Die Tragödie des Episodischen - André Schwarck - E-Book

Die Tragödie des Episodischen E-Book

André Schwarck

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Beschreibung

Im dominierenden chronologisch-linearen Zeitmodell des abendländischen Denkens ereignen sich Geschehnisse immer schon aus einer übergeordneten zeitlich-chronologischen Ordnung heraus und fallen in die linear verfasste Zeit ein. Damit trifft eine offene, als Linie gedachte Zeitdimension innerhalb der Erzählung auf eine geschlossene, zirkuläre Zeitstruktur, deren unauflösbarer Widerstreit im theoretischen Fokus dieser Arbeit steht. Mit Rekurs auf theoretische Arbeiten von Ricoeur und Bachtin wird aufgezeigt, dass es sich bei diesem Widerstreit in modaler Hinsicht um den zwischen einer als ereignishaft und ereignisoffen konzipierten Kontingenz und eines als notwendig und determiniert verstandenen Zufalls handelt. In einer anschließenden Lektüre des Romans Tristram Shandy (1759-1767) von Laurence Sterne, insbesondere der Erzählung von Onkel Toby, zeigt die Arbeit im Weiteren auf, inwiefern sowohl das Genre der Tragödie als auch das der abenteuerlichen Romanze im Text zwei konkrete gegnerische Widerlager bilden, mit deren gegenseitiger Konfrontation die narrativen Manifestationen der Aporien von Zeit und Kontingenz minutiös ausgeleuchtet werden können. Es wird rekonstruiert, inwiefern der Roman sowohl das Etablieren von einfachen Erzähllinien als auch ihr Scheitern erzählt.

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Schwarck

Die Tragödie des Episodischen

KIELER BEITRÄGE

ZUR ANGLISTIK UND AMERIKANISTIK

Neue Folge

Herausgegeben von

Konrad Groß

Anna-Margaretha Horatschek

Jutta Zimmermann

Band 27 — 2012

André Schwarck

Die Tragödie des Episodischen

Kontingenz und Zeitlichkeit

in Laurence Sternes Tristram Shandy

Königshausen & Neumann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 8

© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2012

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier

Umschlag: skh-softics / coverart

Bindung: Zinn – Die Buchbinder GmbH, Kleinlüder

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

ISBN 978-3-8260-4795-4

www.koenigshausen-neumann.de

www.buchhandel.de

www.buchkatalog.de

Meiner Familie

Danksagungen

Die vorliegende Arbeit wurde im Mai 2009 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen.

Mein erster Dank gebührt Prof. Dr. Anna-Margaretha Horatschek, die diese Arbeit als Erstgutachterin betreut hat. Sie hat mich die ganze Zeit über unterstützt und mir Vertrauen und Geduld entgegengebracht, nicht zuletzt ob der oftmals kontingent-ereignishaften ‘Momente’ des Zustandekommens dieser Arbeit. Für die hilfreiche Unterstützung danke ich auch meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Martin Klepper, außerdem Prof. Dr. Konrad Groß, Prof. Dr. Jutta Zimmermann und Prof. Dr. Anna-Margaretha Horatschek für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Kieler Beiträge zur Anglistik und Amerikanistik.

Besonderer Dank gehört all den Kollegen und Mitarbeitern des Englischen Seminars und anderer Einrichtungen der Universität Kiel, die mich fachlich und freundschaftlich die Jahre der Bearbeitung über begleitet und unterstützt haben, insbesondere Angelika Messner, Kai Merten, Susan Winnett, Barbara Röckl, Antje Kley, Ulrich Kinzel, Claus-Michael Ort sowie meinem ehemaligen Kommilitonen und langjährigen Freund Frank Zimmer.

Ich danke meinen geduldigen, hilfsbereiten und kompetenten Korrekturlesern: Friederike Braun, Kai Merten, Barbara Röckl, Uwe Vosberg, Angelika Messner und Kerstin Howaldt, die mir insbesondere beim Satz und der abschließenden Einrichtung zum Druck der Arbeit geholfen hat.

Mein herzlicher Dank gebührt außerdem Dr. Walter T. Rix, der jahrelang Vertrauen in meine wissenschaftlichen Fähigkeiten gesetzt hat und mich nicht zuletzt durch seine Begeisterung für Laurence Sterne ermutigt hat, jene an dessen Werk auszuprobieren.

Für ihre Unterstützung und Geduld danke ich von ganzem Herzen meiner Familie, besonders meinen lieben Eltern, die immer an mich glauben. Ich danke besonders Ursel und Jens Wolters für ihre Hilfsbereitschaft, meiner Tochter Merle und meinem Sohn Theo für ihre großen Herzen. Unermesslicher Dank gebührt Martina Wolters für ihre Liebe und Geduld.

But in this clear climate of fantasy and perspiration, where every idea, sensible and insensible, gets vent—in this land, my dear Eugenius—in this fertile land of chivalry and romance, where I now sit, unscrewing my ink-horn to write my uncle Toby’s amours, and with all the meanders of JULIA’s track in quest of her DIEGO, in full view of my study window—if thou comest not and takest me by the hand——

What a work is it likely to turn out!

Let us begin it.

Inhalt

1. Zufall und Kontingenz in der Narratologie

1.1 Einführung

1.1.1 Das Denken ‘der Zeit’

1.1.2 Kontingenz und Narratologie

1.2 Der Zufall als die Aporie der Kontingenz

1.2.1 Kontingenz und Zufall in der Metaphysik

1.2.2 Kontingenz und Handlung

1.3 Aporien der Zeit

1.3.1 Irreversibilität vs. Zeitumkehr

1.3.2 Räumliche Bewegung vs. selbstreflexive Zeitlichkeit

1.3.3 Zeitmodi

1.3.4 Die historische Dimension am Beispiel von Luhmann

1.3.5 Fazit

1.4 Genretheoretische Reflexionen: Bachtin und Ricœur

1.4.1 Ricœur: Logifizierung der ephexēs in der Poetik des Aristoteles

1.4.2 Bachtin: Finale und episodische Geschlossenheit in der Romanze

1.4.2.1(Äußere) Beschreibung des Abenteuerromans

1.4.2.2 (Innere) Beschreibung des Abenteuerromans

1.4.2.3 Bewegung im Raum: Der ‘Weg’ und die ‘Begegnung’

1.4.2.4 Die finale Begegnung

1.5 Zusammenfassung und Ausblick

2. “Mulo lentè progrediente” – Die Fabel des Slawkenbergius

2.1 Marsch durch Straßburg: Begegnung durch Nichtkontakt

2.2 Verhinderte Episodizität

2.3 Verhinderte Finalität: Das Schicksal der Straßburger

2.4 Doppelplot mit gedoppelter Determination

3. Band 1 & 2 – Onkel Tobys determinierende Wunde

3.1 “Closure” & “Circularity”: Tobys Erzählung als Strukturprinzip?

3.2 Nichtlineare Setzung und lineare Erzählung

3.2.1 Erste “out-lines” von Onkel Toby

3.2.2 Die Zeitlichkeit der “unparallel’d modesty of nature”

3.2.3 Tobys hobby-horse als das Medium der straight line

3.3 Tobys erste Reitversuche

3.3.1 “Retrogradation”: Tobys ‘Sturz’

3.3.2 “’twas unexpected” – Vermeintliches ‘Absitzen’

3.2.4 “Sudden demigration” – Toby galoppiert

4. Band 6 – Tobys “Track of Happiness”

4.1 Episodische Chronologien: Die “campaigns”

4.2 Bedrohte Sukzession: Die Einführung der Gleichzeitigkeit

4.3 Vorbereitungen für Tobys Übergang ins Liebesgenre

4.3.1 Toby als Anti-Held der Liebeserzählung

4.3.2 Plötzliche Suspension der campaigns

4.4 Das System der Liebe: Tristrams Diskurs der Narration

5. Band 7 – Flucht und Überwindung

5.1 The Flight – Tristrams Flucht vor dem Tod

5.1.1 Kontingenz als plötzliche Unterbrechung: Der Tod

5.1.2 Metaphorik der Schwindsucht als traumatisches Erzählen

5.1.3 Allegorische Begegnung mit dem Tod

5.1.4 Der Fluchtplan

5.2 Von Dover nach Lyon: Tristrams sukzessive Eile

5.2.1 Dover-Calais: Eine prekäre Überfahrt

5.2.2 Calais – Paris: Sukzession und väterlicher Einfluss

5.2.3 Paris – Die väterliche Formalisierung des Zählens

5.3 Lyon – Tristrams Pilgereise

5.3.1 Auxerre – Auftakt durch die Verschränkung der Zeitmodi

5.3.2 “Sights to See!” – Tristrams geplante Episoden

5.3.3 Das ‘Tomb of the Lovers’ als Matrix der Romanze

5.3.4. “The poor ass”: Prekäre episodische Offenheit

5.3.5 “The commissionary” – Die Staatliche Taxierung der Kontingenz

5.3.6 “The missing remarks” – Die Dissipation der väterlichen Linie

5.3.7 Die Aufhebung der koinzidentiellen Gebundenheit

5.4 Temporäre Aufhebung der Aporien: Tristrams Plain Stories

5.4.1 Erneuter Reisemoduswechsel

5.4.2 Supplement des Todes: Die Inversion der Inversion

5.4.3 Tristrams ‘Uchronie’: Auflösung der Aporien der Zeit

5.4.4 Plain Stories – Unabwendbare Erzählerintervention

6. Band 8 – Toby verfällt der Liebe

6.1 Die asymmetrische Ausgangsposition

6.1.1 “The Armistice”: Die Zeit des Noch Nicht

6.1.2 “Vacancy”: Witwe Wadman als Plotterin

6.1.3 Wadmans Plan: Das provokative Potenzial der Gleichzeitigkeit

6.2 Vom Krieg zur Liebe – “The Story of the King of Bohemia…”

6.2.1 Reprise der “Demolition of Dunkirk”

6.2.2 Dreifache Meditation der Kontingenz in der Erzählung

6.2.3 Kontingenz auf der Figurenebene

6.2.4 Kontingenz und die doppelte Ebene des Erzählens

6.3 Trim verfällt der Liebe

6.3.1 Die Schlacht bei Landen – Trims Kriegsgeschichte

6.3.2 Die junge Beguine – Trims Liebesgeschichte

6.4 “The second blow”: Toby verfällt der Liebe

6.4.1 Der Angriff der Witwe Wadman

6.4.2 Das Platzen der Blase als objektive Gleichzeitigkeit

7. Band 9 – Die Tragödie des Episodischen: Tobys “Courtship”

7.1 “Marching up to Mrs. Wadman’s door”

