Die Unantastbaren - Richard Price - E-Book

Die Unantastbaren E-Book

Richard Price

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Beschreibung

Gewinner des deutschen Krimi Preises 2016:›Die Unantastbaren‹. Der packende COP-ROMAN von Richard Price - Nachtschicht in Manhattan: Billy Graves ist ein ruheloser Cop. Energy-Drinks und Zigaretten halten ihn wach, während er in den frühen Morgenstunden die Blocks in New York City abfährt. Billy und vier seiner Freund bilden den harten Kern der Wildgänse - einer Gruppe vom Leben gezeichneter Cops und Ex-Cops in Manhattan, New York. Vergangene Untaten schweißen sie zusammen. Billy fristet, seit er bei einem Schusswechsel einen zwölfjährigen Jungen getötet hat, seine Zeit als Detective in der Nachtschicht. Wie seine vier Kollegen hat auch er einen Unantastbaren, einen skrupellosen Mörder, den er nie dingfest machen konnte. Als er einen der Unantastbaren in einer gigantischen Blutspur entlang einer Subway-Station findet, gerät die ungesühnte Vergangenheit wieder an die Oberfläche, und Billy beginnt, gegen seine engsten Vertrauten zu ermitteln. Ein fesselnder New York-Roman, knallhart, fesselnd und gnadenlos gut. »Unmöglich aus der Hand zu legen.« Stephen King

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Seitenzahl: 472

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Richard Price

Die Unantastbaren

Roman

Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungenMotti1Milton Ramos2Milton Ramos3Milton Ramos4Milton Ramos5Milton Ramos6Milton Ramos7Milton Ramos8Milton Ramos9Milton Ramos10Milton Ramos11Milton Ramos12Milton Ramos13Milton Ramos14Milton Ramos15Milton Ramos16Milton Ramos17Danksagung

Meiner erstaunlichen Frau Lorraine Adams

On my block we still play …

On my block we still pray …

 

Meinen wunderbaren Töchtern Annie und Genevieve

Meiner Mutter Harriet und meinem Bruder Randolph Scott

 

In Gedenken an Carl Brandt (1935–2013)

Und in Gedenken an meinen Vater Milton Price (1924–2008)

Wer hätte gedacht, dass sie die Toten nicht hören?

Wer hätte gedacht, sie könnten jene isolieren,

die nicht sind, die einmal waren?

 

Stephan Edgar, Nocturnal

 

 

Eine Mordermittlung bedeutet große Verantwortung. Lassen Sie sich von niemandem beirren, bleiben Sie immer der Wahrheit verpflichtet sowie Ihrem eigenen Streben nach Gerechtigkeit. Nicht nur im Sinne der Toten, sondern auch der Hinterbliebenen.

 

Vernon Geberth, Practical Homicide Investigation (vierte Auflage)

1

Als Billy Graves auf seinem Weg zur Arbeit die Second Avenue runterfuhr, ärgerten ihn die vielen Menschen: morgens Viertel nach eins, und noch immer drängten weit mehr Leute in die Bars, als rauskamen, und mussten sich in beide Richtungen durch wogende Knäuel angesoffener Raucher wühlen, die direkt vor den Eingängen standen. Schrecklich, dieses Rauchverbot. Es brachte nur Probleme – nächtliche Ruhestörung für die Anwohner, endlich Ellbogenfreiheit für stressgeile Querulanten und Unmassen hupender Limousinen und Funktaxis, die außer der Reihe Fahrten abstauben wollten.

Es war St. Patrick’s Day, die schlimmste Nacht des Jahres für die NYPD-Nachtschicht, jene Handvoll Detectives, die unter Billys Kommando zwischen eins und acht für Manhattans sämtliche Verbrechen zuständig war, von Washington Heights bis runter zur Wall Street, solange deren Reviere nicht besetzt waren. Es gab noch weitere schlimmste Nächte, Halloween zum Beispiel und Silvester, aber St. Patrick war die hässlichste, mit der spontansten und primitivsten Gewalt. Stiefelabsätze, stumpfe Gegenstände, Fäuste – eher Stiche als OPs, aber ziemlich böse Entladungen.

1.15 in der Früh: Wie üblich konnten die Anrufe heute Nacht zu jeder Zeit reinkommen, erfahrungsgemäß waren aber die kritischsten Stunden, vor allem an trinkfreudigen Feiertagen, die zwischen drei, wenn die Bars und Clubs zumachten und alles nach draußen strömte, und fünf, wenn selbst die härtesten Hunde keinen Saft mehr hatten und ins Nirwana torkelten. Andererseits konnte Billy in dieser Stadt nie wissen, wann er sein Kopfkissen wiedersah. Um acht konnte er auf einer Wache sitzen und für die kommende Tagschicht eine gefährliche Körperverletzung protokollieren, während der Täter noch immer flüchtig war oder in der Sammelzelle schnarchte; er konnte im Harlem Hospital oder Beth Israel oder St. Luke’s-Roosevelt in der Notaufnahme rumlungern, Angehörige und/oder Zeugen befragen und darauf warten, dass das Opfer sich entweder verabschiedete oder durchkam; er konnte mit den Händen in den Hosentaschen einen Außentatort ablatschen und mit der Schuhspitze im Müll nach Patronenhülsen stöbern, oder, oder, oder, wenn der Fürst des Friedens zugegen und der Verkehr Richtung Yonkers überschaubar waren, tatsächlich rechtzeitig zu Hause sein, um seine Kinder zur Schule zu bringen.

Es gab echte Draufgänger, selbst im Nachtdienst, aber zu denen gehörte Billy nicht. Er hoffte eigentlich immer, dass im nächtlichen Chaos von Manhattan für sein Team nichts Ernstes anfiel, nur Kleinscheiß, den man der Streife rüberschieben konnte.

 

»Was geht, Seoul Man«, knödelte er, als er den rund um die Uhr geöffneten Koreaner in der Third Avenue betrat, gleich gegenüber der Wache. Joon, der Nachtkassierer mit der getapten Hornbrille, trug automatisch die übliche Nachtration seines Kunden zusammen: drei halbe Liter Diet Rockstar Energydrink, zwei Päckchen Shaolin-Power-Gel und eine Schachtel Camel Lights.  

Billy köpfte eine Dose Go, bevor sie in der Tüte verschwinden konnte.

»Zu viel das Zeug macht noch müder«, lautete der Standardvortrag des Koreaners. »Wie ein Bumerang.«

»Bestimmt.«

Als Billy seine Kreditkarte zückte, fing ihn der Überwachungsmonitor an der Kasse in seiner ganzen Pracht ein: kompakt wie ein Footballer, dazu Hängeschultern, das bleiche Gesicht mit den vor Erschöpfung glasigen Augen gekrönt von einer halben Mistgabelladung frühzeitig ergrauter Haare. Er war zwar erst zweiundvierzig, aber sein Knitterzellophanblick gepaart mit einer exquisiten Schlaflosenpose hatte ihm schon mal eine Seniorenermäßigung fürs Kino eingebracht. Der Mensch war nicht dazu gemacht, erst nach Mitternacht mit der Arbeit anzufangen – Ende der Durchsage, scheiß auf die Zuschläge.

Das Büro der Nachtschicht im ersten Stock der Wache fünfzehn, das tagsüber von der Mordkommission Manhattan South genutzt wurde, sah aus wie eine Mischung aus Kirmesbude und Leichenschauhaus. Ein trostloser, neonbeleuchteter Haufen zinngrauer Schreibtische, dazwischen Plastiktrennwände, aufgehübscht durch signierte Großformatfotos von Derek Jeter, Samuel L. Jackson, Rex Ryan und Harvey Keitel nebst Fahndungsfotos, Familienschnappschüssen und grellen Tatortaufnahmen. Ein zwei Meter fünfzig breites Aquarium voller haifischartiger Welse beherrschte eine Schlackenbetonwand, die andere zierte eine amerikanische Flagge in Botschaftsgröße.

Von seiner regulären Truppe war keiner da: Emmett Butter, Gelegenheitsschauspieler und so frisch dabei, dass Billy ihm noch keinen Einsatz überlassen hatte; Gene Feeley, der in den Achtzigern mit seinem Team das Crack-Imperium von Fat Cat Nichols zerschlagen hatte, seit zweiunddreißig Jahren dabei war, zwei Bars in Queens besaß und nur noch ausharrte, um seine Rente auszuschöpfen; Alice Stupak, die nachts arbeitete, um tagsüber bei ihrer Familie zu sein, und Roger Mayo, der nachts arbeitete, um tagsüber nicht bei seiner Familie zu sein.

Ein leerer Dienstraum eine halbe Stunde nach Schichtbeginn war nichts Ungewöhnliches, denn Billy war es egal, wo seine Detectives sich aufhielten, Hauptsache, sie gingen ans Telefon, wenn er sie brauchte. Er sah nicht ein, wieso er sie die ganze Nacht an ihre Schreibtische fesseln sollte, als säßen sie in Haft. Diese Freiheit bedeutete aber auch: Wenn einer von ihnen – mit Ausnahme von Feeley, der in den oberen Etagen so gut vernetzt war, dass er tun und lassen konnte, was er wollte –, wenn also einer von ihnen auch nur ein einziges Mal nicht ans Telefon ging, waren sie weg vom Fenster, leerer Akku, ins Klo gefallen, weggetreten, Diebstahl, Armageddon, Entrückung hin oder her.

