Die Überlebenden - Felix Broxtermann - E-Book

Die Überlebenden E-Book

Felix Broxtermann

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Beschreibung

Eine junge Frau kämpft in den Ruinen der sterbenden Erde ums Überleben. Ein verzweifelter Raumschiffskapitän such im All nach einer neuen Heimat für die Menschheit. Eine Späherin findet im ewigen Eis die Relikte einer fortgeschrittenen Zivilisation. Ein Kommissar versucht, den merkwürdigen Mord auf einer Mondbasis aufzuklären. Ein Wissenschaftler sucht nach einem Weg, verkümmerte Klone in ihrer natürlichen Form wiederherzustellen. Ein Bürgermeister gibt einer Androidin ihren freien Willen. Ein jungen Astronomin findet ein merkwürdiges Objekt, dass im Anflug auf ihren Planeten ist. Zwischen ihren Geschichten liegen Lichtjahre und Äonen – und doch sind ihre Schicksale unzertrennbar miteinander verknüpft...

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Seitenzahl: 357

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Die Überlebenden 

Felix Broxtermann 

 

1 Was ist und was war 

2 Das Haus am Fluss 

3 Wissensdurst 

4 Überreste 

5 Alles an seinem Platz 

6 Neue Welten 

7 Grauzonen 

8 Alte Probleme 

9 Zukunftsmusik 

10 Zerbrochene Ketten 

11 Konfliktbewältigung 

12 Was übrig blieb 

13 Faksimiles 

14 Leuchtende Zeiten 

15 Inspirationen 

16 Der letzte Flug 

17 Ein Abschied 

18 Hoffnung 

 

 

Was ist und was war

Der Himmel über dem fragmentierten Park war finster mit dichten, dunklen Wolken. Ein heftiger Regen fiel herab und verdampfte mit einem leisen Zischen auf dem Kraftfeld, das die Stadt überspannte. Meram lag ein paar Meter darunter auf der Erde zwischen großen blauen Farnblättern und döste vor sich hin. Außer ihr schien niemand zu diesem Bereich des Parks zu kommen, was ihn zum perfekten Rückzugsort für sie machte. Schließlich räkelte sie sich, stand auf, ging ein paar Schritte zum Rand des Parksegments und blickte nach unten. Der fragmentierte Park bestand aus diversen Plattformen unterschiedlicher Größe, die über der Stadt schwebten, teils knapp über den Gebäuden, teils hoch in der Luft. Auf jedem Segment war ein anderes Biom platziert worden, Meram konnte Wälder, Wüsten, Wiesen und andere sehen. Was sie hingegen zunächst nicht sehen konnte, waren andere Besucher. Obwohl das schlechte Wetter keinen direkten Einfluss auf den Park hatte, neigten die meisten Leute dazu, ihn bei Regen zu vermeiden. Sie blickte genauer auf die Plattformen, die ihr am nächsten waren, und erspähte unter einem Baum eine Sitzdecke, auf der zwei Ecmasi mit hellen gelben Schnäbeln und identischen violetten Roben Platz genommen hatten und sich gegenseitig die Federn pflegten. Auf einem anderen Segment baute ein Saihuri-Junge mit feuerroten Schuppen an einem Strand eine große Sandburg, ein anderes Kind – vermutlich seine Schwester – lag daneben unter einem Sonnenschirm. Meram schien die einzige Irdische in der näheren Umgebung zu sein. Sie gähnte und wollte zurück zum Farnfeld marschieren, doch da vibrierte der Ring an ihrem Zeigefinger sanft. Etwas genervt tippte sie ihn an. 

 „Ein Anruf von Koha Sesil“, sagte eine sanfte künstliche Stimme. 

 „Annehmen.“ 

Ein leises Klicken ertönte, dann ertönte die Stimme ihres Vaters. „Hallo, Meram! Ich hoffe, ich störe dich nicht?“ 

 „Nein, ich habe gerade Zeit.“ 

 „Hast du das? Dann gehe ich mal davon aus, dass du keinen Eintrag in deinem Kalender gemacht hast …“ 

 „Natürlich habe ich das“, sagte Meram seufzend. „Heute ist der Tag für den Geschichtsunterricht.“ 

 „Allerdings. Aber keine Panik – du hast noch über eine Stunde, um zur Zentrale zu kommen. Wo bist du gerade?“ 

 „Im Park. Ich gehe gleich zur Bahn.“ 

Koha war einen Moment lang still, bevor er wieder sprach. „Ich bin gerade in der Nähe, ich warte am Bahnhof auf dich.“ 

 „Das ist wirklich nicht nötig …“ 

 „Kein Umstand für mich! Bis gleich.“ Er beendete das Gespräch, bevor Meram antworten konnte. 

Sie schüttelte den Kopf. Gerade war sie sechzehn geworden, aber manchmal schien Koha sie noch wie ein Kind zu sehen. Sie legte die Hand auf das Kraftfeld, das ihr Segment umgab. 

 „Transport für eine Person.“ 

Eine kleine Scheibe schwebte unter der Plattform hervor und Meram trat darauf. Mit einem kaum merkbaren Ruck begann sie nach unten zu sinken. Von hier oben hatte man einen hervorragenden Ausblick auf die gesamte Stadt: Sie sah Wohngebiete, die in verschiedene Klimazonen für jeden Geschmack aufgeteilt waren, darunter Sandwüsten mit Häusern, die aus schwarzem Stein gemeißelt waren, eine neblige Tundra, in deren Mitte ein Feld aus hausgroßen Pilzen, auf denen bunte Zelte standen, gewachsen war, und eine sanft hügelige, grüne Ebene voller verschnörkelter Holzbauten. Dazwischen lag ein buntes Sammelsurium aus Parkanlagen, Bühnen, Restaurants, Stadien und allem anderen, was die Bewohner für ihr gesellschaftliches Zusammenleben benötigten. Die Industriegebiete waren versteckt hinter enormen, mit grellen Graffiti besprühten Kuppeln, Wänden aus grob geschnitzten Statuen und anderen Kunstwerken – selbst die Sichtschütze waren in dieser Stadt Meisterwerke modernster Architektur. Der Anblick änderte sich ständig, Sysesta war eine Stadt des permanenten Wandels, ganze Viertel konnten sich über Nacht komplett verwandeln, wenn die Bewohner es so wünschten. Die einzige Konstante war das Verwaltungsgebäude, ein mit simplen geometrischen Mustern verzierter silberner Klotz, den Meram in der Ferne sehen konnte. Schließlich erreichte die Plattform den Boden am Eingang des Parks, sie stieg aus und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. 

 

 „Du warst noch nie im Archiv? Oder irgendwo anders in der Verwaltung?“, fragte Koha. 

