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Richard Price

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Beschreibung

Die literarische Sensation Drei Männer werden nachts in der Lower East Side von zwei dunkelhäutigen Jugendlichen überfallen. Einer der drei wird erschossen, die Täter fliehen. Der Hauptzeuge, Eric, verstrickt sich bei der Polizei immer tiefer in Widersprüche. Detective Matty Clark kommen jedoch bald Zweifel an seiner Schuld. Richard Price lässt in seinem hymnisch gefeierten Bestseller die Fassade des strahlenden, ›neuen‹ New Yorks bröckeln und zeigt die dahinter liegenden Risse, die unter dem Glamour verborgene Macht und Gewalt. »Cash« ist ein Röntgenblick auf die Lower East Side, ein großer Roman von einem meisterhaften Gegenwartschronisten.

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Richard Price

Cash

Roman

Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow

Fischer e-books

Inhalt

[Widmung]Prolog Nachtfischen auf der Delancey1 Wumme2 Lügner3 Erster Vogel (Ein paar Schmetterlinge)4 Einschlafen lassenAm nächsten Morgen stand [...]»Hey.« Minette Davidson kam [...]Nachdem es die dunkle, [...]5 Steckbriefe6 Einen Teufel weißt duAls Matty gerade telefonisch [...]Tristan brachte die Hamster [...]Eric kam am nächsten [...]»Ich weiß, dass ich [...]Am Sonntagmorgen war Berkowitz [...]7 Bellende HundeSie saßen sich im [...]»Ich hatte, ich habe [...]Matty saß an seinem [...]Am Donnerstag rief Matty [...]Das Briefing für die [...]Nach sechs Stunden Durchkauen [...]8 17 plus 25 gleich 329 Wird schon schiefgehenDank

Wie immer in Liebe für Judy, Annie und Gen

PrologNachtfischen auf der Delancey

23.00 Uhr

Vier Sweatshirts in einem Pseudotaxi Ecke Clinton Street an der Abfahrt der Williamsburg Bridge beim Abschöpfen der kleinen Fische. Die Task Force Lebensqualität. Ihr Mantra: Dope, Kanonen, Überstunden; ihr Motto: Jeder hat etwas zu verlieren.

»Mau heute Abend.«

Die vier Fahrzeugkontrollen bisher waren alles Nieten: dreimal öffentlicher Dienst – ein Postler, ein Bahner, ein Müllmann, sämtlich städtische Angestellte, also tabu – und ein Typ mit Messer unter dem Sitz: 15 cm Klinge, aber keine Schnappfeder.

Ein Kombi, von der Brücke kommend, hält an der Delancey-Ampel neben ihnen, der Fahrer ein ergrauter großgewachsener Mann mit langer Nase; Tweedjacke, Golfmütze.

»Der Stille Mann«, murmelt Geohagan.

»Das reicht, Bulle«, fügt Scharf hinzu.

Lugo, Daley, Geohagan, Scharf; Bayside, New Dorp, Freeport, Pelham Bay, alle in den Dreißigern, womit sie um diese Zeit zu den ältesten weißen Männern auf der Lower East Side gehören.

Vierzig Minuten ohne einen Biss …

Rastlos fädeln sie sich in die engen Straßen, um selbige eine Stunde lang in endlosen engen Rechtskurven abzugrasen: Falafelladen, Jazzladen, Gyrosladen, Ecke. Schulhof, Crêperie, Makler, Ecke. Mietshaus, Mietshaus, Museum, Ecke. Pink Pony, Blind Tiger, Muffinboutique, Ecke. Sexladen, Teeladen, Synagoge, Ecke. Boulangerie, Bar, Hutboutique, Ecke. Iglesia, Gelateria, Matzeladen, Ecke. Bollywood, Buddha, Botanica, Ecke. Leder-Outlet, Leder-Outlet, Leder-Outlet, Ecke. Bar, Schule, Bar, Schule, People’s Park, Ecke. Mike-Tyson-Wandbild, Celia-Cruz-Wandbild, Lady-Di-Wandbild, Ecke. Modeschmuck, Friseur, Autowerkstatt, Ecke. Und endlich auf einem rußigen Abschnitt der Eldridge Street ein Lichtblick: ein müder Fujianer in Members-Only-Windjacke, Zigarette im Mundwinkel, Plastiktüten an krummen Fingern baumelnd wie volle Wassereimer, schleppenden Schritts durch die dunkle enge Straße und einen halben Block hinter ihm ein hinkender schwarzer Junge.