7.2 Tobys Schock: Die Tragödie der ephexēs: Episodizität trifft Plot

7.2.1 Die erste Episode: Tobys Confession of Love

7.2.2 Die zweite Episode: Tobys Marriage Proposal

7.2.3 Die letzte Episode: The Map of Namur

7.2.4 Trims Eroberung: Der verhängnisvolle Doppelplot

7.2.5 “The shock”: “Let us go to my brother’s house”

Schlusswort

Bibliographie

1. Zufall und Kontingenz in der Narratologie

1.1 Einführung

1.1.1 Das Denken ‘der Zeit’

“Musste man die Zeit denken?” Mit dieser Frage versucht der französische Philosoph und Sinologe François Jullien in seiner Schrift Über die ‘Zeit’ einen Standpunkt einzunehmen, der es ihm erlaubt, das okzidentale Denken der Zeit von einem “Außerhalb” (13) zu betrachten. Dieses ‘Außerhalb’, so glaubt er, könnte das chinesische Denken sein, denn China, so Jullien, habe zwar “den jahreszeitlichen ‘Moment’ und die ‘Dauer’ gedacht, nicht aber eine Hülle, die sie beide enthielte und welche die homogen-abstrakte ‘Zeit’ wäre” (10).1 Wenn der europäische Philosoph seinen Blick auf China richtet, so hofft Jullien, dann frage er sich womöglich, was das für ein Denken sei,

das weder die ‘Körper’ in ‘Bewegung’ gedacht hat, also das, was Ausgangspunkt unserer Auffassung von physikalischer Zeit, von der ‘Zahl der Bewegung’ ist, noch das, woraus die Metaphysik entsteht, nämlich die Entgegensetzung von Zeitlichem und Ewigem oder Sein und Werden, und dessen Sprache es schließlich durch Verzicht auf Konjugation vermeidet, Zeiten, also Futur, Präsens und Vergangenheit, gegeneinander zu stellen?

Julliens primäre Absicht besteht offenbar darin, nach einer Alternative zum bzw. im Denken der Zeit zu fragen (10). In obigem Zitat führt er die für ihn wichtigen drei “Ebenen” (15) des okzidentalen Verständnisses der Zeit auf, mit denen die westliche Philosophie sich in ihrem Denken der Zeit eingerichtet habe: “die der Physik, wo die Zeit dazu dient, die Bewegung zu denken; die der Metaphysik, wo das Zeitliche in Opposition zum Ewigen aufgefaßt wird; die Grammatik, wo die Zeit durch die unterschiedlichen Tempora der Konjugation definiert wird” (15). Jullien zufolge sind diese drei Grundvorstellungen so verschiedenartig und inkommensurabel, dass die unvermeidlichen Aporien, die sich in ihrem reflexiven Übereinanderblenden einstellen, mittlerweile zu Gemeinplätzen des philosophischen Denkens geworden sind:

Wenn ich mir aber die Mühe gemacht habe, diese Gemeinplätze erneut durchzugehen, dann um zwei Dinge zu zeigen oder vielmehr zu verbinden: einerseits das von aller Welt Gewußte […], nämlich daß die Zeit, trotz ihrer scheinbaren, durch althergebrachten Gebrauch gestützten Evidenz, philosophisch notwendigerweise ein enigmatischer Ort ist; und andererseits, daß unsere Diskurse über sie sehr schnell zu erstarren pflegen. […] Diese verschiedenen Furchen, zwischen denen sich die Frage der Zeit entfaltet hat, erweisen sich als ausgetretene Pfade, als Routine – als Gewohnheit. (17)

Die vorliegenden Überlegungen zum Zusammenhang von Zeit und Erzählung werden sich ebenfalls entlang dieser “Furchen” bewegen. Und zwar insofern, als mit der im Hauptteil vorgelegten Lektüre von Laurence Sternes Tristram Shandy diese verschiedenen Ebenen des linear-chronologischen Denkens der Zeit bewusst übereinander geblendet werden sollen. Analog zu Jullien ließe sich nämlich für das Denken der Erzählung fragen: “Müssen Ereignisse erzählt werden?” Paul Ricœur hat bekanntlich genau diese Frage in einem anthropologischen Sinne bejaht, insofern er daran glaubte, dass nur die Erzählung, aufgrund ihrer spezifischen narrativen Verfasstheit, den Aporien des Zeitdenkens eine Antwort zu geben vermag. Diese von Ricœur vollzogene Zusammenstellung von Zeit und Erzählung wird in den folgenden theoretischen Überlegungen einen wichtigen Leitgedanken darstellen. Mit Ricœur soll die Annahme geteilt werden, dass die von Jullien aufgezählten unterschiedlichen Sichtweisen der Zeit in der ‘Erzählung’ ihr aporetisches Potenzial entfalten, weil sie in diesem Medium immer schon aufeinander bezogen sind, ohne ihre Widerstreitigkeit dabei zu verlieren. Vorgreifend könnte mit Rekurs auf Jullien die ‘Erzählung’ auch als eine Art kulturelles Artefakt bezeichnet werden, das in seinem Gebrauch stets den Anlass gegeben hat, den von ihm beschriebenen Übergang von enigmatischem Phänomen zu routinierter Reflexion der Zeit immer wieder zu vollziehen. Die Erzählung wäre demnach ein Ort, in dem sich die von Jullien bezeichneten “ausgetretenen Pfade” immer wieder hartnäckig miteinander verschränken und eine Reflexion der Zeit stets aufs Neue provozieren. Dies wäre für sich genommen wohl noch keine genuin neue Erkenntnis. Die narratologische Forschung hat sich schließlich spätestens sei Genette vornehmlich mit grundlegenden temporalen Konstellationen beschäftigt, und die Literaturgeschichte des Romans ist immer wieder als eine Art Reflexion des Genres auf seine eigene temporale Verfasstheit beschrieben worden.

Das grundlegende Desiderat jedoch ergibt sich aus der nahezu ausschließlichen Vernachlässigung modaler Verhältnisse. Weder Jullien noch Ricœur stellen die von ihnen konstatierten aporetischen Spekulationen der Zeit in einen näheren Zusammenhang zur modalen Kategorie der Kontingenz. Eben dies unterlässt auch die traditionelle narratologische Forschung. Wenn etwa Ricœurs Annahme stimmen sollte, dass die Erzählung immer schon aporetische Strukturen der Zeit auf ihre Weise reflektiert, dann kann dies nur hinreichend erfasst werden – so die grundlegende These der vorliegenden Arbeit –, wenn diese Aporien auch in Hinsicht auf eine basale modaltheoretische Dimension beschrieben werden. Das chronologisch-lineare Zeitmodell des abendländischen Denkens ist immer auch schon eines, in dem sich Ereignisse aus einer übergeordneten zeitlichchronologischen Ordnung heraus (als eine “Hülle” der Zeit, um es mit Jullien auszudrücken) ereignen und in die linear verfasste Zeit (der Bewegung) einfallen. Eine offene, als Linie gedachte Zeitdimension trifft innerhalb der Erzählung schon immer auf eine geschlossene, eher zirkuläre Zeitdimension, deren unauflösbarer Widerstreit nur mit einer ereignishaften Verschränkung noch näher zu bestimmender modaler Bestimmungen erfasst werden kann. Ganz gleich, welche Dichotomien in der Erzählung antagonistisch aufeinandertreffen ob Sukzession vs. ‘fließende Bewegung’, Kontinuität vs. Diskontinuität, Irreversibilität vs. Reversibilität oder Indeterminiertheit vs. Determiniertheit, es ist immer der modal-temporale Widerstreit zweier gänzlich unvereinbarer Entitäten, die gleichwohl auf einander bezogen werden müssen. Es ist der Widerstreit zwischen einer als ereignishaft und ereignisoffen konzipierten Kontingenz und eines als notwendig und determiniert verstandenen Zufall. Onkel Toby wird im Tristram Shandy an einer zentralen Stelle seines eigenen Schicksals ganz unbedarft und naiv sagen “—’twas a matter of contingency, which might happen, or not, just as chance ordered it” (693).

1.1.2 Kontingenz und Narratologie

Die vorliegende Arbeit geht von der grundlegenden Annahme aus, dass es sich bei einer Erzählung um ein Ordnungsmodell von einzelnen zeitlichen Ereignissen handelt. Das setzt wiederum voraus, dass mit der Verhandlung von einzelnen Ereignissen im Sinne offener Eventualitäten und einem wie auch immer verfassten übergeordneten Ordnungsprinzip zwei absolut unterschiedliche Dimensionen die Erzählung prägen. Diesen wohl unstrittigen Zusammenhang erläutern etwa Matias Martinez und Michael Scheffel in ihrer Einführung in die Erzähltheorie anhand der von ihnen vornehmlich vorgestellten Ansätze strukturalistischer Provenienz. Demnach bestimmen auch Vertreter solcher Ansätze innerhalb der Erzähltheorie die Aspekte der zeitlichen Ordnung und der erzählten Abfolge von Ereignissen als die beiden konstitutiven Aspekte einer Erzählung. Dabei wird Letztere meist nicht nur in ihrer reinen Sequenzialität erfasst, vielmehr soll an der zu beschreibenden Folge bzw. Verknüpfung der erzählten Ereignisse eine spezifische ‘Veränderung’ – ein ‘change of states’–ablesbar sein. Traditionell werden hierbei bekanntlich nicht nur temporale, sondern meist auch kausal motivierte Verknüpfungsprinzipien bei der Erstellung analytisch-narratologischer Kategorien und Begriffe berücksichtigt. Sieht man einmal von kausalen Zusammenhängen ab und betrachtet hinsichtlich der begrifflichen Beschreibung eines narrativen Ereignisses primär temporale Verknüpfungsprinzipien wie ‘Anfang’ und ‘Ende’ oder ‘früher’ und ‘später’, dann fällt laut Martinez und Scheffel auf, dass solche Begriffe nur verwendet werden können, wenn eine epistemische (oder auch kognitive) Position eingenommen wird, “die dem beschriebenen Ereignis gegenüber zukünftig” (121) ist. Das gesamte Geschehen der erzählten Welt kann als bereits ‘vergangen’ bezeichnet werden, “insofern es von Anfang an als abgeschlossenes Ganzes aufgefasst und im Präteritum erzählt wird, als chronologische Gestalt, in welcher bereits der Anfang sinnhaft auf das Ende bezogen ist” (119). Trotz dieser offenbar konstitutiven ‘Geschlossenheit’ einer jeden Erzählung lässt sich aber auch beobachten, dass die meisten Texte ihre größte Spannung dann entfalten, wenn sie das dargestellte Geschehen als ein offenes und gegenwärtiges erfahrbar machen. Dem Leser wird es mehr oder weniger ermöglicht “die Figuren als in das Geschehen der erzählten Welt verstrickte Personen” (119) zu verstehen. Für ihn stellen sie dann potenziell Handelnde dar, die als Unwissende in eine offene Zukunft blicken, die sie jedoch ihren eigenen Möglichkeiten gemäß zu beeinflussen suchen. Matias Martinez und Michael Scheffel nennen diese vermeintlich paradoxe Struktur geschlossener und offener Ordnungen die “doppelte Zeitperspektive des Erzählens” (119).2