Sie hatten sich in ein kleines geschlossenes Abteil des Zuges gesetzt, in dem Meram seit der Abfahrt aus dem Fenster auf die rapide vorbeiziehende Stadt geblickt hatte. 

 „Ich war einmal mit dir da, schon vergessen?“ 

 „O ja, natürlich. Wegen der Adoption.“ Seine struppigen braunen Federn zitterten leicht, das Thema war ihm auch nach all dieser Zeit immer noch etwas unangenehm. „Aber im Archiv warst du noch nicht?“  

 „Nein, aber ich würde es auch alleine finden.“ 

 „Glaub mir, die Zentrale ist ein Labyrinth. Jemanden zu haben, der sich auskennt, hilft ungemein.“ 

 „Ich bin mir sicher, dass alles gut ausgeschildert ist.“ 

 „Ja, aber …“ Seine vier Augen blickten kurz auf den Boden, dann klapperte er hoffnungsvoll mit dem Schnabel „Ich bin mir sicher, dass Ijo und Jesuna auch mitgekommen wären.“ 

Meram zuckte ungewollt zusammen, als sie die Namen ihrer Eltern hörte. „Ja, wahrscheinlich.“ Sie blickte wieder aus dem Fenster. Bis zur Ankunft sprachen sie nicht mehr. 

 

Aus der Nähe war das Verwaltungsgebäude noch beeindruckender. Die scheinbar simplen eingravierten Muster bestanden bei näherem Hinsehen aus zahllosen kleinen, komplexen Fraktalen. Eine Menge komplizierter Einzelteile, die gemeinsam etwas Klares und Elegantes bildeten. Anders als der Park war der Platz vor dem Gebäude voll und ein konstanter Strom von Besuchern floss hinein und wieder heraus. 

 „Wir müssen in das vierte Tor“, sagte Koha. 

 „Bist du dir sicher?“, fragte Meram. „Auf dem Schild hinter dir steht, dass man durch Tor zwei zum Archiv kommt.“ 

Koha warf einen Blick darauf. „Oh. Ja. Die müssen seit dem letzten Mal umgezogen sein.“ 

 „Natürlich“, sagte Meram und unterdrückte ein Augenrollen. 

Anders als das Äußere des Gebäudes war das Innere sehr schlicht. Weiß getünchte Wände mit gemusterten Linien, die den Weg zum Ziel wiesen. Koha hatte in einer Hinsicht recht gehabt: Die Zentrale war gebaut wie ein Labyrinth, Gänge und Aufzüge gingen in jede Richtung ab, ohne die Wegweiser hätten sie sich hoffnungslos verlaufen. Die Gruppe, in der sie mitliefen, wurde an jeder Kreuzung kleiner und kleiner. Als sie schließlich das Archiv erreichten, waren nur noch wenige Besucher übrig geblieben.  

Meram sah sich um. Auf den ersten Blick waren sie in einer großen, aber schmucklosen Halle gelandet. Dann fiel ihr die Statue auf, die neben dem Eingang aufgestellt worden war. Sie bestand aus schwebenden schwarzen Splittern, die langsam um eine unsichtbare Achse rotierten. Zunächst schienen sie vollkommen abstrakt zu sein, aber dann drehten sie sich plötzlich in eine Position, in der sie ein klares Bild formten: zwei Ecmasi, die auf einem Felsen am Strand saßen. Nach ein paar Sekunden zerfiel die Skulptur wieder in Fragmente und formatierte sich neu. Nun sah Meram eine Gruppe kleinwüchsiger Irdischer zwischen Steinsäulen stehen. 

 „Faszinierend, nicht wahr?“ 

Meram schrak auf und drehte sich um. Hinter ihr stand ein Androide. Er hatte ein simples graues humanoides Chassis, ein Hologramm an seiner Brust identifizierte ihn als Mitarbeiter der Zentrale. 

 „Oh, ja“, antwortete Meram. „Ich sehe nur nicht wirklich, was es mit dem Archiv zu tun hat.“ 

 „Das werden Sie bald. Mein Name ist Delisku, sehr erfreut. Sie sind Meram Sesil, korrekt?“ 

 „Ja. Woher wissen Sie das?“ 

 „Sie haben einen Termin. Ich bin hier, um Sie zu Ihrer Lehrerin zu bringen.“ 

 „Wie schön!“ Koha war plötzlich neben Meram aufgetaucht. „Wenn der nette Herr hier nun übernimmt, werde ich mich mal zurückziehen … Soll ich dich nachher abholen?“ 

 „Nicht nötig, ich komme problemlos nach Hause.“ 

 „Es macht mir …“ 

 „... kein Umstände“, beendete Meram den Satz etwas flapsig für ihn. „Ich bin in der Lage, alleine in der Bahn zu fahren. Du musst dir keine Sorgen machen.“ 

 „Na gut, na gut … viel Spaß dann noch!“ Er winkte etwas unbeholfen und trabte langsam in Richtung Ausgang. 

 „Folgen Sie mir nun bitte“, sagte Delisku. Meram nickte und ging ihm schnellen Schrittes hinterher. 

 

Während sie eine lange Wendeltreppe hinauf stiegen, sprach der Android erneut. 

 „Sie können sich glücklich schätzen. Ihre Lehrerin ist niemand anderes als Seno Oknimadoro.“ 

 „Das sagt mir nichts“, gab Meram zu. 

 „Frau Oknimadoro ist seit fast zweihundert Jahren die Leiterin des Archivs!“ Delisku klang fast beleidigt. „Sie hat zahllose archäologische Expeditionen in den alten Sektor angeführt. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters arbeitet sie fast nur noch hinter den Kulissen, aber ab und an gibt sie noch Unterricht.“ 

 „Oh. Da habe ich in der Tat Glück gehabt“, sagte Meram, obwohl sie nicht wirklich überzeugt war. 

 „Allerdings. Wir sind da.“ Delisku kam neben einer Tür zum Stehen und tippte sie an. „Frau Sesil ist hier für ihre Geschichtsstunde.“ Die Tür öffnete sich lautlos. „Auf ein frohes Lernen!“ Der Androide drehte sich um und ging. Meram trat durch die Tür in das Zimmer. 

 

Der Raum hatte weiße Wände, wie scheinbar alles in diesem Gebäude, aber in regelmäßigen Abständen waren schwarze Punkte angebracht worden, die Meram als holografische Projektoren erkannte. In der Mitte des Raumes standen zwei Stühle, einer war leer und in dem anderen saß eine Saihuri, zweifellos ihre Lehrerin. Die Frau blickte zu ihr und winkte. 

 „Komm doch her und setz dich.“ 

Meram tat wie geheißen und nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz. Die Frau war offensichtlich sehr alt. Ihre Schuppen waren so blass rot, dass sie fast grau wirkten, ihre kurze Schnauze zitterte leicht und ihr gesamter Körper schien hager und zerbrechlich zu sein. Ihre Augen hingegen glänzten noch wach. Sie trug ein simples schwarzes Kleid, nichts deutete darauf hin, dass sie eine außergewöhnliche Position inne hatte. 

