Das Spiel der Krähe - Andreas Reuel - E-Book

Das Spiel der Krähe E-Book

Andreas Reuel

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Beschreibung

Westfal, Ende des 19. Jahrhunderts. Ein letzter Widersacher aus dem Geheimorden der Ekpyrosis hegt weiterhin böse Absichten. Es ist kein Geringerer als der Magier Ruinard Esker. Ihn zur Rechenschaft zu ziehen, ist dem Halbling Reginald Vonderlus ein persönliches Anliegen. Doch jener Gegner steht kurz vor der Wahl zum Bürgermeister und übt bereits niederträchtigen Einfluss in der Stadt aus. Eine Kluft zwischen den Bürgern Allfaldrias tut sich auf. Die Westfal-Chaoten scheint die Situation zunächst nicht weiter zu kümmern, bis sie allesamt verhaftet und für die Tragödie im Bunker vom Zwyndrinwald verantwortlich gemacht werden. Steht Reggie nun allein mit dem Rücken zur Wand? Eines ist sicher: Er braucht Verbündete im Kampf gegen den Intriganten, denn das Spiel des Krähe hat längst begonnen.

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»Egal, wie du dich entscheidest oder was du tust, wisse, dass alles miteinander verknüpft ist.«Aris Grünfried

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Eine Beichte

2. Alte Gewohnheiten

3. Die Diva

4. Le petit Café

5. Aufkeimende Konflikte

6. Fliehend nach Kalandria

7. Der erste Streich

8. Mit Zeit kommt Rat

9. Zurück im Spiel

10. Der Hahn im Korb

11. Stunde des Vorstoßes

12. Drei magische Siegel

13. Auf Stippvisite in Treveriam

14. Die Pflicht ruft

15. Die Pflicht ruft (Teil 2)

16. Eine gezielte Tat

17. Der Spur folgen

18. Stein der Sanftmut

19. Qnyanos Ruf

20. Besorgniserregende Entwicklung

21. Bedeutsame Botschaften

22. Vorkehrungen

23. Der Sabotageakt

24. Eine Ein-Mann-Show?

25. Kurzer Prozess

26. Die letzte Zeugin

27. Gute und schlechte Nachrichten

28. Nachträglicher Geburtstag (Epilog)

Namensregister

Prolog

Am vorletzten Märzabend des Jahres 1889 in Allfaldria.

Obwohl er längst wusste, was er wollte, saß Ruinard Esker im Kerzenschein mit aufgeschlagener Karte alleinig an seinem Tisch des Restaurant seiner Wahl und wartete auf einen Gast. Bisher leistete ihm nur ein Glas Chardonnay Gesellschaft. Erst am heutigen Morgen hatte ihn ein Telegramm erreicht, dessen Nachricht ihn zutiefst erschütterte.

Darin hieß es, der Orden sei seit dem gestrigen Tag führungslos, die komplette Riege, bis auf ihn, alle tot. Zudem seien der Neo-Inquisitor, Rainald Roykoff, und viele Soldaten der rhonischen Armee bei einer mehrfachen Detonation im Bunker Wolfshort ums Leben gekommen. Nicht, dass ihm an jenen Menschen persönlich viel gelegen hätte, waren sie eben doch für ihn ausschließlich gute Geschäftspartner mit einem gemeinsamen Ziel vor Augen.

Im Laufe des Tages wurde ihm dann eine weitere Nachricht in Form eines kleinen Briefs über die Rezeption zugetragen, dessen Inhalt sich offenbar auf diese Ereignisse in Treveriam bezogen. Der Absender war eine ihm unbekannten Person und sie hatte im Foyer des Hotels am Büsch auf eine Rückantwort gewartet. Natürlich hatte ihn da die Neugier gepackt. Als er im verborgenen sah, was da für eine elegante Frau saß, die sich nach Erhalt mit einem Winken bemerkbar gemacht hatte. Daraufhin hatte er sie über den Concierge noch am gleichen Abend zu einem Gespräch in dieses Restaurant auf einen Drink einladen lassen.

Gerade sann er über die Operation Wolfshort nach, die ein Teil ihres großen Plans gewesen war. Ein tragischer Umstand und ein schwerer Schlag gegen das große Vorhaben des Ordens. Der im Zwyndrinwald verborgene Bunker hatte ihnen als Versteck gedient – ein Lager, voll mit Munition, Dynamit und Geschützen. Genug, um einen Krieg anzetteln zu können. Jedoch nicht, bevor der Gleisausbau beendet wäre. Am schwersten zu verdauen war, dass ihre kostspieligste Superwaffe mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dabei auch zerstört wurde. Der Propere Fritz. Ein sehr großes und schweres Geschütz, das ein Geschossdurchmesser von 380 Millimeter vorzuweisen hatte. Angeblich könne man damit unglaublich weit und relativ genau sein Ziel treffen. Er selbst hatte es bisher nicht in Aktion gesehen und darüber nur in einem Portfolio gelesen, als er zuletzt vor Monaten in Treveriam war.

Oft hatte Ruinard heute darüber nachgedacht, was sein Unternehmen, hier in Allfaldria, noch brachte. Entschied aber, wie auch jetzt, trotz all diesen Vorkommnissen vorerst daran festzuhalten. Wer, wenn nicht er, sollte das Erbe der Ekpyrosis sonst antreten? Die eine Waffe konnte er bestimmt wieder beschaffen.

Ein beinahe unmerkliches, zufriedenes Lächeln spielte auf seinen Lippen, worauf die eine Seite seines dünnen Schnurrbarts amüsiert nach oben zuckte. Der Gast war eingetroffen und als Gentleman erhob er sich von seinem Stuhl, um die Frau mit einem Handkuss zu begrüßen.

»Meine Dame«, nahm er ihre Hand entgegen und wies ihr zuvorkommend den vom Kellner vorgezogenen Stuhl. Bevor sie sich setzte, nahm er sie für einen kurzen Moment in Augenschein.

Sie war eine schlanke, hochgewachsene Frau mit strengen Gesichtszügen. Ihre großen Augen erfassten ihn mit klarem Blick. Ihr silbergraues Haar trug sie offen und es fiel ihr nach vorn knapp über die Schultern. Sie trug ein bordeauxfarbenes und figurbetontes Seidenkleid dessen kurze Ärmel ihre Schultern bedeckten und einen hochgeschlossenen Ausschnitt hatte. Um den Hals hing eine Silberkette mit einem im Karo geschliffenen Rubin und gefasst in einer Fassung gleicher Form.

»Wenn ich mir erlauben darf, sie sind eine Augenweide«, machte er ihr ein Kompliment. Ihm fiel auf, wie sich ihre glatten, blassen Wangen sanft rot färbten.

Sie räusperte sich verlegen. Dabei legte sie ihre rechteckige schwarze Handtasche auf der weißen Tischdecke neben der Serviette ab. Diese hatte die gleiche Farbe, wie ihre Pumps. Eleganz und Souveränität.

Auf die Frage des Kellners bestellte sie ebenfalls ein Glas Chardonnay. Geschmack hatte sie durchaus, befand Esker im Stillen.

»Nun«, begann Esker das Gespräch. »In ihrer Mitteilung schrieben Sie, dass sie mir ein Angebot unterbreiten möchten, das ich nicht ablehnen könnte. Meine Ohren sind die Ihre«, forderte er sie mit einer kurzen Handbewegung zum sprechen auf.

»Richtig.« Sie räusperte sich. Nervosität. »Haben Sie von dem Vorfall im nördlichen Zwyndrinwald am gestrigen Morgen gehört?«

»Ein Telegramm erreichte mich heute Morgen. Tragische Geschichte. Was hat das mit mir zu tun?«, gab er sich unbehelligt.

Ihr Lächeln strotzte nun von Selbstbewusstsein. »Herr Esker, ich weiß, wer Sie sind und was Sie mit ihrem Aufenthalt hier in Allfaldria beabsichtigen. Mir sind die Pläne des Ordens immerhin im Groben bekannt. Darum geht es mir allerdings nicht. Zumindest nicht umfassend. Hier geht es darum, die Männer zur Rechenschaft zu ziehen, die für den Tod vieler rhonischer Soldaten sowie ihrem Geschäftsfreund, Rainald Roykoff, verantwortlich sind.«

Sie machte eine Pause und er gab sich unbeeindruckt. Obwohl er es doch ein wenig war.

»Der Tod eines Geschäftsfreundes ist tragisch. Kümmert mich allerdings nicht wirklich«, erwiderte er ihr gelassen. »Worauf wollen Sie hinaus und was erhoffen Sie sich davon?«

Ihr Glas mit Weißwein wurde serviert. Dann sprach die grauhaarige Frau weiter.