Nachdem Billy die Einkäufe in seinem winzigen, fensterlosen Büro abgestellt hatte, ging er vom Dienstraum einen kurzen Flur entlang zur Leitstelle. Am Tisch saß Rollie Towers alias der Lotse, ein großer Buddha in Jogginghose und John-Jay-College-Sweatshirt mit einem Arsch, der zu beiden Seiten seines gewebten Aeron-Stuhls überquoll. Er nahm von diversen Tatorten Aufträge für die Nachtschicht entgegen und blockte sie ab wie ein Torwart.

»Also, Sarge, mein Boss ist noch nicht da«, Rollie nickte Billy zu, »aber ich vermute mal, der würde Ihnen Folgendes sagen: keine Verletzten, und der Typ ist nicht mal sicher, ob es überhaupt eine Waffe war. Ich würde ihm einfach auf den Zahn fühlen, warten, bis morgen früh die Fünfte kommt, vielleicht passt das bei denen in irgendein Muster, okay? Wir können da gerade wirklich nicht viel machen. Alles klar … alles klar … alles klar.«

Legte auf und drehte sich zu Billy um. »Alles klar.«

»Irgendwas los?« Billy wollte sich gerade einen von Rollies Doritos nehmen, überlegte es sich aber anders.

»Scharmützel im Zweiunddreißiger, beide Schützen weiblich, eine auf dem Gehsteig, die andere hinten in einem Ghettotaxi. Sie sind irgendwie einen Meter voneinander entfernt, sechs Schüsse hin und her durch die Heckscheibe, und jetzt kommt’s – keine von beiden wird getroffen. So was nennt man Scharfschützen.«

»Fahrendes Taxi?«

»Als es losgeht, da jagt die eine Schnepfe die andere durch die Eisenhowers, sie springt ins Auto, brüllt den Fahrer an, dass er Gas geben soll, nur sobald der die Knarren sieht, hüpft er raus und marschiert zurück nach Senegal, ist wahrscheinlich halb da inzwischen.«

»Die Beine in der Hand.«

»Butter und Mayo sind hoch nach Harlem, zugucken, wie Annie Oakley und Calamity Jane ihren Rausch ausschlafen.«

»Und der Fahrer? Jetzt echt?«

»Acht Straßen weiter haben sie ihn gefunden, wie er gerade auf einen Baum klettern will. Sie haben ihn mitgenommen, aber er spricht nur Wolof und Französisch, also warten sie auf einen Dolmetscher.«

»Sonst noch?«

»Nichts.«

»Und wen kriege ich heute?« Billy graute vor den freiwilligen Aushilfen, dem ständig wechselnden Sortiment überstundenhungriger Tagschichtler, die nachts seine mickrige Mannschaft aufpolsterten, aber nach zwei Uhr mehrheitlich nicht mehr zu gebrauchen waren.

»Theoretisch drei, aber dem einen ist das Kind krank geworden, der andere wurde zuletzt bei einer Verabschiedung im Neuner gesichtet, also müssen Sie gucken, ob der überhaupt in der Lage ist reinzukommen, und dann halt das, was Central Park uns geschickt hat.«

»Der ist schon da? Ich hab niemanden gesehen.«

»Vielleicht mal unterm Teppich nachsehen.«

Im Dienstraum machte sich die Aushilfe Theodore Moretti geschickt unsichtbar, vornübergebeugt am entferntesten Tisch kauernd, Ellbogen auf den Knien.

»Ich bin in der Luft«, zischte er in sein Handy, »du atmest mich gerade ein, Jesse. Ich bin überall um dich rum …«

Moretti war klein und bullig, hatte glattes schwarzes, akkurat mittelgescheiteltes Haar und Waschbäraugen, gegen die Billys kristallklar wirkten.

»Hallo.« Billy stand neben ihm, Hände in den Taschen. Doch bevor er sich als Boss zu erkennen geben konnte, stand Moretti auf, verließ den Raum und kam kurz darauf noch immer telefonierend zurück.

»Glaubst du wirklich, du wirst mich so einfach los?«, fragte er seine vom Liebesglück verfolgte Jesse. Billy begriff sofort, womit er es hier zu tun hatte, und schrieb Moretti entsprechend ab.

Geld mochte der Hauptbeweggrund für eine einmalige Nachtschichtrunde sein, aber hin und wieder meldeten sich Ermittler nicht wegen der Überstunden, sondern weil sie dann besser stalken konnten.

 

1.45 … Das Knirschen der Räder in einer Seitenstraße voller kaputter Glühbirnen klang wie Popcorn kurz vorm Höhepunkt, die Nachwehen einer Kraftprobe zwischen den Skriller Hill Killaz aus den Coolidge-Siedlungen und den Stack Money Goons aus den Madisons, vier Jugendliche im St. Luke Hospital zum Wundennähen, und einem stak eine Glasscherbe aus der Hornhaut wie ein Miniatursegel. Wo sie all die Glühbirnen herhatten, blieb ihr Geheimnis.

Als Billy und Moretti aus ihrer Limousine stiegen, war das Neunundzwanziger Gang-Team, sechs junge Männer in Windjacken und High Tops, schon dabei, seine Schäfchen einzusammeln, mit Plasti-Manschetten zu versehen und bäuchlings zu stapeln, als bündelten sie Weizen. Das Schlachtfeld war von zwei Gafferschichten gesäumt: Dutzenden Anwohnern auf dem Gehsteig, trotz der späten Stunde zum Teil mit Kindern im Schlepptau, und ebenso vielen Leuten, die zu beiden Seiten der engen Straße aus den Fenstern der maroden Wohlfahrtshotels hingen.

Eddie Lopez, der Auswertungschef des Teams, der mit seinem rasierten Schädel und den wadenlangen Jeansshorts aussah wie ein pensionierter Schulhofrüpel, trat auf Billy zu, frische Plasti-Manschetten wie Modeschmuck an den Unterarmen.

»Diese beiden Banden haben sich die ganze Woche schon auf Facebook angepisst. Wir hätten ihnen zuvorkommen sollen.«

Billy wandte sich an Moretti. »Die Kids in der Notaufnahme, gehen Sie mit einem vom Gang-Team rüber, um die zu befragen.«

»Ernsthaft jetzt? Die machen doch das Maul nicht auf.«

»Trotzdem …« Billy winkte ihn weiter und dachte bei sich, ein Nervbolzen weniger.

Vom anderen Ende der Straße brach aus der baumbestandenen Dunkelheit wie ein Raubtier auf Beute ein zerbeultes Ghettotaxi hervor, bremste praktisch mitten im Arrestfest und spuckte eine Mittvierzigerin im Morgenmantel aus, bevor der Wagen noch richtig zum Stehen gekommen war.

»Die sagen, mein Sohn ist vielleicht auf einem Auge blind!«

»Sieben Dollar«, sagte der Fahrer und streckte seine Hand aus dem Fenster.

»Dann wollen wir mal«, murmelte Lopez Billy zu, bevor er sich in Bewegung setzte. »Miss Carter, nichts für ungut, aber wir haben Jermaine nicht aufgefordert, hier draußen um zwei Uhr nachts Skrillers zu jagen.«

»Woher wollen Sie wissen, was er hier draußen gemacht hat!« Die Straßenbeleuchtung verwandelte ihre randlose Brille in zwei Scheiben fahlen Feuers.

»Weil ich ihn kenne«, sagte Lopez. »Ich hatte bereits das Vergnügen.«

»Er hat ein Stipendium fürs Sullivan County Community College nächstes Jahr!«

»Glückwunsch, aber das macht das hier nicht wett.«

»Tut mir leid, Charlene.« Eine der Frauen trat vom Gehweg herunter. »Nichts für ungut, aber im Grunde trifft Sie genauso viel Schuld wie den Jungen, der das Glas geworfen hat.«

»Bitte?« Miss Carter winkelte den Kopf nach oben wie eine Pistole.

»Sieben Dollar?«, wiederholte der Fahrer.

Billy drückte ihm fünf in die Hand und wies ihn an, sich rückwärts zu verabschieden.

»Ich höre Sie bei jeder Gemeindeversammlung«, sagte die Frau, »wie Sie sagen, mein Junge ist brav, der ist eigentlich gar nicht richtig in der Gang, es ist das Umfeld, es sind die Umstände, aber der Kollege hier hat recht. Statt Ihren Sohn zur Rede zu stellen, erfinden Sie immer neue Ausreden, also was erwarten Sie?«

Die Mutter des Jungen stand reglos vor Staunen da; in weiser Voraussicht fing Billy ihren Arm ab, bevor ihr linker Haken auf dem Kinn der Frau landen konnte.

Geschnalz und Gemurmel kabbelten durch die Menge. Eine Zigarette wurde auf Billys Schulter geschnippt, allerdings ließ sich auf so engem Raum nicht ausmachen, wem die gegolten hatte, also c’est la guerre.

Als er einen Schritt zurücktrat, um die Asche von seinem Sakko zu wischen, klingelte sein Telefon: Rollie der Lotse.

»Boss, erinnern Sie sich an die Olympiade ’72?«

»Nicht so richtig.«

»Das Massaker von München?«

»Okay …«

»Wir haben hier jemand, der hat mit der Vier-mal-vierhundert-Meter-Staffel Silber geholt, Horace Woody?«

»Okay …«

»Wohnt in den Terry Towers in Chelsea.«

»Okay …«

»Die Streife hat gerade angerufen, jemand hat seine Medaille geklaut. Sollen wir das annehmen? Könnte ein Mediending werden, außerdem sitzt Mayo grad wieder an seinem Schreibtisch und führt Selbstgespräche.«

»Dann schick ihn rüber ins St. Luke zur Notaufnahme, Moretti babysitten, damit der keine Skalpelle mopst oder so.«

»Und die entwendete Medaille?«

Lopez beäugte ihn über den Kopf eines dreizehnjährigen gefesselten Money Stackers. »Hey, Sarge – kein Thema, wir schaffen das hier.«

»Stupak soll sich dort mit mir treffen«, sagte Billy in den Hörer. »Ich fahre jetzt rüber.«

Es klang wie haufenweise heiße Luft, aber er hatte noch nie einen Olympioniken aus der Nähe gesehen.