 „Ich freue mich sehr, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Frau Oknimadoro“, sagte Meram. 

 „Nenn mich doch bitte einfach Seno. In meinem Alter hat man keine Zeit mehr für Formalitäten.“ 

 „Wie Sie … wie du willst.“ 

Seno musterte Meram einen Moment lang, bevor sie sprach. 

 „Du hältst das hier sicher für Zeitverschwendung.“ 

 „Was? Nein, natürlich nicht!“, antwortete Meram, auch wenn sie sich tatsächlich gefragt hatte, was der Sinn dieser Lektionen war. 

 „Unsere Stadt ist ein wunderbarer Ort, nicht wahr? Kriege, Armut und all die anderen Schrecken der Vergangenheit haben wir längst hinter uns gelassen. Warum sollten wir uns um überkommene unzivilisierte Zeiten kümmern, wenn wir im Hier und Jetzt leben können?“ Sie sah Meram mit einem stechenden Blick an, dann hob sie einen Finger. „Weil unsere Welt auf den Ruinen anderer aufgebaut ist. Viele dachten, ihre Zivilisationen seien unangreifbar, doch dann blieb nur Asche übrig. Wenn wir nicht wollen, dass uns das passiert, dann werden wir aus der Vergangenheit lernen müssen.“ 

 „Ich verstehe“, sagte Meram, überrascht von Senos Intensität. „Aber ich dachte, diese Lektion ist nur über die Geschichte der Gründung Sysestas, nicht über das Schicksal ganzer Zivilisationen.“ 

 „Die Geschichte von Sysesta ist untrennbar damit verbunden. Deshalb beginnen wir auch in der fernen Vergangenheit. Bist du bereit, Jahrtausende zurückzublicken?“ 

Meram nickte. 

 „Dann lass uns starten.“ Seno drückte einen Knopf an ihrem Stuhl und die Holo-Projektoren starteten mit einem leisen Summen. 

Das Haus am Fluss

Miriam stand am Ufer des Flusses und stocherte mit einem kleinen Stock im trüben Wasser herum. Sie schaffte es meistens, etwas herauszufischen – ein Stückchen Plastik, eine Scherbe oder einen schönen kleinen Stein, aber heute hatte sie außer Matsch nichts gefunden. Sie warf den Stock beiseite und ging langsam den flachen Hang neben dem Fluss herauf. Ihre Eltern hatten sich heute morgen wieder gestritten, sie gingen dafür immer in die Küche und schlossen die Tür, aber Miriam konnte sie trotzdem hören, und sie war mittlerweile in einem Alter, in dem Elternstreit kein unangenehmes, vages Gefühl mehr war, sondern ein verständliches Konzept. Wie immer ging es um einen möglichen Umzug, sie hörte Phrasen wie „Wir können hier nicht bleiben“, „Es ist zu gefährlich, in die Kolonie zu ziehen“ und Ähnliches. Miriam wusste nicht, warum sie ihr Zuhause verlassen sollten, aber ihre Eltern wollten nicht darüber reden. Sie sagten ihr nur, kleine Mädchen bräuchten sich keine Sorgen um Erwachsenenangelegenheiten zu machen und Miriam hatte sich damit zufriedengegeben. 

 

Von der Oberseite des Hanges aus konnte man ihr Haus sehen, ein kleiner, eckiger Bau, der einst ein zweites Stockwerk hatte, das jedoch schon vor langer Zeit eingestürzt war, nur ein paar Steine am Rand und eine Treppe ins Nichts im Hausflur erinnerten daran. Um das Haus herum lagen  die Maisfelder, kurze gelb-grüne Stauden, an denen die Kolben zu wachsen begonnen hatten. Ein Beet direkt vor dem Eingang war mit Gemüse bepflanzt worden, aber es sah nach einer mageren Ernte aus, fast alle Pflanzen schienen verdorrt oder waren erst gar nicht gesprossen. Hinter den Feldern erstreckte sich staubiges Ödland, grauer, rissiger Boden, auf dem nichts richtig wachsen wollte. Miriam begann in Richtung des Hauses zu schlendern, überlegte es sich dann jedoch anders und bog ab zum alten Wald. 

 

Der Wald war vor einigen Monaten abgebrannt. Es war nicht das erste Mal in ihrem Leben, aber das erste Mal, dass sie es wirklich wahrgenommen hatte. Sie hatte geweint, aber ihr Vater hatte sie beruhigt. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen, der Wald würde bald wieder grün werden. Scheinbar hatte er recht gehabt, denn an vielen der verkohlten Stämme sprossen grüne Triebe und in Ufernähe konnte sie die ersten Äste junger Bäume wachsen sehen. Miriam ging zu einem großen Baumstumpf nahe des Weges und setzte sich darauf. Ihr Blick schweifte über den Wald, sie hoffte, vielleicht einen Vogel zu finden, seit eine Krähe vor zwei Monaten versucht hatte, Samen aus dem Beet zu stehlen, hatte sie keinen mehr gesehen. Kein Glück, der Wald war absolut still, nicht einmal der Wind wehte. Dann sah sie die Hütte. Es war ein kleines Gebäude am Rand des Waldes, die Fenster waren schon lange kaputt, das Dach eingestürzt und eine Wand stand kurz vorm Umfallen. Ihre Eltern hatten sie davor gewarnt, die Hütte zu betreten oder auch nur in ihre Nähe zu gehen, aber Miriams Neugier war diesmal stärker. Sie rutschte vom Baumstamm und lief vorsichtig zu dem Gebäude hinüber. 

 

Miriam spähte durch einen Fensterrahmen in die Hütte und war zunächst enttäuscht. Außer einem einzelnen leeren Raum, der mit Schutt übersät war, konnte sie nichts sehen. Sie ging zur Tür hinüber und lehnte sich in das Gebäude hinein. Da fiel es ihr auf: In einer Ecke des Raumes war ein Loch, groß genug, dass sie zweimal hindurch passen würde. Der Boden knirschte unter ihren Füßen, aber sie schritt voran, erreichte die Öffnung und spähte hinunter. Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, aber sie konnte sehen, dass ein Metallschrank auf dem Boden des Kellers stand. Der Schutt hatte eine Rampe hinunter gebildet. Miriam dachte darüber nach, herabzurutschen, aber konnte nicht den nötigen Mut finden. Sie drehte sich um und ging wieder nach Hause. 

 

 „Miriam, da bist du ja!“ Ihr Vater war ein großer Mann mit buschigem Bart. Sie lief in seine Arme, er hob sie lachend hoch. „Warst du wieder auf Entdeckungstour?“ 

 „Ja, Papa“, sagte Miriam fröhlich. 

