Die Traumspringerin - Michael Schiebel - E-Book

Die Traumspringerin E-Book

Michael Schiebel

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Beschreibung

Sie weiß es zwar nicht, aber Aayana ist die beste Traumspringerin aller uns bekannten Multiversen und Zeiten. In der Traumwelt ist ein Putsch der Albträume im Gang – mit unabsehbaren Folgen für die Menschheit. Lady Chatterley, die Chefin der erotischen Träume und des Hohen Rats in der Traumwelt, holt sie daher an ihre Seite, um das zu verhindern. Aber geht es wirklich nur um die Diktatur der Albträume? Für Aayana beginnt eine phantastische und abenteuerliche Jagd durch Räume, Zeiten und Träume und ein Kampf gegen mächtige, teils unsterbliche Gegner. Ein neurotisches Machwerk voller Action, Spaß und neuer Erkenntnisse über Gott, Physik und die Welt – und nicht zuletzt über die wunderlichsten aller Wesen: die Menschen. Choking Hazard: Enthält unverdauliche Kleinteile. Schiebel gelingt mit seinem Fantasy-Neuling eine wahnwitzige Darstellung – als Genre vielleicht am besten mit humorvolle Fantsyliteratur zu umschreiben, mit Verweisen auf Monty Python oder Terry Pratchett. Schiebel treibt dabei nicht die reine Ironie auf das Genre, im Gegenteil: Er beweist sich als Kenner der Gattung und entwickelt einen komplexen eigenen Kosmos. - Für alle Fans von Douglas Adams und seiner "Per Anhalter durch die Galaxis"-Reihe.

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Die Traumspringerin

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout: Stefan Berndt Lektorat/Korrektorat: Ralf Diesel

Cover: www.shutterstock.com

ISBN: 978-3-95894-219-6 (Print) / 978-3-95894-220-2 (E-Book)

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2023

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhalt

1. Teil

Kapitel 1: Der Mann auf dem Balken

Kapitel 2: Im Pool von Wragby Hall

Kapitel 3: Vor dem großen Spiel

Kapitel 4: Der Abschlag des Thor

Kapitel 5: Die Flucht in ein Buch

Kapitel 6: Die Macht der Entropie

Kapitel 7: Eine unwahrscheinliche Zusammenkunft

Kapitel 8: Die Verschworenen

Kapitel 9: Versöhnung und Vereinigung

Kapitel 10: Der Aufbruch

2. Teil

Kapitel 11: Die Volksrepublik Bayern

Kapitel 12: Über Spanien, Gott und die Welten

Kapitel 13: Der Genosse Vorsitzende

Kapitel 14: Im Kerker

Kapitel 15: Das Glatisant

Kapitel 16: Reisen durch Zeit und Raum

Kapitel 17: Das Tribunal

Kapitel 18: Der Monotheos

Kapitel 19: Der Verräter

Kapitel 20: Die Abrechnung

3. Teil

Kapitel 21: Der Hohe Rat

Kapitel 22: Die Somno-Garde

Kapitel 23: Die dunklen Kräfte

Kapitel 24: Ahnungen und Warnungen

Kapitel 25: Feuer

Kapitel 26: Der Charme der Götter

Kapitel 27: Das Attentat

Kapitel 28: Verzweiflung

Kapitel 29: Hoffnung

Kapitel 30: Folgt der Frau

4. Teil

Kapitel 31: Zeitsprung und Endlosschleife

Kapitel 32: Ein Plan liegt in der Luft

Kapitel 33: Seelig sind die Einfältigen

Kapitel 34: Der Angriff der Ladies

Kapitel 35: Keine Zeit für Zweifel

Kapite 36: Das Finale im Regenwald

Kapitel 37: Götterdämmerung

Kapitel 38: Prostitution

Kapitel 39: Der Baum der Erkenntnis

Kapitel 40: Sonne küsst Horizont

Dank

1. Teil

Kapitel 1

Der Mann auf dem Balken

Nicht wenige Experten glauben, dass die bewaffneten Auseinandersetzungen des Jahres 1939 in Europa zu einem zweiten Weltkrieg hätten führen können. Wenngleich eine gewagte These, ist doch nicht zu leugnen, dass die Landung der Snarks auf der Erde nicht ohne Wirkung blieb. Der intergalaktische Eindringling zog ohne Zweifel die Aufmerksamkeit der Konfliktparteien auf sich – und Energien von den Schlachtfeldern ab. Wie auch immer, die Snarks haben mit ihrer technologischen Überlegenheit und ihrer sprichwörtlichen Friedfertigkeit eindeutig Spuren auf unserem Planeten hinterlassen, die über ihre heutigen Siedlungsgebiete in Australien und Neuseeland hinausreichen.

Robert Dillon, in „Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts“, 5. überarbeitete Auflage, Vancouver, Berlin 2012

„Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Miss Agrin“, begrüßte ein korpulenter Herr aus acht Metern Höhe sichtlich gut gelaunt die junge Frau unter ihm.

„Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Auch Ihnen einen guten Morgen“, entgegnete die Angesprochene höflich. „Aber darf ich fragen, wer Sie sind und wie Sie auf den Dachbalken meiner Reithalle kommen?“

„In der Tat habe ich diese beiden Fragen erwartet“, entgegnete der Mann freundlich. „Aber darf ich mir erlauben, Ihnen ein Gläschen von diesem ausgezeichneten Brandy anzubieten, den ich aus Anlass des Osterfestes mitgebracht habe?“ Dabei nahm er einen stattlichen Schluck aus einem großen Cognac-Schwenker und deutete mit der freien Hand auf eine Flasche und ein weiteres Glas, das neben ihm stand.

„Das kommt mir, ehrlich gesagt, um sechs Uhr am Morgen etwas zu früh.“ Aayana Agrin war es gewohnt, in den Morgenstunden ausgesprochen realistisch zu träumen, und genoss das auch. Trotzdem sah sie sich nach einer Leiter um, doch da war keine. Aber wer braucht in Träumen Leitern, um auf Dachbalken zu gelangen? Der Mann war jedenfalls entspannt und wippte leicht seine herabhängenden Beine, wie Kinder das mitunter tun, wenn sie auf einem Sessel sitzen.

„Nun denn, verzeihen sie mein Eindringen“, entschuldigte sich der Mann, der in seinem makellosen Anzug aus dem vorigen Jahrhundert, seinem runden roten Gesicht und mit einem kleinen altmodischen Hut auf dem Kopf aussah wie einem alten Kinofilm entflohen. Genüsslich leerte er sein Glas, um sich gleich großzügig nachzuschenken. „Mein Name ist Winston Churchill – vielleicht sagt Ihnen das ja was. Ich war Soldat, Staatsmann und Schriftsteller in Großbritannien, bevor der ganze Unsinn mit dem Sozialismus um sich gegriffen hat.“

Der Name kam Aayana bekannt vor, und sie fragte ganz direkt: „Waren Sie nicht in der Zeit Premierminister Großbritanniens, als die Snarks auf der Erde landeten?“

„In der Tat, meine Liebe. Ich bin entzückt!“, flötete Mr. Churchill sichtlich erfreut von seinem Balken. „Umso mehr freue ich mich, persönlich Ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Ganz meinerseits“, entgegnete Aayana, „wenngleich wir uns nur in einem meiner Träume befinden. Wann sind Sie eigentlich gestorben? Oder ist das unhöflich?“

„Keinesfalls, gutes Kind. Ich bin ziemlich alt geworden. Auch wenn es heißt, dass ich in den letzten Jahren meines Lebens ein ziemlich mürrischer Kauz gewesen sein soll, so habe ich selbst das nie so empfunden. Doch wie auch immer. Hier bin ich ja nun in meinem Lieblingsalter. Praktische Sache, das.“

„Freut mich, dass ich Sie in einem Alter träume, das Ihnen gefällt.“

„Nun, ganz so ist es nicht, meine Liebe. Das Alter können wir uns hier in der Traumwelt durchaus selbst aussuchen“, erklärte er etwas gönnerhaft. „Sind Sie sicher, dass Sie keinen Brandy wollen?“

„Ausgesprochenen sicher. Aber wie meinen Sie das mit der Traumwelt und dem Alter?“

„Ich hätte übrigens diesen Hitler besiegt“, wechselte Churchill das Thema, „und diesen albernen Kommunismus hätte ich auch nicht zugelassen.“ Das Thema Politik schien den Mann ernsthaft zu beschäftigen, er konnte dem mittlerweile in ganz Mittel- und Südeuropa vorherrschenden System des realen Sozialismus´ offensichtlich nicht viel abgewinnen.