»Sagen wir es mal so«, sagte sie zögerlich und wirkte auf einmal doch verunsichert. Vielleicht war es ihr auch unangenehm das Kommende auszusprechen. »Als die Männer ihren Plan ausheckten, war ich mit von der Partie«, gestand sie nun. »Von mir erhielten sie den Auftrag, die Waffen aus dem Bunker zu schaffen und über einen Konvoi in die Stadt zu bringen. Dabei war jedoch nie die Rede davon, den Bunker in die Luft zu sprengen. Mit ihrem Handeln haben sie alles zunichte gemacht, wofür ich lange und hart gearbeitet habe. Deshalb biete ich Ihnen meine Aussage an und möchte mich als Zeugin auf Ihre Seite schlagen.«

Sie konnte seinem durchbohrenden Blick nicht stand halten und strich sich unachtsam eine Haarsträhne hinter ihr rechtes Ohr. Ein kurzes Zucken verriet seinen Schreck und offenbarte sofort ihren Fauxpas. Doch er blieb ruhig und lehnte sich sogar entspannt zurück, um sie weiter zu beobachten. Esker schien das Gesagte zu durchdenken. Sie wusste, was für ein bedachter und kluger Geschäftsmann er war und auch, welch andere Kräfte ihm inne wohnten. Denn er war ein Magier des VI. Grades und das machte ihn noch gefährlicher.

»Sie sind eine Elbin des Silbernen Klees.«

»Halbblut!», rechtfertigte sie sich, in der Hoffnung, es würde seinen Eindruck von ihr abmildern und nickte.

»Es war mutig von Ihnen, mich hier zu treffen«, entgegnete er sogleich. »Oder töricht. Hmm ...«

Nach einem weiteren Moment der Stille, setzte er sich vor und klärte seine Stimme mit einem Räuspern. Darauf verschränkte er seine Hände über dem Teller und bedachte sie eindringlich mit einem gewissen Funkeln in den Augen.

»Verstehe ich das Recht?«, sagte er dann. »Sie können also bezeugen, dass diese Männer vorsätzlich einen Terroranschlag auf die rhonische Armee und den Neo-Inquisitor verübt haben?«

Die Frau zögerte zuerst, schien das Gesagte zu überdenken oder nur langsam zu verstehen. Dann lächelte sie und nickte ihm zu. »Richtig. Besser hätte ich es nicht formulieren können, Herr Esker«, gestand sie ihm zu.

»Gut. Jedoch sind daran ein paar Bedingungen geknüpft«, stellte Ruinard sie daraufhin vor die Wahl. Erst als sie zustimmte, sprach er weiter. »Sie werden eine Krähe und arbeiten für mich. Darüber hinaus stehen sie unter meinem Schutz und werden sich auch stets in meiner Nähe befinden. Wenn sich herausstellt, dass Sie ein falsches Spiel mit mir treiben, müssen Sie die Konsequenzen tragen. Sind sie damit einverstanden?« Langsam löste Esker seine Hände und lehnte sich entspannt zurück. »Nehmen Sie es an, haben wir beide heute einen schönen Abend. Lehnen Sie ab, dann bitte ich Sie jetzt zu gehen und mit den Folgen zu leben. Auf etwas anderes lasse ich mich nicht ein.«

Ihr voraus erhoben sie nacheinander ihre Gläser zu einem Toast. Ihr Lächeln zeugte davon, dass sie mit der Abmachung einverstanden war.

»Auf eine gute Zusammenarbeit, Fräulein Falkron«, sagte Esker sichtlich zufrieden.

Jetzt wurde sie ernst und verbesserte ihn sogleich. »Frau, bitte.«

»Wie Sie wünschen.« Mit dem Klang der Gläser war es beschlossen. Der Anstoß zu einer großen Zusammenarbeit.

1. Eine Beichte

Am Vormittag des 1. April 1889 in Allfaldria.

Verwirrt fanden sie sich auf der Altpforte, Ecke Stramodtstraße wieder, die ein kurzes Stück tiefer, parallel zur Brückentorgasse verlief. Nachdem sie das Trifolium durch die magische Pforte verlassen hatten, stellte der Zwerg unter ihnen gleich klar, dass das gegenüberliegende Jenuss Huus, ihre Lieblingskneipe in dieser Stadt, leider erst am Abend seine Türen öffnen würde. Darauf hatte ihr Freund der Halbling und Inspektor außer Dienst namens Reginald Vonderlus den Vorschlag unterbreitet in sein naheliegendes Lieblingscafé einzukehren, das gleich in der Nebengasse lag.

Einstimmig entschieden sie ihn dorthin zu begleiten. Das Lokal trug den Namen Zum Kittel und hatte ein großes Fenster zur Straße hin, von wo man die Passanten prima beobachten konnte. Das hatte Reggie früher schon gerne getan, wenn er sich hier gelegentlich eine Auszeit gönnte oder sich mit jemanden traf, wie zuletzt die Freundin und Reporterin, Ädelein Keckefott, vom Allfäller Anzeiger. Das lag nun jedoch schon einige Wochen zurück. Und seitdem hatte sich viel ereignet.

An diesem schönen ersten Aprilmorgen saß der Halbling, dessen Markenzeichen eine schwarze Melone war, jetzt mit seinen besten Freunden zusammen. Den Hut hatte er im Café natürlich abgesetzt.

Gerade erst hatten sie wieder einmal ein aufregendes Abenteuer hinter sich gebracht, in das sie erneut unverhofft geraten waren. Vor ungefähr einem Monat war Reggie mit einem einzigen Hinweis auf die Suche nach ihnen aufgebrochen, da sie mehrere Monate von der Rückkehr aus Trivess, ihrem letzten gemeinsamen Abenteuer, verschollen blieben.

Insgesamt war es in den vergangenen elf Monaten für die Männer sehr turbulent zugegangen. Einen Großteil hatten sie fern von ihrer Heimat verbracht, in fremden Betten genächtigt und zeitweilig noch nicht einmal das gehabt.

Daher war es nur verständlich, dass sich jeder von nun an danach sehnte ein normales Leben zu führen und das sollte auch so kommen. Vorerst gab es noch eine schlechte Nachricht, die der Halbling ihnen an diesem Morgen offenbaren musste. Und dabei handelte es sich wirklich nicht um einen Aprilscherz. Nein, das wäre seinen Freunden gegenüber nur fair, hatte Reggie für sich entschlossen. Denn schließlich waren sie in dem Glauben heimgekehrt, einen Sieg über eine nationalistische Partei und Orden errungen zu haben. Die Ekpyrosis. Sie stammte aus dem Lande Rhonisch, das im Süden an Westfal angrenzte, und seit über einem Jahr spielte dieser Orden eine lästige Rolle in ihrem Leben, indem dieser über so manche Akteure versuchte, ihre Macht über die Grenze hinweg in Westfal auszubreiten.

Selbst Reggie hatte erst kürzlich ihren ganzheitlichen tückischen Plan durchschaut und zunächst seine Stelle als Inspektor beim Polizeilichen Präsidium in Allfaldria vorerst an den Nagel gehangen. Bisher, so sein anfänglicher Plan, nur um seine verschollenen Freunde zu suchen und nach Hause zu begleiten. Ein Versprechen, das er gewissen Menschen gegeben und mit der heutigen Ankunft somit auch eingelöst hatte. Was wären Tolus Schwester Dini und Andoreds Schwestern erleichtert?

Nervös rieb sich der Halbling seine schwitzigen Hände, denn er wollte es ihnen jetzt endlich beichten. Seitdem sie von dem Fall des Ordens gehört hatten, an dem Syljana Braélad, die Elbin des Silbernen Klees, und Wizow Fundux, der kleine Kobold aus Treveriam, ausschließlich beteiligt waren, enthielt er ihnen diese Tatsache vor. Es war sehr wahrscheinlich, dass sie für längere Zeit nicht mehr so zusammen kamen.

Zuvor wartete Reggie mit seiner Offenbarung, bis jeder sein Getränk serviert bekommen hatte und spinkste hin und wieder zu seinem Freund Ehren hinaus, der vor dem Fenster wartete. Dem pechschwarzen Einhorn schien es draußen gut zu gehen. Anschließend bat der Halbling um ihre Aufmerksamkeit und räusperte sich, bevor er sich nun von seinem Stuhl erhob.

»Meine Freunde, bevor wir uns gleich Hals über Kopf verabschieden und auseinandergehen, möchte ich euch noch etwas mitteilen.«

Der Elb, Andored, hatte längst bemerkt, wie unruhig der Halbling seit ihrem Eintreffen im Café geworden war. Die Nachricht, schloss er daraus, konnte daher keine Gute sein, wenn sie ihm so schwer fiel. Geistig machte sich Ando deshalb darauf gefasst und überlegte schon vorab, was es sein konnte.

Reggie räusperte sich erneut.