 „Hast du was Schönes gefunden?“ 

 „Diesmal nicht.“ 

 „Tja, so ist es halt manchmal.“ 

Ihr Vater setzte sie wieder auf den Boden. 

 „Ach je, was bist du wieder schmutzig!“ Die Stimme gehörte ihrer Mutter, eine kleine Frau mit schönem schwarzen Haar, das Miriam geerbt hatte. 

 „Ja, Mama. Ich passe in Zukunft besser auf.“ 

Ihre Mutter seufzte. „Das sagst du jedes Mal. Jetzt komm rein, wir machen dich sauber und dann gibt’s Essen!“ 

Wie jeden Tag gab es Maisfladen, diesmal mit ein paar kleinen Bohnen. Nachdem sie gegessen hatte, half sie beim Abwasch und ging in eine kleine Kammer neben dem Eingang, die als ihr Kinderzimmer diente. Bald war sie eingeschlafen. 

Als sie am nächsten Tag aufwachte, hörte sie ihre Eltern laut reden. 

 „... NEV? Hier?“, fragte ihre Mutter aufgeregt. 

 „Ich verstehe es auch nicht“, antwortete ihr Vater. „Klären wir das Ganze draußen, sonst ...“ 

Er brach plötzlich ab. Miriam hörte schnelle Schritte, dann öffnete sich die Tür zu ihrem Zimmer. 

 „Miriam?“ Es war ihre Mutter. 

 „Ja, Mama.“ 

 „Dein Vater und ich müssen kurz etwas klären. Bleib bitte in deinem Zimmer“, sagte sie besorgt. 

 „Warum?“, fragte Miriam. 

 „Ich erkläre es dir später. Bleib bitte hier und mach dir keine Sorgen.“ Die Zimmertür schloss sich wieder. 

Miriam blieb sitzen, bis sie hörte, dass die Haustür sich schloss. Sie wartete einen Moment lang, dann stand sie auf, öffnete vorsichtig die Tür und schlich zum Wohnzimmerfenster. Auf Zehenspitzen stehend riskierte sie einen Blick nach draußen. Ein Auto – Miriam hatte nie ein echtes gesehen, aber erkannte es aus einem Bilderbuch – hatte in einiger Entfernung vom Haus geparkt. Zwei Männer in grauen Anzügen standen davor und unterhielten sich mit ihren Eltern. Miriam konnte nicht hören, was sie sagten, aber ihr Vater schien wütend zu sein. Als einer der fremden Männer einen Schritt nach vorne nahm, holte er plötzlich mit der Hand aus und schlug ihn zu Boden. Miriam erschrak und lief vom Fenster weg zurück in ihr Zimmer. Sie versteckte sich unter ihrer Bettdecke, bis sich erst die Haus- und dann ihre Zimmertür wieder öffnete. 

 „Du kannst wieder rauskommen“, sagte ihre Mutter. 

Miriam stand auf und folgte ihren Eltern ins Wohnzimmer. Sie setzten sich an den Tisch. Ihr Vater und ihre Mutter sahen furchtbar aus. 

 „Was waren das für Männer?“, fragte Miriam. 

 „Haben wir dir nicht gesagt, du sollst in deinem Zimmer bleiben?“, fragte ihr Vater erstaunlich wütend. 

 „Ich habe nur einmal kurz aus dem Fenster geguckt …“, antwortete Miriam, aber ihre Mutter fiel ihr ins Wort. 

 „Die Männer hätten dich sehen können!“ 

 „Na und?“, fragte Miriam trotzig. 

 „Hör zu, diese Leute dürfen nicht wissen, dass du hier bist, oder …“ Ihre Mutter verstummte. 

 „Oder was?“ 

Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Du bist für so was noch zu klein. Wir sagen es dir, wenn du ein bisschen älter bist, in Ordnung?“ 

 „Immer bin ich zu klein“, schmollte Miriam. „Nie sagt man mir was.“ 

 „Es ist zu deinem Besten“, sagte ihre Mutter seufzend. „Und jetzt geh spielen, dein Vater und ich müssen arbeiten.“ 

 

Miriam war grummelnd zum Fluss marschiert. Warum verbot man ihr ständig alles? Sie warf halbherzig ein paar Steine in das Wasser, dann marschierte sie rastlos durch die Gegend, bis sie plötzlich wieder vor der verfallenen Hütte stand, die sie laut ihren Eltern auch nicht betreten durfte. Trotzig marschierte sie hinein, stand wieder vor der Rampe und nach kurzer Überlegung nahm sie diesmal ihren Mut zusammen und ging hinab, halb kriechend und halb rutschend. Unten angekommen, sah sie sich um. Abgesehen von der Rampe und dem Schrank war der Keller in Dunkelheit getaucht.  

 „Hallo?“, rief sie, ein sanftes Echo ertönte, dann herrschte wieder Stille. Miriam wandte sich dem Schrank zu, er war rostig und die linke Tür ließ sich nicht öffnen, so stark sie auch daran zerrte. Die rechte Tür hingegen ging widerstandslos auf, ein Buch fiel heraus und traf sie fast am Kopf. Miriam hob es auf, sie konnte noch nicht lesen, aber hoffte, auf ein Bilderbuch gestoßen zu sein. Beim Durchblättern konnte sie jedoch keine Bilder finden, also legte sie das Buch auf den Boden und warf einen erneuten Blick in den Schrank. Mehr Bücher. Sie zog eines nach dem anderen heraus, bis sie eines mit einem schönen Foto auf dem Titel fand: ein Tier, das sie noch nie gesehen hatte. Im Inneren des Buches waren noch mehr Bilder, und so setzte sie sich auf die Rampe, um es durchzublättern. Da hörte sie es plötzlich. Ein merkwürdiges Rascheln. Sie dachte zunächst, sie hätte es sich eingebildet, da hörte sie es erneut, und diesmal lauter. Es war in der Dunkelheit und es kam näher. Miriam hastete die Rampe herauf, rannte aus der Hütte heraus und kam erst am Baumstumpf zum Stehen, keuchend nach Atem. Sie blickte zurück über ihre Schulter, aber was auch immer sie gehört hatte, war im Haus geblieben. Das Buch drückte auf ihre Seite, sie hatte es unbewusst unter ihre Schulter geklemmt, als sie geflohen war. Der Baumstumpf war groß genug für sie, um sich hinzulegen, und so fing sie ihren Atem wieder, während sie in die ergrünenden Äste über ihr starrte. 