„Selbst Ihr König, Kevin II., ist doch ein glühender Marxist, und das Vereinigte Sozialistische Königreich Großbritannien funktioniert doch ganz gut, wie man hört“, antwortete Aayana, räumte allerdings ein, dass sie noch nie auf der Insel gewesen sei. Reisen wird selbst innerhalb der Grenzen der Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche nicht gerne gesehen und daher mit allen erdenklichen bürokratischen Hürden weitgehend verhindert.

„Alles Unsinn! Ich wünschte, meine Heimat wäre Teil der Nördlichen Monarchien, wenngleich mir Vancouver als Hauptstadt doch eher ungeeignet erscheint und ich die Russen eigentlich nicht mag.“

Das wurde Aayana für einen Traum zu politisch. Daher versuchte sie es noch einmal mit der Frage: „Was führt Sie nun wirklich auf meinen Dachbalken – außer der Brandy, dem sie aber sicher auch anderswo zusprechen könnten?“

Churchill ließ zwei lange Sekunden vergehen und sah Aayana durchdringend an: „Du hast wirklich keine Ahnung, gutes Kind?“, kam es in einem väterlichen Tonfall. „Nun, an sich sind wir nicht in deinem Traum, sondern du bist in der Traumwelt“, erklärte er geduldig, und Aayana hatte das Gefühl, dass der kleine rote Traktor, den sie ab und zu in der Pferdehalle einstellte, ihr aufmunternd zuzwinkerte. „Dass wir in der Traumwelt sind, ist durchaus ungewöhnlich, denn es gibt nicht viele Übergänge von der wirklichen in die Traumwelt und noch weniger reale Menschen, die Traumspringen können.“

Da erwischte Churchill einen wunden Punkt bei Aayana, denn sie lebte zwar in der realen Welt, war aber ursprünglich eine Fiktionale – ein Geheimnis, das sie streng hütete.

„Ich kann zwar nicht Gedankenlesen, aber du bist ursprünglich fiktional, habe ich Recht?“, fragte der Mann auf dem Balken und brachte Aayana damit etwas aus dem Gleichgewicht. Denn kaum jemand außer ihr selbst wusste, dass sie aus einem verschollenen Frühwerk von William Shakespeare stammte. Dieser Traum war eindeutig von der komplexeren Sorte, offensichtlich hatte Aayanas Unterbewusstsein die Idee, sich ein wenig mit Aayana zu beschäftigen. Also beschloss sie, offen mit sich umzugehen und zu schauen, was noch passieren würde.

„Ja, das Stück hieß Aayana und der König, man könnte es getrost als romantische Jugendsünde meines später recht erfolgreichen Autors bezeichnen. Mich hat er aber trotz seiner Jugend ganz gut hinbekommen, jedenfalls bin ich zufrieden, wie ich bin. Übrigens, ein Landsmann von Ihnen.“ Dabei musste Aayana an ihren früheren Kollegen, den König, denken, mit dem sie nach wie vor freundschaftlich verbunden war, wenngleich sie sich seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen hatten. Nachdem das letzte Exemplar des Buchs untergegangen war, trieb sich Aayana eine Zeit lang in diversen Nebenhandlungen anderer Bücher herum, bevor sie endgültig in der realen Welt sesshaft wurde. Ihr König wechselte zum Fernsehen und drang als Captain eines Raumschiffs viele Lichtjahre von der Erde entfernt in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hatte – oder so ähnlich, erinnerte sich Aayana. Jedenfalls war er wieder gut im Geschäft.

Churchill betrachtete versonnen seine Brandy-Flasche und schwieg.

„Welchem Umstand verdanke ich nun wirklich Ihren Besuch?“, insistierte Aayana noch einmal, während ihr Gast auf dem Balken sich seinen dritten doppelten Brandy genehmigte.

Churchill hatte an einer bestimmten Stelle zu einem väterlichen Du gewechselt. Er blieb dabei: „Der Punkt ist der, mein liebes Kind, dass du schon ein paarmal beobachtet wurdest, wie du durch die Traumwelt stolpertest. Wie gesagt, das kommt äußerst selten vor und du hast es auch nicht bemerkt. Für dich waren es einfach Träume.“ Er machte eine Pause und sah sich in der Reithalle um, als hätte er sie eben erst bemerkt. „Für gewöhnlich belassen wir es auch dabei, die meisten kommen eh nicht drauf.“

„Aha“, sagte Aayana, immer noch nicht überzeugt, aber ihr Traum gefiel ihr: wenig Action, doch stimulierend.

„Nun ja, es ist so: Meine Chefin will mit dir reden.“

„Wer ist denn deine Chefin“, Aayana duzte den Man jetzt auch, war ja nur ein Traum, „und worüber will sie mit mir reden?“

„Ich dachte mir, dass du mir diese zwei Fragen stellen würdest“ – den Satz hatte Aayana schon irgendwo gehört – „und habe mir vorab die Erlaubnis geholt, dich ins Bild zu setzen: Meine Chefin ist Lady Chatterley, Herrin über die erotischen Träume und aktuell auch Vorsitzende des Hohen Rats der Traumwelt.“ Churchill machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte auf Aayana zu beobachten. Diese enttäuschte ihn nicht, denn man könnte sagen, dass sie für einen Moment recht dumm schaute.

„Und das Thema?“, stammelte Aayana eher kleinlaut.

„Nun, ich denke entschieden, es geht um den Weltuntergang, meine Liebe. Ja, ich bin fast sicher, dass es um diese leidige Weltuntergangssache oder zumindest um den Untergang der Menschheit geht“, erklärte Winston Churchill halb zu sich selbst und leerte seinen vierten Brandy.

Kapitel 2

Im Pool von Wragby Hall

Die Traumwelt bestand aus vielen unterschiedlichen Genre-Bezirken, doch die fünf größten und mächtigsten waren die Tagesgeschehen aufarbeitenden Träume, die abenteuerlichen, die erotischen, die Traumata verarbeitenden und die Albträume. In ständig wechselnden Allianzen gab es einen andauernden Kampf um Macht und Einfluss, wobei auch kleinere Genres, wie beispielswiese die Such- und die Ich-komme-nie-ans-Ziel-Träume (beides Spin- Offs der Albträume), immer wieder eine Schlüsselrolle als Zünglein an der Waage spielten.

Um halbwegs ein Gleichgewicht und den Frieden in der Traumwelt zu bewahren, wurde der Hohe Rat eingerichtet, in dem alle anerkannten Genres mit Delegierten vertreten waren. Alle vier Traumjahre (was in etwa acht Erdenstunden entspricht) wählte er seinen Vorsitz. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung diente als Exekutivorgan die Somno-Garde, die direkt dem oder der Vorsitzenden des Hohen Rats unterstellt war.

Winston Churchill, in „Checks and Balances in der Traumwelt“, 3. Auflage, Oxford 2009

Lady Constance Chatterley war zweifellos eine beeindruckende Erscheinung. Das lag nicht nur an ihrem hauchdünnen seidenen Morgenmantel, der ihre zarte Figur umhüllte, ohne deren offensichtliche Vorzüge ernsthaft zu verbergen. „Willkommen in Wragby Hall“, begrüßte sie mit einer überraschend tiefen Stimme Winston Churchill und Aayana Agrin auf der ausladenden Veranda an der Rückseite eines strahlend weißen Herrenhauses mit Blick auf eine akkurat gepflegte weite Rasenfläche. Den Hintergrund der Kulisse bildete ein englischer Garten mit wunderbarem alten Baumbestand. Die Terrasse, von der man über vier breite Stufen den Rasen erreichte, war umgeben von gepflegten Rosenstöcken mit einem betörenden Geruch, der auch zahllose Bienen und Schmetterlinge zu überzeugen schien.

„Im Buch habe ich mir das Anwesen düsterer vorgestellt. Sie haben es ja wunderschön hier“, erwiderte Aayana beeindruckt. An der linken Seite fand sich zudem eine einladende Poollandschaft mit Jacuzzi, kleinen Wasserfällen und Brücken. Der Geruch von frisch gemähtem Gras überlagerte das Aroma der Rosen und Amseln zwitscherten – alles in allem ziemlich paradiesisch.