 

Die Terry Towers waren eine zwölfstöckige Mitchell-Lama-Klitsche an der West Side, eine Nummer besser als Sozialbau, was bedeutete, dass es ein paar defekte Fahrstühle weniger gab und die Flure nicht ganz so barbarisch stanken. Apartment 7G war klein, stickig und unordentlich, das Abendgeschirr stand um 2.45noch immer auf dem Tisch in der Essnische. Mitten im verbauten Wohnzimmer stand Horace Woody, ein Mann weit in den Sechzigern, dank gnädiger Gene jedoch mit der Physis eines schlaksigen Teenagers gesegnet, in Boxershorts, Hände in die Hüften gestemmt, die Haut auf der straffen Brust so braun wie ein edler Kamelhaarmantel. Die Augen allerdings waren so klein wie Maraschinokirschen, und seine Fahne roch so süß, dass es Billy die Zähne kräuselte.

»Ist ja nicht so, als hätte ich keinen Verdacht, wer das verdammte Ding eingesackt hat«, lallte Woody und finsterte seine Freundin Carla Garrett an, die an einer alten TV-Konsole voller eigentümlich geformter Likörflaschen und eselsohriger Fotos in Acrylrahmen stand. Sie war vielleicht halb so alt wie er, eher kräftig, mit nüchternem, stetem Blick. Ihre drollig frustrierten Mundwinkel bestätigten Billys Ahnung, dass es sich hier um blinden Alarm handelte, schlimmstenfalls häusliche Gewalt in Zeitlupe, aber das scherte ihn nicht groß, so fasziniert war er von der unheimlichen Jugend dieses älteren Mannes.

»Es gibt Leute«, sagte Woody, »die wollen einfach nicht, dass man in seinem Leben ein Leben hat.«

Es klopfte sachte an der Haustür, dann trat Alice Stupak ein, eins sechzig groß und gebaut wie ein Bus; mit ihrer chronischen Gesichtsrose und dem vorlauten kurzen Pony erinnerte sie Billy beharrlich an einen kampferprobten Peter Pan mit Alkoholproblem.

»Wie geht’s uns denn allerseits?«, trötete sie mit heiterer Forschheit, bevor sie sich zielsicher das Problemkind vornahm: »Wie steht’s mit Ihnen, Sir? Hatten Sie einen schönen Abend?«

Woody wich vor ihr zurück, die Augen missbilligend zusammengekniffen, wie Billy es schon öfter beobachtet hatte, hauptsächlich, aber nicht ausschließlich bei Alice’ verunsicherter männlicher Klientel. Doch so beängstigend sie auf manche wirken mochte, litt sie doch chronisch unter Liebeskummer, schmachtete ewig diesem Detective oder Feuerwehrmann, jenem Barkeeper oder Türsteher hinterher und verzweifelte endlos darüber, dass all diese potentiellen Partner sie automatisch für eine Lesbe hielten.

»Ma’am?« Stupak nickte Woodys Freundin zu. »Wieso sind wir hier?«

Carla Garrett stieß sich von der Konsole ab und schlurfte in den hinteren Teil der Wohnung, wobei sie Billy mit gekrümmtem Finger lockte.

 

Das sphärisch beleuchtete Bad war ein wenig eng, geöffnete Haut- und Haarpflegeflaschen und -tuben säumten Waschbecken und Wanne, gebrauchte Handtücher hingen von allen Haken, Stangen und Ständern, und Haare lagen an Stellen, die Billy gar nicht sehen wollte. Als Woodys Freundin anfing, in einem vollen, fälligen Wäschekorb zu wühlen, klingelte Billys Handy: Stacey Taylor zum dritten Mal in zwei Tagen. Sein Magen kiekste kurz vor Schreck, als er ihren Anruf wie die anderen zuvor wegdrückte.

»Da drin hast du sie?«, bellte Woody vom Flur aus. »Ich weiß, dass du sie da drin hast.«

»Sie setzen sich jetzt wieder vor den Fernseher.« Stupaks Stimme drang durch die geschlossene Tür.

Als die Freundin sich schließlich neben dem Korb aufrichtete, hielt sie die Silbermedaille in den Händen, so groß wie eine Untertasse.

»Wenn er säuft, will er sie versetzen und ein neues Leben anfangen. Hat er schon öfters, und was, meinen Sie, hat er dafür gekriegt?«

»Paar Riesen?«

»Hundertfünfundzwanzig Dollar.«

»Darf ich mal?«

Billy war enttäuscht von diesem Leichtgewicht, doch auch ein wenig ergriffen.

»Also, die meiste Zeit ist Horace in Ordnung, echt, ich hab weiß Gott Schlimmere gehabt, nur wenn er diesen Cherry Heering zu fassen kriegt? Der Mann hat ein Schleckermaul wie ein Kind. Dem können Sie einen Fünfzig-Dollar-Cognac vor die Nase setzen oder Johnny Walker Black, und der knackt nicht mal das Siegel. Aber Alkohol, der nach lila Schokoriegel schmeckt? Vorsicht!«

»Ich will meine verfluchte Medaille zurück«, brüllte Woody jetzt von weiter weg.

»Sir, was habe ich Ihnen gerade gesagt?« Stupaks Stimme wurde flach vor Ärger.

»Ein neues Leben anfangen …«, murmelte die Freundin. »Alle Pfandleihen hier in der Gegend haben meine Kurzwahl gespeichert für den Fall, dass er reinkommt. Meine Güte, wenn er abhauen will, leihe ich ihm das Geld, aber das hier gehört zur amerikanischen Geschichte.«

Billy war die Frau sympathisch, er verstand bloß nicht, wie man so die Sinne beisammen haben und so den Haushalt vernachlässigen konnte.

»Und was kann ich jetzt für Sie tun?«, fragte er.

»Gar nichts. Tut mir leid, dass man sie hergeschickt hat. Normalerweise kommt eine Streife, hauptsächlich, weil er ein berühmter Sportler war, und dann spielen wir ›Na, wo hat sie sie diesmal versteckt‹. Aber Sie sind Detective, und es ist mir peinlich, dass Sie belämmert wurden.«

Als sie die Badezimmertür aufmachten, lag Woody im Wohnzimmer ausgestreckt auf der Kunststoffcouch und blickte mit schlitzschmalen Geleeaugen auf ein stumm geschaltetes MTV.

Billy legte ihm die Medaille auf die Brust. »Fall gelöst.«

Als er mit Stupak zu den Fahrstühlen ging, sah er auf die Uhr: 3.15. Noch anderthalb Stunden, und die Chancen standen gut, dass er ungeschoren davonkam.

»Was meinst du?«

»Du bist der Boss, Boss.«

»Finnerty’s?« Billy dachte, man kann ja schließlich nicht nicht feiern, dachte, nur ein Schlückchen.

 

»Ich wollte schon immer mal nach Irland«, rief Stupak über die Musik hinweg dem appetitlichen jungen Barkeeper zu. »Letztes Jahr hatten wir gebucht und alles, und dann kriegt meine Freundin zwei Tage vor Abflug eine Blinddarmentzündung.«

»Man kann auch allein in den Flieger steigen«, sagte er freundlich und winkte über ihre Schulter zwei Frauen zu, die gerade hereinkamen. »Ist ein freundliches Land.«

Und das war’s, der Typ beugte sich über die Theke, um die Neuankömmlinge mit Küsschen zu begrüßen, und Stupak durfte in ihr Bier erröten.

»Ich war auch noch nie in Irland«, sagte Billy. »Ich meine, wozu auch, hab ja den ganzen Tag Paddies um mich rum.«

»Ich hätte nicht ›Freundin‹ sagen sollen«, sagte Stupak.

Sein Telefon klingelte wieder, nicht Rollie, Gott sei Dank, sondern seine Frau, und Billy ging mit schnellen Schritten auf die Straße, damit sie das Getöse in der Bar nicht hörte und anfing, Fragen zu stellen.

»Hallo …« Seine Stimme schaltete in den Wiegenliedmodus, wie immer, wenn sie ihn mitten in der Nacht anrief. »Kannst du nicht schlafen?«

»Nein.«

»Hast du deine Trazodon genommen?«

»Ich glaube, ich hab’s vergessen, aber jetzt geht es nicht mehr, ich muss in drei Stunden hoch.«

»Wie wär’s mit ’ner halben?«

»Geht nicht.«

»Na gut, also, du weißt ja, du kennst das, im schlimmsten Fall hast du morgen einen schwierigen Tag, aber er wird dich nicht umbringen.«

»Wann kommst du nach Hause?«

»Ich versuch mich früher abzuseilen.«

»Ich mag das nicht, Billy.«

»Ich weiß.« Sein Telefon vibrierte wieder; Rollie Towers auf Leitung zwei. »Eine Sekunde.«

»Ich mag das wirklich nicht.«

»Sekunde …« Er schaltete um. »Hey, was gibt’s.«

»Gerade als man dachte, es sei wieder sicher, ins Wasser zu gehen.«

»Komm jetzt, was liegt an?«

»Happy St. Patrick’s Day«, sagte die Leitstelle.