 

Nachdem Miriam sich wieder beruhigt hatte, schaute sie erneut in das Buch. Es waren eine Menge Bilder des merkwürdigen Tieres darin. Es war offenbar ziemlich klein, hatte verschiedene Farben, lebte in Häusern mit Menschen. Die erwachsenen Tiere waren niedlich, die Tierkinder noch niedlicher, und sie fragte sich, warum sie nie etwas von diesem Tier gehört oder gesehen hatte. Es wurde langsam spät, und sie entschloss sich, nach Hause zu gehen und ihre Eltern zu fragen. Der Rückweg zu ihrem Haus war ereignislos, aber ein Rucksack vor dem Haus zeigte ihr, dass der Händler da war. Er hatte einen Namen, aber für sie war er immer nur der Händler, und nachdem er da gewesen war, gab es immer ein bisschen besonders gutes Essen für sie. Sie betrat das Haus und sah, dass die Wohnzimmertür geschlossen war. Ihre Eltern sprachen mit dem Gast, und auch wenn Miriam die Worte nicht richtig verstehen konnte, schien die Debatte angespannt zu sein. Sie zog sich in ihr Kinderzimmer zurück, die kleine Glühbirne an der Decke spendete genug Licht, um sie weiter in ihrem Buch lesen zu lassen, doch plötzlich klopfte es an der Tür.  

 „Miriam? Bist du da?“ Es war ihre Mutter.  

 „Ja. Bin da.“ Die Tür öffnete sich.  

 „Miriam! Wir haben uns Sorgen gemacht, du warst so lange … Was hast du da?“ Ihre Mutter hatte das Buch entdeckt. Miriam hielt es ihr hin.  

 „Wo hast du das her?“  

 „Hab‘s gefunden.“  

 „Wo gefunden? In dem Rucksack draußen? Was habe ich dir übers Stehlen gesagt?“  

„Nicht im Rucksack! In der Hütte!“ Miriam zuckte zusammen. Sie hatte nicht vorgehabt, ihren Eltern über ihr kleines Abenteuer zu berichten, aber nun war es ihr herausgerutscht. Ihre Mutter starrte sie an.  

 „Du sollst nicht in die Hütte gehen. Du darfst nicht in die Hütte gehen. Das weißt du doch, oder?“  

 „Ja.“ Sie sah einen ungewöhnlichen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter, den sie nicht einordnen konnte.  

 „Ich muss das Buch beschlagnahmen.“  

 „Nein!“, sagte Miriam entsetzt. „Es hat schöne Bilder! Ich will wissen, was das für ein Tier ist.“  

 „Es ist … wie wäre es damit: Ich nehme das Buch, und im Gegenzug bekommst du nicht bloß keine Strafe, ich und dein Vater erzählen dir etwas über dieses Tier.“ 

Es war ein Schock für Miriam. Sie hatte fürchterliche Konsequenzen erwartet, stattdessen würde ihr Wunsch, mehr zu lernen, erfüllt werden?  

 „Okay“, sagte sie und drückte ihrer Mutter das Buch in die Hand.  

 „Danke, Miriam.“ Sie lächelte, stand auf und ging zurück ins Wohnzimmer. 

 

Miriam blätterte durch ein altes Bilderbuch, das sie schon auswendig kannte, als sie Geräusche von draußen hörte. Sie schlich zu ihrer Zimmertür und blickte durch das Schlüsselloch. Der Händler verabschiedete sich von ihren Eltern, Hände wurden geschüttelt und Freundlichkeiten ausgetauscht. Als er sich umdrehte, um aus der Haustür zu gehen, sah sie das Bündel in seiner Hand. Die Ecke eines Buches zeigte hinaus und sie wusste sofort, welches Buch es war. Sie stand kurz davor, die Tür aufzureißen und einen Streit anzufangen, aber ihre Mutter hatte versprochen, ihr mehr zu erzählen, also biss sie sich auf die Lippe und wartete, bis der Mann gegangen war, bevor sie die Tür öffnete und ins Wohnzimmer ging. 

 „Na, schau mal an, wen ich heute auch noch mal sehe.“ Ihr Vater war offenbar gut gelaunt. „Wir kochen jetzt Essen, du hilfst uns doch sicher? Es gibt heute etwas Besonderes!“ 

 

Kochen war etwas, bei dem Miriam gerne mitmachte. Sie ließ Wasser aus dem Filtertank in einen Topf, löste vorsichtig die Körner aus einem trockenen Maiskolben, brachte ein paar Abfälle zum Kompost und deckte den Tisch. Ihr Vater hatte nicht gelogen: Zu den Maisfladen gab es eine Sauce, die Miriam noch nie gegessen hatte, würzig und cremig und absolut wundervoll. Sie hätte fast gefragt, ob sie das Gleiche am nächsten Tag noch einmal haben konnte, aber sie kannte die Antwort bereits, und so genoss sie einfach ihre Mahlzeit. Nach dem Essen half sie beim Abräumen und wollte wieder in ihr Zimmer gehen, als ihre Mutter ihr sanft die Hand auf die Schulter legte. „Miriam, setz dich bitte ins Wohnzimmer. Wir möchten dir etwas zeigen.“ Sie setzte sich an den Tisch und sah ihren Vater an den Schrank in der Ecke des Wohnzimmers gehen, in dem ihre Eltern ihre Kleidung aufbewahrten. Zu ihrer Überraschung öffnete er den Schrank nicht, sondern griff an die Oberseite und zog eine kleine Schachtel herunter. Er brachte sie zum Tisch und setzte sich Miriam gegenüber, ihre Mutter setzte sich neben ihn.  

 „Was ist da drin?“, fragte Miriam. Statt zu antworten, öffnete ihr Vater die Schachtel, holte mehrere Fotos heraus und reichte sie herüber. Miriam nahm sie und zuckte zusammen. Es waren Bilder ihrer Eltern, viel jünger als sie jetzt waren und auf mehreren saßen die merkwürdigen Tiere neben ihnen oder sogar in ihrem Schoß. 

 „Was ist das?“, fragte sie. 

 „Katzen“, antwortete ihr Vater. „Viele Menschen hatten sie früher als Haustiere. Sie waren wundervoll. Weich und schön und anschmiegsam. Wir haben sie geliebt.“ 

 „Haustiere?“, fragte Miriam verwirrt. 

 „O ja … Das kennst du gar nicht. Bevor … bevor viele Sachen passiert sind, gab es Tiere, die bei Menschen im Haus gelebt haben. Wie Familienmitglieder.“ 

Miriam starrte auf die Bilder. Sie hatte gehofft, mehr zu lernen, aber gerade lernte sie fast zu viel auf einmal. Es gab Tiere, die in Häusern lebten? Und so viele, dass ihr Vater und ihre Mutter eines hatten? Und sie waren Teil der Familie? Sie wollte trotzdem mehr wissen. 

