Gönn uns den Spaß und dir auch.«

Andored stutzte. Es war hoffnungslos. Daher entschied er sich auf eigene Faust loszuziehen und wünschte seinem Freund viel Glück. Das tat man doch in solchen Situationen.

Mitten im Foyer hielt er inne. Ihm schoss die Frage durch den Kopf, was er denn jetzt machen sollte? Der Bart juckte fürchterlich. Er kratzte sich und entschied, er musste endlich ab. In einem Spiegel an der linken Seite sah er sich an und erschrak. Es wurde wahrlich Zeit ihn abzurasieren. Außerdem wäre ein kürzerer Haarschnitt schön. Und ein neues Hemd auch. Seine Haare ... Schlimm! Wie konnte er nur so herum laufen?, strich er mit seiner Hand hindurch.

Warum hatte keiner seiner Freunde ihn auf sein ungepflegtes Äußeres hingewiesen? Diese Rüpel. Wahrscheinlich machten sie sich wieder einen Spaß daraus.

Der Concierge vom Mittag kam an ihm vorbei. Er ging erst vorüber, überlegte es sich dann doch anders und kehrte sogleich zurück.

»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens. Außer ...« Andored hielt inne.

»Bitte«, bot der Mann seine Dienste an.

»Ich bin nicht von hier.«

»Das sind die Wenigsten.«

Andored nickte. Der Satz war ihm fast peinlich. »Können Sie einen guten Barbier empfehlen?«

»Kann ich.«

Erleichtert sah Andored dem Abend entgegen.

Vorurteile

Der Laden lag etwas abseits und war nicht auf Anhieb zu finden. Kattos Herren Haarsalon nannte ihm der Concierge als den Geheimtipp in Treveriam. Andored beäugte kritisch das Schild, bevor er den Laden betrat. Seine Form war oval – eine braun lasierte Holzplatte in einem in Ebenholz eingefassten Rahmen. Die Schrift war geschwungen und im Cremeton mit guter Handführung gemalt. Es gab nichts daran auszusetzen, bemerkte das Kennerauge.

Guten Mutes wollte er den Schritt wagen, jemanden Fremdes an seine Haare zu lassen. Ein Glöckchen klingelte, als er den Salon betrat.

»Ah, junger Mann«, begrüßte ihn ein Herr mit dunklem Vollbart und Glatze, während er einen Kunden im Stuhl mit Schere und Kamm bediente. Das Haar, was ihm blieb, war akkurat gestutzt und präzise geschnitten. »Wir sind im Moment ziemlich ausgelastet. Was könnten wir für Sie tun?"

»Guten Tag«, erwiderte Andored und ließ seinen Blick kurz durch den Raum schweifen. »Haarschnitt und Rasur wäre angebracht.«

Der Mann hielt ein und sah ihn an. »Katto ist mein Name. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie warten hier, bis mein Mitarbeiter zurück ist und er wird sich Ihnen dann annehmen. Das kann allerdings etwas dauern. Er musste ein paar Besorgungen machen. Einverstanden?« Er wies auf eine Reihe Stühle am Fenster. Von dort aus hatte man einen guten Ausblick auf die Straße und außerdem war es im Salon warm.

»Sehr gerne«, entschied Ando und setzte sich. Die Wartezeit nutzte er, um sich die Kunden heimlich anzusehen oder gelegentlich aus dem Fenster zu schauen. Er fragte sich, was für Leute in Treveriam lebten.

Katto rührte gerade geschäftig mit einem Rasierpinsel Seife an. Der Mann, den der Barbier bediente, bekam nach seinem Haarschnitt offensichtlich noch eine Rasur mit Rasiermesser.

Der Kunde wirkte wie ein Geschäftsmann. Unter dem Umhang trug er sauber polierte, schwarze Lederschuhe und außerdem eine feine braune Hose mit akkurater Bügelfalte. Der Elb fand nur, dass die rotbraunen Socken nicht dazu passten.

Sein Blick wanderte zu einem anderen Herrn, dessen Kopf in ein Handtuch gewickelt war. Er saß in einem Stuhl vor einem Spiegel und laß völlig vertieft im Trever Tagblatt, der örtlichen Tageszeitung.