„Danke, ja, ich habe mir unsere Hütte hier ein wenig hergerichtet und mit ein paar Annehmlichkeiten ausgestattet. In der Traumwelt geht so etwas. Aber verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Darf ich Ihnen Tee anbieten? Dazu vielleicht Toast mit gesalzener Butter und Orangenmarmelade? Ich liebe das und war gerade im Begriff zu frühstücken.“ Tatsächlich fand sich auf dem Rasen unweit des Hauses unter einem weißen Baldachin ein gedeckter Frühstückstisch, zu dem Lady Chatterley ihre Gäste geleitete. „Für dich vielleicht ein Glas Sherry, Winston?“

Beide nahmen dankend an, während Churchills Augen unverhohlen wohlwollend auf der schönen Gastgeberin ruhten. Auch Aayana hatte nun Gelegenheit, sie genauer zu betrachten: Irgendwie beschlich sie das Gefühl, sie säße ihrer hübscheren Schwester gegenüber. Sie war um einiges leichter als Aayana, insgesamt zierlicher von Statur und überraschend klein. Ihre Haut war ähnlich blass wie die Aayanas und beide hatten blaugrüne Augen und langes dunkles Haar, das Lady Chatterley aber nach oben gesteckt trug. Da beide Damen Liebesromanen entstammten, mochte überraschen, dass ihre Lippen nicht klassisch sinnlich geformt, sondern eher schmal waren. Wenngleich Lady Chatterleys Gesicht etwas schmaler war, hatten beide auffallend hohe Wangenknochen.

„Wir beide sehen uns ähnlich“, sagte Lady Chatterley, als hätte sie Aayanas Gedanken gelesen. Sie verzichtete immer noch darauf, sich vorzustellen. Offensichtlich wusste sie, dass entweder Churchill oder das Haus Aayana bereits verraten hatten, mit wem sie das Vergnügen hatte. „Ich mag Ihre Brüste. Ist das alles echt?“, fügte sie unverblümt hinzu.

Aayana errötete und brachte nicht mehr als ein gestammeltes „Ja, echt“ heraus. „Und Ihre langen Beine würden auch meinem Mellors gefallen. Er steht auf lange Beine und durchsichtige Seidenkleidchen.“ Erst jetzt bemerkte Aayana, dass auch sie mit einem schwarzen Negligé eher dürftig bekleidet war. Churchill hatte sie in aller Früh aufgelesen, da traf es sich, dass Aayana überhaupt etwas anhatte – was bei ihr in der morgendlichen Stille ihres kleinen Anwesens nicht selbstverständlich war.

„Wie komme ich hierher?“, wechselte Aayana das Thema.

„Nun, ich denke, Winston hat sie mit sich hergesprungen. Aber ich verstehe Ihre Verwirrung. Unsere Traumwelt ist nicht ganz einfach zu verstehen. Am Beginn. Soll sie auch gar nicht. Abgesehen von der durchaus praktischen Möglichkeit, an verschiedene Orte zu springen – wenn man es beherrscht –, hält die Traumwelt einige weitere Annehmlichkeiten bereit. Was sagen Sie beispielsweise zum Wetter? Ostern in Nottinghamshire ist üblicherweise nass, windig und kalt. Ich ziehe jedoch moderates Frühsommerwetter und Sonnenschein entschieden vor. Apropos, was halten Sie davon, in den Pool zu springen und unsere Unterredung dort fortzusetzen?“

Ohne Aayanas Antwort abzuwarten, erhob sich Lady Chatterley und bewegte sich anmutig auf den Pool zu, wobei sie ihren seidenen Morgenrock abstreifte und ihren makellosen Po, ihre Wespentaille und ihre schmalen Schultern freilegte.

Aayana erinnerte sich an Churchills Worte, dass Constance Chatterley in der Traumwelt als „Herrin über die erotischen Träume“ fungierte. „Eindeutig keine Fehlbesetzung“, rutschte es ihr heraus. Was blieb ihr also übrig? Sie folgte Lady Chatterleys Beispiel, streifte, am Pool angekommen, etwas weniger elegant ihren Spitzenseidenfummel ab und glaubte, Sir Winston Churchills Blick auf ihrem größeren Po zu spüren. Aayana fand ihr Becken immer schon etwas zu ausladend. Lady Chatterley, die sie aus dem Pool heraus unverhohlen musterte, schien das aber nicht zu stören. Sie lächelte erstmals und forderte Aayana noch einmal auf: „Kommen Sie herein! Die Wassertemperatur ist perfekt. Ein durchaus angenehmer Ort für eine ernste Unterredung. Wir brauchen Ihre Hilfe, Aayana. Ich bin übrigens Conny.“

Aayana Agrin war immer noch sicher, dass sie träumte, genoss aber den Pool und war gespannt, was Lady Chatterley ihr zu erzählen hatte. Also sagte sie etwas unbeholfen: „Freut mich, Conny. Ich bin Aayana.“

„Ich weiß. Ursprünglich aus ‚Aayana und der König‘, nicht wahr? Wenn man so will, hat Shakespeare damals eine Art schüchternen Vorläufer zu meinem Buch geschrieben. Hast du noch Kontakt zum König?“ Aayana verneinte, dachte aber gleichzeitig mit einem wohligen Schauer an die harmlos verspielten Flirts in ihrer „frivolen Komödie“, so der Untertitel des Buchs damals.

„Doch zur Sache: Was hat Winston dir bereits erzählt?“

„Nicht viel, bloß, dass es um den Weltuntergang ginge und du mich daher sprechen wolltest.“

„Nun, die Wortwahl sieht dem alten Kauz ähnlich, ist aber nicht ganz korrekt.“ Beide blickten unwillkürlich in Richtung Churchill, der sich unter dem Baldachin friedlich einem Nickerchen hingab. „Wer hätte denn etwas von einem Weltuntergang? Wir sind ja nicht in ‚Krieg der Sterne‘, obwohl Weltuntergänge natürlich auch aus Versehen passieren können,“ räumte Lady Chatterley ein.

„Nein, es geht um das Gleichgewicht“, sagte sie langsam und blickte Aayana nachdenklich an. Ihre Augen waren nun durch die Reflexion der Wasseroberfläche strahlend blau, aber ihre Stirn und ihr Mund verrieten ernsthafte Sorge. „Das Gleichgewicht der Traumgenres ist in Gefahr. Wir haben Informationen, dass die Albträume eine andauernde Machtübernahme vorbereiten … mit verheerenden Folgen für die Menschheit, wie du dir vorstellen kannst.“

„Klingt nicht gut,“ gab Aayana zu, verstand jedoch immer noch nicht annähernd, worum es ging. „Aber was kann ich dagegen tun?“

„Wir glauben, dass du gewisse Fähigkeiten besitzt, die uns helfen könnten, das zu verhindern. Wir selbst müssen zudem äußerst vorsichtig sein, denn insbesondere ich als Herrin über ein Genre und aktuelle Vorsitzende des Hohen Rats der Traumwelt stehe unter misstrauischer politischer Beobachtung durch alle anderen. Auch mir werden Machtgelüste nachgesagt und entsprechende Gerüchte werden gezielt befeuert. An sich haben wir für die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Traumwelt die Somno-Garde. Aber auch dort herrscht bereits tiefes Misstrauen. Niemand weiß mehr, wem man trauen kann und wem nicht,“ erklärte Constance Chatterley. „Du als Außenstehende bist bisher in keinerlei Ränkespiele verwickelt, wir setzen daher auf deine Unabhängigkeit und dein Urteilsvermögen. Was denkst du?“

„Hmnja, ich gestehe, dass ich keine Ahnung habe, wovon du sprichst. Aber immer mehr Albträume zu haben, ist keine erquickliche Vorstellung.“ Aayana machte eine kurze Pause.