 „Was ist mit euren Katzen passiert? Warum habt ihr sie nicht mehr?“ 

 „Sie … “ Ihr Vater pausierte für einen Moment. „Sie sind gestorben. Katzen leben viel kürzer als Menschen.“ 

Miriam nickte. Sie wusste, was das Wort bedeutete, aber der Tod war für sie immer noch ein sehr abstraktes Konzept.  

 „Können wir uns eine Katze holen? Im Haus ist sicher Platz dafür!“ Miriam wartete auf eine Antwort, aber ihr Vater sagte nichts. Sie sah in sein Gesicht, es war angespannt, und zu ihrem Schreck schien er zu weinen.  

 „Ich fürchte, das geht nicht“, sagte ihre Mutter plötzlich und legte ihre Hand auf die ihres Vaters. „Sie sind alle … auf Reise gegangen.“ 

 „Auf Reise?“, sagte Miriam verwundert. 

 „Ja. Die Katzen waren … unglücklich. Sie haben gesehen, dass der Planet in schlechtem Zustand ist. Und dann haben sie den Menschen gesagt: Wir wollen nicht mehr mit euch leben, bis ihr das wieder in Ordnung bringt.“ 

 „Katzen konnten sprechen?“, fragte Miriam erstaunt. 

 „Ja … manchmal schon. Aber nur, wenn es wirklich wichtig war.“ Ihre Mutter lächelte milde. „Auf jeden Fall sind die Katzen dann … gegangen. Erinnerst du dich an den Regenbogen, den wir vor ein paar Tagen gesehen haben?“ 

 „Ja! Der war schön!“ 

 „Als die Katzen sich entschieden haben, zu gehen, da gab es auch einen Regenbogen. Aber nicht in der Ferne, sondern direkt vor uns! Und alle Katzen sind über den Regenbogen gegangen, in ein fernes Land, und da warten sie nun darauf, dass wir den Planeten wieder in Ordnung bringen.“ 

In Miriams Kopf wirbelte alles herum. Regenbogen? Planeten? Sprechende Haustiere? Sie war fürchterlich verwirrt, aber es war ein erstaunlich angenehmes Gefühl. Ihre Mutter griff in die Schachtel und holte eine kleine silberne Halskette heraus. 

 „Schau hin.“ Sie zeigte auf einen kleinen Glaszylinder, der an der Kette hing. Darin befand sich etwas Schwarzes. „Das ist ein Stück Fell meiner Katze. Ich habe es in Glas versiegeln und an einer Kette anbringen lassen. Es war früher mein Glücksbringer. Willst du sie haben?“ 

Miriam starrte einen Moment auf die Kette, dann streckte sie ihre Hand aus. Ihre Mutter legte die Kette vorsichtig hinein. 

 „Sie ist wahrscheinlich noch ein bisschen groß für dich. Häng sie erstmal in deinem Zimmer auf, bis du etwas gewachsen bist.“ Miriam nickte, aber sie hatte nur Augen für die Kette, silbern glänzend und das Fell eines mythologischen Biestes bewahrend. 

 „Es ist spät.“ Die Worte ihrer Mutter rissen sie aus ihrer Trance. „Such dir einen schönen Platz für die Kette und dann geh ins Bett, in Ordnung?“ 

 „Ja, mach ich. Gute Nacht.“ Sie stand auf und wollte in ihr Zimmer gehen, da fiel ihr noch eine letzte Frage ein. 

 „Sie kommen aber wieder? Die Katzen?“ Erst nach einer langen Pause bekam sie eine Antwort. 

 „Ja. Eines Tages wird es wieder Katzen geben. Gute Nacht, Miriam.“ Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich leicht und als sie aus dem Wohnzimmer ging, konnte Miriam hören, dass sie auch zu weinen angefangen hatte. 

 

Am nächsten Tag saß Miriam im Ödland hinter dem Haus und blickte auf den Horizont. Ihre Träume waren wild gewesen, gefüllt mit bizarren Visionen der früheren Welt und ihren Wundern, doch der Regenbogen war zentral. Ging es wirklich? Über einen Regenbogen laufen? Und würden die Katzen auch über einen Regenbogen zurückkommen? Dunkle Wolken hatten sich in der Ferne angesammelt, ein heftiger Regen hatte angefangen, während die Sonne daneben auf das endlose, trockene Feld hinabbrannte. Sie nahm die Kette aus einem Beutel, den sie mitgenommen hatte, und rieb ihren Finger über den kleinen Glaszylinder. Vielleicht war heute der Tag? Sie starrte minutenlang auf den Regen, doch kein Regenbogen wollte sich formen, bis die Wolken weiterzogen und nur die sengende Sonne verblieb. Miriam konnte ein Gefühl der Enttäuschung nicht unterdrücken. Sie blieb noch ein bisschen sitzen, dann stand sie auf, klopfte sich den Staub von der Hose und schlenderte langsam zum Haus zurück. 

Wissensdurst

Die Projektoren hatten sich ausgeschaltet, der Raum sah wieder aus wie vorher. Meram blinzelte und versuchte, das Gesehene zu verarbeiten. 

 „Verwirrt?“, fragte Seno. 

 „Ich habe eine Menge Fragen.“ 

 „Und ich eine Menge Antworten!“ 

Meram überlegte, wo sie anfangen sollte. „Wo ist das aufgenommen worden?“ 

 „Es war keine Aufnahme. Es war eine Rekonstruktion.“ 

 „Rekonstruktion?“ 

 „Große Teile unserer Vergangenheit sind leider verloren gegangen. Teils zerstört – versehentlich, absichtlich oder als Kollateralschaden –, teils dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Was du hier siehst, ist zum Großteil nicht das, was passiert ist, sondern eine Annäherung daran, was passiert sein könnte.“ 

 „Dann halte ich es aber für manipulativ, das Mädchen Miriam zu nennen“, sagte Meram grummelig. „Offensichtlich hat man da einen Namen eingesetzt, der fast wie meiner klingt.“ 

 „Gut bemerkt“, sagte Seno amüsiert. „Aber ob du es glaubst oder nicht – der Name ist eines der wenigen Elemente, bei denen wir uns sicher sind, dass sie absolut korrekt sind. Dein Name ist vermutlich vom Namen dieses Mädchens abgeleitet.“ 

 „Aber das ist Jahrtausende her!“, sagte Meram erstaunt. „Wie kann mein Name von ihrem abstammen?“ 

 „Oh, habe ich dein Interesse geweckt? Dann mache ich meine Arbeit noch richtig.“ Seno kicherte. „In unserer nächsten Lektion gibt’s mehr Details. Aber du hast sicher noch andere Fragen.“ 

 „O ja. Die Tiere in dem Buch sahen aus wie Lixoas, aber sie wurden von den Eltern Katzen genannt?“ 

 „Es sind die gleichen Tiere. Sie hießen nur Katzen, als die Irdischen sich noch Menschen nannten und die Erde noch bewohnbar war.“ 

 „Menschen? Erde?“ Meram fühlte plötzlich ein enormes Bedürfnis danach, mehr zu lernen. Seno sah zufrieden aus. 