Spätestens seit Genettes triadischer Einteilung der Erzählung in histoire, discours und narration schienen die analytisch-heuristischen Grundlagen aufgestellt zu sein, um die theoretischen Komplikationen dieser beiden perspektivisch konträren zeitlichen Ordnungen beschreiben zu können. Jedoch wurde in grundlegenden Gegenstandsbestimmungen der Erzähltheorie oftmals das Verhältnis von histoire- und discours-Ebene zum ausschlaggebenden Kriterium des ‘Narrativen’ erklärt. Dabei war für die histoire meist der die chronologische Geschlossenheit suggerierende Strukturbegriff ausschlaggebend. Die discours-Ebene wurde hingegen mit Begriffen wie Repräsentation oder Medium erfasst und somit indirekt auf die histoire-Ebene bezogen, wenn nicht gar aus ihr abgeleitet, je nachdem wie stark in ihr das anachronistische Ordnungspendant der histoire gesehen wurde.3 Dies geschah nach Ansicht einiger Kritiker vor allem zuungunsten der als temporal vorgängig gedachten Ebene der Narration, die in der Trias von Genette als diejenige Dimension erscheint, mit der die als ‘offen’ und ‘ereignishaft’ wahrgenommenen erzählten Ereignisse am angemessensten erfasst werden können. Die entscheidende Kategorie, auf die sich diese Kritiker dabei berufen, ist der modale Begriff der ‘Kontingenz’. Zwei argumentative Beispiele, die das Anliegen einer solchen Kritik demonstrieren, seien hier kurz vorgestellt.

Eine vehemente Kritik gegen die strukturalistische Erzähltheorie führt David Wellbery in seinen Aufsätzen “Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs” und dem englischsprachigen “Contingency” (beide 1992) aus, in denen er ein ausdrückliches Plädoyer für die Berücksichtigung des Kontingenzbegriffs in der Erzähltheorie vorträgt. Seiner Meinung nach gibt es innerhalb der Erzählforschung einen umfassenden Konsens darüber, dass das Feld des Narrativen in seiner Einheit durch den Begriff der ‘Handlung’ gewährleistet sei und diese wiederum in ihrer inneren Struktur die Form eines Satzes habe. Diese Bestimmung sei nun ihrerseits als zirkulär anzusehen, da sowohl der ‘Satz’ als auch die ‘Handlung’ nichts anderes seien als “die zeitlich-lineare Entfaltung einer Intention oder eines Projekts, die am Ende das verwirklicht, was am Anfang schon vorgesehen war” (“Relevanz des Kontingenzbegriffs”, 167). Demnach würde allem, was im Verlauf der Narration vorkäme – und es ist genau diese Ebene, deren theoretische Implikationen er vernachlässigt sieht – durch eine gewisse Ökonomie ein vorbestimmter Platz zugewiesen und so “die narrative Zeit aus dem überzeitlichen Standpunkt einer Vor- und Rücksicht organisiert” (167). Dieser logifizierten Zeitvorstellung und zirkulären Theorie des Narrativen setzt Wellbery eine achrone Ordnung der Kontingenz entgegen. Polemisch fordert Wellbery “die Zirkularität der Handlungsdefinition aufzubrechen und das Narrative auf sein Anderes zu öffnen; auf die Dimension des jäh eintreffenden Zufalls” (167). Mit der bekannten poststrukturalistischen Argumentation, dass ein theoretisch erfasster Einheitsbegriff seine vermeintliche Geschlossenheit nur aufrechterhalten kann, indem das durch ihn ‘Ausgeschlossene’ zur Möglichkeitsbedingung eben dieser Geschlossenheit avanciert, postuliert er weiter: “Narrative Ordnung ist nur als begrenzte möglich, begrenzt durch eine Nicht-Narrativität, die aus einem Feld disjunktiver Möglichkeiten diese eine selegiert […] Ohne eine solche Selektion gäbe es keine Ereignisse, die sich in narrativen Sequenzen verketten ließen, aber diese Selektion selber – die Tatsache, dass dies und nicht etwas anderes geschieht – gehört keiner Chrono-logik an” (168).

Eine ähnliche, wenn auch von einem weitaus traditionelleren Standpunkt aus argumentierende Kritik einer solchen ‘geschlossenen’ Theorie des Narrativen findet sich in den Arbeiten des amerikanischem Slavisten G.S. Morson.4 Er sieht in den traditionellen poetologischen Konzepten die Tendenz, das Kontingente stark zu marginalisieren bzw. gänzlich aufzuheben. Für ihn sind ‘Struktur’ und ‘Geschlossenheit’ zwar unbestreitbare Gegebenheiten von Erzählungen, jedoch geht es ihm in seinen Untersuchungen vorwiegend darum, das Bestreben literarischer Texte aufzuzeigen, die Zeit, trotz der Tendenz narrativer Geschlossenheit, als eine offene Dimension zu präsentieren. Dabei hebt er hervor, dass auch in der poetologischen Tradition Bedeutung in Erzählungen immer im Zusammenhang mit dem Herauslesen der jeweiligen Ereignishaftigkeit (“eventfulness”) verbunden wurde (“Sideshadowing and Tempics” 600). Jedoch wird ihm zufolge durch die synchrone Struktur der Werke die offene Zeit derart verräumlicht, dass wirkliche ‘eventfulness’ nur noch im übertragenen Sinne für die Figuren des Textes fortbestehe. Infolgedessen wird die Zeit auf eine solche Weise symmetrisiert, dass jedes Ereignis in einem festen und funktionalen Verweisungszusammenhang zu anderen Ereignissen stehe. Die von Morson herangezogene Gegenfolie ergibt sich aus den zeitlich-modalen Verhältnissen des wirklichen Lebens. “But in Life, and for most novelistic characters, time is asymmetrical. While the past is fixed, the future is experienced as open and the present possesses real presentness, in which the weight of chance and choice may lead to many different outcomes” (600). Dieses Idealbild des offenen und kontingenten wirklichen Lebens wird dann bei Morson im Sinne eines spezifischen “realism” wieder an die Texte herangetragen. Der Autor muss entsprechend die geschlossenen Strukturen der Erzählung immer schon durch sein künstlerisches Können überwinden; mustergültig habe dies etwa Dostojewskij gezeigt, der sich Morson zufolge als ein “extreme devotee of realism” der Aufgabe verpflichtet habe “to represent the radical contingency of the world” (599). Im Gegensatz dazu wendet sich Morson gegen einen affirmativen und normierenden Gebrauch geschlossener Strukturen seitens der Romanautoren. Um dem entgegenzuwirken, entwickelt er eine Lesetechnik – die er mit dem Neologismus tempics bezeichnet – welche die Implikationen, die von den Phänomenen ‘Zeit’ und ‘Kontingenz’ ausgehen, bei der Lektüre berücksichtigt (“as a way of reading that takes time and contingency seriously” [599]).

Sowohl anhand Wellberys dezidierter Forderung nach einer Berücksichtigung des ‘achronischen Zufalls’ – bei einer noch ausstehenden Etablierung poststrukturalistischer narratologischer Theoreme innerhalb der Erzähltheorie – als auch anhand von Morsons eher pragmatisch bezogener Lektürekonzeption der tempics sollte deutlich geworden sein, inwiefern die theoretische Reflexion der konträren Ebenen offenen und geschlossenen Erzählens zu fundamentalen und komplexen erzähltheoretischen Grundfragen führen kann. Insbesondere bei Wellbery ist zu erkennen, dass die Parteinahme für die Berücksichtigung der narrativen Darstellung gegenwärtiger, offener und dem Zufall ausgesetzter Momente bei der narratologischen Analyse unmittelbar zu meta-narratologischen Überlegungen verleitet, die die Grenzen der theoretischen Beschreibbarkeit des Narrativen überschreiten. Um dem geschlossenen Ordnungsbegriff der Handlung etwas entgegen-zusetzen, verlässt Wellbery die narrative Ordnung der Erzählung und wendet sich der ihr vorausgehenden Ebene der Selektion der narrativen Elemente zu. Doch es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Selektion der erzählten Ereignisse kontingent ist, da die Wahl eines jeden ausgewählten Erzählereignisses auch anders hätte ausfallen können. Wellbery wendet sich also von außen der chronologischen Ordnung zu, um den Kontingenzbegriff zu statuieren.

Ähnlich verfährt auch Morson. Auch wenn seine Befunde über das Verhältnis zwischen offener und geschlossener Dimension des Erzählens zum Teil sehr aufschlussreich sind, insofern sie wechselseitige Spannungen innerhalb der Erzählung erläutern, so versucht auch er außerhalb der Erzählung eine Art Gegenrezept gegen die sich durchsetzende geschlossene Dimension des Erzählens zu finden. Ein solches vermutet er in den ‘realen Verhältnissen von Zeit und Kontingenz des wirklichen Lebens’. Das wahre Leben bildet sozusagen seinen (manchmal recht ideologischen) Ausgangspunkt, mit dem er sich gegen die Erzählung und ihre geschlossene Struktur wendet.5 Dies wirkt zuweilen ein wenig naiv, und Morsons Lektüren erscheinen gelegentlich wie eine Art kontingenztheoretischer Denkmalpflege, bei der es ihm vornehmlich um pragmatische Fragen des Umgangs mit der Literatur geht. So preist er etwa die Werke von Autoren, die ohne vorgefertigten Plan in einzelnen, seriellen Produktionsschritten entstanden sind und so eine spezifische Ausgangsoffenheit der Geschichten aufzeigen.6

Den im folgenden von mir ausgeführten Reflexionen liegt die Prämisse zugrunde, dass mit dem klassischen Erzählmodell, welches sich literaturgeschichtlich vor allem im Genre des Romans durchgesetzt hat, die Fragen von Zeit und Zufall bzw. Kontingenz immer schon konzeptionell angelegt sind, insofern die doppelte Zeitperspektive des Erzählens die traditionellen Aporien des Denkens der Kontingenz und der Zeit auf eine noch genauer zu erläuternde Art und Weise medial verhandelt. Sowohl temporale als auch modale Offenheitskonzepte werden erst in einer spezifischen Auseinandersetzung mit der geschlossenen Ebene innerhalb der Erzählung erzeugt und müssen deshalb auch narrativ etabliert werden. Angesichts dieser Prämisse wirken Versuche, die offene Dimension entweder erzähltheoretisch durch von außen herangetragene theoretische Modelle zu erhalten oder durch literarische Pflegemaßnahmen im pragmatischen Umgang mit diesen Erzählungen zu konservieren, relativ ausweglos. Vielmehr gilt es zunächst, die inneren Mechanismen des traditionellen Erzählmodells daraufhin zu beleuchten, inwiefern sich in ihnen die aporetischen Grundfragen von Zeit und Kontingenz narrativ wiederfinden lassen (vgl. Abschnitt 1.2). In einem zweiten Schritt sollen dann die wichtigsten Aporien und Probleme im Denken von Kontingenz und Zeit – vor allem auch in ihrer gegenseitigen Verschränkung – skizziert werden (vgl. Abschnitt 1.3). Zuletzt gilt es dann, deren Niederschlag im traditionellen Erzählmodell anhand von zwei spezifischen Beispielen aufzuzeigen. Hierfür wurde das aristotelische Tragödienmodell gewählt, wie es in der Lektüre von Paul Ricœur zum Ausdruck gebracht wird, sowie der abenteuerliche Liebesroman (Romanze), wie ihn Bachtin in seiner griechischen Urform zu Beginn seiner romantheoretischen Schrift Chronotopos beschrieben hat (vgl. Abschnitt 1.4).