Während Andored versuchte ihn in eine Klischeeschublade zu packen, hörte er ungewollt das Gespräch von Katto und seinem Kunden mit an.

»... im kommenden Jahr. Reisen durch ganz Rhonisch sind geplant, wo ich überall Reden halten werden. Wir arbeiten gerade an der Werbekampagne.«

»Dann ist es also amtlich, dass Sie für die RDP (Rhonisch Demokratische Partei) kandidieren?« Der Barbier schien ehrlich interessiert. Dem Elb konnte er allerdings nichts vormachen. Sein Interesse war geheuchelt, das wusste er sofort. Die meisten taten es und es sollte sich zeigen, dass Andored mit seinem Vorurteil recht behielt.

»Hatte ich zuvor nicht erwähnt, dass ich kandidiere?«, merkte der Mann verwundert an. »Wissen Sie, so eine Kandidatur ist sehr kostspielig. Man braucht Spenden und treue Gefolgsleute, die einen dabei unterstützen. Ohne diese Hilfe ist man aufgeschmissen.«

»Und wie teuer ist so etwas?«, wollte Katto wissen. Wieder nur eine Floskel, die Andored bestätigte, dass es ein geheucheltes Interesse war. Niemand redet gerne über Geld. Demnach war die Frage plump und daher geredet.

»Teuer? Alles ist kostspielig, wenn man nicht viel Geld hat. Die Partei und ihre Mitglieder üben Verschwiegenheit darüber aus«, redete sich der Politiker großspurig heraus.

»Ja, das liebe Geld.« Katto beendete das Thema schell und wandte sich dem Kunden ab. Der Barbier wusch den Pinsel aus und tauschte ihn gegen das Rasiermesser. »Nun bitte den Kopf nach hinten und still halten«, sagte er darauf und hob das Messer an, bevor er ansetzte.

Gelangweilt wandte sich Andored ab und sah aus dem großen Fenster hinaus auf die Straße. Von seinem Platz aus konnte er sie gut überschauen. Es herrschte Trubel und Verkehr wie zur Marktzeit in Allfaldria.

Auf der anderen Seite gab es einen Juwelier, vor dessen Türe ein bulliger Ork und ein Oger standen. Beide wirkten grimmig, als verstünden sie keinen Spaß. Zuletzt hatte er einen Oger im Sumpfgebiet des Fallbörnwald gesehen. Damals hatten sie ihn aus einer Bärenfelle befreit und geglaubt anschließend von dem Oger verspeist zu werden. In ganz Allfaldria und der Umgebung sah man keine Oger. Das war auch der Grund ihrer Nervosität diesem Wesen gegenüber.

Anders war es in Treveriam. Hier schienen Oger Teil der Gesellschaft zu sein. Wenn auch nur vereinzelt. Dies galt auch für Orks. Andored hatte davon gehört, dass es sie gäbe. Gesehen hatte keiner von ihnen welche. Sie schienen zumindest den westlichen Teil Westfals zu meiden. Mehr von der Welt zu sehen blieb ihnen bisher vergönnt.

Sein Blick wanderte vom Juwelier weiter zu einem Wohnhaus. Dort lehnte sich ein älterer Herr aus dem Fenster und genoss offenbar die Aussicht.

Daneben lag eine Konditorei, deren Schild mit dem Spruch ›Torten & Gebäck von Alfons Keck‹ warb. Eine blonde, gelockte Halblingsfrau in Schürze und Kleid schrieb gerade mit Kreide das Tagesangebot auf die Tafel; 1 Stück Kürbiskuchen mit Zimt und Allfäller Printen für zwanzig Hellinge. Das ließ Ando das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ein Stück Kuchen hatte er zuletzt vor sehr langer Zeit bei seiner Mutter gegessen. Einen Tränchenkuchen, schwelgte er in Erinnerungen. Dies nahm er als Anlass nachher am Café vorbeizuschauen. Wahrscheinlich gab es dort auch Kaffee und dazu das Stück Kürbiskuchen, schmunzelte er mit Vorfreude über den Gedanken.