»Nun mach es nicht so spannend, kleiner Mann«, sagte Tolumirantos amüsiert. »Du klingst ja schon beinahe wie Monty, wenn er nervös ist.«

Ertappt schaute Reginald ihn an und musste schlucken. Sein aufgesetztes Lächeln wirkte gequält und er schien mit den Worten zu ringen.

»Reggie«, nannte ihn Andored sanft bei seinem Spitznamen. »Schau mich an!« Als der Halbling seiner Aufforderung Folge leistete, sprach der Elb beherzt weiter und sah ihm dabei direkt in die Augen. »Du bist in guter Gesellschaft. Wie schwer es auch ist, niemand wird dich dafür verurteilen.«

»Ist gut«, fasste sich der kleine Mann, fuhr sich mit einer Hand verlegen durch sein blondes Kraushaar. »Ich habe euch eine wirklich wichtige Sache vorenthalten«, gestand er ihnen. Unbehelligt warteten sie darauf, dass ihr kleiner Freund weitersprach. Als ihn eintreffende Gäste kurz daran hinderten, warteten sie geduldig auf ihn. Die Anwesenheit Fremder veranlassten Reggie jedoch nun dazu, in abgewandelter Form zu sprechen. Man wusste ja nie, wer zufällig mithörte. Er hoffte inständig, dass sie ihn dennoch verstehen würden.

»Die Krähen sind nicht alle hinfort«, verkündete er im metaphorischen Sinne und meinte damit die verstorbenen Mitglieder des Ordens.

Tolu winkte mit einer Handgeste ab und gestand ein, dass sie natürlich wüssten, dass es noch viele Anhänger gebe, aber niemanden wie Tretenville oder Roykoff. »Oder, Reggie?«, sah er ihn auffordernd an und als der Halbling zögerte, wurde er gleich argwöhnischer. »Oder, Reggie?«, wiederholte er jetzt nachdrücklicher seine Frage und Tolus rechte Braue wanderte zur Stirn hinauf.

»Doch«, widersprach der Halbling ihm kleinlaut. »Eine einzige Person ist noch übrig, derzeit sogar in der Stadt zugegen und stets wachsam.«

Still und mit versteinerten Gesichtern sahen sie ihn alle an. Im Hintergrund redeten die anderen Gäste unbehelligt miteinander, als wäre an diesem Morgen alles in bester Ordnung. Nur eben für die sieben Männer nicht. Kurz darauf setzte sich Tolumirantos seufzend vor und stützte seinen Kopf mit einem Arm auf dem Tisch ab. Er schien über das Gesagte nachzudenken. Unterdessen zupfte Medjev ihm am Ärmel, um flüsternd zu erfragen, was Reggie genau gemeint hatte.

Dann regte sich Andored und durchbrach die Beklommenheit mit ruhiger Stimme. »Das ist schlecht«, meinte der Elb kurzum. »Aber mitnichten unser Problem.«

»Zumindest so lange es uns nicht betrifft«, pflichtete ihm nun auch Tolu bei und bedachte den Elb mit hochgezogener Augenbraue.

Wütend pfefferte Tomagril einen Bierdeckel auf den Tisch. Niemand der Gäste bemerkte es, da sie von ihren eigenen ausgelassenen Erzählungen abgelenkt waren.

»Ist doch nur eine Frage der Zeit«, meinte der blassere Elb verärgert und verschränkte trotzig seine dünnen Arme vor der flachen Brust. Dabei zeichnete sich sogar seine Kerbe auf der Stirn ab. Ein Zeichen, dass er es ernst meinte.

»Ganz ruhig Blondie«, sagte Tolu gelassen zu Tomagril und wandte sich dann allen zu. »Das sind ungelegte Eier. Warten wir mal ab«, beruhigte sie der Zwerg und richtete sich daraufhin an den Halbling. »Danke für deine Ehrlichkeit, Reggie. Ich denke, wir sollten gemeinsam und in Ruhe austrinken und gehen dann unserer Wege. Lassen wir erst einmal das normale Leben wieder einkehren und etwas Gras über die ganze Sache wachsen. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht? Aber ich brauche dringend eine Auszeit.«

»Korrekt«, stimmte auch Monty, der Gestaltwandler, zu und gab sich bildmalerisch wortgewandt. »Wir beobachten unterdessen die Saat und schauen, ob sie Früchte trägt. Wenn sich die Krähe daran vergreifen will, schnappen wir sie uns.«

»Nun ja«, schaltete sich der Halbling wieder ein, der längst auf seinem Stuhl zurückgekehrt war und lachte verlegen auf. Denn ganz so einfach verhielt sich die Angelegenheit natürlich nicht und das hatten Ando und Tolu auch schon längst geahnt. »Diese Krähe ist eine Besondere. Sie verfügt über großen Einfluss und außergewöhnliche Kräfte.« Während er das letzte Wort sagte, klimperte er mit seinen Fingern in der Luft, wie Zauberkünstler es taten, um ihre tollen Tricks visuell etwas auszuschmücken. Darin steckte der Hinweis, dass es sich erneut um einen Magier handelte.

»Schlimmer als die letzten Krähen?«, hakte Tolu ungläubig nach.

Reggie nickte auch dieses Mal und blieb weiter bildmalerisch. »Sie strebt sogar einen Sitz auf der höchsten Rathausspitze an.« Somit umschrieb der Halbling das höchste Amt in der Stadt – der Oberbürgermeister.

Des Zwergen Augen weiteten sich. »Noch so ein Irrer!«, grummelte Tolu in seinen schwarzen, ungepflegten Vollbart und ließ sich wieder wie ein nasser Sack gegen die Stuhllehne sinken.

»Dann rufen wir den Förster«, erwähnte Medjev nebenbei und trank an seinem Milchkaffee, worauf ihm auf der Oberlippe ein Milchschaumbart stehen blieb. Ando machte ihn sogleich dezent darauf aufmerksam.

Ganz sicher meinte der Hüne nicht wirklich einen echten Förster. Vielmehr sprach er von einer Person, mit der sie alle in den letzten Wochen Bekanntschaft machen durften und die sich als Verbündeter und Freund erwiesen hatte. Ein alter Magier namens Odrich Gerautilus Meanderer, der in einer scheinbaren Försterhütte zwischen den Rhoner Marschen und dem nördlichen Rand des Zwyndrinwalds lebte, und sich eben für Fremde als stoffeliger Förster ausgab.

Medjevs Vorschlag schien für alle vorerst eine gute und beruhigende Lösung zu sein und Tolu betonte nochmals, dass sie alle Contenance wahren sollten.

»Konténängse?«, verschlimmbesserte Ando närrisch das vallunische Wort und trank an seinem Kaffee. »Das mach ich doch mal prompt«, setzte er genüsslich seufzend die Tasse wieder ab und lehnte sich entspannt zurück. »Was gedenkt ihr denn als Nächstes zu tun?«, wechselte er galant das Thema.

Diese Frage brachte sie alle ernsthaft ins Grübeln und lenkte sie von der unangenehmen Neuigkeit ab. Allmählich begannen sie nun im Beisammensein auszumalen, welche Vorhaben ihnen für die kommende Zeit so einfielen. Für den Zwerg stand es an, seine abgebrannte Schmiede neu aufzubauen. Ando wollte ihm dabei zur Hand gehen und auch seine Schilderwerkstatt wieder öffnen. Medjev versprach dem Zwerg ebenfalls seine Hilfe und wollte sich auf Arbeitssuche begeben. Letzteres mussten Tomagril und Monty auch tun. Finanziell standen sie alle nicht sehr gut da. Davon abgesehen fragte sich der Gestaltwandler, ob er nach seiner langen Abwesenheit überhaupt noch die Wohnung unterm Dach hatte.

Tolu winkte mit einer Hand ab und blickte närrisch drein. »Das war doch eh keine richtige Wohnung«, sagte er. Tatsächlich glich sie eher einer Kriechhöhle, worin selbst ein Zwerg sich den Kopf an den Dachsparren stieß. »Wir schauen nach deinen Sachen und bringen dich vorerst bei mir unter. Dann sehen wir weiter«, machte er seinem einbrauigem Freund, dem Gestaltwandler, umgehend das Angebot. Schließlich gab es auf dem Gelände der Familie Luck genügend Platz. Sogar im Haus würden sie allesamt unterkommen.

Nachdem er schon früher einmal die Großzügigkeit seines zwergischen Freundes überstrapaziert hatte, nahm sich Monty diesmal vor, es nicht zu wiederholen und dankte ihm.

Der Einzige, der sich unter den Männern bescheiden zurück hielt, war niemand anderes als Aris Grünfried, der Druide.