Im abstrakten Sinne können diese beiden Beispiele nur sehr grob die möglichen Ausprägungen bzw. Koppelungen aufzeigen, nach denen sich modaltheoretische und temporale Aporien in der narrativen Umgebung des traditionellen Erzählmodells zeigen. Aber sie dienen zugleich in einem sehr konkreten Sinne zur Einführung der anschließenden Lektüre des Tristram Shandy. Denn wie noch ausführlich zu beschreiben sein wird, bilden sowohl das Genre der Tragödie als auch das der abenteuerlichen Romanze für Laurence Sterne die konkreten Widerlager, mit deren gegenseitiger Konfrontation er die narrativen Manifestationen der Aporien von Zeit und Kontingenz sowie deren spezifische Bindung an die doppelte Zeitperspektive des Erzählens in seinem Roman minutiös auszuleuchten vermochte.

1.2 Der Zufall als die Aporie der Kontingenz

1.2.1 Kontingenz und Zufall in der Metaphysik

In der Philosophie wurde der Begriff ‘Kontingenz’ seit Aristoteles vornehmlich ontologisch bzw. logisch aufgefasst und stand lange Zeit in der Domäne modallogischer Zusammenhänge. In der antiken Überlieferung lautet die Definition: “‘Contingens est, quod potest non esse’ und ‘contingens est, quod potes aliud esse’. Kontingenz ist […] das Nichtnotwendige: das, was auch hätte nicht sein können oder auch hätte anders sein können” (Gravenitz, Marquardt XI). Modallogisch wird Kontingenz also zum einen vom Begriff der Notwendigkeit begrenzt. Eine andere Abgrenzung erfolgt durch den Begriff der Unmöglichkeit.7 Eine klassische (ontologische) Formulierung lautete dann etwa: Wenn das notwendig Seiende und das unmöglich Seiende kategorisch ausgeschlossen sind, so bleibt der Kontingenz modal sowohl die Möglichkeit des Seins als auch die des Nichtseins inhärent. Es gibt also in Hinsicht auf die Modalität der Möglichkeit im Falle der Kontingenz eine doppelte: diejenige zu sein und diejenige nicht zu sein.

Das philosophische Kernproblem dieser doppelten ontologischen Statusbestimmung des Möglichen wird dann akut, wenn das Mögliche auf Wirkliches bezogen wird. Zum einen, weil dann die ursprüngliche Abgrenzung zum Notwendigkeitsbegriff verschiedene Auslegungen desselben Sachverhalts ermöglicht, zum anderen, weil mit der Vorstellung der Verwirklichung des Möglichen eine temporale Dimension bzw. Relationierung berücksichtigt werden muss. Ein erster grober temporaler Zusammehang zwischen Wirklichkeit und Kontingenz kann mit Aristoteles betrachtet werden. In De Interpretatione arbeitet er den Zeitbezug der oben genannten zweiseitigen Möglichkeit heraus. “Nur hinsichtlich des Zukünftigen kann gesagt werden, dass es sowohl sein kann als auch nicht sein kann. Vorgerückt in die Gegenwart, ist es entweder oder es ist nicht. Es müsste aber nicht sein, wenn zuvor die doppelte Möglichkeit bestand” (zit. n. Wetz 28). Die Grundfrage, die sich stellt, sobald Mögliches von der Zukunft in die Gegenwart ‘vorrückt’, ist, wie bzw. ob ein Zusammenhang zwischen der doppelten Möglichkeit des Seins der Kontingenz und dem faktisch einfachen Sein des Wirklichen gedacht werden kann. Aristoteles bindet eindeutig das in der Gegenwart faktisch Gegebene an die in der Zukunft existierende Kontingenz zurück. Für ihn hätte das Wirkliche auch nicht sein müssen, solange es vorher kontingent war. Dies wird, wie bereits erwähnt, zum klassischen Auslegungsfall in der Geschichte avancieren. Gegenwärtiger und zukünftiger Moment werden darin über den Möglichkeitsbegriff reflexiv aufeinander bezogen. Flankiert wird diese modal-ontologische Verschränkung durch den zugrunde liegenden Notwendigkeitsbegriff, der im entsprechenden Szenario der Verwirklichung die (einzige) Alternative zur zweiseitigen Möglichkeit der Kontingenz darstellt. Hier sichert die Notwendigkeit ein rationales und somit auch epistemologisch begründbares Werden von Zukunft zur Gegenwart ab. Demnach muss das notwendig Seiende sein, weil es Gründe dafür gibt, die sein Sein begründen, ganz gleich, ob diese logischer, mathematischer, kausaler, naturwissenschaftlicher oder theologischer Natur sind.

In der Geschichte des abendländischen Denkens wird dieses Tandem von der Vorstellung der Kontingenz als einer doppelten Möglichkeit des Seins und einer rationalen Notwendigkeit durch den Begriff des Zufalls zusammengehalten und tradiert. Der Zufall, verstanden als das Moment des Verwirklichens der Kontingenz, bindet einerseits das faktisch Gegebene an einen offenen Möglichkeitsraum und wird – wie es weiter unten noch zu erläutern gilt – vor allem für die Entwicklung pragmatischer Denkkonzepte wie Handlung, Individualität, Subjektivität oder Freiheit attraktiv bleiben. Andererseits kann der Zufall in der Geschichte des metaphysischen und epistemologischen Denkens auch als irrational (d.h. ‘nicht notwendig’) domestiziert werden. Auch hierfür legte Aristoteles die entsprechende Richtschnur aus: “Zufall im strengen Sinne ist […] dasjenige, was innerhalb dieses vorgängig eröffneten Raumes [der Kontingenz] tatsächlich sich verwirklicht, wobei das faktische Eintreten aus einer Mehrzahl von Varianten ohne erkennbaren Grund erfolgt” (Bubner 7, Herv. i. Orig.). Spinoza wird Kausalität dogmatisieren und alle vermeintlichen Zufälle mit epistemologisch potenziell erklärbaren Notwendigkeiten gleichsetzen: “Der Begriff Zufall sei nur ein Ausdruck für ein dem Menschen nicht mögliches Durchschauen bestehender Zusammenhänge, ein ‘asylum ignorantiae’. Bei eindringender Erkenntnis der Sachlage weiche das vermeintlich Zufällige aber ganz dem Notwendigen” (Wetz 33). Im Gegensatz zu der Aristotelischen Tradition wird Nietzsche, wie Franz Josef Wetz heraushebt, die Bezüglichkeit des Faktischen zu einer zweifachen Möglichkeit des Seins verneinen und folglich auch einen gänzlich anderen Notwendigkeitsbegriff veranschlagen:

Genaugenommen schütteln ‘die eisernen Hände der Notwendigkeit […] den Würfelbecher des Zufalls’, meint Nietzsche. Jedoch versteht der unter Notwendigkeit weder Kausalnotwendigkeit noch Wesensnotwendigkeit, aber auch nicht logische Notwendigkeit oder irgendeine andere Folgenotwendigkeit. Für ihn bedeutet Notwendigkeit absolute Faktizität, derzufolge nur das wirklich werden kann, was wirklich ist und wirklich wird, weil es die Möglichkeit, nicht wirklich zu werden, einfach nicht gibt (33).

Die Geschichte der Kontingenz ist also vorwiegend durch das metaphysische Mysterium der Verwirklichung des Möglichen bestimmt. Allerdings stellt sich dann die entsprechende Grundfrage, inwiefern die Kontingenz als zweiseitige Seinsdimension, in der beide Seiten als präsent gedacht werden, neben der binären Variante des Möglichen, das immer schon auf das privilegierte Alternativkonzept einer absolut rationalen Notwendigkeit beruht, bezogen werden kann. Denn sowohl die zweifache Möglichkeit des Seins der Kontingenz als auch das einfache und begründbare Sein der (rationalen) Notwendigkeit müssen sich im faktisch Gegebenen denken lassen.8 Eine vermeintliche Lösung weist die Vorstellung des Zufalls auf, der als ein sich ereignender Übergang vom Möglichen zum Faktischen zumindest im Aristotelischen Denken eine Klammer zwischen dem faktisch Gegebenen und der Kontingenz bildet und zugleich die Vorstellung einer rationalen Notwendigkeit konsolidiert. Demzufolge stellt die Geschichte des Zufalls innerhalb dieser theoretisch-philosophischen Tradition (Metaphysik, Erkenntnistheorie, Logik etc.) eine Geschichte der Domestizierung des Zufalls dar. Solange er auf einen als absolut gesetzten rationalen Notwendigkeitsbegriff ausgerichtet werden kann, kann der Zufall selbst als irrationales Moment im theoretischen Denken marginalisiert werden.