„Euer Vertrauen ehrt mich natürlich. Übrigens, weil du von wir gesprochen hast, wer seid ihr?“

„Mich umgegeben ein paar Gefährten, denen ich immer noch und trotz allem blind vertraue. Du wirst sie kennenlernen. Bevor wir jedoch in die Details gehen: Spielst du in unserem Team?“

„Grundsätzlich schon, nur muss ich mich auch in der realen Welt um ein paar Dinge kümmern.“

„Das sollte kein Problem sein. Ein halbes Jahr hier bei uns entspricht etwa einer Stunde in der realen Welt. Umgekehrt vergeht hier in der Traumwelt gleich viel Zeit, während du in der realen Welt bist. Klingt etwas kompliziert, aber man gewöhnt sich daran. Es ist nicht auszuschließen, dass du in beiden Welten wirst operieren müssen.“

„Na, dann ist ja alles klar“, gab Aayana den Versuch auf, das alles zu verstehen. „Eine Frage interessiert mich noch: Wie geht ihr mit den Snarks um, vor deren technologischer Überlegenheit ja praktisch nichts zu verheimlichen ist?“

„Die Snarks mögen die Erde kontrollieren, aber hier in der Traumwelt spielen sie keine Rolle. Snarks können nicht träumen, daher haben sie sich nie mit uns beschäftigt und keine entsprechenden Technologien entwickelt. Wir sind hier ganz unter uns“, lächelte Lady Chatterley.

„Nun ja, seltsame Vorstellung … keine allmächtigen Snarks, keine umfassende Überwachung durch die Geheimpolizei der Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche.

Das hat Charme“, entgegnete Aayana. „Also, sagt mir, was ich zu tun habe. Ich bin dabei“, erklärte sie abenteuerlustig – und weil sie diese Frau instinktiv mochte.

„Aber Aayana“, Constances Blick glitt an Aayanas nacktem Körper hinab, „du solltest ab jetzt wieder ständig deine Pistole tragen. Waffen funktionieren auch in der Traumwelt“, mahnte Lady Chatterley ernst.

In den Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreichen herrschte das Prinzip der Waffenfreiheit, was dazu führte, das praktisch jeder bewaffnet war. Entsprechender Blutzoll wurde von den Herrschenden bewusst in Kauf genommen. Natürliche Auslese wurde das genannt, und die Snarks sahen wegen der beschränkten Ausbreitung entsprechender Gewaltakte großzügig darüber hinweg.

„Wenn ich also hier eine Schussverletzung abbekomme, gilt die dann auch in der realen Welt?“

„In der Tat, ja, gutes Kind“, hörten sie Winston Churchill, der mittlerweile erwacht und an den Beckenrand getreten war, hinter sich sagen. „In der Tat, ja.“

Kapitel 3

Vor dem großen Spiel

Nach der Landung der Außerirdischen hat sich die Welt in drei geopolitisch etwa gleich starke Machtblöcke geordnet. Von Vancouver aus herrscht ihre kaiserliche Majestät Sven Göran IV. über die Nördlichen Monarchien (die NM), die sich über Nordamerika, Skandinavien und Nordasien erstrecken. In Madrid findet sich der Oberste Rat der Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche (die VSVK), die ganz Lateinamerika und den europäischen Kontinent umfassen. Der afrikanische Kontinent und der südasiatische Raum haben sich in einer laut Eigendefinition „überwiegend demokratischen“ Staatengemeinschaft organisiert, der Panpazifischen Union (PANUN) mit ihren Sitzen in Dubai und Djakarta. Australien und Neuseeland werden von den Snarks nach wie vor als Urlaubsparadies für ihresgleichen geführt und von den Menschen heute Snarkland genannt. Dieses Gleichgewicht der Kräfte hat zu einer neunzig Jahre währenden Zeit des relativen Friedens geführt. Auch der Umstand, dass die Snarks grundsätzlich jede Form von Aggressivität verabscheuen und mit sanftem Druck unterbinden, mag dabei eine Rolle spielen.

Robert Dillon, in „Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts“, 5. überarbeitete Auflage, Vancouver, Berlin 2012

Es roch vertraut nach Pferden, Leder und Sägespänen – der Geruch einer Reithalle. Eine solche bildete das östliche Gebäude von Aayanas Vierseithof gegenüber vom Wohntrakt an der Westseite. An den beiden Längsseiten waren jeweils Stallungen untergebracht. Umgeben war der Hof an drei Seiten von sanft über den Hügel abfallenden Koppeln, vor dem Wohnhaus von einem weitläufigen Garten. Im Westen sah man zwischen Wäldern und Wiesen eingebettet die ersten drei Löcher eines Golfplatzes mit seinen Fairways, Weihern, Bunkern und Grüns. Das große Golfstadion sah man nicht. Es befand sich in einer Senke hinter einem Wald, der an Spieltagen vom Flutlicht gespenstisch erleuchtet wurde.

„Was für ein verrückter Traum“, dachte Aayana, weil sie das Gefühl hatte, vor ein paar Minuten schon einmal wach in ihrer Reithalle gewesen zu sein, und sich nicht erklären konnte, warum sie klatschnass war. Ihr war kalt.

„Sorry, wir hätten nicht direkt aus dem Pool in Wragby Hall zurückspringen sollen. Aber ich werden veranlassen, dass ihr Nachthemd umgehend nachgesprungen wird“, erklärte der Mann, den Aayana in ihrem Traum als Winston Churchill kennengelernt hatte. „Ich bin übrigens ein passionierter Reiter“, erklärte er beiläufig.

„Ja, Reiten ist auch meine Leidenschaft, und mit dem Einstellen von Pferden finanziert sich der Hof ganz gut auch ohne das staatlich zugewiesene Volkseinkommen“, erklärte Aayana Winston Churchill, der offensichtlich mit ihr in die reale Welt zurückgesprungen war. Oder ging der Traum einfach in der Reithalle weiter?

„Hierher verirrt sich jedenfalls der starke Arm der kaiserlich-königlich sozialistischen Wiener Bürokratie nur selten.“

„Wie überaus großartig! Dann bist du also eine professionelle Reiterin?“, mutmaßte Churchill.

„Nein, beruflich betreibe ich den Golfsport – im Übrigen eine der wenigen Betätigungen, die weltweite Reisen ermöglichen. Deswegen sind alle Golfer – eigentlich alle Sportler – auch Agenten ihrer jeweiligen Regierungen. Was eher sinnlos ist, weil es sowieso nichts zu spionieren gibt“, fügte Aayana lächelnd hinzu. „Aber gehen wir ins Haus. Ich sollte mir vielleicht etwas anziehen.“

Wenig später saßen sie bei einer wärmenden Tasse Tee an Aaynas Esstisch. „Heute ist Finaltag im Tryder Cup. Etwa 150.000 Zuschauer vor Ort und an die sechs Milliarden in aller Welt sehen die Live-Übertragung im Netz“, erklärte Aayana ihrem Gast.

„Du wirst mir jetzt aber nicht erklären, dass du mitspielst?“, argwöhnte Churchill.

„Doch. Ist schon meine dritte Berufung in die Auswahl der Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche. Ziemliche Ehre. Diesmal eine Art Heimspiel – direkt hier ums Eck im Franz Josef Memorial Golf Stadion. Mein Verein, die Schärdinger Donnerhasen, spielt dort seine Heimspiele in den diversen Klubwettbewerben.“

„Dann bist du also richtig gut?“

„Es gibt bessere. Ich spiele auf einer Position, auf der ich wenig Konkurrenz habe.“

„Völliger Unsinn! Sie ist die Beste. Ich sage nur: zweifache Tryder-Cup-Siegerin, von den unzähligen anderen Titeln will ich gar nicht reden – außerdem habe ich sie mir nicht gemerkt“, mischte sich eine signifikant rauchige Frauenstimme ein. Aayanas beste Freundin hatte, wie immer ohne zu läuten oder anzuklopfen, den Weg ins Wohnzimmer gefunden und gesellte sich nun zu den beiden ans Panoramafenster.

„Darf ich vorstellen: mein treuester Fan, Lena Laloum, Schauspielerin und hobbymäßig so etwas wie meine Managerin. Das ist Mr. Churchill.“

„Ich bin entzückt. Nennen Sie mich Lena.“

„Für Sie bitte Winston. Sehr erfreut, meine Teuerste“, antwortete Churchill, und es klang glaubwürdig.