Zum Abschied verkündete Reggie ihnen, dass er sie alle zur Entschädigung für seine schlechte Kunde einlud und ließ es auf seinen Deckel anschreiben. Natürlich wusste auch er um ihre finanzielle Lage und für ihren Einsatz in Treveriam war das nur das Mindeste, was der Halbling von seiner Seite aus für sie tun konnte.

Wenig später fanden sie sich allesamt draußen vor dem Café wieder und drückten sich zur Verabschiedung.

Trotz der Ablenkung mussten sie Reggies Nachricht erst einmal verdauen. Der Halbling fühlte sich deswegen auch etwas unwohl. Obwohl Andored ihm auf dem Bürgersteig noch locker flockig mit einer wegwerfenden Handbewegung versicherte, dass es schon alles richtig von ihm gewesen sei. An der Wahrheit wusste man einfach, wo man dran wäre und tappe nicht ständig im Dunkeln auf der Suche nach ihr, begründete der Elb mit seiner Weisheit.

»Hören, verarbeiten und akzeptieren«, fasste Andored kurz und bündig anschließend den Verarbeitungsprozess zusammen, während die anderen schon vorausgegangen waren. »Manchmal braucht es dafür etwas mehr Zeit und ein anderes Mal geht es ganz schnell. Mach's gut, Reggie«, winkte der Elb ihm zum Abschied und führte Ehren mit sich. »A Réyam!«

Der kleine Halbling blieb alleine vor dem Café zurück und seufzte, denn ihm wurde nun sehr schwer ums Herz.

Während er seinen Freunden wehmütig nachschaute, bemerkte er eine Krähe auf der Dachrinne des roten Backsteinhauses an der Ecke zum Park schräg hinter ihm. Im Untergeschoss befand sich ein Weinladen. Er sah hinauf zum Vogel und beäugte ihn argwöhnisch. Irgendwie beschlich ihn das ungute Gefühl, der schwarze Vogel beobachtete ihn schon die ganze Zeit. Als ihre Blicke sich trafen, krächzte er dreimal herausfordernd auf und flog schließlich davon.

Ein Krähe, schoss es Reggie in den Sinn. Wo sie eben noch in metaphorischem Sinne davon sprachen, bescherte ihm nun ihr Anblick eine Gänsehaut. War es jetzt auf den Straßen Allfaldrias nicht mehr sicher für ihn? Oder drehte er langsam durch? Schließlich wusste Reggie um Ruinard Eskers Macht und Einfluss. Denn bereits letzten Monat, bei seinem letzten Fall, hatte er nähere Bekanntschaft mit dem Mann gemacht. Der Magier war siegreich der Justiz entkommen, indem er zuvor die ersten vier Siegel eines alten, magischen Buches geöffnet hatte, was ihm ebendrum zu seinem Sieg verhalf.

Wenn man den Apokryphen glauben durfte, und davon ging Reggie aus, dann hatte Esker somit im metaphorischem Sinne die vier Reiter der Apokalypse heraufbeschworen. Schließlich hatte er sie damals im Turm der Kupferburg mit eigenen Augen gesehen.

Bevor es weiterging, klappte der Halbling den Kragen seines Mantels hoch und zog seinen schwarzen Hut tiefer in die Stirn. Niemand sollte ihn direkt erkennen, wenn er zu seiner Wohnung in die Sakobistraße heimkehrte. Umso später die Leute von seiner Rückkehr erfuhren, desto größer sein Vorteil dem Magier gegenüber. Das erhoffte er sich zumindest.

Als er endlich vor der Haustüre mit der Nummer 13 stehen blieb, schickte er sich gleich an bei seiner Nachbarin, Frau Henke, die Glocke zu läuten. Doch soweit kam es gar nicht. Direkt vor seiner Nase wurde hastig die Türe aufgerissen. Jemand griff ihn unmittelbar kräftig am Schlafittchen, dass ihm beinahe die Melone vom Kopf gerutscht wäre, und zog ihn ruckartig hinein.

Im Flur war es dunkel. Gleich wurde er weiter durch die nächste Türe bugsiert – in die Wohnung von Frau Henke, erkannte er an der Richtung und dem Geruch. Schließlich drehte er sich wütend um und sah sich der älteren, rundlichen Menschenfrau mit den großen Brüsten gegenüber. Ihre blonden Haare waren länger als sonst. Sie trug ein helles Kleid mit einem zierlichen rot und blauen Blumenmuster und darüber eine hellblaue Schürze.

Mit dem Zeigefinger vor ihren gespitzten Lippen gebot sie ihm eindringlich still zu sein.

»Frau Henke«, keuchte Reggie leise. »Was ist denn los?«, widersetzte er sich ihrer Anweisung.

»Scchhhh!«, drängte sie und trat achtsam näher an die geschlossene Wohnungstüre heran. Reggie sah sich kurz um. Sie befanden sich praktisch mitten in ihrem Wohnzimmer. Dann beobachtete er Frau Henke aufmerksam, die mittlerweile ihr rechtes Ohr an das Türblatt gelegt hatte und offenbar lauschte. Plötzlich winkte sie ihn heran. Er tat es ihr nach und horchte gespannt. Trotzdessen sein Herz ihm vor Aufregung heftig bis zum Hals pochte, konnte er Stimmen hören. Es handelte sich vermutlich um zwei Männer, die langsam die Treppe von oben herab kamen und sich dabei unterhielten. Vor dem letzten Absatz und direkt zwischen beiden Türen blieben sie kurz stehen.

»Diesmal überbringst du die Nachricht«, sagte der Eine zum Anderen.

»Ne neee dat«, wehrte der andere in einem ähnlichen Dialekt, wie das Allfäller Platt, ab. »Veräppel misch net. Isch wäß noch, dat du diesma dran waas.«

»Joah, is jutt«, gab sich der Erste ziemlich schnell geschlagen und verfiel ebenfalls ins Platt. »Wäß jar net, watt uns Meester von de Jonge wel.«

Die Haustüre wurde geöffnet und sie traten nacheinander hinaus. »Dat«, hörten sie den anderen noch sagen, »is net deng Anjelähjenheit. Also koem!«

Frau Henke erhob sich und prustete erleichtert aus, nachdem die Haustüre wieder ins Schloss gefallen war.

»Herr Vonderlus, bin ich froh sie wohlauf zu sehen«, sagte sie zu ihm und nahm seinen Hut und Mantel entgegen.

Nachdem die Nachbarin sie aufgehangen hatte, sprach sie ungehindert weiter. »Unmittelbar nachdem Sie fortgegangen waren, kamen diese beiden Männer jeden Montag, Mittwoch und Samstag, um nachzusehen, ob sie Zuhause sind. Glauben sie mir, das sind unangenehme Burschen.« Sie seufzte schwer und von ihr schien in diesem Moment ein schwerer Ballast abzufallen. »Kommen Sie, ich mache uns Tee«, lud sie ihn ein und begab sich nach hinten in die Küchenstube. Reggie nickte dankbar und folgte ihr. Währenddessen setzte sie ihre Erzählung fort. »Ich habe mir große Sorgen um sie gemacht und jeden Tag nach ihnen Ausschau gehalten. Wollte sie abfangen, wie heute, bevor sie denen in die Finger geraten.«

Frau Henke öffnete die Klappe des Ofens und legte einen Holzscheit nach. Es war gemütlich warm und sie bot ihm einen Teller mit selbstgebackenen Karottenkuchen an, zu dem er natürlich nicht Nein sagen konnte. In diesem Augenblick wurde dem Halbling gewahr, dass es immer noch Verbündete in dieser Stadt gab. Freunde, die zu ihm hielten.

Die ältere Frau setzte sich ihm gegenüber und unterdessen sie warteten, bis das Wasser kochte, schien es ihr große Freude zu bereiten, den Halbling über die Geschehnisse in Allfaldria der vergangenen vier Wochen in Kenntnis setzen zu können. Sie blühte praktisch voll auf und war gänzlich in ihrem Element.

Mit Tee, einem Stück Kuchen und in guter Gesellschaft, hatte Reggie sich schon lange nicht mehr so zu Hause gefühlt.

2. Alte Gewohnheiten

An diesem Montag kehrten die Chaoten alle unbehelligt nach Hause zurück und wurden dort herzlich empfangen. Schließlich waren sie ja auch über ein halbes Jahr von zu Hause fort gewesen. Während Ando und Medjev je ihre Schwestern und Eltern besuchten, weilten Monty und Tomagril bei Familie Luck. Der Einizige, der bisweilen einen längeren Fußmarsch vor sich hatte, war Aris Grünfried. Trotz Andos Angebot für einen weiteren Tag zu bleiben, hielt der Elb und Druide daran fest am selbigen Tag noch nach Hause aufzubrechen. Sein Ziel war der Börn, eine hochgelegene Berglichtung im Fallbörnwald, wo im Verborgenen die Enklave der Druiden lag. Der vollbärtige Elb mit dem Dutt gab sich zum Abschied zwar gelassen und freudig, jedoch bemerkte Ando bei seinem jüngsten Freund eine gewisse Sorge. Allerdings zerstreute der Druide seine Wahrnehmung im Wind und zog pfeifend von dannen.