1.2.2 Kontingenz und Handlung

Ganz anders wirkte sich das begriffliche Potenzial des Zufalls in der praktischen Philosophie aus. Hier wirkte weniger seine Irrationalität als seine Bindung an die Möglichkeitsdimension der Kontingenz, insbesondere dann, wenn es um Fragen des menschlichen Handelns ging. Auch in diesem Zusammenhang stellte Aristoteles die grundlegenden Weichen, indem er bemerkte, dass die Eigenart desjenigen Feldes, in dem der Zufall regiert, auch dasjenige kennzeichnet, in dem unser Handeln allein tätig werden kann (De Interpretatione, Kap.9). Beides, sowohl der Bereich des Zufalls als auch die Sphäre des Handelns, hätten eines gemeinsam, nämlich “daß alles auch anders sein kann” (Bubner 6, Herv. i. Orig.). Demnach öffne sich beim Handeln für den Einzelnen gleichsam ein Raum, der sich ontologisch erschließt, in dem das Auch-anders-sein-Können regiert. Das Subjekt findet sich in diesem Raum zuallererst als ein handelndes wieder, da es erst dort Alternativen zum Handeln erhält, wo nicht alles Faktische schon immer notwendig ist. Andererseits begegnet es in seinem Handeln – wie Aristoteles ja bereits bemerkt hat – immer auch den zufälligen Ereignissen, also äußeren Veränderungen, die aus seiner Sicht grundlos sind und denen es ausgeliefert ist. Mit Haug lässt sich auch sagen: “Dieser Raum des Kontingenten ist objektiv der Spielbereich des Zufalls, subjektiv der Bereich der freien Wahl” (151). Wenn unter Kontingenz also ein “Raum offener Möglichkeiten” verstanden wird, dann ist Zufall das, “was sich in diesem Raum unter der Prämisse völliger Willkür (mag diese auch nur scheinbar sein) ereignet” (151). Obwohl der faktisch gegebene Zufall den Menschen erst an den Möglichkeitsraum der Kontingenz zu binden vermag, wird er paradoxerweise zugleich als Widerpart des menschlichen Handelns konstruiert. Denn mit der Vorstellung eines freien und intentional gerichteten Handelns wird der objektive Zufall zum Agenten der Beliebigkeit, der gegen das handelnde Subjekt ausgerichtet wird. Und wenn sich Veränderungen in diesem Raum der Potenzialität unter dem subjektiven Zeichen der Freiheit und dem objektiven Zeichen des Zufalls manifestieren, dann stellt sich für das Subjekt ein Problem, welches M. Makropoulos als “Interferenzproblem” bezeichnet.9 Als interferierende Instanz der Willkür kann der Zufall wieder an die irrationale Instanz gebunden werden, die er in der theoretischen Philosophie bereits eingenommen hat.

Auch wenn es an dieser Stelle nur kurz angedeutet werden kann, so sieht man, dass sich die Geschichte des philosophischen Denkens der Kontingenz in der metaphysischen Tradition zum einen anhand der Abgrenzung zum Begriff der Notwendigkeit beschreiben lässt, zum anderen anhand der Dominanz der inneren Bezüglichkeit zwischen möglicher Kontingenz und faktischer Gegenwart. Im folgenden Abschnitt zum Zeitproblem wird Letztere als spezifische modal-temporale Relation noch entsprechend zu konkretisieren sein. In pragmatischen Handlungskonzeptionen erschließt der Zufall für den handelnden Menschen eine an der Kontingenz ausgerichtete Möglichkeitsdimension, wird aber dennoch in der Form eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses als objektiver Antagonist eines subjektiv-intentional ausgerichteten Handelns wahrgenommen.

Wichtig für die folgenden Betrachtungen ist die Beobachtung, dass sich insbesondere anhand der zuletzt beschriebenen Konstellation in der praktischen Philosophie aufzeigen lässt, inwiefern der Zusammenhang von Kontingenz und Zufall im philosophischen Denken mehr oder weniger immer schon als ‘Ereignis’ verstanden wurde; auch in der metaphysischen Dramaturgie der Verwirklichung des Möglichen ist es immer Einzelnes, das sich aus mehreren Möglichkeiten konkretisiert. So zeichnet sich bereits mit diesen Skizzen deutlich ab, dass die metaphysische Tradition Kontingenz und Zufall immer schon im Rahmen des chronologischlinearen Zeitmodells gedacht hat. Zeigt sich das Konfliktpotenzial von Kontingenz und Zufall erst, wenn die temporale Dimension mit herangezogen wird, so provoziert umgekehrt die mit der Kontingenz einhergehende modale Unterscheidung von Möglichkeit und Notwendigkeit per se das Denken über zeitliche Verläufe. Denn den einzig denkbaren Punkt, mit dem die Differenz beider konstatiert werden kann, bildet die Vorstellung eines zeitlich gegenwärtigen Moments, als eine Art Umschaltpunkt von Möglichkeit zur faktisch notwendigen Wirklichkeit. Diesen Zusammenhang gilt es im folgenden Abschnitt deutlicher herauszuarbeiten.

1.3 Aporien der Zeit

1.3.1 Irreversibilität vs. Zeitumkehr

Es bedarf nicht unbedingt eines Blicks auf das chinesische Denken, um zu konstatieren, dass die philosophische Tradition des Abendlandes verschiedene heterogene Modelle der Zeit konzipiert hat. Dessen ist sich offenbar auch ‘der Westen’ bewusst. In der jüngsten Vergangenheit zeichnet sich aber zugleich die Tendenz ab, dass angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung der Wissenschaftsbereiche ein erhöhter Bedarf besteht, die unterschiedlichen Zeitkonzepte aus Natur- und Kognitionswissenschaften sowie aus Human-, Sozial-, Geschichts-, Literatur-, Medien- und Sprachwissenschaften aufeinander abzustimmen. Und obwohl es vermehrt Ansätze gibt, den “Zeitaspekt als ein[en] neuen[n] archimedische[n] Punkt” (Sandbothe “Verzeitlichung der Zeit” 41) auszumachen und die unterschiedlichen Ansätze zu vereinheitlichen, gibt es immer noch Anlass, absolut inkommensurable Zeitkonzepte zu konstatieren. Im Groben verläuft diese Differenz zwischen naturwissenschaftlichen Ansätzen, in denen die Zeit ausschließlich objektiv bestimmt ist und im Sinne eines koordinativen Meßkriteriums in die entsprechenden theoretischen Modelle eingeht, und den traditionell philosophischen sowie geschichtstheoretischen Zeitkonzepten, in denen eine subjektiv bezogene Auffassung (einer Gegenwart) Bestand hat, die einen gerichteten Zeitverlauf aufweist und von der grundlegenden Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft gekennzeichnet ist.

Eine Art Gipfel der Unvereinbarkeit dieser beiden Ansätze lässt sich in den jüngsten Diskussionen erkennen, die durch die Zeitkonzeptionen der modernen Physik ausgelöst wurden, insbesondere denen, die der statistischen Mechanik zugrunde liegen. Das umstrittene Kernproblem stellt die Frage nach der Irreversibilität, also der Gerichtetheit der Zeit dar. In den betreffenden Gesetzen, welche die moderne Physik aufgestellt hat (den grundlegenden Bewegungsgleichungen in der Physik), hat die Zeit nämlich keine ausgezeichnete Richtung. Hier gilt das “Invarianzprinzip der Zeitumkehr” (Kornwachs 29), um entsprechende Prozesse als reversible Vorgänge zu beschreiben. Dabei wird die intuitive Annahme, dass es eine Gerichtetheit der Zeit gebe, gänzlich verneint. Doch auch Physiker beobachten, dass Kaffee sich häufiger abkühlt als erwärmt (um ein häufig zitiertes Beispiel zu nennen), weshalb es auch innerhalb der Physik Bemühungen gab – wie das bekannte Beispiel des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik belegt –, eine Gerichtetheit der objektiven Zeit (auch als Anisotropie bezeichnet) zu erklären. Von Brisanz waren und sind aber vor allem diejenigen Diskussionen um die Irreversibilität der Zeit, in denen philosophisch intuitive Befürworter der Existenz einer subjektiv verfassten Zeit von Vergangenheit und Zukunft gegen die vermeintlich umkehrbare Zeit von ‘früher’- und ‘später’-Relationen in Stellung gebracht wurden. So behauptete etwa Carl Friedrich von Weizsäcker, dass der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik “nur unter der Voraussetzung einer ontologisch fixierten Vergangenheit und einer ontologisch offenen Zukunft begründbar” (Friebe 189-90) sei. Deren Existenz hat McTaggart wiederum in seinem Aufsatz über die ‘Irrealität der Zeit’ verneint. Da auf seinen Beitrag zur Debatte die bis heute noch verwendete Unterscheidung zwischen ‘A-Theorie’ und ‘B-Theorie’ der Zeit zurückgeht, die zugleich für die folgende Lektüre von Tristram Shandy von Belang ist, soll seine Argumentation kurz vorgestellt werden:

Die Positionen in der Zeit unterscheiden sich – so wie die Zeit uns prima facie erscheint – in zwei Hinsichten. Jede Position ist früher als einige oder später als einige der anderen Positionen, und jede Position ist entweder vergangen, gegenwärtig oder zukünftig. Die Unterscheidungen der ersten Klasse sind permanent, diejenigen der letzteren jedoch nicht. Wenn M jemals früher als N ist, dann ist es immer früher. Aber ein Ereignis, das jetzt gegenwärtig ist, war zukünftig und wird vergangen sein. […] Der Kürze halber werde ich die Reihe der Positionen, die von der weit entfernten Vergangenheit über die nahe Vergangenheit bis zur Gegenwart und von der Gegenwart über die nahe Zukunft bis zur weiter entfernten Zukunft verlaufen, als ‘A-Reihe’ bezeichnen. Die Reihe der Positionen, die von früher bis später verlaufen, werde ich ‘B-Reihe’ nennen. (67f.)

McTaggart unterscheidet bei der Zeiterfahrung eine perspektivische A-Reihe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und eine objektive B-Reihe von früher, gleichzeitig und später.10 Die letztere kann immer nur bei einem Ereignis in Relation zu einem anderen verwendet werden, weshalb ihr Verständnis auch vornehmlich in wissenschaftlich-koordinativen Zusammenhängen dominiert. Die AReihe hingegen ist nur in einem pragmatischen Zusammenhang zu verwenden, entspricht also der “subjektbezogenen, alltäglichen indexikalischen Zeitbestimmung” (Th. Müller 9). McTaggart behauptet, “die Widersprüchlichkeit der A-Reihe nachweisen zu können. Allein die B-Reihe sei widerspruchsfrei, aber die Existenz der Zeit setze die Existenz der A-Reihe voraus. Somit könne es Zeit nicht geben” (Th. Müller 9). Die Frage, welche Sicht der Zeit tatsächlich grundlegend sei, ist bis heute nicht geklärt. Müller fasst den Stand der Kontroverse wie folgt zusammen: “Trotz der vielen Publikationen zum Thema […] scheint die Diskussion zu einer Pattsituation geführt zu haben, in der sich eher grundsätzliche Intuitionen gegenüberstehen als Argumente, und wie [Arthur] Prior bemerkt hat, gilt: ‘Where deep-rooted prejudices are in conflict there are no knock-down arguments’”11 (10). Eine Frage, die sich im weiteren Verlauf noch stellen wird, ist zumindest, ob die Frage nach der Anisotropie – also der Gerichtetheit der Zeit – in der B-Theorie einen ähnlichen Stellenwert hat wie die Frage nach Irreversibilität innerhalb einer A-Theorie. Da an letzterer fundamentale subjektive Bestimmungen hängen, ist dies sehr fraglich.