 

Als Billy und der Großteil seines Teams Penn Station erreichten und von dort die schmuddelige lange Passage im unteren Geschoss, die die Long-Island-Pendlerzüge mit der Subway am anderen Ende verband, hatten die Polizisten, die als Erste am Tatort gewesen waren, Zivilfahnder sowohl der New Jersey Transit als auch der Long Island Rail Road, die Situation bereits erstaunlich gut im Griff. Unsicher, welchen Teil der hundert Meter langen Blutspur sie sichern sollten, hatten sie kurzerhand alles abgesperrt, mit Klebeband und Mülltonnen wie einen Slalomparcours. Sie hatten es außerdem wundersamerweise fertiggebracht, die meisten der gründlich alkoholisierten, heimwärts strebenden Nachtschwärmer, die während der Tat unter der Anzeigetafel gestanden hatten, einzufangen und in einen grell erleuchteten, zu einer Seite offenen Warteraum neben der Haupthalle zu pferchen. Ein rascher Blick hinein, und Billy sah, dass die Mehrheit der potentiellen Zeugen mit offenem Mund schnarchend auf harten Holzbänken saß, Kinn zur Decke gestreckt wie hungrige Küken.

»Sieht aus, als wäre er unter den Tafeln hier aufgeschlitzt worden und dann losgerannt, bis ihm hinten bei der Subway die Puste ausging«, verkündete Gene Feeley. Er hatte seinen Schlips lose herabhängen wie Sinatra bei der letzten Bestellung.

Es überraschte Billy, Feeley hier überhaupt anzutreffen, geschweige denn als ersten Ermittler am Tatort. Andererseits war das hier genau Feeleys Ding; der alte Hase verschmähte in aller Regel Einsätze, die nicht mindestens drei Tote zu bieten hatten oder einen erschossenen Cop, Schlagzeilenfutter.

»Wo ist die Leiche?«, fragte Billy. Wenn er Glück hatte, sah er seine Kinder zum Abendessen.

»Folge dem gelben Backsteinweg.« Feeley deutete auf die rotbraunen Turnschuhabdrücke, die den Weg wie blutige Tanzschrittanweisungen markierten. »Das ist einer fürs Sammelalbum, so viel ist mal klar.«

Als sie das Subway-Drehkreuz erreichten, fuhr gerade ein Express Richtung Süden ein, und auf den Bahnsteig quollen fluchend, lachend, stolpernd und Vuvuzelas trötend noch mehr stinkbesoffene Nachtschwärmer, die die stocksteife Gestalt mit den weit aufgerissenen Augen alle für eine Schnapsleiche hielten, abgesehen von den beiden mittelalten Detectives von der Kriminaltechnik, die heute mal mit der Bahn zur Arbeit gefahren waren und mit ihren Spusi-Köfferchen aussahen wie verlotterte Vertreter.

Billy schnappte sich einen Transit Detective. »Hören Sie, hier können jetzt keine Züge halten. Rufen Sie bitte Ihren Boss an?«

»Sarge, das hier ist Penn Station.«

»Ich weiß, wo wir sind, aber ich will nicht, dass alle fünf Minuten eine Horde Betrunkener durch meinen Tatort trampelt.«

Das Opfer lag auf der Seite, Hals und Oberkörper in einen Buckel gestaucht, linker Arm und linkes Bein weggestreckt, als würde der Mann versuchen, seine Fingerspitzen zu treten. Für Billy sah es aus, als hätte er versucht, über das Drehkreuz zu springen, sei mitten im Sprung ausgeblutet und erstarrt, in der Luft gestorben und wie ein Stein herabgefallen.

»Sieht aus wie ein Hürdenläufer nach seinem Sturz von einer Schachtel Wheaties«, sagte Feeley und trollte sich.

Als der Kriminaltechniker dem Opfer die Brieftasche aus der ehemals himmelblauen Jeans zupfte, löste sich Billy vom menschlichen Lavastrom und betrachtete zum ersten Mal richtig das Gesicht. Ende zwanzig, weit aufgerissene, erstaunte blaue Augen, bleistiftschmale, geschwungene Augenbrauen, milchweiße Haut und pechschwarzes Haar. Von einer femininen Schönheit, die ans Perverse grenzte.

Billy starrte und starrte. Unmöglich. »Heißt der etwa Bannion?«

»Halten Sie mal das Telefon«, sagte der Techniker und zog den Führerschein raus. »Bannion, jawohl, Vorname …«

»Jeffrey«, sagte Billy da, »scheiß mich an.«

»Wieso kommt mir der Name bekannt vor?«, fragte der Kriminaltechniker ohne echtes Interesse an einer Antwort.

Jeffrey Bannion … Billy wollte auf der Stelle John Pavlicek anrufen, dachte dann an die Uhrzeit und beschloss, bis zum Morgengrauen zu warten, obwohl Big John wohl nichts dagegen gehabt hätte, deswegen geweckt zu werden.

 

Vor acht Jahren wurde ein zwölfjähriger Junge namens Thomas Rivera unter einer besudelten Matratze im Baumhaus der Nachbarfamilie Bannion in City Island gefunden. Er war zu Tode geknüppelt worden, die Bettdecke auf ihm vollgespritzt mit Sperma. John Pavlicek, Billys Anti-Crime-Partner damals Ende der Neunziger, zum Zeitpunkt des Mordes allerdings der Bronx Homicide Task Force zugeteilt, wurde zum Tatort gerufen, nachdem ein Leichenspürhund den seit drei Tagen vermissten Jungen gefunden hatte.

Jeffrey Bannions zu groß geratener, lernbehinderter jüngerer Bruder Eugene gab zu, dass er gewichst hatte – dazu gehe er immer ins Baumhaus –, behauptete jedoch, der Junge sei schon tot gewesen, als er ihn fand. Der neunzehnjährige Jeffrey sagte aus, er selbst habe an dem Tag krank im Bett gelegen und Eugene habe ihm die Tat bereits gestanden. Als die Cops den jüngeren Bannion jedoch in die Mangel nahmen, blieb Eugene nicht nur bei seiner Version, er hatte auch nicht die allergeringste Vorstellung, wie Thomas Rivera ins Baumhaus gelangt oder wie die Tatwaffe ausgesehen haben könnte, sosehr die Detectives ihn auch ermunterten oder aufs Glatteis führten. Dass ein derart minderbemittelter Fünfzehnjähriger ihnen standhalten konnte, leuchtete überhaupt nicht ein.

Pavlicek hatte sich von Anfang an auf den älteren Bannion eingeschossen, nur war an seiner Grippeversion nicht zu rütteln, also kam sein jüngerer Bruder in den Robert-N.-Davoren-Jugendknast von Rikers Island, eine Petrischale voller Bloods, Ñetas und MS-13, wo er ohne das erforderliche psychologische Gutachten zu den anderen auf Station verbracht wurde, ein großer, trotteliger weißer Teenager, der wild um sich schlug, wenn er in Panik geriet, und seine Ermordung ganze fünf Tage nach Haftantritt brachte in etwa so viele Schlagzeilen ein wie die des Jungen, den er angeblich umgebracht hatte.

Obwohl Pavlicek sich mit aller Kraft dagegenstemmte, wurde der Fall Rivera nach wenigen Tagen für abgeschlossen erklärt und jede weitere Ermittlung offiziell unterbunden. Kurz darauf packte Jeffrey Bannion seine Siebensachen und kam bei diversen Verwandten außerhalb des Staates New York unter. Zunächst hatte Pavlicek versucht, seinen Frust mit anderen Fällen zu betäuben – wobei er zu Thomas Riveras Eltern immer Kontakt hielt und Bannion nie aus den Augen verlor –, als er jedoch über Ecken von zwei Übergriffen auf Minderjährige erfuhr, in Kleinstädten, in denen Jeffrey jeweils zu der Zeit gewohnt hatte, und keiner der beiden Fälle zu einer Festnahme führte, flammte seine Besessenheit wieder auf, und er wollte diesen Jungen unbedingt drankriegen.

Irgendwann zog Bannion nach New York zurück und wohnte mit drei Freunden zusammen in einem Haus in Seaford auf Long Island. Pavlicek, noch immer hinter ihm her wie Javert, wandte sich sowohl an die Sieben im benachbarten Wantagh als auch die Detectives von Nassau County, doch entweder war der Junge seither sauber oder mit dem Alter noch ausgebuffter geworden. Das Letzte – und Haarsträubendste –, was man von ihm gehört hatte, war, dass er sich in einem Dutzend Gemeinden von Long Island als Hilfspolizist beworben und insgesamt drei Ausbildungsangebote erhalten hatte.

 

»Mein Vorgesetzter will wissen, wie lange hier noch dicht ist«, sagte der Transit Detective, als er zurückkam.

»Wir machen so schnell wir können«, sagte Billy.

»Er sagt, das Blut soll bis halb sechs weg, gilt auch für die Leiche. Dann geht das hier richtig los mit den Pendlern.«

Saubermachen oder bewahren … Saubermachen oder bewahren … Irgendjemand wird sich beschweren; irgendjemand beschwert sich immer.

Als der nächste Schwung aus der 2 in die Penn Station wankte, glotzte eine Jugendliche Bannion an, blickte dann fragend ihrem Freund in die Augen, fuhr herum, kotzte auf den Bahnsteig und fügte der Mischung noch ihre DNA bei.

»Ungünstige Nacht für so was«, sagte der Transit Cop.