»Was meint ihr?« Lugo peilt die Lage durch den Rückspiegel. »Macht er Jagd auf seinen Chinesen?«

»Würde ich jedenfalls so machen«, sagt Scharf.

»Sieht fertig aus. Wahrscheinlich gerade die Woche hinter sich.«

»Dann lohnt es sich. Freitag Zahltag, vierundachtzig Stunden runtergeschrubbt, geht mit, na, sagen wir, vier nach Hause? Viereinhalb?«

»Hat er vielleicht netto bei sich, wenn er’s nicht auf die Bank bringt.«

»Komm schon, Junge« – das Taxi schleicht hinter seiner Beute her, drei Parteien hintereinander auf der Lauer, mit einem halben Block Abstand – »grüner wird’s nicht.«

»Also, Benny Yee von der Nachbarschaftshilfe, ja? Der sagt, die Fuks haben’s endlich gerafft, nicht mehr alles mit sich rumzuschleppen.«

»Ja gut, die machen das nicht mehr.«

»Sagen wir’s dem Jungen? Noch nie was von Benny Yee gehört, wahrscheinlich.«

»Wir wollen doch einem jungen Mann nicht seine Träume nehmen«, sagt Lugo.

»Geht los, geht los …«

»Vergiss es, er hat den Braten gerochen«, sagt Daley, als der Junge schlagartig aufhört zu humpeln und sich nach Osten wendet, zu den Sozialbausiedlungen, zur U-Bahn oder einfach, wie sie, zum Verschnaufen, danach wieder ran.

 

Rechts und rechts und wieder rechts, so oft, dass sie, wenn sie endlich jemanden anhalten, und das werden sie, eine Weile brauchen, um ihre Beine zu finden, um in die Gänge zu kommen; so oft rechtsrum, dass sie sechs Biere später bei Grouchie um drei Uhr morgens alle stumm grollend zugucken, wie einer das Schwein hat, auf einem Sofa neben den Toiletten geritten zu werden, so oft rechtsrum, dass sie an der Bar nach rechts kippen und später, im Bett, in ihren Träumen nach rechts rucken.

Ecke Houston und Chrystie hält ein kirschroter Denali neben ihnen, drei aufgetakelte Frauen auf der Rückbank, vorne allein der Fahrer, mit Sonnenbrille. Das Beifahrerfenster gleitet herunter. »Officer, wo ist denn hier das Howard-Johnson-Hotel …«

»Drei Blocks geradeaus die Ecke gegenüber«, antwortet Lugo.

»Besten Dank.«

»Wozu die Mitternachtsgläser?« Daley beugt sich über Lugo, um Blickkontakt herzustellen.

»Lichtscheu.« Der Typ tippt sich ans Brillengestell. Das Fenster gleitet wieder hinauf, und der Wagen rast ostwärts auf der Houston.

»Hat der uns eben Officer genannt?«

»Wegen deinem blöden Bürstenschnitt.«

»Wegen deiner blöden Traktorkappe.«

»Lichtscheu …«

Kurz darauf rollen sie am Howard Johnson vorbei und sehen, wie der Typ den Chauffeur mimt und den Damen hinten die Tür aufhält.

»Huggy Bear«, murmelt Lugo.

»Wer knallt denn hier einen Howard Johnson hin?« Scharf deutet auf das schäbige Kettenhotel neben einer antiken Knisches-Bäckerei und einer Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten, die ihr Aluminiumkreuz auf einen gemeißelten Davidstern gepfropft haben. »Was haben die sich bloß dabei gedacht?«

»Achtundzwanzig Geschmacksrichtungen«, sagt Lugo. »Mein Dad ist mit mir jeden Sonntag nach meinem Spiel hin.«

»Du meinst den Eisladen«, wendet Scharf ein, »das ist was anderes.«

»Hab nie einen Dad gehabt«, sagt Geohagan.

»Kannst einen abhaben.« Daley dreht sich zu ihm um. »Ich hatte drei.«

»Ich kann bloß davon träumen, dass mit mir mal ein Dad nach meinem Baseball zu Howard Johnson geht.«

»He, Sohnemann.« Lugo sieht Geohagan im Rückspiegel an. »Wollen wir nachher ein bisschen Fangen üben?«

»Aber immer doch, Mister.«

»Tote Hose hier, was?«, sagt Daley.