1.3.2 Räumliche Bewegung vs. selbstreflexive Zeitlichkeit

Aporien zwischen A- und B-Theorie der Zeit kommen nur zustande, wenn man nach ihrer Vereinbarkeit fragt. Paul Ricœur hat dies, wie eingangs bereits erwähnt, sehr genau getan. In seinem dreibändigen Projekt Zeit und Erzählung nimmt Ricœur einige der philosophischen Aporien zum Ausgangspunkt, um eine anthropologisch verfasste Grundstruktur der Erzählung zu beschreiben, die zwischen diesen beiden antagonistischen Polen philosophischer und alltäglicher Zeitwahrnehmung eine vermittelnde Position einnimmt. Ricœur zufolge gibt nur die Erzählung auf die unvermeidlichen Aporien der philosophischen Spekulation eine Replik, “eine Replik allerdings, die die Aporien nicht theoretisch, sondern allein poetisch aufzulösen vermag” (Mattern 152). In Ricœurs Version wird der Widerstreit zwischen A-Theorie und B-Theorie der Zeit als eine “wechselseitige Verdeckung einer phänomenologischen und einer kosmologischen Perspektive auf die Zeit” (Mattern 152) beschrieben. Dies zeigt er neben detaillierten Lektüren der zeittheoretischen ‘Schwergewichte’ wie Kant, Husserl und Heidegger vor allem anhand der beiden unterschiedlichen Zeitkonzeptionen von Aristoteles und Augustinus auf.

Aristoteles’ Bestimmung der Zeit im 4. Buch der Physik fasst die Zeit immer schon mit Rekurs auf das objektive Modell der Bewegung. Zeit ist hier zwar nicht identisch mit der Bewegung; letztere stellt aber eine notwendige Bedingung der Zeit dar. Erst mit der numerischen Relation zwischen einem Vorher und einem Nachher, also der Einführung der Zahl als zweiter notwendiger Komponente, kann Aristoteles die Zeit dann als die Zahl der Bewegung nach ihrem Vorher und Nachher definieren. Das Primat der Bewegung lässt Aristoteles die Zeit also durchaus als einen anisotropischen Verlauf von einer Zeitposition zur nächsten konzipieren (vgl. Ricœur Bd. III, 21-23). Damit eignet der Zeit bei Aristoteles ein genuin sukzessives Moment. Die Instanz, die diese zählbare Bewegung wahrnimmt, ist bei Aristoteles die Seele, jedoch geht die Seele nicht ausdrücklich als eine “noetische Bestimmung in die Definition der Zeit” (24) ein, denn die Ursache der Bewegung der Zeit verortet Aristoteles im Prinzip der alles umfassenden physis: “Sie, die physis, wahrt die über alles Menschliche hinausgehende Dimension der Zeit, indem sie das Kräftespiel der Bewegung trägt” (24). In dieser antiken Vorstellung (einer B-Serie) ‘umfließt’ die Zeit den Menschen, der die kontinuierliche Bewegung der Zeit in zählbare ‘jetzt’-Momente segmentiert. Oder wie Kornwachs es formuliert: “In der A-Serie stehe ich in einem Fluß, dessen Wassertropfen auf mich zukommen und hinter mir verschwinden. Bei der B-Serie laufen die Zeitpunkte vom ‘früher’ zum ‘später’” (174).

Sobald ein solcher Beobachterstandpunkt in den Fokus gerät, kippt die Vorstellung in die Perspektive der A-Theorie um. Mit den beliebigen ‘jetzt-Punkten’ in der Zeitreihe des Aristoteles kann nämlich nicht erklärt werden, dass sich in der Sicht eines subjektiven Beobachters die Vorstellung einer gelebten Gegenwart einstellt, die als die asymmetrische Unterscheidung von Zukunft und Vergangenheit aufzufassen ist. Genau darauf sucht Augustinus in seinem berühmten 11. Buch der Confessiones eine mögliche Antwort. Augustinus stellt sich die Ausgangsfrage nach dem Sein der flüchtigen Zeitformen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und stößt dabei auf das Problem, dass diesen subjektiven Zeitformen keine räumlich existierende ‘Ausdehnung’ eignet. Augustinus kann die Gegenwart nicht messen. In einem zweiten Schritt versucht er diese Frage zu lösen, indem er die Gegenwart zu einer dreifachen Gegenwart temporalisiert, die ihren Sitz in der Seele hat. Im Zuge dieser Psychologisierung der Zeit werden die drei Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft mit drei dialektisch gefassten Haltungen der Seele (Erwartung, Aufmerksamkeit, Erinnerung) korreliert. Bei der Formulierung dieser drei Zeitmodi berücksichtigt Augustinus also die Modalitäten der Wirklichkeit und Möglichkeit. Doch mit der Verzeitlichung der Gegenwart hebt er zugleich den flüchtigen Charakter dieser subjektiven Zeit hervor und fasst sie als eine ‘Aktivität des Geistes’. An diesem Punkt, so die Auslegung der Aporie seitens Ricœur, muss Augustinus wieder Anleihen bei Aristoteles’ Modell der Bewegung machen. Die Seele wird nun der Ort, in dem die quasi-räumlichen Metaphoriken der Ausdehnung und der Bewegung im Sinne des Zeitmaßes lokalisiert werden müssen.12 Wie Ricœur schlussfolgert: Die distentio animiwird Augustinus zum “Ersatz für [die] kosmologische Grundlage des Zeitraums” (Ricœur 29). Das Fazit von Ricœurs Vergleich zwischen Aristoteles und Augustinus lautet schließlich: Zwischen der phänomenologischen (Augustinus) und der kosmologischen Konzeption (Aristoteles) ist kein Übergang denkbar. Ricœur spricht daher davon, dass man von der einen Zeitkonzeption in die andere nur durch einen Sprung gelange. Mit einem Sprung über eine ‘Furche’ im Denken der Zeit, so könnte sein Kollege Jullien erwidern (siehe 1.1.1).

1.3.3 Zeitmodi

Mit der beschriebenen aporetischen Konstellation werden die spezifischen Probleme einer subjektiv verfassten A-Theorie der Zeit deutlich. Wie skizziert, besteht Augustinus’ Kernproblem darin, dass er die Gegenwart ‘verzeitlicht’, so dass sich seine Argumentation nicht am Modell der Bewegung orientieren kann. Weder kann er so das Problem der Zeitmessung (einer ausgedehnten Gegenwart) noch das der Gerichtetheit des zeitlichen Verlaufs bestimmen. Die Aporie scheint die spekulative und unüberbrückbare Trennung zwischen objektivem Raum und subjektiver Zeitlichkeit zu markieren. Die von Augustinus formulierten einfachen Zeitmodi der subjektiven A-Reihe reichen nicht aus, um die Irreversibilität dieser Zeitreihe zu erklären (vgl. Kornwachs 170). In der Zeitphilosophie nach Augustinus lag ein Lösungsweg darin, die zeitlichen Modalitäten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch weiter zu differenzieren. Augustinus’ Ansatz gab die Richtung bereits vor, indem er die einfachen Modi der Zeit grundlegend miteinander verschränkte: “Gegenwart der Vergangenheit (als Erinnerung), die Gegenwart der Zukunft (als konkrete Erwartung), die Gegenwart der Gegenwart (als Wahrnehmung des Wirklichen)” (Kornwachs 169). Diese ‘Verschränkungen’ der Zeitmodi lassen sich noch weiter differenzieren, wie Kornwachs tabellarisch illustriert:13

… der…

Zukunft

Gegenwart

Vergangenheit

Zukunft

ZZ

ZG

ZV

Gegenwart

GZ

GG

GV

Vergangenheit

VZ

VG

VV

Die Vergangenheit der Vergangenheit

VV

Sie ist Faktum des Faktischen. Sie ist die Seinsmodalität der Spur, des Protokolls, des Dokuments, des endgültigen, irreversiblen Ereignisses.

Die Gegenwart der Vergangenheit

GV

Sie ist die aktuelle Verwandlung von Gespeicherten, von Spuren, von Protokollen als eine Festlegung von Freiheitsgraden gegenüber den gegenwärtigen Beeinflussungen.

Die Zukunft der Vergangenheit

ZV

Spuren werden gelöscht, wenn sie nur metastabil repräsentiert sind, Gespeichertes zerfällt, Faktisches wird anders interpretiert oder vergessen werden.

Die Vergangenheit der Gegenwart

VG

[…] Dieser Modus ist unmittelbarste Vergangenheit, die jederzeit verwendet werden kann, ohne gespeichert werden zu müssen. Sie ist noch reversibel, d.h. ein Meßergebnis liegt nur dann vor, wenn die Messung abgeschlossen ist.

Die Gegenwart der Gegenwart

GG

Die Aktualität des Aktuellen. Sie ist der Seinsmodus des Bewußtseins, der Prozesse und der Dynamik.

Die Zukunft der Gegenwart

ZG

[…] Sie reicht u.U. weit in die Zukunft, sofern Antizipation von möglichen Geschehnissen aktuelles Geschehen bestimmt. Jeder kognitive Akt, jede Fluchtreaktion beispielweise hat diese antizipatorischen Anteile.

Die Vergangenheit der Zukunft

VZ

“Jemand hat seine Zukunft schon hinter sich” demonstriert als Redeweise eine Einschränkung von Möglichkeiten. Die Antizipationsweisen des Zukünftigen ändern sich, werden Protokoll – oder besser – Metaaussagen über ad acta gelegte Entwürfe. Diese Vergangenheit wird von den künftigen Ereignissen nicht mehr eingeholt, sondern verbleibt als verstaubter, nichtrealisierter Plan.

Die Gegenwart der Zukunft

GZ

Hiermit ist nicht die aktuelle Antizipation des zukünftigen Geschehens gemeint, sondern die Zwangsläufigkeit, daß etwas vom Möglichen aktuell wird. “Daß” etwas auf uns zukommt, ist unvermeidlich. Somit ist das Mögliche, indem es aktuell werden kann, immer gegenwärtig. Das Mögliche ist aber kein defizienter Modus des Wirklichen, sondern hat einen eigenen ontologischen Status.

Die Zukunft der Zukunft

ZZ

Das Potentielle des Möglichen, seine prinzipielle Offenheit, die Unmöglichkeit, die Möglichkeit früher als aktuell zu beeinflussen.