Der April hielt was man ihm nachsagte. Unbeständigkeit. Regen, Graupelschauer, ein paar Mal sogar mit leichtem Hagel, und dann wieder Sonne mit Wolken im Wechsel. Auch der Wind hatte noch einen gewissen eisigen Biss vom Winter übrig. Doch zum Monatsende hin wurde es ruhiger und beständiger, was im Grunde auch das Leben der Chaoten widerspiegelte.

Dank der Mithilfe seiner Freunde, wurde die abgebrannte Schmiede des Zwergs wieder neu errichtet und war nach der dritten Woche schon fertigungsbereit. Nachdem Andored zwischendurch seine Werkstatt auf Vordermann gebracht hatte, verzeichnete er sogar endlich seine ersten beiden Aufträge. Gerade baute er an dem ersten großen Aushängeschild aus Holz und Eisen für einen Dachdecker aus der Umgebung, wofür Tolu die gusseiserne Halterung fertigen durfte. Für einen anderen Kunden machte der Elb sogar eine Vergoldung mit Blattgold auf einem aus Marmor gefertigten Türschild. Es florierte langsam und alle kamen sie ohne große Probleme auf den grünen Zweig. Nur bei Dreien gelang dies etwas verspätet.

Zuerst versuchten Medjev, Tomagril und Monty ihr Glück mit der Suche nach Arbeit in den Dörfern der Umgebung. Vergeblich. In der vierten Woche gebaren sie aus der verzweifelten Not die Idee den Versuch zu wagen, erneut zusammen beim Bergwerk in St. Ohlberg anzuheuern. Doch bei Sänkemacher & Co KG wies man sie schroff ab, nachdem man ihre alten Personalakten fand. Im letzten Jahr wurden sie nach dem Vorfall mit Magus Tretenville für nicht diensttauglich befunden und entlassen, obwohl sie sich nichts zu Schulden hatten kommen lassen. Dabei schien das in diesem Moment für sie die einzige Möglichkeit gewesen zu sein, zügig an Arbeit und Geld zu gelangen. Ihre vermeintlich ausweglose Tat war jedoch nicht völlig für die Katz gewesen.

Auf dem Rückweg trafen sie zufällig ihren alten Grubenkumpel wieder, den Halbling Pietto Huffelsbach, der ihnen aus alter Verbundenheit verriet, wo sie stattdessen anheuern konnten. Laut seiner Angaben, die er mit seinen riesigen Ohren selbst vernommen hatte, sollte in einer kleinen Holzfällersiedlung, südlich von Nelister, namens Mollarfsbütte, das Büro eines Vorarbeiters zum Trassenausbau des Bergwerks liegen. Dort war man fleißig dabei eine Nebenverbindung zum Gleisausbau-Süd zu errichten, die von St. Ohlberg bis nach Roe tlingen und Sintelrath durch den Wald verlaufen sollte. Dadurch erhoffte sich das Verhüttungswerk an der Burg in Zukunft leichter Anschluss in den Westen, Süden und Osten zu bekommen. An je mehr Erz man gelangte, umso höher die Herstellung von Kupfer und Stahl. Schlussfolgernd eine Vergrößerung der Produktion und Schaffung weiterer Arbeitsplätze in der Umgebung.

Das klang alles sehr vielversprechend, vor allem in den Ohren der Geschäftsleute und Investoren. Man butterte viel Geld in die Zukunft und deshalb gab es dort auch viel Arbeit.

Aus diesem Grund machte sich das ungleiche Trio auch umgehend auf den Weg über Bleifall nach Mollarfsbütte, um bei diesem Vorarbeiter vorzusprechen. Angeblich solle er sein Büro in dem dortigen Gasthaus Zur Fällersruh haben. Das hatte ihnen zumindest Pietto hoch und heilig versichert. Und so kam es auch.

Angetan von seinen kräftigen Armen und Oberschenkeln, befand der Vorarbeiter den Hünen ohne Umschweife als brauchbar. Bei Toma und Monty haderte er vorerst ein wenig. Wahrscheinlich, um den Lohn zu drücken. Doch die beiden ließen sich nicht unter Wert verkaufen und gaben an, dafür mehr Grips und größere Ausdauer an den Tag zu legen. Medjev schüttelte nur resignierend den Kopf, freute sich aber wahrlich, dass sie nun endlich alle eine Anstellung gefunden hatten. Gleich ab dem ersten Mai sollte es für sie alle losgehen.

»Das ist ja schon Übermorgen«, kam es Monty überrascht in den Sinn.

»Ja, ein Samstag«, meinte Tomagril niedergeschlagen. »Ich arbeite nicht gerne am Wochenende.«

Medjev gluckste und rieb sich freudig die Hände. »Das gibt einen Wochenend- und Feiertagszuschlag oder etwa nicht?«

Monty zuckte ahnungslos mit den Achseln. »Davon hat niemand etwas gesagt«, meinte er. »Glaube ich zumindest.«

»Ist doch wurscht«, sagte der blasse Elb gleichgültig und griemelte gemein. »Wichtiger ist, dass morgen die Mainacht ist und Tolu hat es vergessen.« Sein hämisches Lachen hallte weit über die Baumwipfel hinaus. »Das kann ich ihm jetzt ewig vorhalten.«

Voller Vorfreude begaben sie sich in der Dämmerung zum Napola zurück, wo ihr zwergischer Freund sie erwartete.

Die Esse glühte, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Es war Zeit für eine Pause. Als wäre es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen, stemmte sich Tolu erschrocken von seinem Stuhl auf, in dem er sich gerade zur Mittagspause in die ersten längeren Sonnenstrahlen niedergesetzt hatte. Dabei fiel sein Käsebrot zu Boden.

»Jesses!«, prustete er und bückte sich gleich hinunter, um es aufzuheben und sauber zu pusten. Danach wandte der Zwerg sich an seine Schwester Dini, die unweit im Hof dabei war, die frische Wäsche an gespannten Leinen aufzuhängen. »Welcher Tag ist heute?«, fragte er sie.

»Donnerstag.«

»Neeiiin«, winkte er mit einer Hand ab, weil er doch etwas anderes meinte.

»Der 29. April«, sagte die rundliche Zwergin ächzend, während sie sich zur Leine hinauf streckte, um einen Hemdzipfel mit einer Klammer daran zu befestigen.

»Ja, verflixt!« Tolu stemmte ungläubig beide Fäuste in die Seiten. Sein Bauch hatte langsam wieder die gewohnte runde Form eines riesigen Kürbis angenommen. »Morgen ist doch Mainacht«, offenbarte sich ihm, als habe er verschlafen. »Das habe ich wahrlich beinahe vergessen.«

»Bruder«, nannte ihn Dini ernst und schüttelte missbilligend den Kopf. »Du warst mal so lässig«, schlug sie ihn mit seinen eigenen Worten.

Der Zwerg strich sich verlegen am Hinterkopf und nahm es sportlich. Grinsend und mit einem Augenzwinkern machte er sich gleich an die Arbeit Vorkehrungen zum morgigen Abend zu treffen. Niemand von den anderen durfte je erfahren, dass er es beinahe versäumt hatte. Nein, das würde ihm ewig nachhängen und dieser Schmach und Genugtuung seiner Freunde wollte er sich absolut nicht ausgesetzt sehen. Niemals.

Wie in den Jahren zuvor, wollten sie natürlich auch die kommende Mainacht zusammen am Lagerfeuer verbringen. Alle waren sie gesund und das Wetter schien mitzuspielen. Was sprach also dagegen? Eben. Nichts. Tradition war Tradition.

In diesen vergangenen Wochen hatte auch Reginald Vonderlus die Ruhe genossen und sein Leben in gepflogene Bahnen gelenkt. Gleich zu Anfang brachte er seine kleine Wohnung unterm Dach auf Vordermann und ließ die Glasscheibe der Dachluke reparieren, die ihm vor über einem Monat eine sehr nervige Krähe mit ihrem Schnabel zerbrochen hatte. Nachdem er damals die Stadt verlassen musste, um nach seinen Freunden zu suchen, ließ Frau Henke provisorisch eine Holzplatte über die Öffnung legen. Das Provisorium hatte gehalten und zum Glück war seitdem kaum Niederschlag gefallen. Um so erleichterter war er, als der April sich schließlich von seiner besten Seite zeigte.