Billy trat zurück in die düstere Passage und starrte das Band entlang. Vom halb geronnenen Blut abgesehen verriet der Schlachtplatz – ein Trümmerfeld aus Bonbonpapier, Styroporbechern, dem ein oder anderen Kleidungsstück und einer zerschmissenen Schnapsflasche, die gerade mal eben vom klebrigen Etikett zusammengehalten wurde – zu viel und rein gar nichts.

Als die Kriminaltechnik weiter eintütete und knipste, als die Detectives von LIRR und Transit und Billys eigene Mannschaft sich den Warteraum vornahmen und zwischen den halbwachen potentiellen Zeugen umhergingen wie eine Schwadron ambulanter Pfleger, meinte Billy auf dem Rangers-Trikot eines schlafenden Pendlers Blut zu entdecken.

Er setzte sich neben ihn auf die Holzbank, der junge Mann hatte den Kopf so weit zurückgebogen, dass es aussah, als hätte ihm jemand die Kehle durchgeschnitten.

»Hallo.« Billy stupste ihn an.

Der junge Mann kam zu sich und schüttelte den Kopf wie eine Zeichentrickfigur nach einem Schlag mit dem Amboss.

»Wie heißt du?«

»Mike.«

»Mike was?«

»Was?«

»Wo hast du dir die Blutflecken geholt, Mike?«

»Ich?« Sein Kopf zuckte noch immer hin und her.

»Du.«

»Wo …«, blickte auf sein Trikot, dann: »Ist das Blut?«

»Kennst du Jeffrey Bannion?«

»Kenne ich ihn?«

Billy wartete, einundzwanzig, zwei …

»Wo ist er?«, fragte der Junge.

»Du kennst ihn also? Jeffrey Bannion?«

»Und wenn?«

»Hast du gesehen, was passiert ist?«

»Was? Wie, was passiert?«

»Er wurde erstochen.«

Der Junge sprang auf. »Was? Die murks ich ab.«

»Wen?«

»Was?«

»Wen willst du abmurksen?«

»Woher soll denn ich das wissen? Wer’s getan hat. Überlassen Sie die mir.«

»Hast du es gesehen?«

»Was gesehen?«

»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen? Wo war er, mit wem unterwegs?«

»Er ist wie ein Bruder für mich.«

»Mit wem war er …«

»Woher soll ich das wissen. Bin ich ’ne Schwuchtel?«

»Eine was? Wo wohnst du?«

»Strong Island.«

»Genauer.«

»Seaford.«

»Wer war sonst noch dabei, zeig mir deinen Trupp.«

»Meinen Trupp?«

»Wer hier in diesem Warteraum war heute Nacht mit dir unterwegs, von denen, die nach Seaford zurückfahren.«

»Ich verpfeif hier doch keinen.«

»Verpfeifen? Ich will wissen, wer seine Freunde sind.«

Mike drehte den Kopf, als steckte der auf einer rostigen Spule, und nahm die Hälfte der stumpfäugigen Pendler um sich herum in den Blick.

»Ey«, schmetterte er. »Habt ihr gehört, was passiert ist?«

Nicht einer drehte sich um.

»Hat irgendjemand heute Nacht irgendwas bei sich?«, fragte Billy.

»Von wegen Gras?«

»Von wegen Waffen.«

»Alles ist eine Waffe.«

»Wo ist noch mal das Blut her?«

»Was für Blut.« Der junge Mann fasste sich ins Gesicht.

»Hat irgendjemand in deinem Tru – hat irgendjemand heute Nacht mit jemandem Zoff gehabt?«

»Heute Nacht?« Der Junge blinzelte. »Heute Nacht fahren wir in die City.«

Billy beschloss, ihn und alle anderen zur Ausnüchterung nach Midtown South zu schicken und sie dann erneut zu befragen. Er vermutete, dass diese Befragungen zu nichts führten. Er war sich außerdem ziemlich sicher, dass die Spurensicherung, nachdem die halbe Ostküste wie Gnus durch den Tatort gestampft war, ebenfalls nutzlos sein würde. Er setzte aufs Überwachungsvideo.

 

Er unterrichtete seinen Dezernatsleiter, der sofort anfing, wie eine Ente zu quaken, als hätte Billy persönlich Bannion erledigt, half den Transit Cops eine Weile bei den Untergrundbahnen und den LIRR-Detectives unter den Anzeigetafeln und stieg schließlich in der inständigen Hoffnung auf einen Volltreffer die Treppen zu dem Kabuff hinauf, in dem die Monitore standen, nur um vom diensthabenden Techniker zu hören, dass die Master-Festplatte, die sämtliches Überwachungsmaterial hochlud, ein paar Stunden zuvor einen Kaffeeschaden erlitten hatte und der Film nur zu retten war, wenn er zur Rekonstruktion eingeschickt wurde, ein Vorgang, der Tage, wenn nicht Wochen dauern konnte.

Wieder unten, steuerte er Feeley an, weil jemand den Zeugentransport überwachen sollte, scheute aber zurück, als er ihn mit einem weißhaarigen Deputy Inspector schwatzen sah; die beiden tauschten wahrscheinlich Erinnerungen an ihre gemeinsame Jagd nach Pancho Villa aus. Stattdessen suchte er Stupak; vor einem verrammelten Calzone-Imbiss befragte sie gerade einen Wartungsarbeiter.

Sobald Billy Stupak sein Anliegen vorgetragen hatte, wanderte ihr Blick zu Feeley. »Wie jetzt«, murmelte sie, »kommt General Grant sonst zu spät nach Gettysburg?«

Keiner mochte Feeley im Team haben, doch keiner mochte ihn so wenig wie Alice, die Seilschaften ebenso hasste wie Drückeberger im Allgemeinen. Aber es hatte auch persönliche Gründe: Obwohl sie sechzehn Jahre auf dem Buckel hatte, davon sieben mit Sondereinsätzen und drei mit dem Aufgreifen flüchtiger Schwerverbrecher zugebracht hatte, ließ sich das alte Arschloch das Vergnügen nicht nehmen, sie dann und wann Püppchen zu nennen.

Sobald Stupak unterwegs war, nahm Billy einen weiteren überreizten Anruf seines Dezernatleiters entgegen und gleich darauf vom Dienstgruppenleiter Midtown South. Und um sieben, als der Tatort gesichert und keiner der möglichen Zeugen zu einer Aussage imstande war, beschloss Billy, sich mal eben nach Yonkers abzusetzen, um seine Kinder zur Schule zu bringen.

 

Um diese Zeit war der Verkehr auf dem Henry Hudson Parkway Richtung Norden so gnädig, dass Billy Viertel vor acht in seine Straße einbog. Als er vor seinem Haus hielt, stand Carmen auf einer zwei Meter hohen Leiter vor dem Carport und versuchte, einen schlaffen Basketball zu befreien, der seit Januar, als es für die Kinder zum Spielen zu kalt geworden war, zwischen Korb und Brett feststeckte.

»Einfach stoßen, Carmen.«

»Hab ich versucht. Er klemmt.«

In halber Erschöpfungstrance blieb Billy hinterm Steuer sitzen und sah zu, wie sie den Ball freizuwürgen versuchte. In der Morgensonne sah das Polyesterweiß ihres Schwesternkittels aus wie Eis.

Sie war seine zweite Frau. Die erste, Diane, eine afroamerikanische Kunsttherapeutin, hatte ihn infolge medienwirksamer Proteste verlassen, nachdem er in der Bronx versehentlich einen zehn Jahre alten Hispano lebensgefährlich verletzt hatte. Die Kugel, die das Kind traf, hatte zuvor wohlgemerkt das eigentliche Ziel durchbohrt, einen zugekoksten, mit einem bereits blutbeschmierten Bleirohr bewaffneten Riesen.

Diane, damals erst dreiundzwanzig, zwei Jahre jünger als Billy, hatte sich anfangs bemüht, mit ihm auszuharren, doch nachdem die Zeitungen auf den Fall angesprungen waren und ein Pastor aus der Bronx mit beeindruckenden Pressekontakten eine einmonatige Mahnwache vor ihrem Haus in Staten Island abhielt, verlor sie nach und nach die Nerven und knickte ein.

Billy lernte Carmen kennen, als er bei der Identifizierungseinheit im Leichenschauhaus postiert war, nach dem verhängnisvollen Schuss sozusagen ins innere Exil versetzt. Sie war dort, um Damian Robles zu identifizieren, der bis zu seiner Überdosis sechsunddreißig Stunden zuvor ihr Ehemann gewesen war. Sie hatte seine Leiche sehen wollen, obwohl das gar nicht nötig war, und hatte beinahe die gesamte Prozedur ohne Tränen durchgestanden, bis sie die Polaroids abzeichnen musste, die das zeigten, was sie gerade in natura gesehen hatte.

Trotz seiner Heroinsucht war Robles ein Mixed-Martial-Arts-Kämpfer gewesen mit einem irrwitzig gedrechselten Körper, und Billy musste sich beschämt eingestehen, dass der Typ selbst zwei Tage nach seinem Tod noch besser aussah als Billy in seinen allerbesten Momenten.

Dennoch, tot war tot, und zwanzig Minuten, nachdem er Carmen zum ersten Mal erblickt hatte, als sie nebeneinander durch ein langes rechteckiges Fenster auf die Leiche starrten, fragte er sie geradeheraus: »Was wollten Sie bloß mit so einem Versager?«

Statt ihm ins Gesicht zu springen oder Zeter und Mordio zu schreien, antwortete sie seelenruhig: »Ich dachte, so was habe ich verdient.«

Nach einem Monat fingen sie an, beim jeweils anderen Kleidung zu deponieren. Nach einem Jahr verschickten sie Hochzeitseinladungen.