 „Die Erde ist die Ursprungswelt der Irdischen. Sie war lange Zeit verloren, aber vor siebzig Jahren haben wir sie wiedergefunden. Leider ist sie völlig verwüstet, selbst mit modernstem Terraforming ist da nichts mehr zu retten. Aber unsere archäologischen Expeditionen haben eine Menge finden können.“ 

 „Hast du die Untersuchungen geleitet?“ 

 „Ich habe sie von hier aus organisiert. Für die Arbeit vor Ort war ich leider schon zu alt. Aber die Rekonstruktionen sind zum größten Teil von mir erstellt worden.“ 

 „Warum ist die Erde zerstört worden?“ 

 „Weil alle unsere Ursprungswelten offenbar verflucht sind. Emas besteht nur noch aus Bombenkratern. Sa-Ums ist ein gefrorenes Grab.“ Seno seufzte. „Aber dazu kommen wir noch. Ich denke, wir sollten erstmal zur zweiten Lektion übergehen.“ 

 „Wie du meinst“, sagte Meram, obwohl sie noch viele Fragen hatte. Es summte, die Projektion startete erneut. 

Überreste

Thomas stand wie jeden Morgen am Fenster und sah hinab auf die Stadt. Nichts regte sich, keine Personen, kein Verkehr und selbst der Wind war still. Vier Monate waren vergangen, seit Jonathan gegangen war, um ein paar abschließende Arbeiten im Labor zu erledigen. Oder waren es fünf? Er hatte keine Uhr und keinen Kalender und sich nicht die Mühe gemacht, den Verlauf der Zeit irgendwie zu notieren. Warum auch? Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, würden sie beide mit ein paar anderen Teammitgliedern in einem Bunker sitzen und ihre Forschung bequem unterirdisch fortsetzen. Aber jedes Mal, wenn er das Funkgerät anschmiss und Rücksprache mit dem Labor hielt, war wieder irgendetwas schiefgegangen und der Rest der Mission verzögerte sich. Er wandte sich vom Fenster ab, ging zur Tür der Wohnung, legte seine Jacke, seinen Rucksack und seine Pistole an. Es war Zeit für eine kleine Expedition. Seine Karte war alt und zerfleddert, übersät mit Notizen. Hier hatte er etwas zu essen gefunden, dort Wasser, da nichts … mittlerweile hatte er einen guten Teil der Stadt abgesucht, aber es gab noch genügend Orte, an denen möglicherweise etwas versteckt war. Er entschied sich, einen Wohnblock zu untersuchen, der etwa zwei Kilometer entfernt war und marschierte los. 

 

Wohnung 22, Wohnung 23, Wohnung 24 … er hatte eine Brechstange dabei, aber fast alle Türen standen offen. Die Bewohner hatten wohl versucht, bei der großen Flucht Widerstand zu leisten, fast alle Wohnungen waren mit Gewalt aufgebrochen worden. Wohnung 25, Wohnung 26, Wohnung … er stoppte. Irgendetwas stimmte nicht in Wohnung 26. Er trat ein, das Zimmer sah auf den ersten Blick aus wie alle anderen, ein großer Raum mit einem Tisch, drei Stühlen, einem großen, verrotteten Bett und einer Kochnische. Bäder und Toiletten waren auf dem Flur, wer hier wohnte, hatte nicht viel zu verlieren. Schließlich fiel ihm auf, was ihn stutzig gemacht hatte. Eine Stelle an einer Wand des Raumes schien etwas heller zu sein als der Rest. Er klopfte dagegen, es klang eher wie Holz als wie Stein. Ein paar Schläge und einen ordentlichen Zug mit der Brechstange später hatte er die übermalte Holzplatte herausgerissen und lächelte. Versteckt hinter der falschen Wand lagen Konservendosen, Wasserfilter, Propangasflaschen und sogar ein kleines, unbeschriftetes Döschen mit Tabletten. Er würde später herausfinden müssen, was für ein Medikament es war. Fürs Erste steckte er es, zusammen mit so viel Proviant, wie er tragen konnte, in seinen Rucksack und markierte die Stelle auf seiner Karte. Heute Abend würde er ordentlich essen. 

 

 „Hier ist Thomas Neziri, NEV-Identifikation ED559743. Labor, bitte kommen.“ Alle paar Tage sprach er in sein altes, aber voll funktionsfähiges Funkgerät, das mit einer Autobatterie betrieben wurde. Es knackte ein paar Sekunden lang in der Leitung, dann hörte er ein vertraute Stimme. 

 „Thomas, immer schön, von dir zu hören.“ 

 „Danke. Wie sieht’s aus bei euch? Bereit für die große Reise?“ 

Jonathan seufzte. „Uns fehlen immer noch ein paar Proben. Du weißt ja, wie penibel unser Chef ist. Je mehr wir jetzt retten, desto mehr wird man in der Zukunft über uns lernen können.“ 

 „Falls es in der Zukunft noch jemanden gibt, der über uns etwas lernen kann.“ 

 „Diese negative Attitüde passt nicht zu dir. Ist irgendetwas passiert?“ 

 „Nein. Nichts Besonderes. Jeder Tag hier ist wie der vorherige. Immerhin hatte ich heute mal Glück und konnte eine ganze Dose zum Abendessen kochen.“ 

 „Gut für dich!“ Jonathan klang erschöpft. „Ich muss Schluss machen. Wir brauchen das Funkgerät für ein paar andere Gespräche.“ 

 „Natürlich. Bis zum nächsten Mal!“ 

Es rauschte wieder, Thomas schaltete das Funkgerät aus und machte sich auf den Weg ins Bett. 

 

Am nächsten Tag wachte er gut gelaunt auf und machte sich auf den Weg zu Wohnung 26, um den Rest seines Fundes einzusammeln. Er schlenderte durch die leeren Straßen, blickte durch die Fenster von ein paar anderen Gebäuden, die er noch durchsuchen musste, und erreichte schließlich sein Ziel. Er betrat das Zimmer und erstarrte. Das geheime Lager war leer, Konserven, Wasser, Gas – alles weg. Thomas legte instinktiv seine Hand auf die Pistole und sah sich um, aber wie nicht anders zu erwarten, war der Dieb nicht im Raum. Wer könnte es gewesen sein? Seit Jonathan gegangen war, hatte er keinen anderen Menschen gesehen, und auch keine Tiere, die groß genug wären, um Dosen zu transportieren. Er blickte auf den Boden der Wohnung und des Flurs, aber konnte keine Spuren entdecken. Nachdem er kurz nachgedacht hatte, fiel ihm schließlich ein Weg ein, um den neuen Bewohner der Stadt ausfindig zu machen. 