Dazu muss man wissen, dass Lena Laloum so ziemlich in allem das Gegenteil von Aayana darstellte: auffallend groß, schlank, blond und mit einer leicht lasziven Ausstrahlung. Aayana war noch keinem Mann begegnet, dem sie nicht auf Anhieb gefallen hätte. Zudem kleidete sie sich gerne auffällig und teuer, jedenfalls wusste sie genau, wie sie ihre Vorzüge zur Geltung bringen konnte.

„Ich habe gewusst, dass du auch vor diesem wichtigen Spiel wieder herumtrödelst“, wandte sich Lena übertrieben vorwurfsvoll an Aayana. „Dein charmanter Besuch rechtfertigt das zwar nicht, erklärt es aber zumindest“, schenkte sie Churchill ihr entwaffnendes Lächeln.

Churchill errötete leicht. Nur mit Mühe riss er seine Augen von Lenas Anblick los: „Ich will keinesfalls deine Vorbereitungen stören, Aayana.“

„Kein Problem. Ist ja nur ein Golfspiel.“

Anders als zu Churchills Zeiten war Golf mittlerweile die global bei Weitem beliebteste Sportart, Wettkämpfe wurden weltweit live im Netz übertragen. Allerdings hatte sich das Spiel erheblich weiterentwickelt. Neben dem Liga-Alltag und etlichen internationalen Wettbewerben kam es alle drei Jahre rund um Ostern zum großen Showdown zwischen den Auswahlen der Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche, der Panpazifischen Union und der Nördlichen Monarchien. Während der zwei Wochen dauernden Veranstaltung hielt die Welt den Atem an, und selbst ernsthafte politische Spannungen waren Nebensache.

Sogar die Snarks beobachteten das Ganze mit Interesse, während des Tryder Cups – so hieß die globale sportliche Auseinandersetzung – verzeichneten Australien und Neuseeland viermal so viele Snark-Nächtigungen wie in normalen Saisonen. Trotz oder gerade wegen ihrer Friedliebe versetzte sie das brutale Spiel offenbar in angenehm schaurige Erregung.

„Nur ein Golfspiel?“, schaltete sich Lena wieder ein, „Das Turnier ist das größte der Welt und findet nur alle drei Jahre statt – mit dem großen Finale am Ostersonntag, dem wichtigsten Feiertag unseres Planeten … also heute um drei Uhr am Nachmittag. Wir sind schon spät dran“, erklärte sie Churchill.

Da nur wenige Sekunden während des morgendlichen Ausflugs in die Traumwelt vergangen waren, hatte Aayana in Wahrheit noch jede Menge Zeit. „Wir wollen uns zwei Stunden vor dem Spiel treffen, mehr als eine knappe halbe Stunde dauert die Induktionsfahrt nach Schärding nicht“, versuchte sie, Lena zu beruhigen, die sie aber gar nicht mehr hörte. Mit dem Hinweis, nach der Ausrüstung sehen zu wollen, war sie ebenso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Nicht jedoch, ohne Churchill noch ein betörendes Lächeln zu schenken.

„So ist sie immer. Wenn es nach ihr ginge, wäre ich seit gestern Abend beim Aufwärmen im Stadion,“ erklärte Aayana und bekräftigte noch einmal, dass kein Grund zur Eile bestand.

Aayanas Hof lag nämlich im Gebiet der k. u. k. Kaiserlich-Königlichen Sozialistischen Monarchie Österreich-Ungarn, einem Mitglied der Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche.

Der deutschsprachige Teil Österreich-Ungarns war zudem Mitglied des Deutschen Bundes. Das war eine Idee der Snarks, um in Mitteleuropa durch entsprechende Teilung der Macht auch im Inneren der VSVK Ruhe sicherzustellen. Im Norden bildete das Sozialistische Königreich Preußen den Gegenpol zu Österreich-Ungarn im Süden. Als Puffer dazwischen dienten die Sozialistische Volksrepublik Bayern und eine Unzahl kleinerer Königreiche, Herzogtümer, Grafschaften, Freistaaten und Freistädte. So gesehen war der Begriff Königreiche in Vereinigte Sozialistische Volksrepubliken und Königreiche nicht ganz korrekt.

„Ich fand das schon immer eine ziemliche Kleinstaaterei hier“, sagte Churchill, der eine große Karte Europas an Aayanas Wohnzimmerwand studierte, während sie Kaffee zubereitete.

„Und ziemlich unerträglich, dass man nicht einfach von hier, sagen wir, nach Spanien reisen kann, wie man hört. Obwohl beide Länder zu den Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreichen gehören.“

„Ja, jeder gegen jeden. Auch innerhalb der drei großen Bündnisse. Das wird sehr ernst genommen. Wir können nicht einmal einfach hinüber nach Bayern fahren, da braucht man schon sehr gute Gründe. Jedenfalls ist eine der Schlüsselindustrien unserer Zeit die Spionage- Branche. Obwohl es, wie gesagt, nicht viel zu spionieren gibt. Die Snarks haben sowieso den Finger am Deckel. Ich denke, wir machen das einfach aus nostalgischen Gründen.“

„Unerträgliche Zustände, auch das mit dem realen Sozialismus“, seufzte Churchill. „Ich glaube ja, es gäbe ihn gar nicht mehr, wären nicht die teils bereits entmachteten Herrscherhäuser Europas nach und nach auf die kommunistische Idee der Volksdiktatur zur Überwindung der Klassenunterschiede aufgesprungen.“

„War ja auch irgendwie einleuchtend“, warf Aayana ein. „Als Monarchen verfügten sie über jahrhundertelange Erfahrung in der Führung von Diktaturen.“

„In der Tat“, sinnierte Churchill. „Die kommunistischen Revolutionäre hätten das nie so stabil hinbekommen.“

„Hm, wer weiß. Es gibt ja auch genügend kommunistische Volksrepubliken ohne Monarchen“, entgegnete Aayana. „Aber wenn ich mir unsere Nachbarn in Bayern anschaue und mein Eindruck stimmt, dann sind sozialistische Monarchien nicht ganz so verbiestert wie die Volksrepubliken. Sie sind zwar genauso bürokratisch, entmündigend und ungerecht, aber irgendwie leichtfüßiger.“

Noch während Aayana das sagte, kam es ihr ziemlich unsinnig vor – die völlig humorbefreite Volksrepublik Bayern galt aber fast allen als Horror.

Doch Churchill wechselte das Thema: „Und dieser Cervantes in Spanien? Wie ist der so?“

„Persönlich kenne ich ihn natürlich nicht und ich weiß auch zu wenig über ihn, aber ich traue ihm nicht über den Weg. Als Vorsitzender des Politbüros der Sozialistischen Partei und des Hohen Rats der Sozialistischen Volksrepubliken und Monarchien ist er einer der mächtigsten Männer der Welt. Die meisten Monarchen, Diktatoren und Herzöge legen sich nur ungern mit ihm an, weil er anscheinend das Vertrauen der Snarks genießt. Ich glaube dennoch, er ist nicht der große Snarks- und Menschenfreund, für den er sich gerne ausgibt, sondern ein Heuchler.“ Es war durchaus gefährlich, so etwas offen auszusprechen. Aber mittlerweile hatte Aayana Vertrauen zu Winston Churchill gefasst, der nun interessiert dabei zusah, wie Lena Golfschläger, Golfhelm, Schutzbrille und Lederpanzerung brachte und zusammenpackte.

Aayana war eine der Letzten, die noch mit den alten Helmen und Schutzbrillen spielten. Noch waren sie erlaubt, und mit den neuen Vollvisierhelmen hatte sie einfach kein gutes Gefühl.

„Jedenfalls freue ich mich nun schon auf das Spiel und auch darüber, dass der Tryder Cup dieses Jahr praktisch hier vor meiner Haustüre stattfindet“, erklärte Aayana.

„Neben Augusta und Peebles Beach in den Nördlichen Monarchien sowie St. Andrews bei uns im Sozialistischen Königreich Großbritannien gilt das Stadion des Celtic Golf Course Schärding als die vierte ganz große Heimstätte des Golfsports“, ergänzte Lena. Aber Aayana bemerkte, dass Churchill ihr nicht mehr wirklich zuhörte.

„Wir müssen los. Kommen sie mit?“, riss Aayana Churchill aus seinen Gedanken.