Was sie an ihm fand, so jedenfalls seine damalige Vermutung, war zunächst mal ein Selbstgänger: Junge Witwe blickt sich um und klammert sich an den Beschützer, der neben ihr steht. Billy hatte schon immer eine Schwäche dafür, den Helden zu mimen, wenn sich die Gelegenheit bot, aber eigentlich hatte er sich schlicht und ergreifend in ihre Erscheinung und ihre Stimme verliebt: die schwarzverschmierten großen Augen in einem herzförmigen Gesicht, den toastbraunen Teint und dieses Timbre – träge und rauchig, wenn ihr danach war, und darunter ein tiefes, entspanntes Lachen, das ihn ganz schwindlig machte vor Wonne. Begierde war es von Anfang an, doch alles Längerfristige – Vertrauen, Zärtlichkeit, Freundschaft und so weiter – war erst mit der Zeit gewachsen.

Wobei das Zusammenleben mit ihr durchaus kein Spaziergang war. Mit ihren Stimmungen ging es auf und ab wie beim Seilspringen, und sie neigte zu heftigen Träumen, weckte ihn oft auf, weil sie im Schlaf redete, halb zusammenhängendes, tränenersticktes Flehen, endlich in Ruhe gelassen zu werden. Was er zunächst für einen vorübergehenden Wunsch nach einem Beschützer in ihrem Leben gehalten hatte, war über die Jahre zu einem steten, instinktiven, überwiegend unausgesprochenen Verlangen nach ihm mutiert, einer Bedürftigkeit, die er nie ganz begriff, doch mit Haut und Haar erwiderte. Sie konnte ihn gar nicht überfordern; etwas an ihr weckte seinen Ehrgeiz, das Allerbeste aus sich rauszuholen. Er liebte sie, liebte seine Fürsorge und den Gedanken, dass seine Persönlichkeit, die er immer etwas beschämt für fade gehalten hatte, dass seine monotone Unerschütterlichkeit der Fels in der wütenden Brandung des Lebens einer anderen Seele werden konnte.

Und doch schleppte sie etwas mit sich herum, an das er nicht herankam. Manchmal fühlte er sich wie ein Ritter, dem die Aufgabe zugefallen war, eine Jungfrau vor einem Drachen zu beschützen, den nur sie sehen konnte, deshalb achtete er auf die Wörter, wenn sie im Schlaf schrie, wenn ihre panischen Tiraden unzusammenhängender wurden und vielleicht eher am Kern der Sache kratzten, aber er war kein sonderlich reflektierter oder analytischer Zeitgenosse, und so führten seine geheimen Beobachtungen nicht weiter. Und da man ihn schließlich dazu erzogen hatte, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, sie nicht zu hinterfragen, und da er gelernt hatte, dass die wertvollste Charaktereigenschaft überhaupt eine apachenhafte Langmut ist, wäre er lieber gestorben, als seine Frau, die Mutter seiner beiden Söhne, nach zwölf Jahren Ehe unverhohlen zu fragen: Wer bist du?

 

»Wo sind unsere Trapper?«, rief er vom Wagen aus.

»Bringst du sie zur Schule?«, fragte sie.

»Ja, aber ich hab noch eine Leiche in der Penn Station, ich muss gleich wieder rein.«

»Ich kann sie fahren.«

»Nein, nur wo sind …«

»Declan!«

Billys Nachtlider flatterten vor Schmerz: Carmens erster Schritt bei einer Suche lautete Schreien.

In einem letzten Augenblick der Starre ließ er seinen Blick über die Veranda schweifen, wo Carmens grünes Nylontransparent zum St. Patrick’s Day, lauter irische Kleeblätter und kleine Männchen, im Wind flappte; einen Tag drüber, aber Billy wusste, dass es bis zum Abend durch das Ostertransparent ersetzt würde, Häschen und gescheckte Eier auf taubenblauem Hintergrund.

»Ich hole sie«, sagte er schließlich und hievte sich aus dem Auto wie ein Mann mit Hüftprothesen.

 

Im Haus herrschte ausgedehntes, sympathisches Chaos. Es war eine Schatztruhe voller Jungenspielzeug und Sportzubehör, das sich übers ganze Wohnzimmer verteilte, das Brokatsofa und die dazu passenden Sessel unter sich begrub; daneben die große gelbe Wohnküche, deren gestrichener, »rustikaler« Holztisch dauerhaft mit Rechnungen, Wurfsendungen, Würzsaucen und dem ein oder anderen Hut oder Handschuh bedeckt war, drei dünnwandige Schlafzimmer, die allesamt nach einem frischen Anstrich dürsteten, und das tiefer gelegene Fernsehzimmer, das aus irgendeinem Grund beharrlich nach Champignons roch. Und wo das Auge hinblickte, entdeckte es Carmens Vorliebe für rustikalen Kitsch: echte oder Pappmaché-Kürbisse auf jeder verfügbaren Fläche, heimelige Homilien auf Tafeln, die an Ketten baumelten, Windräder von Wochenmärkten, gemalte Milchmädchen auf Holzovalen und so viele gerahmte Impressionen von Bauernhöfen, Reetdachhäusern und einsamen Landstraßen, dass es für ein Grußkartenmuseum ausreichte.

Das ging Billy zwar manchmal auf die Nerven, aber in Anbetracht ihrer Kindheit in der abgewrackten Bronx Ende der späten Achtziger, ihrer Jugend in der berüchtigten East-Metro-Gegend von Atlanta und ihrer Arbeit als Krankenschwester auf der Hieb- und Stich-Station des St. Ann’s Hospital brachte er es nicht über sich, ihr Stilempfinden zu hinterfragen. Genau genommen war es ihm völlig egal, wie das Haus aussah, solange es sie glücklich machte. Wichtig waren ihm nur seine Bücher, die Regale im Fernsehzimmer mit Krimis, überwiegend aus der Feder von Ex-Cops, Rente-leicht-gemacht-Ratgebern, Sportlermemoiren und Immobilienführern. Letztere hatte ihm John Pavlicek aufgedrückt, der wild entschlossen war, Billy in seinem Mietshausimperium anzustellen, sobald er seinen Dienst quittierte.

Als Ersten fand Billy den sechsjährigen Carlos. In voller Camouflage-Montur saß er auf der Kante seines Etagenbetts und starrte auf seinen achtundsiebzigjährigen Großvater, der unter der X-Men-Decke des Jungen schlief. Billys Vater war ein stadtweit geschätzter Chef der Uniformierten gewesen, der sich seine Sporen während der Antikriegsdemos und heißen Kämpfe der späten Sechziger als Straßenpolizist in der Tactical Patrol Force alias Demopolizei verdient hatte. Heutzutage allerdings war sein Verstand eher damit befasst, seine beiden Enkel für Billy zu halten und sich einzubilden, er wohne mit seiner verstorbenen Frau in seinem ersten Haus in Fordham Heights. Oft stand er mitten in der Nacht auf und kroch in ein fremdes Bett, entweder zu einem der Kinder oder zu Billy und Carmen, was Pyjamapflicht für alle bedeutete.

»Gehen wir, Kumpel.«

»Stirbt Grandpa?«, fragte Carlos ruhig.

»Heute nicht.«

Der achtjährige Declan, ebenfalls von Stiefeln bis Feldmütze in Camo-Klamotten, kniete im Wohnzimmer vor der Couch und versuchte, mit einem Hockeyschläger das Kaninchen hervorzuholen, während das kauernde Häuflein Fell zischte und nieste wie ein Komododrache.

»Dec, lass ihn einfach.«

»Und wenn er das Kabel durchbeißt?«

»Dann gibt’s heute Abend Kaninchen. Komm schon.«

Als sie gerade aus dem Haus gingen, klingelte Billys Telefon, noch mal der Dezernatsleiter, und er verriegelte den Wagen von innen, bevor seine Kinder einsteigen und ihm die Tour vermasseln konnten.

»Hallo, Boss.«

»Wo sind Sie?«

»Midtown South, Berichte schreiben und darauf warten, dass einige Zeugen zu sich kommen.«

»Wieso haben Sie zugelassen, dass der Tatort geräumt wird?«  

»Weil es Penn Station ist, da laufen fünfzigtausend Leute durch.«

»Es ist ein Tatort.«

»Wie gesagt, Penn Station. Knotenpunkt der westlichen Welt.«

»Was sind Sie, Radio Free America? Seit wann hat die Transit Authority das Sagen?«

»Diesmal hatten sie recht.« Dann: »Meiner Meinung nach.«

»Und die Überwachungsvideos?«

»Computerpanne.«

»Computerpanne.«

»Sie haben sie zur Technik geschickt.«

»DAD!«, schmetterte Declan und klatschte ans Autofenster.

»Billy!« Carmen kam mit dem gefrorenen Basketball an. »Was zum Teufel machst du da? Sie kommen zu spät!«

»Was war das denn?«

»Boss, einer der Augenzeugen hat gerade einen Namen genannt. Ich rufe Sie zurück.«

 

Nachdem Billy die Jungs an der Schule abgeliefert hatte, fuhr er in die Stadt zurück, schrieb die Berichte für die Detectives der Tagschicht in Midtown South – sollten die sich jetzt damit rumschlagen –, brachte einige Vorgesetzte auf den neuesten Stand, wehrte einen Polizeireporter ab, wich einer Nachrichtencrew aus und setzte sich wieder ins Auto. Als er um eins endlich zu Hause war, sah sich Millie Singh, die »Haushälterin«, mit seinem Vater im Fernsehzimmer Mob Wives Chicago an; ihm schenkte man keinerlei Beachtung.