Als die Sonne hinter dem Horizont versank, war Thomas nicht in seiner Wohnung, sondern auf dem Dach des höchsten Wolkenkratzers der Stadt. Er blickte mit seinem Fernglas in alle Richtungen, in der Hoffnung, das Licht einer Taschenlampe oder eines Feuers erspähen zu können. Nachdem er eine Stunde lang frustriert in jede Richtung gestarrt hatte, sah er endlich ein leichtes Glimmen in der Ferne. Offenbar hatte der Dieb kein großes Interesse daran, seine Anwesenheit zu verbergen und hatte einfach auf einem öffentlichen Platz ein Lagerfeuer entzündet. Es war zu weit weg, um Details erkennen zu können, also notierte Thomas sich die Position auf seiner Karte und machte sich auf den langen Weg die Treppen hinunter. 

 

Es dauerte ein paar Stunden, aber schließlich hatte er den Platz erreicht. Vorsichtig näherte er sich dem Feuer, geduckt durch den Schatten kriechend, um nicht gesehen oder gehört zu werden. Ein Zelt stand neben den Flammen, der Dieb war nirgendwo zu sehen, wahrscheinlich schlief er schon. Thomas überlegte, ob er mit gezogener Waffe in das Zelt stürmen sollte, aber entschied sich dagegen. Er ging vorsichtig zum Feuer und wärmte sich einen Moment lang die Finger. Schließlich legte er die Hand auf seine Waffe und drehte sich um. 

 „Ich weiß, dass du da drin bist“, sagte er laut. 

Stille. 

 „Ich bin bewaffnet. Steh bitte auf und komm raus. Ich habe nicht vor, dir wehzutun.“ 

Stille. 

 „Ich zähle jetzt bis drei, dann komme ich rein.“ 

Er nahm einen weiten Schritt und stand nun direkt vor dem Eingang des Zelts. 

 „Eins … zwei … “ 

Er riss die Zelttür auf und starrte hinein. Eine Luftmatratze, ein prall gefüllter Rucksack (unzweifelhaft voller Diebesgut), sonst nichts. Hastig klappte er die Tür zu und sah sich um. Niemand zu sehen. War er auf einen Köder reingefallen? Wenn ja, hatte der Dieb offenbar Besseres zu tun, als ihm in den Rücken zu fallen. Nichts regte sich. Er überlegte einen Moment lang, ob er den vollen Rucksack mitnehmen sollte, dann verwarf er den Gedanken und machte sich schnell auf den Weg zurück in seine Wohnung. 

 

Am nächsten Morgen war Thomas unsicher, was er als Nächstes tun sollte. Zurück zum Zelt? Am Abend erneut die Situation vom Wolkenkratzer aus beobachten? Da hörte er es plötzlich. Ein lautes Klopfen an der Tür. Für einen Moment dachte er, es sich nur eingebildet zu haben, da klopfte es erneut. Konnte es sein? War Jonathan zurück? Er stand so schnell auf, dass er fast gestolpert wäre, rannte zur Tür und blickte durch den Türspion. Zu seinem Schreck stand statt Jonathan eine junge, hagere Frau mit struppigen schwarzen Haaren vor der Tür. Während er noch überlegte, was er tun sollte, hörte er ihre Stimme. 

 „Hallo? Ich habe Sie gestern an meinem Zelt gesehen. Ich bin Ihnen heimlich hierhin gefolgt. Wollte bis zum Morgen warten, bevor ich mich vorstelle.“ Thomas blieb so ruhig wie möglich stehen. Er würde einfach so tun, als wäre hier niemand, bis die Frau wieder ging. Erneut hörte er ihre Stimme. 

 „Sie hatten die perfekte Gelegenheit, um meinen Rucksack zu stehlen, aber haben sie nicht genutzt. Sie sind offensichtlich kein Dieb.“ Fast hätte er die Tür aufgemacht, dann erinnerte er sich daran, dass die Frau bereits etwas von ihm gestohlen hatte und möglicherweise keine Hemmungen haben würde, seine Wohnung auszurauben. Was natürlich auch bedeutete, dass sie gegebenenfalls willens war, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Er nahm einen vorsichtigen Schritt zur Seite, öffnete den Schrank neben der Tür und nahm seine Pistole und den Halfter heraus. 

 „Ich habe Proviant gefunden und bin bereit zu teilen. Wir können einander helfen.“ 

Die Frau stand offenbar alleine vor der Tür, und wenn sie vorhatte, ihn zu überwältigen, wäre er klar im Vorteil. Sie war halb verhungert, er hingegen gut genährt und bewaffnet. Sollte er das Protokoll ignorieren und ihr helfen? Jonathan würde wütend sein, wenn er es erfuhr, aber er konnte die Frau nicht einfach stehen lassen. 

 „Treten Sie zwei Schritte zurück!“, rief er durch die Tür. 

 „Oh, Gott sei Dank!“, sagte die Frau und entfernte sich von der Tür. „Ich bin unbewaffnet!“ Sie wusste offenbar schon, was er wollte. 

 „Legen Sie Ihren Rucksack und Ihre Jacke ab. Heben Sie die Hände hoch und drehen Sie sich einmal langsam im Kreis.“ Die Frau tat wie geheißen, Thomas konnte nichts Verdächtiges sehen. Er öffnete vorsichtig das Schloss, legte seine Hand auf den Türgriff, nahm allen Mut zusammen und öffnete mit einem Ruck die Tür. 

Abgesehen von der Frau und ihren Sachen war der Flur leer, es gab keine Komplizen, die sich irgendwo versteckt hatten.  

 „Hallo“, sagte die Frau. „Kann ich meine Hände jetzt runternehmen?“ Thomas realisierte plötzlich, dass er die Pistole instinktiv auf sie gerichtet hatte.  

 „Ja … natürlich.“ Er steckte die Pistole in den Halfter. Sie nahm die Hände vorsichtig herunter. 

 „Ich bin Miriam. Und du?“ 

 „Thomas.“ Einen Moment lang herrschte Stille. „Äh, du willst sicher reinkommen?“ 

 „Wenn ich darf.“  

Thomas nickte. 

 „Okay.“ Miriam ging langsam, aber bestimmt in seine Richtung, er trat zur Seite, und dann war sie in der Wohnung, ein Verstoß gegen alle Regeln, aber das war ihm gerade egal. 

 „Durch die Tür da geht’s zum Wohnzimmer.“ 

 „Mehr als ein Zimmer? Ganz schön luxuriös!“ 

Sie ging durch die Tür und setzte sich auf einen der zwei Stühle am Wohnzimmertisch. Thomas nahm an der anderen Seite Platz.