Ein Haus weiter hatte ein Schneider seinen Laden. Zvedros Zwirn prangte auf dem dunkelblauen Schild in silbernen, schwungvollen Buchstaben. Der Elb benötigte dringend ein neues Hemd. Also wollte er nach dem Besuch beim Barbier dort auf jeden Fall hin.

Eine prächtige weiße Kutsche kam gerade vorüber. Sie hatte purpurne Vorhänge und goldene Zier. Das Gefährt zog wahrlich die Blicke aller auf sich. Wer wohl darin fuhr?, fragte sich der Elb.

Plötzlich rannte ein junger Mann hastig an dem Fenster vorbei. Verfolgt wurde er von zwei schwarz uniformierten Gendarmen.

Ein Kobold ging als Zeitungsverkäufer vorüber. Er blieb stehen, als er Ando sah, kam heran und klatschte das Titelblatt des Trever Tagblatt an die Scheibe. Dabei zeigte er fünf Finger und rief laut: »Nur fünf Hellinge! Lesen Sie, was in Trivess geschah!«

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Andored lehnte dankend ab, doch konnte er dabei einen Blick auf den Titel erhaschen. »Trivess!«, las er für sich. »Reiterbrigade in Trivess angekommen.« Dazu eine große Fotografie der einreitenden Truppe. Der Goblin riss die Zeitung zurück und zeigte ihm den Stinkefinger, bevor er unbekümmert weiter zog.

Welch bunte Schafe Treveriam doch hütete, stellte der Elb amüsiert fest und schmunzelte. Wieder erkannte er das Orkweib, dass sich ihm angeboten hatte. Diesmal trug sie ein sehr feines, purpurfarbenes Kleid mit schwarzer Spitze. Wo er sie nun zum zweiten Mal sah und aus dieser Entfernung betrachten konnte, wirkte sie recht attraktiv. Obwohl ihn der Gedanke sehr befremdete. Aber warum? Wenn er doch auch eine Menschenfrau anziehend fand, dann war das doch auch legitim.

Ein kleines Männchen huschte am Schaufenster vorüber. Ando erinnerte es an Reggie und brachte ihn gedanklich zur ernsten Lage zurück. Es war an der Zeit, mit dem Ermittler zu reden. Später wollte er Tolumirantos darauf ansprechen, wie sie mit ihm Kontakt aufnehmen wollten und was sie als nächstes tun würden. Eigentlich kannte er bereits des Zwergen Antwort. »Alles mit der Ruhe, Ando.«

Bin ich wirklich so ungeduldig?, fragte er sich selbst.

Das Glöckchen der Ladentüre läutete. Jemand betrat unmittelbar das Geschäft des Barbiers. Als der Elb sich umwandte, sah er das kleine Männchen, dass sich als ein Kobold entpuppte. Jetzt stellte er nüchtern fest, dass dieser keineswegs Ähnlichkeit mit Reggie hatte.

»Bin wieder da!«, rief der Kobold und eilte durch den Laden nach hinten. »Ich komme sofort zu dir, Kressmann.« Damit meinte er wohl den in der Zeitung vertieften Herrn mit Turban.

»Ist gut, Katto«, entgegnete der Kunde gelassen. Das verwirrte Ando doch. Hieß der Kobold etwa auch Katto? Wie der Barbier, der gerade den Politiker rasierte? Er wollte abwarten, was zunächst geschah, wenn der Kobold zurückkehrte.

Der mit Leder gepolsterte Stuhl war bequem. Ein großes Tuch, das um seinem Hals gebunden war, diente als Überwurf und Schutz vor den kurzen, herabfallenden Haaren. Der Kobold stand auf einem Tritt und schnitt gerade sein Haupthaar kürzer. Für Andored war das der kritischste Teil. Zu seiner vollsten Zufriedenheit waren die Seiten rundherum schon akkurat gekürzt worden.