Diese systematische Übersicht eines Philosophen zeigt sehr illustrativ, dass es der Metaphoriken und Vorstellungen aus den verschiedensten Bereichen zu bedürfen scheint, um die jeweiligen “Verschränkungen der Zeitmodi” zu erläutern. Neben einzelnen kognitiven Metaphern finden sich vor allem mit Blick auf die Verschränkungsmodi der ‘Vergangenheit’ Metaphern (“Spur”, “Dokument”), die in Literaturund Kulturwissenschaft häufig Anwendung finden. Wichtig für die vorliegenden Überlegungen sind aber vor allem die angegebenen Verschränkungen mit der ‘Zukunft’. Denn hier kommen die Modalitäten der Kontingenz zum Tragen, da mit ihnen im Kontrast zum Faktischen ein eigener distinktiver (durchaus ontologischer) Bereich herausgebildet werden kann. Die Frage der Irreversibilität in der A-Reihe wird nämlich erst erklärlich, wenn die Zukunftsdimension modalisiert wird. Da die Position des Subjekts in der A-Reihe konzeptionell stets mit dem gegenwärtigen Moment zusammenfällt, ist es zwar richtig, dass auch die Vorstellung einer permanenten (irreversiblen) Zeitigung von zukünftigen über gegenwärtige zu vergangenen Momenten vornehmlich dem Moment der Gegenwart als dem jeweils aktualen, erfahrbaren Moment (GG laut obiger Tabelle) zugeschrieben werden muss. Aber wenn diese stetige Zeitigung als ein Übergang von einem noch nicht zu einem nicht mehr aufgefasst werden soll, muss zwangsläufig der Moment des noch nicht (Eintritts des Faktischen) als eine abgrenzbare Entität zum Subjekt gedacht werden. Zimmerli schlägt diesbezüglich vor, die A-Reihe kategorial zu differenzieren.

Wenn wir die A-Reihe kategorial differenzieren, zeigt sich, daß ein kategorialer Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf der einen und Zukunft auf der anderen Seite besteht: Während Vergangenheit und Gegenwart der Kategorie der Wirklichkeit gehorchen, unterliegt die Zukunft der Kategorie der Möglichkeit […] (132)

Die Zeitigung vom noch nicht zum nicht mehr entspricht also einem steten Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, phänomenologisch konsolidiert durch ein stetiges beobachtendes Subjekt, welches den Umschaltmoment der Gegenwart (GG) nicht verlassen kann und sozusagen permanent die kategoriale Differenz von Möglichkeit (Zukunft) und Wirklichkeit (Vergangenheit, Gegenwart [VG]) aufrechterhält. Zimmerli sieht diese Asymmetrie sogar als eine notwendige Bedingung, um in Hinblick auf die A-Reihe überhaupt von Zeit (im ontologischen Sinne) sprechen zu können: “Das aber setzt voraus, daß das, was wir ‘Zeit’ nennen, eigentlich auf den Raum der Möglichkeit und d.h. denjenigen der Zukunft begrenzt bleibt. Weder Gegenwart noch Vergangenheit ‘fließen’ noch” (133). Und an dieser Stelle wird der in der Tabelle aufgeführte modale Unterschied zwischen der Gegenwart der Zukunft (GZ) und der Zukunft der Zukunft (ZZ) relevant. Letztere ist das “Potentielle des Möglichen” schlechthin, also der Kontingenzbegriff in seiner uneingeschränkten, ontologischen Bedeutung, “dass alles möglich ist”. Erst die modale Verschränkung von Gegenwart und Zukunft (GZ) überführt dann dieses Potenzial des Möglichen in einen faktischen Bereich, insofern es einem Prozess entspricht, der zwangsläufig und permanent Möglichkeiten aktualisiert. Für das Subjekt sind beide ‘Bereiche’ unverfügbar: die ZZ im Sinne ihrer absoluten Potenzialität, die GZ im Sinne ihrer notwendigen Faktizität. Gleichwohl lässt sich daraus – ohne Rückgriff auf einen Wahrscheinlichkeitsbegriff (!) – die Irreduzibilität der A-Reihe ableiten (vgl. Kornwachs 170). Zimmerli beschreibt diesen Prozess als einen “der Ermöglichung einer Verfestigung möglicher Alternativen zur Wirklichkeit” (133).

1.3.4 Die historische Dimension am Beispiel von Luhmann

Diese Vorstellung einer steten sowie faktisch notwendigen Aktualisierung potenzieller Möglichkeiten nimmt auch eine zentrale Stelle in Luhmanns systemtheoretischen Überlegungen ein. Mit seinem Beitrag zur Diskussion soll abschließend und ergänzend die historisch-kulturelle Dimension der soeben skizzierten zeit- und modaltheoretischen Zusammenhänge illustriert werden. In seinen wissenssoziologischen Analysen zur “funktionalen Ausdifferenzierung” der Gesellschaft in einzelne, autonom operierende Teilsysteme zeigt Luhmann auf, dass auch Zeiterfahrung bzw. temporale Begriffe einem historisch-kulturellen sowie gesellschaftlichen Wandel unterliegen. Im Zuge der immer komplexer werdenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft ändern sich auch die Anforderungen an den möglichen semantischen Apparat der Selbstbeschreibung der sozialen Systeme. Hierzu gehören ihm zufolge auch temporale Bestimmungen, so genannte Zeitsemantiken, die damit auf der Grundlage von Luhmanns evolutionstheoretischer Perspektive beschrieben werden können.14

In seinem Aufsatz “Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe” entfaltet er selbst die erörterten theoretischen Implikationen hinsichtlich temporaler und modaler Bestimmungen einer A-Theorie der Zeit und stellt die entscheidende These auf, dass erst in diesem, auch als Sattelzeit15 bezeichneten Zeitraum gesellschaftlicher Entwicklungen die Zeit auf die Differenz von irreversibler und offener Zukunft abgestellt wird (264). Demzufolge lernte man erst mit der Wahrnehmung zunehmender gesellschaftlicher Entwicklungsgeschwindigkeit zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. zwischen Vergangenheit und Zukunft stärker zu unterscheiden, so dass die Differenzwahrnehmung von Irreversibilität (GZ, GG) und Möglichkeitsspielraum (ZZ) erhöht wurde. Um die Einheit des Zeitkonzepts angesichts dieser Verzeitlichung des gegenwärtigen Momentes zu gewährleisten, wird das Subjekt, “das von sich selbst weiß, dass es dauert, und dies mittels Reflexion feststellt” (257), zum Korrelat der Zeit. Die Dauer der Zeit generiert sich aus der Reflexion des Subjekts, das den permanent gegenwärtigen Wechsel von Vergangenheit zu Zukunft erlebt. Auf Basis der grundlegenden Dichotomie von ‘innen und außen’ beobachtet und verarbeitet es die äußeren Vorgänge im Sinne einer verinnerlichten Erlebniserfahrung. Begriffe wie ‘Handeln’, ‘Denken’, ‘Erfahrung’ und ‘Erinnerung’ setzen spätestens an diesem Punkt temporale Implikationen frei, die wiederum für die jeweiligen Einheitsvorstellungen dieses neuen Zeitkonzepts an Relevanz gewinnen. Und so kommt letztlich auch Luhmann zu dem Schluss, dass im Zuge dieser allmählichen Trennung von subjektiven und objektiven Zeitbestimmungen die damit einhergehenden modalen Bestimmungen an Signifikanz gewinnen; es kommt zu der Herausbildung eines Kontingenzbewusstseins. Je mehr die Dimension der Zukunft zur Sphäre der Kontingenz (im obigen Schema die ZZ) wird, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, Alternativität wahrzunehmen. Möglichkeiten werden zunehmend als Möglichkeiten behandelt und in sozio-kulturelle Kalkulationshandlungen überführt. Im übertragenen Sinne geht die Systemtheorie dann der Frage nach, wie sich aus dem reinen Potenzial der Zukunft der Zukunft (ZZ) (meist bifurkativ) ‘Möglichkeiten’ aktualisieren (GZ) und inwiefern sich aus ihnen spezifische Aktualisierungsmedien (Geld,16 Liebe etc.) ableiten lassen, die in die Ausdifferenzierung der sozialen Systeme eingehen.17 Gegenwart ist nach Luhmann also immer über die Form Aktualisierung/Potenzialität zu erfassen.

Aber Luhmann muss allein schon aus eigenem theoretischem Interesse die Gegenwart im Sinne einer ereignishaften Zeit temporalisieren. Er ist sich sehr wohl bewusst, dass in einer derart elaborierten A-Theorie der Zeit eine inkommensurable Bezogenheit zum Modell der Bewegung der B-Theorie bestehen bleibt. Luhmann nennt seine A-Theorie “Systeme mit temporalisierter Komplexität” und führt in Hinblick auf diese aus, dass sie “Zeit auf der Basis wechselnder Ereigniszusammenhänge, nicht auf der Basis von Bewegung konstituieren [müssten]” (295). Aber er ergänzt auch konzedierend: “Wir können die damit aufgeworfenen Fragen nicht mit hinreichender Sicherheit entscheiden, weil eine Zeittheorie fehlt, die als Alternative zur Tradition präsentiert werden könnte” (295). Und so gerät selbst Luhmann mit seinem ambitionierten Unterfangen, die Zeit auf eine differenztheoretische Komplexität zu gründen, am Ende wieder in die alten aporetischen “Furchen” des Denkens der Zeit, wie es mit Julliens lakonischem Urteil eingangs beschrieben wurde.

1.3.5 Fazit

Mit diesem Durchgang durch die Aporien der Zeit (ähnlich wie beim Blick auf die begrifflichen Bestimmungen der Kontingenz und des Zufalls) zeichnet sich ab, inwiefern deren grundlegende Konfigurationen sich im europäischen Erzählmodell wiederfinden. Die augenfälligste Analogie findet sich mit der B-Reihe, insofern sie ihre zeitlichen Verhältnisse nach einem koordinativen Gerüst von Vor-, Nachund Gleichzeitigkeiten organisiert. Eben dies liegt bekanntlich auch dem narratologischen Begriff der histoire zugrunde, mit dem Genette die chronologische Anordnung der Erzählung in Bezug auf die innere Relationalität ihrer temporalen Ereignisse narratologisch erfasst. Dies ist die Ordnungsdimension, die einer jeden Erzählung irreduzibel zugrunde liegt. Mit Blick auf die repräsentativen Anteile der A-Reihe verhält es sich leider (bzw. zum Glück) nicht so, dass es in der Erzählung immer schon eine narrative Ebene gäbe, auf der eine entsprechende Generierung von A-theoretischen Aspekten stattfände. Narrativ gesehen liegen sich A- und B-theoretische Aspekte nicht in der Form eines oppositionellen Schemas gegenüber, wie es sich in der spekulativen Schau des Zeitphilosophen ausnimmt. Die Pointe liegt vielmehr darin, dass A- und B-Reihe innerhalb der Erzählung metaphorisch miteinander verschränkt werden. Die im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewinnenden Qualitäten der subjektiven A-Reihe (die Irreversibilität sowie der flüchtige Übergang vom potenziellen “noch nicht” zum aktuellen Moment) hängen innerhalb der Erzählung paradoxerweise gerade an der narrativen Entfaltung von räumlich-linearen Metaphoriken, wohingegen sich die objektiven Zeitverhältnisse der B-Reihe ihrer internen Hierarchieposition durch eine Liaison mit dem ereignishaften Moment des Zufalls versichern können und so ihr Potenzial, im Verhältnis zur A-Reihe Aporien zu erzeugen, freisetzen. Die subjektive Zeitdimension hängt also von dem Erzählen von räumlichen Gegebenheiten ab. Die objektive Zeitordnung der Erzählung bemächtigt sich hingegen einer zeitflüchtigen Ereignisdimension. Diese Grundkonstellationen können genrespezifisch verschieden ausgesteuert werden, was sich mit den folgenden Lektüren von Ricœur und Bachtin illustrieren lässt.