»Weil du mit Einkassieren dran bist.« Lugo winkt einen Betrunkenen weg, der meint, ein Taxi angehalten zu haben.

»Irgendjemand da oben hasst mich.«

»Moment …« Scharf setzt sich jäh auf und wendet den Kopf. »Das sieht brauchbar aus. Fernlicht westwärts, vier Personen.«

»Westwärts?« Lugo gibt im dichten Verkehr Gummi. »Macht euch dünne, Mädels.« Er kurbelt die Reifen auf der Fahrerseite über die Betontrennmauer, um an einem echten Taxi vorbeizukommen, das an der Ampel wartet, macht eine scharfe Kehrtwende, zieht mit dem verdächtigen Fahrzeug gleich und späht hinein. »Weiblich, zwei Mütter, zwei Kinder.« Sie fahren vorbei, haben Blut geleckt, allesamt, dann meldet Scharf wieder: »Grüner Honda ostwärts«

»Ostwärts will er jetzt.« Lugo macht die nächste 180-Grad-Wende und klemmt sich hinter den Honda.

»Was liegt an …«

»Zwei Männer vorn.«

»Was liegt an …«

»Reflektoren auf Nummernschild.«

»Getönte Scheiben.«

»Rücklicht hinten rechts.«

»Beifahrer hat gerade was unter den Sitz gestopft.«

»Danke.« Lugo klickt das Blaulicht ein und rückt dem Honda auf die Pelle; der Fahrer braucht einen halben Block, um ranzufahren. Daley und Lugo schlendern auf den Wagen zu und leuchten von beiden Seiten vorne rein. Der Fahrer, ein junger Latino mit grünen Augen, kurbelt das Fenster herunter. »Officer, was hab ich gemacht?«

Lugo beugt sich ins offene Fenster, als würde er auf einem Gartenzaun lehnen. »Führerschein und Zulassung, bitte.«

»Echt jetzt, was hab ich gemacht?«

»Fährst du immer so?« Seine Stimme ist beinahe sanft.

»Wie?«

»Blinken bei Spurwechsel und diese ganze Höflichkeitsscheiße?«

»Wie bitte?«

»Komm schon, das macht man doch nur, wenn man nervös ist.«

»War ich ja auch.«

»Nervös?«

»Sie waren hinter mir her.«

»Ein Taxi war hinter euch her?«

»Klar, okay, ein Taxi.« Er reicht ihm die Papiere. »Im Ernst, Officer, und nichts für ungut, vielleicht kann ich ja noch was lernen, aber was hab ich falsch gemacht?«

»Zum Ersten die Reflektoren auf dem Nummernschild.«

»Hey, die sind nicht von mir. Die Kutsche gehört meiner Schwester.«

»Zum Zweiten sind die Fenster zu dunkel.«

»Das hab ich ihr schon gesagt.«

»Zum Dritten bist du über durchgezogenes Gelb gefahren.«

»Da hat einer in der zweiten Reihe geparkt.«

»Zum Vierten steht der Wagen vor einem Hydranten.«

»Weil Sie mich angehalten haben.«

Lugo überlegt kurz, welche Windstärke ihm entgegenschlägt. In der Regel ist er ganz sachte, beugt sich geduldsschwer auf ein Wort ins Fahrerfenster, Aug in Aug, als wollte er sichergehen, dass seine Ausführungen auch richtig verdaut werden, scheinbar taub gegen das obligatorische Gestammel und die verbalen Ausfälle, aber … wenn der Fahrer ein falsches Wort sagt, die unsichtbare Linie überschreitet, dann tritt Lugo, ohne den Gesichtsausdruck zu verändern, ohne Vorwarnung außer vielleicht einem langsamen Recken, einem traurigen/angewiderten Wegblicken einen Schritt zurück und packt den Türgriff. Und die Welt ist nicht mehr die, die sie einmal war.

Aber dieser Junge geht in Ordnung.

»Ist nur zu deinem Besten. Aussteigen, bitte.«

Während Lugo den Fahrer zum Heck führt, beugt sich Daley ins Beifahrerfenster und reckt das Kinn nach dem zweiten Jungen, der dasitzt wie im Koma, mit schweren Lidern unter einer zu großen Baseballkappe, geradeaus stierend, als würden sie irgendwohin fahren.