„Das wird leider nicht möglich sein. Wie bereits erwähnt, vergeht in der Traumwelt die Zeit genauso schnell wie hier, und ich werde heute zu einem Dinner erwartet“, erklärte Churchill hoheitsvoll. „Ich wünsche dir aber viel Glück und hoffe auf einen Bericht vom Spiel, wenn ich dich morgen abhole. Gleiche Zeit?“

„Gleiche Zeit“, gab Aayana zur Antwort, welche Churchill jedoch kaum abwartete. Er wurde kurz durchsichtig und verschwand schließlich. Wie das mit dem Traumspringen funktionierte, war Aayana zwar immer noch nicht klar, aber das würde sie schon noch herausfinden. „Am besten gleich morgen“, dachte sie laut. Sie sei ja schon durch die Traumwelt gestolpert, hätte es aber nicht einordnen können …, haben sie gesagt.

„Und was war das jetzt?“, fragte Lena entsetzt.

„Ich denke, er musste zu einem Dinner-Termin.“

Kapitel 4

Der Abschlag des Thor

Das Golfspiel ist zweifelsfrei der härteste Mannschaftssport der Welt. Ich fand immer reizvoll, dass das Team zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern bestand, wobei ich zugebe, dass manche meiner wenigen Niederlagen in der daraus resultierenden Ablenkung begründet sein mochten.

Thor, in „Ein Leben für den Golfsport“, Asgard 2012

Vom ursprünglich vierundfünfzigköpfigen Team der Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche waren nach den Vorrundenspielen gegen die Panpazifische Union und die Nördlichen Monarchien immerhin noch achtunddreißig Spielerinnen und Spieler einsatzfähig, davon einundzwanzig so gut wie unverletzt – so auch Aayana. Das war kein schlechter Wert, obwohl der Finalgegner, die Nördlichen Monarchien, noch einundvierzig Golfer auf der Nennliste für das heutige Spiel hatte. Über deren physischen Zustand ließ sich jedoch nichts Genaues sagen. Um so etwas machten alle Teams stets ein großes Geheimnis.

„Hallo, Herkules“, begrüßte Aayana ihren Abschläger, Kapitän und Star der Mannschaft, am Induktionsterminal vor dem Haupteingang des Schärdinger Golfstadions.

„Sei gegrüßt, Aayana, Liebe meines unendlichen Lebens. Wie geht’s den Knochen? Bist du fit?“ Herkules war ein über zwei Meter großer Hüne aus der Volksrepublik Griechenland, die von Aayana mit Österreich-Ungarn Anfang des Jahres in der Europäischen Liga noch überraschend besiegt werden konnte. Der Freundschaft zwischen Aayana und Herkules tat das aber keinen Abbruch. Und nun spielten sie eine Ebene darüber im selben Team.

„Alles bestens“, erwiderte Aayana freundlich, „wie ist die Luft da oben, und wie geht’s den unsterblichen Knochen?“

Er zwinkerte Aayana zu, denn die Frage nach dem Zustand ihrer Gebeine war eine Art Begrüßungsritual zwischen den beiden. „Hattest du wieder Heimschläfer-Erlaubnis?“, wollte er wissen. „Du lebst doch hier irgendwo. Wie weit ist es zu dir nach Hause?“

„Zu mir heim weniger als eine Stunde mit der Induktion – und ja, ich wollte den spielfreien Tag vor dem Finale zu Hause abschalten. Aber ich bin nicht wichtig. Wie fühlt sich unser Star? Gewinnen wir das heute?“ Das Finale wurde in nur einer 18-Loch-Runde ausgetragen und war der Höhepunkt des Turniers. Meist ging es besonders hart zur Sache, denn wer nach dem Endspiel noch auf seinen eigenen Beinen laufen konnte, hatte es offensichtlich an Einsatz missen lassen – so hieß es.

„Klar haben wir eine Chance. Hast du ja in den Vorrunden gesehen. Aber Thor ist schon in überragender Form. Wenn er so spielt wie im letzten Spiel gegen die Panpazifiker, dann wird das heute spannend“, analysierte Herkules. Er war nicht der Typ für Motivationsfloskeln, strotzte aber vor Selbstbewusstsein. Er und Thor galten seit Jahren als die besten Abschläger der Welt, womöglich aller Zeiten. Persönlich waren die beiden zwar nicht befreundet, begegneten sich aber mit mehr als nur sportlich fairem Respekt. Aayana hatte immer den Eindruck, dass sie irgendetwas verbindet. Vielleicht einfach nur die Liebe zum Golfsport. Oder die Unsterblichkeit. Wie auch immer, heute am Platz würde man sich wieder nichts schenken. Keiner wollte Zweiter werden.

Nach dem Aufwärmen und einer letzten kurzen Mannschaftsbesprechung liefen die Teams ins Golfstadion ein. Es war wie immer beeindruckend: Allein die Tribünen auf den ersten beiden Spielbahnen – ein gerades Par 5 und im rechten Winkel dazu ein sanft abfallendes Par 5 mit einem Inselgrün – boten über 100.000 Zuschauern Platz, wobei dieser Teil des Stadions auch einen guten Blick auf das entgegenkommende siebente Loch sowie das achte, neunte und achtzehnte Loch bot. Auf riesigen Videowalls konnte man aber natürlich von überall die gesamte Runde verfolgen.

Am teuersten waren Karten für die Spielbahnen 17 und 18, ein langes Par 5 und zum Abschluss der Runde ein kurzes Par 3, dessen Grün von einem Teich und drei tiefen Bunkern verteidigt wurde. Allerdings konnte die Runde, und damit das Finale, zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden sein. Wenn nicht, dann hatte man alles richtig gemacht und die teuren Sitzplätze waren ihr Geld wert.

Das Los hatte den Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreichen den ersten Abschlag beschert. Die vier Blocker und Brecher stellten sich regelkonform rund um den Abschlag auf, die des Gegners innerhalb der Dreimeterzone vor dem Grün. Die drei Putter der VSVK warteten auf dem Grün, beschattet von den Lochverteidigern der Nördlichen Monarchien. In der dafür vorgesehenen Zone rund um das Grün warteten die Lochverteidiger der VSVK und die Putter des Gegners auf einen etwaigen Einsatz. Am Fairway spielten die Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche ein 3/4/3 aus Fairwayschlägern, Pitchern und Chippern. Die Nördlichen Königreiche überließen die erste Hälfte des Lochs völlig dem Gegner und stellten sich taktisch mit nur einem Fairwayschläger, fünf Pitchern und vier Chippern auf. Lediglich ihr Abschläger, Thor, stand in der vorgeschriebenen Zone auf Höhe des Tees.

Das war durchaus eine gefährliche Taktik, denn wenn einer der Fairwayschläger so unbedrängt zum Schlag kam, dass er das Green traf, dann hieß es nurmehr: Putter gegen Lochverteidiger. Wurde das Grün jedoch nicht getroffen, dann konnte sich die Übermacht der Nördlichen Monarchien an Pitchern und Chippern durchaus auszahlen, denn wenn sie an den Ball kamen und das Grün trafen, hatten ihre Putter die erste Chance auf das Loch.

Alle Spieler, bis auf die Abschläger und die mit Baseball- statt Golfschlägern bewaffneten Brecher sowie die mit Baseballhandschuhen ausgestatteten Blocker, mussten innerhalb von sechs Löchern auf allen Positionen eingesetzt werden, wobei Pitcher und Chipper vor jedem Loch nominiert werden mussten. Fairwayschläger durften auch kurze Pitches schlagen, nicht jedoch chippen. Die Abschläger durften theoretisch jeden Ball spielen, außer am Grün zu putten. Jede Art von Köperkontakt war erlaubt. Die sechs Schiedsrichter ahndeten lediglich „übertriebene Härte“, was aber selten vorkam.

Herkules schlug also ab, wobei er eine überraschend kurze Variante wählte – nicht zum manngedeckten Star am Fairway, Nick Faldo, sondern zum Lokalmatador Bernhard Langer, der ziemlich freistand. Der fand die Lücke zu Severiano Ballesteros, der sich in einer Pitching-Position ideal ins Semi-Rough freigeschlichen hatte und mit einem seiner unvergleichlichen Pitches das Grün traf, ohne dass es zu nennenswerten Körperkontakten am Fairway gekommen war. Ein perfekter Start, denn es ging auch darum, die Runde möglichst mit achtzehn Spielern zu beenden. Auf den vielen Par-4-Löchern würde die Sache auf engeren Räumen erheblich härter ablaufen.