1.4 Genretheoretische Reflexionen: Bachtin und Ricœur

Sowohl Bachtin als auch Ricœur sind wichtige Narratologen ‘des Zeitlichen’ und eignen sich in mehrfacher Hinsicht für die beabsichtigte theoretische Hinführung zur anschließenden Lektüre des Romans Tristram Shandy von Laurence Sterne. Beide Theoretiker, insbesondere Ricœur, zeigen anhand der grundlegenden Fragen, die sie an die Erzählung herantragen, dass sie einen Fokus auf die Binnenverhältnisse von Zeit und Kontingenz bzw. Zufall richten, wie er auch an dieser Stelle vorgeschlagen wird. Ricœur versucht explizit zu belegen, dass die aporetischen Zeitkonstellationen der objektiven Naturzeit und der subjektiven Geschichtszeit ausschließlich im Medium der Erzählung – poetologisch – aufeinander bezogen werden können. Aber auch Bachtin reflektiert mit seinem Chronotoposbegriff die narrativen Zusammenhänge von Zeit und Zufall und lotet deren Konstellationen in einem episodisch verfassten Genre aus. Zudem finden sich bei beiden dezidiert genretheoretische Reflexionen – bei Bachtin die abenteuerliche Romanze, bei Ricœur die aristotelische Tragödie –, die sich, wie ausführlich zu zeigen sein wird, im Roman von Sterne als zentrale Momente der Reflexion des eigenen Textes erweisen werden.

1.4.1 Ricœur: Logifizierung der ephexēs in der Poetik des Aristoteles

Ricœurs Lektüre von Aristoteles’ Poetik ist im Kontext seines Gesamtvorhabens vor allem durch die Frage gekennzeichnet, ob “das Ordnungsparadigma, das für die Tragödie kennzeichnend ist, einer so weitgehenden Erweiterung und Verwandlung fähig [ist], daß es sich auf das gesamte Feld des Narrativen anwenden läßt” (Zeit und Erzählung, Bd. I, 65). Dies, so fügt er gleich hinzu, böte sich bei der Poetik besonders gut an, weil das Tragödienmodell die Ebene der Ordnung so stark betone: “Die Strenge des tragischen Modells hat den Vorteil, daß sie zu Anfang unserer Erforschung des narrativen Verstehens den Ordnungsanspruch sehr hoch ansetzt” (Bd I, 65). Ricœur glaubt, in der von ihm rekonstruierten Theorie des Mythos ein Modell zu finden, in dem diese extreme Tendenz zur Ordnungsstiftung immer schon eine innere Reaktion auf genuin dissonante Momente des Erzählens darstellt. Die Fabelkomposition gleicht damit als Modell einem “Hervortreiben des Intelligible[n] aus seinem Akzidentiellen, des Universellen aus dem Vereinzelten, des Notwendigen oder Wahrscheinlichen aus dem Episodischen” (Bd.I, 71). Konkret beschreibt Ricœur die Fabelkomposition der Aristotelischen Tragödie als eine Erzählung, die zwei verschiedene zeitliche Dimensionen verhandelt:

Die Operation der Poiesis spiegelt nach Ansicht Ricœurs die Paradoxa des Zeitdenkens, insofern der Akt der Fabelkomposition in variablen Proportionen eine chronologische und eine nicht-chronologische Zeitdimension kombiniert. Die chronologische Dimension besteht im episodischen Charakter, anders ausgedrückt: darin, daß die Fabel sich aus verschiedenen aufeinander folgenden Ereignissen konstituiert. Die nicht-chronologische Dimension resultiert aus dem konfigurativen Akt, der aus den einzelnen Ereignissen eine Geschichte macht; der konfigurative Akt bringt aus der schlichten Abfolge der Ereignisse eine zeitliche Ganzheit hervor. (Mattern 162)

Jens Mattern fasst die relevanten Aspekte der “chronologischen Dimension hilfreich zusammen: Demnach zieht sie auch

die narrative Zeit in Richtung auf die lineare Zeitvorstellung. Nicht nur läßt sie die einzelnen Phasen der Handlung als einander äußerliche erscheinen, indem sie die Antworten auf die Frage “Und dann? Und dann?” ermöglicht, die zuletzt erlaubt, die Geschehnisse im Sinne einer offenen Reihe von Ereignissen zu denken. Sie läßt die Ereignisse zudem in einer Weise aufeinander folgen, die der irreversiblen Zeitordnung physikalischer Ereignisse entspricht. (163)

Damit verfolgt Ricœur in der von ihm bezeichneten “chronologischen Dimension” eine Zeitvorstellung, die nahezu alle wesentlichen Aspekte impliziert, die sich innerhalb einer Erzählung als offene bzw. öffnende Momente manifestieren können. Die Zeit ‘verläuft’ sukzessiv und ist tendenziell linear ausgerichtet. Sie ist aber auch in ihrer Gerichtetheit fixiert, d.h. die sich entlang des Zeitpfeils manifestierenden Ereignisse stellen sich als eine irreversible Reihe dar. Überdies wird mit Blick auf die jeweils noch ausstehenden Ereignisse das Vorhandensein eines offenen Moments angedeutet. Die andere, bei Ricœur als “nicht-chronologische” bezeichnete Dimension der Konfiguration überführt diese offene Sukzession in eine konfigurierte Ordnung. Sie logifiziert die sukzessiv offene Zeit.18 Eine derartige Anordnung der Ereignisse erfolgt unter der Ägide des Begriffs holos und ergibt sich in signifikanter Weise gerade dort, wo Aristoteles’ Definition den Zeitbegriff streift. “Ganz ist, was Anfang, Mitte und Ende besitzt” (Poetik, 25). Demnach legt also die Logik der dichterischen Komposition fest, was Anfang ist, nicht allein der temporale Sachverhalt, dass dem entsprechenden Ereignis kein anderes Ereignis vorausgeht, sondern “das Fehlen einer Notwendigkeit in der Abfolge” (66). “Was das Ende angeht, so ist es wohl das, was nach anderem kommt, ‘jedoch entweder aus Notwendigkeit oder aus Wahrscheinlichkeit’” (66-67). Lediglich die Mitte scheint “bloß durch die Abfolge” definiert zu sein. Weil ihr selbst keine ordnende Logik inhärent ist, markiert sie das vermeintlich letzte mögliche Refugium für die sukzessive Entfaltung des episodisch Offenen. Ricœur hebt hervor, dass er die in der Tragödie sich vollziehende Logifizierung dezidiert als das “Wirken der Unstimmigkeit innerhalb dieses Zusammenstimmens” (66) beschreiben möchte. Das Dissonante wird somit zwar in eine höhere Ordnung überführt, bleibt gleichwohl aber in einer spezifischen Wirksamkeit vorhanden und somit auch identifizierbar. Dies gilt entsprechend auch für den Bereich der Mitte. Bei ihr greift eine eigene Logik, die Aristoteles mit dem Begriff der mētabole bezeichnet, eine Logik des Umschlags von Glück zu Unglück. Ricœur zufolge hat Aristoteles nichts gegen die Episoden als solche, wie er zitierend aus der Poetik zitierend belegt:

Nicht die Episoden als solche mißbilligt Aristoteles: die Tragödie kann sie nicht entbehren, wenn sie nicht monoton werden will, und das Epos zieht größten Nutzen daraus. Verurteilt wird hingegen die Zusammenhangslosigkeit der Episoden: ‘Ich nenne eine episodische Fabel eine solche, in welcher die Abfolge (met’ allēla, im Gegensatz zur Verkettung) der einzelnen Episode ohne Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit erfolgt […]’. Hier liegt der entscheidende Gegensatz: ‘nacheinander’/‘durcheinander’ (di’ allēla). (70)

Bei Aristoteles heißen die unmittelbar aufeinander folgenden Ereignisse ephexēs. Die Theorie der Tragödie setzt mit ihrer ordnenden Konfiguration direkt bei diesen Ereignissen an. Indem der Notwendigkeitscharakter für alle Ereignisse gilt, die in der Fabel aneinander grenzen, gibt es kaum Spielraum für eine freie Entfaltung der ephexēs (das Epos erweist sich als diesbezüglich toleranter).

Was bleibt also von dieser sukzessiven Episodentextur in der Tragödie übrig? Da es sich bei der Tragödie laut Ricœur um ein Modell der dissonanten Konsonanz handelt, bleibt für das Eintreten von Ereignissen, die Dissonanzen erzeugen, lediglich eine einzige auf sie bezogene Logik vorhanden, die er umfassend als Logik der Metabole bezeichnet. Sie betrifft aus aristotelischer Sicht vor allem diejenigen Ereignisse, die “furcht- und mitleiderregend” (vgl. 72) sind und bekanntlich über die reinigende katharsis ästhetisch aufgehoben werden. Vor allem geht es aber um die Aufhebung des Zufalls im Fluss der ephexēs:

Noch direkter wird die dissonante Konsonanz durch die Analyse des Überraschungseffekts ins Auge gefaßt. Diesen kennzeichnet Aristoteles durch einen außerordentlichen Ausdruck in Anakoluthform: ‘gegen die Erwartung/in Wechselwirkung’ (para tēn doxan di’ allēla) […]. Das ‘Überraschende’ (to thaumaston) – der Gipfel des Unstimmigen – sind dann die wie absichtlich geschehenden Zufälle. (73)

Hier zeigt sich neben dem ordnenden Dogma der poetologischen Notwendigkeit, dem Zufall im Sinne der Beliebigkeit entgegenzutreten,19 dass das Zwei-Ebenen-Modell der Tragödie immer schon eine zumindest dem Ansatz nach rezeptionsästhetische Dimension eröffnet, die es erlaubt, die geschilderten Ereignisse nach ihrer Konformität bzw. Nichtkonformität hinsichtlich einer etablierten Erwartungshaltung zu taxieren. Gleichwohl gilt es mit Blick auf Ricœurs Hauptthese zu betonen, dass die Regulation des ‘Überraschenden’ ursprünglich in der Logifizierung der sich sukzessiv vollziehenden Ephexes motiviert ist. Zuletzt widmet sich Ricœur der für Aristoteles wohl wichtigsten Umschlagsmodalität, der metabolē:

Das Zentrum der dissonanten Konsonanz, das einfachen und verschlungenen Fabeln noch gemeinsam ist, erreichen wir jedoch mit dem entscheidenden Phänomen der tragischen Handlung, das Aristoteles den ‘Umschlag’ (metabolē