Endlich kam wieder Licht in sein bescheidenes Zimmer mit dem Bett, einem kleinen Ofen, ein paar Büchern und einem kleinen Kessel zum Tee kochen. In der Nische neben der Türe hatte man einen kleinen Schrank eingebaut. Dort konnte er seine wenigen Kleidungstücke verstauen. Sein Mantel und die schwarze Melone hingen auf einem einfachen, dreifüßigen Garderobenständer mit zwei Haken. Im Ganzen lebte Reggie sehr bescheiden, auch für einen Halbling. Aber es genügte ihm.

Der Kessel begann zu pfeifen. Gelassen nahm Reggie die kleine Teedose zur Hand und befüllte den Sieb mit ein paar getrockneten Kräutern daraus. Sogleich nahm er den Behälter von der Ofenplatte, tauchte das Sieb hinein und stellte sie auf eine alte, umgedrehte Obstkiste, die ihm als Tisch diente. Der Regen prasselte unaufhaltsam gegen die Schindeln und die Dachluke. Gedankenverloren setzte er sich auf sein Bett nieder und starrte hinaus. Er dachte darüber nach, was seine Freundin, die Menschenfrau, zu ihm gesagt hatte, als er ihr vor ein paar Tagen an ihrer Arbeitsstätte einen Besuch abstattete. Sie war Reporterin bei der der Tageszeitung, dem Allfäller Anzeiger.

Ädelein wirkte gleich ziemlich besorgt und nervös. Nach seinem Eintreffen in ihrem kleinen Büro nahm sie ihn sofort zur Seite und fragte ihn, was er hier mache? Ob er denn nicht wüsste, dass gewisse Leute nach ihm suchen würden? Das war ihm nicht neu. Seit dem Tag seiner Heimkehr, als Frau Henke ihn unvorhergesehen in ihre Obhut nahm, wusste Reggie, dass die beiden unbekannten Männer einen Auftrag hatten und nicht nur zum Spaß an drei Tagen in der Woche im Hausflur herumlungerten.

Da auch die Wände des Anzeigers offenbar Ohren hatten, bugsierte sie ihn umgehend zum Ausgang und versprach sich alsbald mit ihm in einem Café zu treffen. Dennoch verriet sie ihm draußen vor der Türe, dass die Mönche, die mit dem Buch der sieben Siegel unterwegs nach Aquitan waren, den Ort nie erreicht hatten. Zudem erwähnte sie ihre ausgiebige Recherche zu besagtem Buch, über die sie ihn dann ausführlich unterrichten wollte.

Von diesem Zeitpunkt an waren ein paar Tage ins Land verstrichen. Fast zwei Wochen, um genauer zu sein, in denen er weder eine Nachricht, noch irgendein anderes Lebenszeichen von Ädelein Keckefott erhalten hatte. Sollte er sich ernsthaft Sorgen um sie machen?

Stattdessen waren ihm bei seinen Montags-, Mittwochs- und Samstagspaziergang, bei denen er vor den beiden Männern aus seiner Wohnung flüchtete, verschiedenen Leuten begegnet, die er als Freunde bezeichnen würde. Vielleicht nicht solche guten Freunde, wie die Chaoten es waren, aber immerhin.

Es begann mit dem zufälligen Aufeinandertreffen des Schusters und Zwergs, Jerri Absatzler. Dieser saß trübselig auf einer Bank im Stadtgarten. Sein Kopf war auf die Brust gesunken und er schien zu schluchzen. Jedenfalls meinte der Inspektor (außer Dienst) das aus der Ferne an seinen zuckenden Schultern zu erkennen. Als Reggie sich sogleich zu ihm gesellte, vertraute Jerri ihm an, dass sein Chef ihm gerade gekündigt hatte.

Der Grund verwirrte den Halbling ein wenig. Ein paar Kunden wollten wohl aus heiterem Himmel nicht mehr, dass ein Zwerg ihre Schuhe besohlte. Es hieß, sie würden nichts Gutes im Schilde führen und für schlechte, nachlässige Arbeit wollten sie nicht zahlen. Dabei lag es zuletzt einfach an schlechten Schuhen, erklärte Jerri, die der Kunde zur Reparatur gegeben hatte. Der Zwerg hätte ihm vorab schon versichert, dass der Schuh eigentlich nicht reparabel sei. Doch der Kunde wollte das nicht hören und sagte nur, Hauptsache er halte nochmal einen Monat.

Das stellte sich wohl als Gaukelei heraus. Hinterher behauptete der Kunde, er habe niemals so ein Gespräch mit Jerri geführt. Somit stand Aussage gegen Aussage und im Nachhinein hatte der Kunde immer Recht.

Reggie tat das furchtbar leid. Aber auch er war ratlos, was man dagegen machen konnte.

Ähnliche Ereignisse gab es dann auch bei den folgenden Aufeinandertreffen zu verzeichnen.

Die schöne Rieka wollte plötzlich niemand mehr im Dekra tanzen sehen, tat die Elbin ihm gegenüber aufgebracht kund und sie gab darauf bekannt, die Stadt verlassen zu wollen.

Auch der Riesenwuchs, Garb Rösler, hatte Ähnliches zu beklagen und schlurfte gleich wieder freudlos weiter auf seinem Weg nach Hause.

Wahrscheinlich könnte Reggie im Präsidium mehr darüber in Erfahrung bringen, ob es nur Einzelfälle waren oder nicht. Doch bisher hatte er sich dort noch nicht blicken lassen. Nur bei seinem Partner und Kollegen, Pilgrim Soddeberch, war er wenigstens für einen kurzen Besuch bei ihm Zuhause aufgetaucht. Es war ein freudiges Wiedersehen. Wie groß seine Patentochter, die kleine Nora, doch geworden war. Strahlend beobachtete er sie freudig, wie sie mit ihrer winzigen Hand den gehäkelten Rasselpilz griff, den er ihr zuvor geschenkt hatte, und beherzt hinein biss. Von diesen Menschen erfuhr er stets Offenheit. Schließlich hatte Pilgrim ihm auch einiges zu verdanken. Aber woher kam nun plötzlich dieser Groll der Menschen gegen die Nicht-Menschen?

Allein den letzten Begriff zu denken und einen Unterschied zwischen den Humanoiden zu machen, löste ein großes Unbehagen in ihm aus. Es fühlte sich einfach absurd an.

An diesem Donnerstag saß er nun auf seinem Bett. Nachdenklich rührte Reggie in seinem Tee und blickte dabei wie hypnotisiert, tief in den Strudel, den er in der Tasse mit dem Löffel erzeugte. In der Stadt verfielen die Menschen also in alte Gewohnheiten. Für ihn war glasklar, dass das nicht von ungefähr kam, beziehungsweise, nicht ohne einen äußeren Einfluss geschah. Nein, ganz sicher war hier Hetzpropaganda am Werk. Jemand verbreitete schlechte Kunde unter den Menschen und sie schienen es aus der gebenden Hand zu fressen, als wären sie ausgehungert.

Plötzlich gewahrte er, wie jemand langsam die Treppenstufen hinauf kam. Reggie zuckte nervös zusammen, als es darauf an seine Türe klopfte.

Erst als er die freundliche und vertraute Stimme von Frau Henke vernahm, atmete der Halbling erleichtert aus. Er hatte schon befürchtet, die beiden Männer würden neuerdings an anderen Tagen im Haus erscheinen, um ihn zu überraschen. So schlau waren sie wohl doch nicht.

Langsam öffnete er die Türe und blickte hinauf in das rundliche, rotwangige Gesicht seiner Nachbarin. »Herr Vonderlus«, prustete sie angestrengt leise. »Eine Nachricht für sie.«

Sie überreichte ihm einen wirklich kleinen Briefumschlag und verabschiedete sich wieder. Reggie rief ihr noch ein Dankeschön hinterher und schloss dann aufgeregt die Türe.

Den Umschlag zierte sein Name in der Handschrift von Ädelein Keckefott.

3. Die Diva

Zum nächsten Abend war alles vorbereitet. Daher stand der Mainacht bisweilen nichts mehr im Wege. Tolumirantos hatte sich große Mühe gegeben und somit Tomagrils Versuch, ihm zu unterstellen, er habe die Mainacht vergessen, völlig den Wind aus den Segeln genommen. Ein großes Fass Bier war angeschlagen und auch das Essen vorbereitet. Eigentlich war alles und jeder da. Nur eine Person fehlte und man ahnte bereits, dass demjenigen wieder etwas in die Quere gekommen sein musste. Das war jedes Mal so, wenn ihr Freund Ando zu spät kam. Gerne zogen sie ihn dann mit Mutmaßungen auf. Meist ging es darum, dass er wohl zu lange für seine Frisur gebraucht hatte. Selten aber lagen sie mit ihren Sticheleien richtig.

»Ach, der muss sich sicherlich noch die Nase pudern«, winkte Tomagril ab, nachdem Medjev die Frage in die Runde warf, wo Ando denn nun wieder blieb?