Jedenfalls hatte Aayanas Team nun drei Schläge aufs Loch bei unbeschränkter Anzahl von Pässen. Nach drei erfolglosen Puts oder wenn ein Put abgefangen wurde, wechselte das Putting-Recht, und man sprach bei erfolgreichem Einlochen durch die nicht abschlagende Mannschaft von einem Break. Doch dazu ließ es das Team der VSVK nicht kommen.

McIllroy stoppte den Pitch von Ballesteros ideal, im Bruchteil einer Sekunde hatte er Aayana den Ball innerhalb eines Meters zum Loch aufgespielt – und die verwertete relativ unbedrängt zum 1:0. So schön diese Angriffssequenz war, so merkte man doch an vereinzelten Buh-Rufen eine gewisse Enttäuschung der Zuschauer, die eindeutig mehr Action sehen wollten. Sie sollten nicht enttäuscht werden.

Am zweiten Loch mit Abschlagsrecht für die Nördlichen Königreiche durch Thor entwickelte sich ein offener Schlagabtausch auf Höhe der Pitching Zone, und mit Ballesteros nahm ein gegnerischer Brecher mit seinem Baseballschläger einen der Besten aus Aayanas Team aus dem Spiel. Das Loch musste mit entsprechend geschrumpftem Team fertiggespielt werden, eine Einwechslung war erst am nächsten Loch möglich. Ein Inselgrün spielte man in der Regel ohne nominierte Chipper, doch die Räume um das Grün waren eng, und weder die Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche noch ihre Gegner kamen zu freien Pitches auf das Grün. Zwei Bälle der VSVK landeten im Wasser, was von den Put-Versuchen abgezogen würde, sollten sie das Putting-Recht erobern. Dazu kam es auch, aber ein langer Put von Jon Rahm ging knapp am Loch vorbei, nun war der Gegner am Zug. Ein wunderschöner Doppelpass zwischen Dustin Johnson und Tiger Woods konnte von Ersterem erfolgreich abgeschlossen werden. Die Europäer und Südamerikaner hatten ihre erste echte Break-Chance vertan und es stand 1:1.

Die Bahnen 3 und 4 konnten jeweils von den abschlagenden Teams gewonnen werden, wobei das Spiel an Intensität weiter zunahm. Die VSVK verloren mit Martin Kaymer und Francesco Molinari zwei weitere Stars, während bei den Nördlichen Königreichen Jordan Spiehs und Bubba Watson verletzt ausschieden. Auch Thor, der sich auf den Par-4-Löchern ebenso in die laufenden Angriffe einschaltete wie auf Aayanas Seite Herkules, musste ein paar harte Hits hinnehmen. Auf der fünften Bahn, einem Par-4-Dogleg hügelaufwärts nach rechts, kam es zum ersten Break für die Nördlichen Monarchien, den diese auf dem sechsten Loch erwartungsgemäß verteidigten, da Par-3-Löcher mit dem Abschlag direkt aufs Grün selten gebreakt wurden. Danach lief in der Outlap alles nach Plan, und nach neun Löchern stand es 5:4 für die Nördlichen Monarchien, mit Abschlagsrecht auf der Zehn. Aayana und ihr Team brauchten jedenfalls auf den zweiten neun Löchern einen Break, um das Match wieder offen zu gestalten.

Tatsächlich gelang der Break gleich am 10. Loch. Am 12. Loch mussten die Nördlichen Monarchien an einem Dogleg nach links den Hügel hinauf einen weiteren Break hinnehmen – und die anfängliche Führung der Volksrepubliken und Königreiche war wiederhergestellt.

Auf der 15 konnten die Nördlichen Monarchien sich den Break aber zurückholen, und trotz hin und her tobenden Kampfes konnten bis zur 17 die jeweils abschlagenden Teams ihre Löcher gewinnen – und die VSVK führten mit 9:8.

Allerdings wartete als letztes Loch ein Par 3, das der Gegner mit seinem Abschlagsrecht vermutlich für sich entscheiden würde. Alle bereiteten sich gedanklich bereits auf eine Verlängerung vor, in der es so lange weiterging, bis ein Team zwei Loch hintereinander gewinnen konnte. Doch nun wurde es turbulent.

Aayana war am 18. Loch wieder am Green nominiert. Nicht weil sie eine überragende Lochverteidigerin war, sondern falls wider Erwarten das Putting-Recht erobert werden konnte, war sie als erfolgreichste Putterin dieser Saison gesetzt. Neben den drei Bunkern nahmen die Pitcher beider Teams eher lässig Aufstellung, der Rest beider Teams bestand aus den obligatorischen Blockern und Brechern. Niemand rund um das Grün rechnete jedoch ernsthaft mit einem Einsatz. Dafür spielte Thor viel zu genau, die 130 Meter würde er vermutlich mit einem kleinen Pitching-Wedge und hoher Flugkurve souverän überbrücken.

Als Thor sich zum Abschlag aufstellte, schien er jedoch ungewohnt nervös. Über die kurze Distanz konnte Aayana ihn von ihrer Position direkt links neben dem Loch recht gut sehen. Herkules nahm gemäß Reglement in seiner Zone neben dem Abschlag Aufstellung. Und dann ging alles sehr schnell. Nach seinem üblichen Probeschwung, und eben im Begriff abzuschlagen, sah Thor plötzlich über seine rechte Schulter hinter sich. Ihm gegenüber blickte Herkules in dieselbe Richtung. Im nächsten Moment sauste Thors Schläger nach unten und traf den Ball viel zu dünn. Statt eines hohen Bogens mit sicherer Landung auf dem Grün raste der Ball flach direkt auf Aayana zu. Noch während sie versuchte, sich wegzudrehen, erkannte sie zwischen Thor und Herkules am obersten Ende der Tribüne eine Art Blitz. Im selben Moment explodierte Thors Golfball etwa drei Meter vor Aayana in der Luft und zerstob in hunderte Einzelteile.

Als sich Aayana vom Boden aufrappelte, fand sie sich umgeben vom ohrenbetäubenden Lärm des Publikums. Nichts hielt die Zuschauer auf den Sesseln. Was war passiert? Die Regeln besagten, dass, wenn ein Ball nach dem Abschlag etwas in der Luft traf – beispielsweise einen Vogel –, dieser von dort weitergespielt werden musste, wo er zu liegen kam. Allerdings gab es keinen Ball mehr, der irgendwo lag. Zudem war, für jeden ersichtlich, Thors Abschlag völlig misslungen. Das Spiel wurde unterbrochen und die Jury trat zusammen. Kurze Zeit später ging es weiter. Der Ball wurde für verloren erklärt, die Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche hatten nun das Abschlagsrecht, und sie konnten die Meisterschaft am letzten Loch für sich entscheiden.

Eher unüblich auf einer Runde, zumal so einer wichtigen, war, dass die beiden Abschläger ein paar Worte miteinander wechselten, wobei beide immer wieder auf jenen Teil der Tribüne blickten, in dem Aayana das Aufblitzen sah.

Aber nun ging Herkules zum Abschlag. Sein Ball landete direkt am Schläger Ricky Fowlers, der als Lochverteidiger der Nördlichen Monarchien am Grün stand. Ricky zögerte nicht und versuchte überhastet, die unerwartete Vorlage direkt aus drei Metern ins Loch zu putten, womit der Ball nun durch Aayana zu verteidigen gewesen wäre. Doch irgendetwas ließ sie den Bruchteil einer Sekunde zu spät kommen und der Ball versank im Loch, was zur Folge hatte, dass ein Stadionsprecher mit Herzrhythmusstörungen ins Krankenhaus gebracht werden musste. Die Menge tobte. Der Mann war wenig später wieder wohlauf.

Am sechsten Extraloch schaffte Aayanas Team dann den entscheidenden Break, holte den Titel zum dreizehnten Mal in die Vereinigten Sozialistischen Volksrepubliken und Königreiche, womit sie mit den Nördlichen Monarchien gleichzogen.