Nebenbei erklärte der Kobold dem Elb gerade, warum sie sich beide Katto nannten. »Neue Kunden schreckt es ab, wenn ein Kobold sie zuerst bedient«, sagte er. »Karlo und ich haben vieles ausprobiert. Doch das war bisher die beste aller Lösungen. Seitdem läuft der Laden gut. So sind die Leute eben. Auch wenn Treveriam auf den ersten Blick anders und kurios wirkt – letztlich ist es wie überall.«

»Ich weiß, was du meinst«, bestätigte ihm Andored. »Die Leute haben ihre Vorurteile. Das geht mir selbst oft so.«

Der Kobold nickte eifrig. »Ich nehme mich da auch nicht heraus. Das haben wir alle in uns. Wichtig ist, dass man es sich bewusst macht und es ablegt beziehungsweise den Leuten eine Chance gibt.«

Andored nickte, da er genauso empfand. »Als Beispiel sah ich eben eine weiße Kutsche mit goldenen Verzierungen. Da dachte ich sofort an eine Adlige oder Zauberin.«

»Nahe dran«, entgegnete ihm Katto. »Weiße Kutsche mit Gold verziert, sagst du?« Andored nickte. »Das war die Sängerin Paulin Frengau. Sie singt jeden Freitag Abend im Baroness. Das ist das Spielhaus die Allee hinunter.«

»Aha.« Wo das Spielbaus war, wusste er ja. Doch der Rest. »Interessant.« Für Musik hatte der Elb ein Faible. Wie gut, dass sie dort eingekehrt waren. Somit gab es gute Aussichten auf einen schönen Abend.

»Allerdings. Denn sie ist zudem wahrlich eine Augenweide«, fügte Karlo hinzu, der gerade den Platz abkehrte, wo er den Politiker bedient hatte. Der Mann war längst gegangen.

»Das Haus wird voll sein und die Kassen klingeln«, setzte der Kobold fort. »So, deine Haare wären fertig. Was sagst Du?« Von hinten hielt er einen Handspiegel und zeigte ihm dadurch den Hinterkopf im großen Spiegel an der Wand. Unten kurz, oben lang zum Seitenscheitel gekämmt. Mithilfe von ein wenig Pomade lagen die Haare perfekt.

»Sehr gut«, befand der Elb.

»Darfs noch eine Rasur sein? Oder nur stutzen?« Katto setzte sein breitestes und stolzestes Lächeln auf.

»Bitte weg damit«, verkündete Andored und rieb sich mit einer Hand ein letztes Mal durch den Bart. »Das juckt elendig.«

»Ja. Aber danach wird es besser.« Während Katto die Seife anrührte sprach er: »Ein Bart steht dir übrigens gut. Das gilt nicht für jeden Mann ...«

Das Glöckchen der Türe kündigte jemanden an. Den Laden betrat ein schlanker, mittelgroßer Mann mit Glatze und einer kurzen Hakennase. Er trug einen hellbraunen Rollkragenpullover und einen ockerfarbenen Mantel. Es begleitete ihn ein glatzköpfiger Oger, der in ein weißes Unterhemd und eine blaue Arbeiterhose gekleide den Ausgang versperrte. Seinen rechten Oberarm zierte ein Tattoo – ein Herz mit dem doppelten Buchstaben B darin. Die Initialen seiner Verflossenen?, vermutete Andored und erwischte sich erneut beim Klischeedenken. Was auch immer es bedeutete, er saß in einer blöden Situation.

»Hee, Katto«, begann der Glatzkopf. »Wie sieht es heute mit den Kröten aus?« Gemächlich ging der Mann umher als suche er danach. Ando ahnte, was im Gange war. Sein Puls beschleunigte. Das Verhalten der beiden Männer sagte ihm, dass sie Geldeintreiber waren. Schläger, Lakaien ihres Bosses. Vielleicht eine Bande. In einer Stadt wie dieser durchaus denkbar.

Katto mit Klinge und Karlo mit Besen regten sich nicht.

Deshalb setzte der hagere Glatzkopf fort. »Willst du Herrn Babuzi wirklich verärgern?«

Katto klappte das Messer ein. »Juri, wir haben noch einen Kunden. Könntest du nach Feierabend nochmal kommen? Dann klären wir das in Ruhe.«

»Für dich Herr Plafke. Solange du deine Schulden nicht begleichst, bin ich nicht dein Freund. Verstanden?«

Katto nickte niedergeschlagen.