Millie wusste kaum, wie man einen Schrubber hielt, kochte scharfe indokaribische Speisen, die einem die Kehle zerfetzten, und legte während der Arbeit gern mal ein Nickerchen ein. Aber sie war einst in ihrem gottverlassenen Revier die Einzige gewesen, die den Mumm hatte, über einen Bandenmord auszusagen, worauf sie in ihrer Badewanne schlafen musste, um sich vor den nächtlichen Schüssen zu retten, die durch ihre Fenster prasselten, bis Billy und die anderen sie in einem von Pavliceks frisch renovierten Häusern unterbrachten. Zehn Jahre später, ungefähr zur selben Zeit, da bei Billys Vater Demenz festgestellt wurde, zog Millies halbwüchsige Tochter zurück nach Trinidad zu ihrem Vater, und Millie verlor ihren Job bei Dunkin’ Donuts. Sie als Haushälterin einzustellen erschien damals sinnvoll, und zu Millies Verteidigung musste man sagen, dass die Kinder sie liebten und sie seinen Vater liebte, und sie war im Besitz eines gültigen Führerscheins. Außerdem machte Carmen gern selbst den Hausputz, wenn man das so nennen konnte.

Billy ging in die Küche, schenkte sich ein halbes Milchglas mit Wodka und Cranberrysaft ein – das Einzige, womit er um diese Zeit einschlafen konnte – und ging ins Schlafzimmer. Er legte seine Glock ins oberste Regal seines Kleiderschranks hinter einen Schuhkarton mit alten Kontoauszügen und rief mit letzter Kraft Pavlicek an, um ihn über Bannion zu informieren.

»Hallo.«

»Hab schon gehört«, sagte Pavlicek.

»Was sagst du dazu«, fragte Billy, während er in das kühle Schwanenboot von Bett kroch.

»Dass es doch einen Gott gibt.«

»Sah ganz schön krass aus.«

»Das hab ich auch gehört.«

»Von wem eigentlich?«

»Flurfunk.«

»Wissen die Riveras Bescheid?«

»Hab sie heute Morgen angerufen.«

»Wie haben sie es aufgenommen?«

»Der Mister cool, Mom nicht so. Ich fahre später zu ihnen raus nach City Island.«

»Gut.« Billys Augen fühlten sich an wie Sandkisten.

»Ich will, dass du mitkommst.«

»John, ich schlafe.«

»Du hast den toten Arsch gesehen. Vielleicht wollen sie dich was fragen.«

»Komm schon, das ist doch eine Sache zwischen dir und ihnen.«

»Billy, das war eine Bitte.«

Billy gurgelte das restliche Getränk hinunter und zerkaute ein Stück Eis. »Nicht vor sechs, ich bin gerade erst ins Bett.«

»Danke.«

»Du schuldest mir was.«

»Hinterher können wir Whelan abholen und gemeinsam downtown ins Restaurant.«

»Das Essen ist heute?«

»Yes, Sir.«

»Okay, ich muss jetzt schlafen.«

»Hey.« Pavlicek war noch nicht fertig. »Was ist das schwachsinnigste Wort überhaupt?«

»Abgeschlossen.«

»100 Punkte«, sagte Pavlicek und legte auf.

 

Er hatte es völlig vergessen, das Essen im Steak House, die monatliche Zusammenkunft der sogenannten Wildgänse: sieben junge Cops, im Schnitt drei Jahre dabei und Mitte der Neunziger frisch bei der Anti-Crime-Truppe, eine verschworene Clique, die in einem der schlimmsten Reviere der East Bronx ihr Glück versuchen durfte. Von den ursprünglich sieben war einer als Rentner nach Arizona gezogen und ein anderer an seinen dreieinhalb Schachteln pro Tag gestorben. Blieb der harte Fünfer-Kern: Billy, Pavlicek, Jimmy Whelan, Yasmeen Assaf-Doyle und Redman Brown.

Sie waren unglaublich gewesen damals, außergewöhnlich gewärtig, manchmal zwei Schritte vor den Tätern am Ort des Geschehens, und sie waren Zehnkämpfer, jagten ihre Beute durch Hinterhöfe und Wohnungen, über Dächer, Feuertreppen rauf und runter und hinein in wässrige Gefilde. Viele Polizisten reagierten mit Prügelstrafe, wenn man sie zum Laufen zwang, die WGs jedoch berauschten sich an der Jagd und behandelten ihre Festnahmen häufig wie Spieler eines unterlegenen Softball-Teams. Sie betrachteten sich als Familie, und Familienzugehörigkeit wurde automatisch auf Menschen im Viertel ausgedehnt, die sie mochten: Besitzer von Bodegas, Bars, Friseurläden und Imbissbuden, aber auch die Zahlenboten der Straßenlotterie – mit Zahlen unterwegs, die für ihre Begriffe auf die Bibel zurückgingen –, einige Kiffer der alten Schule und eine Handvoll Wirte, die oben oder im Keller ihrer Lokale geheime Spielzimmer betrieben, in denen die WGs ein bisschen würfeln und umsonst trinken konnten.

Was Diebesgut betraf, so boten Händler dem NYPD häufig vom Laster gefallene Ware zum Freundschaftspreis an, von Kinderrucksäcken über Designeranzüge bis zu Elektrowerkzeug. Ein Drink hier, ein Quickie im Stehen dort, der ein oder andere herabgesetzte Kaschmirpullover – keiner bei den Wildgänsen nahm Geld, verlangte eine Sündensteuer oder wurde auch nur unhöflich. Obwohl sie hin und wieder welche für die obligatorische Reise in die Katakomben zusammentreiben mussten, duldeten sie Huren, die diskret waren und darüber hinaus noch witzig. Friedfertige Junkies durften auf der Straße bleiben und wurden als Informanten eingesetzt, die Dealer hingegen waren Freiwild.  

Wenn einem Familienmitglied übel mitgespielt wurde – ein Straßenmädchen von ihrem streichzarten Mac Daddy ein blaues Auge verpasst oder den Finger gebrochen bekam, eine Wildgans Paintball oder Schrot im Rücken hatte, ein Casinobetreiber oder Bodegabesitzer von den Lokalgrößen abgezogen wurde –, dann gingen sie geschlossen zu Werke, mit Keile und Vertreibung. Familie war alles; ihre Arbeit machten sie ordentlich, aber für die, die es »wert« waren, setzten sie sich richtig ein, schließlich gab es immer welche in der East Bronx, wie anderswo, wie überall, die sich in den Rausch flüchteten, ein bisschen Liebe außer der Reihe brauchten oder einem Traum vom Geld nachjagten, der in Zahlenkritzeln auf einem Schmierzettel stand. Nicht alle Cops waren so laissez faire in ihrer Haltung gegenüber den Ausreißern des Reviers, doch die Wildgänse wandelten in den Augen der Menschen, die sie beschützten und gelegentlich rächten, wie Götter durch ihre Straßen.

Der Vor- und Nachteil derart ertragreicher Polizeiarbeit bestand darin, dass sie auf der Überholspur zum goldenen Detective-Abzeichen führte. Binnen fünf Jahren waren alle Wildgänse befördert, Billy als Jüngster und Unerfahrenster von allen ironischerweise als Erster. Nach der Schießerei, die ihm sowohl ein öffentliches Lob für seine Tapferkeit als auch eine Anhörung vor einer zivilen Beschwerdestelle einbrachte, beschloss die Abteilung, ganz Zuckerbrot und Peitsche, ihn in die Versenkung zu befördern – in seinem Fall in den Keller des Leichenschauhauses, immerhin bestand die Identifizierungseinheit wie jede andere überwiegend aus Detectives.

Letzten Endes wurden aus manchen WGs bessere Ermittler als Straßenkämpfer, andere wurden hinter ihren Abzeichen schlechtere Cops. Einige entdeckten bislang ungenutzte Gaben, andere verloren die Gelegenheit, die Gaben zu nutzen, die sie schon immer gehabt hatten.

Als Detectives, in verschiedenen Einheiten über alle Bezirke verstreut, begegneten sie auch, wie Pavlicek mit Jeffrey Bannion, ihren persönlichen Dämonen, Menschen, die während ihrer Zuständigkeit schamlose Verbrechen begangen hatten und ungeschoren davongekommen waren, unantastbar, weil man ihnen offiziell nichts nachweisen konnte, so dass ihre besessenen Ex-WG-Jäger noch nach ihrem Ausscheiden aus dem Polizeidienst mit entwendeten Ermittlungsakten nachts in Büros und Souterrains saßen und eigenmächtig Telefonate führten – mit dem übersehenen Kassierer des Imbisses, in dem sich der Mörder am Morgen seiner Tat einen Kaffee geholt hatte, mit dem Cousin in upstate New York, den man nie richtig zu seinem letzten Telefongespräch mit dem Opfer befragt hatte, mit der bejahrten Nachbarin, die sich zwei Tage nach dem Blutbad auf der anderen Seite der Wohnzimmerwand mit dem Greyhound davongemacht hatte, um bei ihren Enkeln in Virginia unterzukommen, und immer, immer wieder mit den Ehepartnern, Kindern und Eltern der Ermordeten: zum Jahrestag des Verbrechens, zum Geburtstag des Opfers, an Weihnachten, einfach um in Kontakt zu bleiben und die Hinterbliebenen daran zu erinnern, dass sie in jener blutigen Nacht vor so vielen Jahren eine Festnahme versprochen hatten und dranblieben.