Nach den Siegeszeremonien stellte Thor Aayana in den Katakomben des Stadions: „Das war wirklich sportlich von Herkules und dir, uns auf der 18 zurück ins Spiel zu holen. Aber wer hat es auf dich abgesehen, Aayana? Warum sitzt an so einem öffentlichen Ort ein Scharfschütze im Publikum?“

„Da hat es jemand ziemlich eilig“, ergänzte Herkules, der eben hinzutrat. „Ich glaube nicht, dass das eine normale Agentenfehde ist. So eine spielen wir doch alle mehr oder weniger, nach dem Motto: Leben und leben lassen. In welcher Sache steckst du da drinnen?“, zeigte sich auch Herkules ehrlich besorgt.

„Ich habe keine Ahnung“, erklärte Aayana wahrheitsgemäß, als weitere Spieler beider Mannschaften dazukamen.

„Das war ein Schuss, habe ich recht?“, wollte Ricky wissen. „Und ihr habt mich auf der 18 absichtlich ausgleichen lassen.“

Herkules wandte sich an Thor: „Du hast es im gleichen Moment gespürt wie ich, nicht wahr? Aber mit dem Wedge einen Ball absichtlich so dünn zu treffen und die Kugel eines Scharfschützen herunterzuholen, entspricht, grob geschätzt, einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 800 Trilliarden, selbst für dich, Thor.“

„Ja, aber ich habe Zaphod Beeblebrox vor dem Spiel im VIP-Bereich gesehen. Und wo der auftaucht, herrscht immer Unwahrscheinlichkeit. Den Versuch war es jedenfalls wert, und was hätte ich sonst tun sollen?“

„Jedenfalls hast du mir das Leben gerettet“, umarmte Aayana den blonden Hünen in ehrlicher Dankbarkeit, immer noch etwas geschockt. Sie war zwar schon ein paarmal in kleinere Schießereien verwickelt, aber ein Scharfschütze war schon nochmal etwas anderes.

„Wir haben einen toten Scharfschützen im letzten Rang auf der Tribüne an der 18“, wurden sie von einer leisen Stimme unterbrochen, die es hörbar gewohnt war, auch ohne entsprechende Lautstärke oder erkennbare Höhen und Tiefen in der Modulation gehört zu werden und Befehle zu geben, die auch befolgt wurden. „Ich bin Hauptkommissar Talhammer. Kann mir irgendjemand hier im Raum etwas dazu sagen?“ Die allgemeine Ratlosigkeit quittierte er mit einem mehr zu sich selbst genuschelten: „Ah, nicht? Schade.“ Im Umdrehen ergänzte er, ohne einmal Luft zu holen: „Ich kann Sie nicht alle bitten, sich zur Verfügung zu halten. Aber ich muss zumindest Sie, Frau Agrin, und die Herren Thor, Herkules und Fowler bitten, mir für eine Aussage in einen Nebenraum zu folgen. Alle anderen können gehen. Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt, melden Sie sich beim Polizeikommando Schärding und verlangen Sie mich. Ah ja … gratuliere zum Sieg … und, na ja, dass alle noch aufrecht stehen.“

Die vier Angesprochenen folgten dem Hauptkommissar, dessen mächtiger Körper von hinten fast kreisrund aussah, in einen Nebenraum. Dort musterte der Polizist die Gruppe mit sparsamen Bewegungen seines Kopfs, um schließlich so leise und monoton wie zuvor zusammenzufassen: „Der Schütze war auf Sie angesetzt, Fräulein Agrin. Sie beide haben das bemerkt oder gespürt. Herrn Thors scheinbar verunglückter Abschlag war Absicht und hat die Kugel im Flug getroffen. Sehr außergewöhnlich. Und Sie, Herr Fowler, haben das alles beobachtet. Ist das soweit korrekt?“

Die Runde bestätigte die Annahmen des Hauptkommissars, wobei Ricky Fowler und Aayana noch zu Protokoll gaben, dass sie vermutlich das Mündungsfeuer gesehen hatten, dass sie es zunächst aber nicht als solches erkannten. Das Stadion war zwar hell erleuchtet – es war mittlerweile nach Mitternacht –, nicht aber die Zuschauerränge.

„Nun, der erfolglose Scharfschütze wurde offensichtlich an Ort und Stelle exekutiert. Wir haben da oben eine männliche Leiche“, erklärte der Hauptkommissar weiter. „Auf der Tribüne hat niemand etwas bemerkt. Alle Augen waren auf das Geschehen auf der Spielbahn gerichtet, und sowohl der Scharfschütze als auch sein Exekutor verwendeten Schalldämpfer. Profis. Ich fürchte, da kann ich hier von Schärding aus nicht viel machen. Jedenfalls werde ich die Kollegen drüben in Passau verständigen.“

Nachdem die vier dem korpulenten, aber äußerst wach wirkenden Polizisten auf seine Fragen keine weiteren Antworten liefern konnten, entließ er sie, indem er nuschelte: „Passen Sie auf sich auf, Fräulein Agrin. Da meint es jemand so ernst, dass ich nicht glaube, dass es bei einem Versuch bleiben wird.“ Dann verabschiedete er sich und Aayana und die drei Männer gingen nachdenklich in ihre Umkleideräume.

Kapitel 5

Die Flucht in ein Buch

Es gibt nicht nur Verbindungen zwischen der realen und der Buchwelt, sondern auch viele zwischen der Buch- und der Traumwelt. Denn fast alles, was gelesen wird, findet auch Eingang in unsere Träume. Um allerdings die Literatur vor dem Chaos der Traumwelt zu schützen, sind Sprünge von der Traum- in die Buchwelt streng verboten und unterliegen Sprünge von der Buch- in die Traumwelt einem strikten Reglement. Wobei es Welt als Begriff nicht ganz trifft und dieser vermutlich dem beschränkten Vorstellungsvermögen der realen Menschen, der Fiktionäre aus der Buchwelt und der Somnäre aus der Traumwelt geschuldet ist. In Wahrheit haben wir es höchstwahrscheinlich mit einem Multiversum zu tun (siehe Lukas von Selben in „Unwahrscheinlichkeit und Sühne“, in dem er die Zeitgleichheit dieser drei und weiterer vier „Welten“ erstmals mathematisch nachweist, aber auch die Möglichkeit von Zeitreisen außer Frage stellt und Surfbretter als ideales Werkzeug für Sprünge in großen Krümmungen der Raumzeit für Zeitreisen empfiehlt).

Constance Chatterley, in „Erinnerungen und Träumereien“, Sheffield 2020

Inhalt

Cover

Titelseite

Impressum

Inhalt

1. Teil

Kapitel 1: Der Mann auf dem Balken

Kapitel 2: Im Pool von Wragby Hall

Kapitel 3: Vor dem großen Spiel

Kapitel 4: Der Abschlag des Thor

Kapitel 5: Die Flucht in ein Buch

Kapitel 6: Die Macht der Entropie

Kapitel 7: Eine unwahrscheinliche Zusammenkunft

Kapitel 8: Die Verschworenen

Kapitel 9: Versöhnung und Vereinigung

Kapitel 10: Der Aufbruch

2. Teil

Kapitel 11: Die Volksrepublik Bayern

Kapitel 12: Über Spanien, Gott und die Welten

Kapitel 13: Der Genosse Vorsitzende

Kapitel 14: Im Kerker

Kapitel 15: Das Glatisant

Kapitel 16: Reisen durch Zeit und Raum

Kapitel 17: Das Tribunal

Kapitel 18: Der Monotheos

Kapitel 19: Der Verräter

Kapitel 20: Die Abrechnung

3. Teil

Kapitel 21: Der Hohe Rat

Kapitel 22: Die Somno-Garde

Kapitel 23: Die dunklen Kräfte

Kapitel 24: Ahnungen und Warnungen

Kapitel 25: Feuer

Kapitel 26: Der Charme der Götter

Kapitel 27: Das Attentat

Kapitel 28: Verzweiflung

Kapitel 29: Hoffnung

Kapitel 30: Folgt der Frau

4. Teil

Kapitel 31: Zeitsprung und Endlosschleife

Kapitel 32: Ein Plan liegt in der Luft

Kapitel 33: Seelig sind die Einfältigen

Kapitel 34: Der Angriff der Ladies

Kapitel 35: Keine Zeit für Zweifel

Kapite 36: Das Finale im Regenwald

Kapitel 37: Götterdämmerung

Kapitel 38: Prostitution

Kapitel 39: Der Baum der Erkenntnis

Kapitel 40: Sonne küsst Horizont

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