»Schon gestern hattest du uns versprochen, das Geld herauszurücken.« Juri war wirklich sauer. »Leere Worte«, schimpfte er. »Nicht wahr, Grump?«

Der Oger namens Grump brummte zustimmend.

»Gestern nach Feierabend ist keiner von euch hier aufgetaucht«, verteidigte sich der Kobold.

»Werd‘ nicht frech!«, drohte ihm Juri Plafke laut mit dem Zeigefinger. »Auch wir haben irgendwann Feierabend. Da kannst du nicht von uns erwarten, dass wir wegen deinem Versagen Überstunden machen. Die Bringschuld liegt bei dir.«

Mal davon abgesehen, dass Personen zu erpressen eine üble Sache ist, klang es durchaus plausibel.

Juri blickte kurz zu Grump. »Hast du Hunger?« Der Oger nickte. Dann sah er wieder zu Katto. »Wir kommen in einer Stunde zurück. Mach dich auf etwas gefasst, wenn die Kröten nicht da sind« Er warf dem Kobold einen drohenden Blick zu und zog dann mit seinem Oger ab.

Sowie die Türe ins Schloss fiel atmeten die beiden Barbiere erleichtert aus.

Als Katto sich wieder dem Elb zuwandte trafen sich ihre Blicke. »Alles in Ordnung?«, fragte ihn Andored. Klar wusste er, dass nichts in Ordnung war. Er wollte stets höflich sein und sein Mitgefühl zeigen.

»Ach«, winkte der Kobold ab, »die kriegen ihr Geld und dann ist Ruhe. Überall das Gleiche.« Er griff nach dem Rasierpinsel. »Außer in Aquitan«, lachte er dann auf. »Dort würden wir allerdings in der ersten Woche pleite gehen, weil sich keiner der Greise den Bart oder die Haare schneiden lässt.« Kichernd pinselte er Andoreds Gesicht ein. »Da bleibe ich lieber hier und verdiene wenigstens ein Bisschen.«

»Aber das ist doch nicht fair«, fand Ando. »Für was bezahlt ihr denen Geld?«

Katto sah ihn fragend an. »Ist dir das nicht klar? Es ist immer die gleiche Masche. Erst schicken sie Männer die randalieren und bauen eine imaginäre Bedrohung auf. Dann fordern sie Geld und im Gegenzug beschützen sie einen eben gegen diese angebliche Bedrohung.«

»Klar«, verstand Andored und beendete seine Schlussfolgerung laut. »Wenn man nicht bezahlt, verwüsten sie einem die Bude, bis man wegzieht oder endlich nachgibt.«

»Korrekt!« Katto warf den Pinsel in den Becher und stellte ihn auf die Ablagefläche. Anschließend klappte er die Klinge auf und sagte: »Vor der Babuzi-Bande sollte man sich in Acht nehmen. Nicht zucken und keine hastigen Bewegungen.«

»Egh-hm«, bestätigte Andored nervös mit geschlossenem Mund und zurückgestrecktem Kopf. Bevor der Kobold ansetzte, achtete der Elb darauf, ob Kattos Hand zitterte. Sie war beachtlich ruhig und den Elb beruhigte das sehr. Endlich – Er verlor seinen juckenden Bart.

Als Katto fertig war, säuberte er Andored das Gesicht mit dem Handtuch. »Jetzt noch etwas Gesichtswasser.«

»Wer steckt hinter dieser Babuzi-Bande?« Andored hatte noch ein paar Fragen zu dem Gespräch von zuvor.

»Herr Babuzi!«, antwortete Katto prompt. »Frag mich jetzt nicht, wer das ist. Ehrlich gesagt kenne ich keinen, der das weiß. Angeblich gehört ihm das Rondell, von wo aus er seine Geschäfte macht. Nicht einmal die Polizei kann etwas machen. Gelegentlich werden irgendwelche Handlanger gefasst und weggesperrt. Doch es geht immer weiter.« Der Kobold näherte sich von hinten und patschte ihm das Duftwasser auf die Wangen und den Hals.