Keiner hatte diese Unantastbaren gebeten, sich in ihrem Leben häuslich niederzulassen, keiner hatte diese Schatten gebeten, so dauerhaft und willkürlich wie Malaria ihre Seelen zu belagern, keiner hatte darum gebeten, diesem düsteren Streben derart hilflos ausgeliefert zu sein, dass sie keine Wahl hatten, als ihm weiter und weiter zu folgen. Doch da waren sie nun: Pavlicek, der auf ewig Jeffrey Bannion belauerte; Jimmy Whelan auf den Fersen von Brian Tomassi, dem Anführer einer weißen Streetgang, die im Gefolge von 9/11 einen pakistanischen Jugendlichen vor ein fahrendes Auto gejagt hatte; Redman Brown mit Sweetpea Harris, dem Mörder eines vielversprechenden Highschool-Basketballers, der ihn bei einem spontanen Straßenmatch hatte alt aussehen lassen; Yasmeen Assaf-Doyle für immer hinter Eric Cortez her, einem achtundzwanzigjährigen Kleinkriminellen, der einen kurzsichtigen dürren Neuntklässler erstochen hatte, nachdem der in der Mensa Cortez’ vierzehnjährige Freundin angesprochen hatte.

Und schließlich Billy, nach fünf Jahren als unterirdischer Pilz zwischen den Toten gleich in seinem ersten Jahr über der Erde als Revier-Ermittler an Curtis Taft dran, dem Dreifachmörder – drei weibliche Opfer an einem Abend: die achtundzwanzigjährige Tonya Howard, die sich gerade von dem Mann getrennt hatte, der ihr Mörder werden sollte, ihre vierzehnjährige Nichte Memori Williams, die zufällig bei ihr übernachtete, als Taft beschloss, sich an seiner Ex zu rächen, und Dreena Bailey, Tonyas vierjährige Tochter von einem anderen Mann. Drei Schüsse, drei Tote und wieder ab ins Bett, Curtis Taft, für Billy der Unantastbare mit der schwärzesten Seele. Doch würde man die glücklosen Jäger fragen, so galt das wohl für alle.

Zwanzig Jahre, nachdem sie durch die Straßen gehechtet waren wie Turnschuhkommandos, führten fast alle ein neues Leben. Redman war bei einer Geiselnahme in die Hüfte getroffen worden, quittierte den Dienst als Dreiviertel-Invalide und übernahm das Beerdigungsinstitut seines Vaters in Harlem. Draufgänger Whelan kündigte, bevor man ihn feuern konnte, und kam als Wanderhausmeister Jahr um Jahr in den besseren Souterrainwohnungen der Stadt unter. Yasmeen, die mit der Chef-Mentalität nicht zurechtkam, kündigte, kümmerte sich fortan als Vizedirektorin um Übergriffe gegen Studenten an einer Uni in Lower Manhattan und erwarb den schwarzen Gürtel in Stänkerei gegen ihre neuen Chefs. Pavlicek, profitgeil schon während seiner Zeit in Uniform, war schlicht zu beschäftigt mit seinem Reichtum. Einzig Billy, das Baby der Gruppe, war noch dabei. Es sprach auch nichts dagegen – hatte doch schon sein Vater auf Billys Abschlussfeier der Polizeischule ausgerufen: »Auf Gott, denn der Typ, der diesen Job erfunden hat, muss ein Genie sein.«

 

Als Billy eine Stunde nach seinem Telefonat mit Pavlicek gerade von Jeffrey Bannion träumte – nackt und in einer überdimensionalen, mit rotem Punsch gefüllten Glasglocke treibend –, kam einer der Söhne türenknallend von der Schule, als wären Wölfe hinter ihm her. Kurz darauf hörte Billy, wie Carlos seinen Bruder anbrüllte: »Du hast aufgegeben, also hab ich gewonnen!«, gefolgt von Carmens lautstarkem »Wie oft denn noch, hier wird nicht gebrüllt!«

Billy brachte es trotzdem fertig, noch mal für eine halbe Stunde einzuschlafen, bis die Laken raschelten, Carmen sich nackt an seinen Rücken schmiegte und mit der linken Hand in seine Boxershorts griff. Billy war so müde, dass er dachte, er müsse sterben, aber ihre Hand an seinem Schwanz war nun mal ihre Hand an seinem Schwanz.

»Drei Tage hintereinander hatten wir Jugendliche mit Schusswunden«, murmelte sie ihm ins Ohr. »Und dann stellt sich raus, der Zweite hat auf den Ersten geschossen, weil der auf einen aus seiner Crew geschossen hat, der Dritte hat als Vergeltung auf den Zweiten geschossen und der beste Freund vom Zweiten aus demselben Grund auf den Dritten. Olympiade der Schwachköpfe. Tut sich da unten was?«

»Sekunde, okay?«

Nach zwölf Jahren waren sie ganz gut dabei, fand er, öfter zweimal die Woche als einmal, und sie schienen sich gegenseitig beim Zunehmen zu überholen, auch nicht so schlecht, Carmen immer noch ansehnlich im Bikini, während Billy am Strand sein T-Shirt anbehielt. Anfangs war ihnen keine Stellung oder sexuelle Vorliebe zu wild gewesen, mit größerer Vertrautheit wurden sie dann immer missionarischer, und ein bisschen dies und ein bisschen jenes endete grundsätzlich damit, dass beide hinterher begeistert den Kühlschrank plünderten, auf der Suche nach dem nächsten Vergnügen.

»Und«, sagte sie.

Und in einem Anflug verschwiemelten Optimismus’ beschloss Billy, dass er diese Woche vielleicht doch keinen Schlaf brauchte.

Milton Ramos

Der Besoffene, der in Handschellen auf dem Rücksitz saß, hatte bei den NCAA Final Four dreitausend Dollar Wetteinsatz verloren und war zu dem Schluss gekommen, das Gesicht seiner Frau sei schuld, und das hatte er dann auch gleich umgestalten wollen.

»Basketballwahn. Ich an Ihrer Stelle, das würde ich vorbringen«, sagte Miltons Partner, ohne sich umzudrehen.

»Die kann mich mal, und Sie auch.«

»Wissen Sie was? Bleiben Sie ruhig dabei, Richter hassen aufrichtige Reue.«

»Und was bist du für einer?«, fragte der Besoffene mit schmalen Augen Milton, der schweigend hinterm Steuer saß.

»Bitte?« Er suchte den Blick des Mannes im Rückspiegel.

»Weißt du, wo SPIC für steht?« Der Besoffene beugte sich vor, verströmte begierig alkoholbefeuerte Häme. »Spanisch indisch Cacao. Auch Bohnenfresser genannt, Wilder, Nigger. Alles zusammen ergibt einen großen Affen mit zusammengewachsenen Augenbrauen. Wie du.«

Milton fuhr am Roberto Clemente Park ran und machte den Motor aus.

Einen Augenblick saß er da mit den Händen im Schoß.

»Geht’s auch ohne?«, fragte sein Partner resigniert.

»Ug, ug«, vom Rücksitz.

Milton ließ den Hebel unter dem Lenkrad schnappen, stieg aus und ging zum geöffneten Kofferraum.

»Was jetzt für Scheiß?«, fragte der Besoffene.

»Halt’s Maul«, sagte der Partner wütend und ein wenig deprimiert.

Die hintere Wagentür wurde aufgerissen, und Milton zog den Mann am Ellbogen raus. In seiner freien Hand hielt er einen Teleskopschlagstock und ein schmieriges Handtuch.

»Was jetzt für Scheiße?«

Ohne zu antworten, führte Milton seinen Gefangenen im Polizeigriff in den Schlund des Parks, bis er ein geeignetes Plätzchen gefunden hatte. Nicht zu offen, nicht zu eng, mit Ästen, an denen man sich festhalten konnte.

»Was machen Sie da?«

»Runter, bitte.«

»Was?«

Milton boxte ihm auf die Brust, und der Betrunkene lag auf einmal mit dem Gesicht nach oben im Gras. Vom Aufprall brannten ihm die Schultern, weil die Hände auf den Rücken gebundenen waren.

»Himmel, Alter, was machen Sie da?« Nun flehte er beinahe, die Stimme um einiges nüchterner als noch vor wenigen Minuten.

 

Milton wusste, dass man ihn nie zum Detective hätte befördern dürfen. Es war eine fehlgeleitete Belohnung dafür, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Er saß in einem Friseurladen in seinem Viertel in der Bronx, unter Schürzen, Handtüchern und Rasierschaum, als zwei Arschlöcher mit 38ern reinkamen. Der Laden war eine bekannte Lotteriebude, leichte Beute, und nachdem sie einem der Barbiere die Kniescheiben zerschossen hatten, schwang Milton auf seinem Stuhl herum und ballerte unter seinem Polyesterlatz hervor, der auf der Stelle Feuer fing. Bis sein Barbier ihm das brennende Tuch vom Leib riss, hatte Milton bereits Verbrennungen zweiten Grades am linken Arm und linken Bein.

Beide Täter, einer im Hals, der andere im Gesicht getroffen, überlebten, wanderten aber direkt vom Misericordia Hospital in die Katakomben. Der Bürgermeister und der Polizeipräsident besuchten Milton auf der Verbrennungsstation desselben Krankenhauses, und der Präsident verlieh ihm vor den Augen der Fotografen das Detective-Abzeichen.

Die Frage, die ihm gestellt wurde, lautete: »Wo möchten Sie denn gerne hin?«

Wo. Irgendwohin, wo er sich verstecken konnte.