»Wir wollen endlich anstoßen«, moserte der Hüne gespielt.

»Du wirst schon nicht verdursten«, tadelte Tolu seinen Freund und beäugte ihn schräg von unten her. »Ando wird seine Gründe haben.«

»Seit wann bist du so verständnisvoll, Herr Zwerg», lehnte sich Monty übermütig weit aus dem Fenster.

»Ach, ich habe für alles und jeden Verständnis. Nur eben nicht für euch drei Vollpfosten.«

»Wir drei sind aber nicht zu spät«, konterte Tomagril schnippisch. Aus irgendeinem Grund wollte ihm heute nichts mehr Gutes einfallen, dass er Tolu an den Kopf werfen konnte. Und das missfiel ihm sehr.

»Wisst ihr was«, versuchte der Zwerg nun mit einem letzten Mittel von einer Diskussion abzulenken. »Heult nicht weiter rum. Holt eure Humpen. Ich fülle sie euch auf.« Während er sich zum Fass begab murmelte er sich noch etwas wütend in den schwarzen Vollbart. »Ist ja nicht auszuhalten. Immer am mosern, diese Weicheier. Können nicht mal ein paar Minuten abwarten.«

Allerdings ließ Ando dieses Mal einige geschlagene Minuten auf sich warten. So war Tolus Entscheidung, das Fass früher als gedacht anzuschlagen, genau richtig gewesen.

Mittlerweile saßen sie auf den liegenden Holzstämmen um den zeltförmig aufgestellten Holzhaufen im Steinkreis und tranken ihr Bier, während sie auf die Dämmerung und ihren Freund warteten. Schließlich trudelte der Elb ein. Er trug etwas eingerolltes unterm Arm und seinem Gesichtsausdruck nach, war er sehr missgelaunt.

Tolu hatte wohl wieder einmal Recht behalten. Aber was war der Grund gewesen?

Sie blieben nicht lange auf dieser Frage sitzen.

»Tut mir leid, meine Freunde«, entschuldigte sich der Elb, unterdessen er noch auf sie zukam. »Ich war noch bei einem Kunden und wirklich rechtzeitig zu Hause«, gab er zur Erklärung. »Leider musste ich feststellen, dass man während meiner Abwesenheit Plakate an meine Hauswand gekleistert hatte.«

»Na und?«, zuckte Tomagril großspurig mit den Armen. Er sah wohl vorerst kein großes Problem darin.

»War ja klar, dass dich das wieder nicht juckt«, wurde Andored nun garstig. »Gibt es eigentlich irgendetwas, dass dir wahrlich etwas bedeutet?«

»Ja, mein Bier«, stichelte Tomagril trocken weiter.

Bisweilen sahen sich die anderen das Ganze noch in aller Ruhe aus nächster Nähe an.

»Dann kleb dir das doch an die Stirn.« Mit einem gekonnten Wurf, landete eine der beiden Rollen aus Andoreds Achselhöhle in Tomagrils Schoß. Dabei zuckte er so zusammen, dass etwas vom goldenen Gerstensaft verschüttet wurde.

Damit hatte er wohl nicht gerechnet.

»Ehhh, mein Bier«, empörte sich der blasse Elb. »Pass doch auf.« Gelassener stellte er seinen Krug ins Gras und musste seiner Neugier gleich Luft machen. »Was ist das denn? Etwa ein Großfotografiedruck von der schönen Rieka aus dem Dekra?« Das Gesicht voller Vorfreude darauf, entglitt ihm sofort, als er den rundlich, männlichen Kopf mit Doppelkinn und dem grauen Schnauzbart des amtierenden Bürgermeisters darauf erkannte. Angewidert warf er es in die noch trockene Feuerstelle.

»Richtig geraten«, gab sich Ando sarkastisch. »Wegen der schönen Rieka an meiner Wand, hätte ich auch nicht den Aufwand betrieben, die Scheiße sorgfältig wieder von meiner Werkstatt zu entfernen.« Ando lief heiß, wie ein Stier der rot sah. »Nein, schaut mal hier!« Das zweite Plakat entrollte er vor sich aus und hielt es offen seinen Freunden hin. »Es sind Wahlplakate, für die, die es noch nicht mitbekommen haben.« Dabei bedachte er besonders Tomagril mit einem vernichtenden Blick. »Die Wahl zum Amt des Bürgermeisters steht an. Im September. Das ist geschäftsschädigend, so ein hässliches, politisch arrangiertes Abbild eines Idioten an meinem Haus. Die haben mich nicht einmal um Erlaubnis gefragt.«

Mutig wagte sich Tolu an die fuchsteufelswilde Kreatur heran. »Sag mal, wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas gegessen?«

Ando stutzte über die Frage. »Na heute Mittag«, sagte er dann schnippischer, als er beabsichtigte.

»Alles klar.« Der Zwerg rutschte vom Stamm auf die Knie und machte sich ans Feuer. Prompt gerieten Monty, Medjev und Tolu in Bewegung.

Der Hüne bot ihm einen Platz auf dem Baumstamm neben ihm an, während Monty dem Elb ein Bier zapfte.

»Jetzt mal ernsthaft«, redete Andored unterdessen weiter. »Das ist doch eine Straftat oder nicht?«

Niemand antwortete.

»Ich sollte die Parteien anzeigen«, zog der Elb in Erwägung.

»Aber jetzt hast du sie ja runter gemacht«, schloss Tolu nüchtern. »Also gibts nichts mehr anzuzeigen.«

Ando seufzte entnervt. »Richtig!«, gestand er nun ein.

Er reichte das zweite Plakate weiter. Jeder warf nochmal eine Blick darauf. Das musste der neue Kandidat sein. Endlich hatten sie ein Bild zum Namen, den Reggie ihnen verraten hatte. Ruinard Esker. Ein Kaufmann, frisch aus der Klischeeschublade entsprungen. Ein feiner Anzug, mit Mantel und Schal darüber. Auf der Oberlippe wuchs ein dünner Schnurrbart, die dunklen Haare waren mit Pomade zu einem Scheitel streng zurückgelegt.

»Der hat ja fast die gleiche Frisur, wie du, Ando!«, erfasste Tomagril wie ein Bussard die Maus im Felde.

Ehe er seinen Fehler erkannte, klatschten drei Hände an drei Stirne.

»Junge«, sprach Tolumirantos den zankenden Elb an. »Ein bisschen mehr Feingefühl können wir doch in dieser Situation von dir erwarten oder etwa nicht?«

Obwohl er es selbst einsah, zog er nur gespielt den Kopf ein wenig ein, konnte aber sein dämliches Grinsen nicht verkneifen.

Andored schüttelte nur fassungslos den Kopf. »Der hat eben nicht die selbe Frisur wie ich«, begann er erneut zu schimpfen. »Der Scheitel liegt ganz anders. Das ist wirklich eine Frechheit, Elb. Für dich sind auch Ahornblätter und Hanfblätter gleich, was?«

Inzwischen hatte sich Monty ganz nebenbei auf die Toilette verabschiedet. Andored entging aus dem Augenwinkel jedoch nicht, wie er ins Haus verschwand und nicht den Weg zum Plumpsklo einschlug. In der Küche brannte Licht. Vermutlich bereitete Dini etwas vor, das der Gestaltwandler holen wollte. Aber warum dann der Vorwand?

Wenig später kehrte er mit einer größeren Schale zurück, über die ein Leinentuch gespannt war. In der Zeit hatte Tolu bereits das Feuer angeschürt. Tomagril und Medjev schnitzten fleißig die Rinde von längeren Stöcken und der Hüne reichte ihm schließlich einen davon. Aber wozu?

»Na, Stockbrot«, enthüllte Monty breit grinsend den Inhalt der Schale. Darin ruhte ein aufgequollener Hefeteig, der mit Bärlauch, Salz und geriebenem Kümmel verfeinert war.

Dini gesellte sich wenig später ebenfalls dazu. Zusammen hielten sie nun ihre Stöcke mit Brotteig in die Flammen, tranken, quatschten und aßen dabei.

Nachdem der aufgebrachte Elb ein Bier intus hatte und endlich von dem leckeren Brot kosten konnte, besänftigte sich sein Gemüt deutlich. Die Plakate waren gar kein Thema mehr und er lachte auch recht häufig.

Plötzlich kehrte Stille ein. In diesem Moment sahen ihn alle erwartungsvoll an.

»Besser?«, fragte Tolu ihn schließlich einfühlsam.

Ando nickte erleichtert. »Besser!«, bestätigte er umgehend.

Der Zwerg schlug kräftig in die Hände. »Gut«, sagte er entschlossen und blickte sich eindringlich in der Runde um. »Jetzt, wo ihr drei doch eine Arbeitsstelle habt, könntet ihr euch ja alle mal eine Wohnung suchen«, unterbreitete Tolu unmissverständlich seine Erwartung.