»Unter uns.« Er kam noch etwas näher und flüsterte fast. »Ich glaube ja, dass manche Polizisten und Richter von Babuzi bezahlt werden.«

»Was ist dieses Rondell?«, erkundigte sich Ando.

»Ein Box-Klub im Keller einer Bar.«

»Aha. Sag mal, Katto, kannst du den Schneider gegenüber empfehlen? Ich brauche ein neues Hemd.«

»Auf jeden Fall«, bestätigte der Kobold und stieg vom Tritt. Während er den Umhang faltete und sich zur Kasse begab, erzählte er Andored, Zvedro sei ein alter Freund von ihm. Wenn er rüber gehe, dann solle er ihm einen schönen Gruß bestellen. Das versprach Andored und bezahlte. Als er aus dem Laden trat regnete es leicht. Mist, gerade wo er die Haare gemacht hatte. Zum Glück musste er vorerst nur die Straßenseite wechseln.

Zvedros Zwirn

Der Elb stand aufrecht und mit ausgestreckten Armen inmitten des Ladens und betrachtete das Geschäft. Vor ihm an der Wand stand ein Regal bis hoch an die Decke voll mit Stoffballen verschiedenster Arten und Farben. Davor ein Tisch, worauf ebenfalls Ballen lagen. Es gab eine Umkleidekabine, hinter ihm eine Schneiderecke mit allen Utensilien, die ein Schneider eben benötigte, und natürlich eine Nähmaschine. Der Schneidermeister persönlich nahm gerade Maß an ihm.

Kurioserweise war Zvedro über Kattos Grüße gar nicht begeistert. Aber dafür konnte Ando nichts. Nein. Der Kobold musste wohl eine völlig verzerrte Wahrnehmung haben. Der Schneider wurde wütend, als Andored ihm den Gruß überbrachte, und äußerte sich nicht sehr angenehm über seinen Freund. Verrat, unbeglichene Rechnungen und Betrug waren unter anderem die Vorwürfe des Schneiders, während er bei Ando weitere Maße nahm und dabei zwischendurch murrte. Hätte der Elb dieses Desaster geahnt. Manchmal war schweigen Gold. Er hatte es schließlich nur gut gemeint und da lag der Haken.

Zvedros Gemüt glomm ab, als er ihm die neuen Stoffe zeigte, die erst kürzlich per Schiff aus dem fernen Süden eingetroffen waren. Am meisten gefiel Andored ein Ballen blauvioletter Baumwolle.

»Das nennt sich Indigo«, erklärte ihm der Schneider und fühlte mit der flachen Hand andächtig über das Material. »Man gewinnt es aus der Indigofera tinctoria, einem Schmetterlingsblütler. Diese Indigopflanze findet man hier zu Lande nicht. Dieser Stoff ist daher etwas ganz Besonderes.«

»Interessant.« Andored meinte es ernst, doch war es für ihn eher zweitrangig. Die Farbe war einfach toll, weshalb er entschied: »So soll mein Hemd aussehen.«

»Damit werdet Ihr ganz sicher ein Blickfang«, verkündete Zvedro stolz. Andored wusste nicht recht, ob er das sein wollte. Unterdessen nahm der Schneider einen Bleistift und notierte etwas auf einen Rechnungsblock. Daraufhin riss er einen unteren Teil ab und reichte diesen an den Elb. »Das ist Ihr Beleg. Ab morgen Mittag können Sie zur Anprobe kommen.«

Anschließend bezahlte Ando den Stoff und ging mit einem zufriedenen Lächeln hinaus auf die Straße.

Vorsehung

Es hatte aufgehört zu regnen und die Sonne setzte sich gerade gegen die Wolken durch. Genau zum richtigen Zeitpunkt. Freudig wandte sich Andored nach rechts zur Konditorei. Sie hatten Stühle und Tische an der Straße. Da sie gerade von der Halblingsdame abgetrocknet wurden nahm Ando dort Platz und sogleich erschien sie an seiner Seite und sprach freundlich: »Heute Abend wird es wieder schöner als am ganzen Tag. Was darf es denn für den Herrn sein?«