Aber Ando wollte hierzu etwas anmerken. »Ist euch überhaupt aufgefallen, dass irgendwie mehr Leute in Nelister und den Dörfern der Umgebung unterwegs sind? Viele scheinen hier Wohnungen und Unterkünfte zu suchen«, erläuterte der Elb ihnen, was ihm in den letzten Tagen aufgefallen war.

Der Zwerg zuckte ahnungslos mit den Schultern. »Wir waren lange nicht in der Krone«, bezog er sich hier auf ihr Stammlokal. »Dadurch sind wir wohl nicht auf dem Laufenden was Klatsch und Tratsch angeht. Möglicherweise liegt es auch an der kommenden Spargel- und Erdbeerernte?«, zog er als Grund in Betracht.

»Aber das war doch bisher nicht so?«, zerstreute ihn Ando abermals.

»Stimmt auch wieder«, gestand der Zwerg direkt.

»Wer weiß schon, was das wieder für eine Entwicklung ist«, gab sich Tomagril typisch gleichgültig. »Mal ziehen sie in die Stadt, dann wieder raus. Ich würde dem momentan nicht allzu viel beimessen.«

»Na ja«, schaltete sich Tolumirantos nochmals ein und griff wieder die Wohnsituation auf. »Da ihr drei wohl demnächst eine Wohnung sucht, könnte sich die Lage zu einem größeren Problem entwickeln, als du bisher glaubtest.«

»Wenigstens haben wir Bier«, versuchte Tomagril auf unreife Weise von der Sache abzulenken.

»Bier wird dich jedoch nicht vor Regen und Kälte schützen«, unternahm der Zwerg einen erneuten Versuch ihnen den Ernst der Lage vor Augen zu halten.

»Wir sollten abwarten und die Ohren offen halten«, meinte Monty daraufhin. »Stellt eigentlich jemand einen Maibaum?«

Alle tauschten sie unschuldige Blicke aus. Den Moment nutzte Dini und verabschiedete sich ins Bett. Ihr wurde es allmählich zu kalt.

Bis auf Ando, legte ein jeder noch etwas Holz nach. Gleich musste Tolu sie bremsen. Schließlich sollte der Brennstoff diese Nacht noch etwas länger ausreichen.

Die Flammen wuchsen langsam empor. Es wurde wieder wärmer und stiller. Man lauschte dem Knistern des Holzes und beobachtete wie hypnotisiert die tänzelnden Flammen. Mit der Zeit rutschten sie etwas zusammen. Tomas eisblaue Augen funkelten, als er sich gediegen ruhig mit vollem Krug in beiden Händen an Andored wandte.

»Stellst du Alexa keinen Baum?«

Die rechte Braue des Elben zuckte nach oben, worauf er ihn schräg aus dem Augenwinkel argwöhnisch betrachtete.

»Ich glaube, bei euch beiden ist die Luft raus, was?«, meinte Monty zu wissen. »Aber wie sieht es mit Xarfael aus?«

Ando legte den Kopf langsam in den Nacken, während er den hinaufstiebenden Funken bis in den wolkenfreien Nachthimmel folgte. »Wird schwierig werden, einen Baum dort hinauf zu schaffen. Ich hab ja nicht mal ihre Adresse«, sagte der Elb trocken scherzend.

Ja, die Vorstellung brachte sie zum Lachen.

Kurz darauf stupste Medjev ihn mit dem Ellbogen an. »Gut, dass du mit dieser Welina nichts angefangen hast.«

Diesmal beäugte der Elb ihn närrisch.

Tolu sprang für ihn ein. »Man kann den Leuten nur vor den Kopf gucken, Medjev«, sagte er besänftigend. »Und unser Ando hatte es wohl schon im Pipi, dass mit ihr etwas nicht stimmt.« Plötzlich wandte sich der Zwerg zu allen Seiten nach hinten und sah sich nervös um. Ein Vogel hatte schon länger mehrmals gekrächzt. Irgendwo im Dunkeln schlawenzelte eine Krähe umher.

»Wo ist der Kater, wenn man ihn braucht?«, seufzte der Zwerg und widmete sich wieder seinen Freunden am Lagerfeuer. »Ist noch etwas Teig da?«

Grinsend reichte Monty ihm die zweite Schale. Seinen Stock hatte er gerade neu mit Hefeteig bestückt. Es gab eine letzte Runde. Denn schließlich wollten sie vermeiden, dass sich Ando erneut zur Diva verwandelte.

Nach einer Weile, indessen sie ihr Stockbrot in der Hitze des Feuers backen ließen, war es Andored, der nun ein seltsames Geräusch vernahm und sich öfter nach hinten umsah. Ob das wohl immer noch die Krähe war?, fragte er sich voller Argwohn. Als der aufmerksame Tolu sich bei ihm erkundigte, was denn los sei, teilte Andored seine Wahrnehmung mit ihnen. Zu seinem Verdruss taten sie es alle ab und schoben es auf die für sie scheinbar einzige Erklärung, es sei eben die Krähe. Den Elb beschlich das Gefühl eines Déjà-vus, konnte sich aber partout nicht an eine andere Situation erinnern. Dabei tappte er mit seinen Gedanken völlig im Nebel.

Endlich hörte auch Tolu etwas, das er als einen merkwürdigen Ton bezeichnete. »Klingt irgendwie doch nicht wie ein Vogel«, richtete er sich überraschend auf und spitzte die Ohren.

Tatsächlich konnte man es mittlerweile deutlicher hören. Flap-flap, flap-flap ..., machte es ununterbrochen.

Das schlagende Geräusch ließ sie plötzlich alle aufhorchen und verwirrt umherschauen, suchend nach dessen Ursprung. Sie warfen sich fragende Blicke zu und wunderten sich doch sehr. Das Flattern näherte sich gemächlich und gelegentlich gesellte sich nun ein Quietschen dazu. Da sie aus ihrer unmittelbaren Umgebung nicht ausmachen konnten, woher die Töne kamen, sahen sie hinauf in den abendlichen Himmel.

Und dort entdeckten sie mit Staunen den Übeltäter. Obwohl sie das Gerät bereits kannten, vielleicht auch, weil der Konstrukteur dieser Maschine es stets modifizierte, war es eben ein sehr ungewohnter Anblick. Solch ein Flugobjekt bekam man dieser Tage tatsächlich so gut wie nie zu sehen. Gelegentlich mal einen Ballon. Aber auch diese waren recht selten am Himmel vertreten.

Dabei handelte es sich um nichts Geringeres, als ein Luftschiff, das durch einen länglichen Ballon mit Wärme für den Auf-, und einen über Pedalen und Kette betriebenen Propeller für den Vortrieb gesteuert wurde. Als Rumpf diente ein altes Ruderboot, welches über dicke Taue mit dem Ballon verbunden war. Über eine Klappe oberhalb des Ballons sorgte die Abluft zum Sinkflug.

Ein helles Gesicht beugte sich über den Rumpf und lächelte freudig zu ihnen herab.

»Wir sind doch noch rechtzeitig angekommen, Peet!«, stellte der Kerl nüchtern fest und warf ihnen dann etwas herunter. »Könnt ihr die beiden Seile fest machen, ja?«

»Sehr wohl, Vetter!«, rief Tolumirantos strahlend. »Ando, zapf den beiden mal ein frisches Bier. Die anderen, kommt mit!«, befahl er, bevor er sich mit seinen Freunden daran machte, die Seile einzufangen und mit den daran befestigten Eisenheringen im Boden zu verankern.

Kurz darauf kamen Franje und Peet über eine Strickleiter hinunter geklettert und sie begrüßten sich einander herzlich.

»Kann ja nicht sein«, polterte der junge Zwerg gespielt. »Eine Mainacht ohne uns? Hab Leberkäse und ein Fass Bier dabei. Dachte, ihr seid vielleicht hungrig.« Warum nur, fokussierte der blonde Zwerg gerade Andored etwas länger, als die anderen, während er das sagte?

Verlegen reichte der Elb ihm seine Krug und stieß als erster mit ihm an. »Prost!«

»Prost! Auf die Mainacht!« Der Jüngere der beiden Von Prommerns schien sehr durstig zu sein, denn er leerte den Inhalt in einem Zug. Peet war da etwas genügsamer.

Jetzt war der Abend perfekt. Der Leberkäse kam auf den Grillrost, nachdem sie die Glut gleichmäßig verteilt hatten und später schürten sie ein neues Feuer darin. Somit blieb es schön gemütlich durch die Feuerstelle, wenn auch Ando sich trotz Widerspruch in der Früh als erster auf dem Heimweg machte.

Jedenfalls war die Aufregung um die Wahlplakate vorerst verflogen.

4. Le petit Café

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