»Und was ist mit dir?« Daley öffnet die Beifahrertür und bietet auch ihm ein Stückchen Bürgersteig an, während Geohagan, über und über mit keltischen Spiralen, Knoten und Kreuzen tätowiert, das Handschuhfach inspiziert, den Becherhalter, das Kassettenfach und Scharf die Rückbank absucht.

Am Heck steht der Fahrer in einem Scarecrow-T-Shirt und blickt wehmütig in die Ferne, während Lugo, durch den eigenen Zigarettenrauch blinzelnd, seine Taschen durchfingert und eine dicke Rolle Zwanziger zu Tage fördert.

»Das ist eine Menge Schotter, Freundchen.« Nachdem er das Geld gezählt hat, stopft er es dem Jungen in die Hemdtasche und tastet ihn weiter ab.

»Na ja, sind halt meine Collegegebühren.«

»Was für eine Klitsche nimmt denn Bares?« Lugo lacht, und als er fertig ist, deutet er auf die Stoßstange. »Setzen.«

»Burke Technical in der Bronx? Ist neu.«

»Und die nehmen Bares?«

»Geld ist Geld.«

»Tatsache.« Lugo zuckt die Schultern, wartet, bis der Wagen durchsucht ist. »Was studierst du denn?«

»Möbelmanagement?«

»Schon mal im Knast gewesen?«

»Kommen Sie, Mann, mein Onkel ist Detective oder so in der Bronx.«

»Oder so?«

»Nein, Detective. Gerade in Rente gegangen.«

»Ach ja? Welches Revier?«

»Genau weiß ich nicht. Neunundsechzig?«

»Das heiße Neunundsechzigste«, ruft Geohagan, der mittlerweile unter dem Beifahrersitz wühlt.

»Neunundsechzigstes gibt es gar nicht.« Lugo flippt seine Kippe in den Rinnstein.

»Sechzigirgendwas. Hab doch gesagt, weiß ich nicht genau.«

»Wie heißt er denn?«

»Rodriguez?«

»Rodriguez in der Bronx? Das hilft uns natürlich enorm weiter. Vorname?«

»Narcisso?«

»Kenne ich nicht.«

»Hatte eine große Abschiedsparty?«

»Bedauere.«

»Ich wollte auch mal auf die Polizeischule.«

»Ach ja? Super.«

»Donnie.« Geohagan tritt von der Beifahrertür zurück und hält eine Zippertüte Gras hoch.

»Weil wir mehr beschissene Drogenschnüffler brauchen.«

Der Junge schließt die Augen, hebt das Kinn zu den Sternen, zum Mond über Delancey.

»Seins oder deins?« Lugo deutet auf den anderen Jungen am Straßenrand, dessen Miene noch immer ausdruckslos ist wie eine Maske; der Inhalt seiner Taschen ist über die Motorhaube verstreut. »Einer war’s, oder ihr seid beide dran.«

»Meins«, murmelt der Fahrer schließlich.

»Umdrehen, bitte.«

»O Mann, dafür buchten Sie mich ein?«

»Hey, vor zwei Sekunden bist du wie ein Mann aufgetreten, jetzt kipp mal nicht um.«

Lugo legt ihm Handschellen an, dreht ihn wieder um und hält ihn auf Armeslänge von sich, als wollte er die Tauglichkeit seiner Abendgarderobe beurteilen. »Noch irgendwas da drin? Sag’s uns jetzt, oder wir zerlegen diese Scheißbüchse in ihre Einzelteile.«

»Verdammt, Mann, hab ja das kaum gehabt.«

»Schon gut, ganz ruhig.« Er setzt ihn wieder auf die Stoßstange, als die Suche trotz allem weitergeht.

Der Junge sieht weg, schüttelt den Kopf, murmelt: »Du Arsch.«

»Wie bitte?«

»Nee, ich meine nur« – schürzt in Selbstekel die Lippen – »nicht Sie.«

Geohagan kommt nach hinten und überreicht die Tüte.

»Na schön, hör zu.« Lugo steckt sich noch eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. »Das hier? Scheißen wir drauf. Wir haben Höheres im Sinn.« Er nickt einem vorbeifahrenden Streifenwagen zu, irgendetwas, das der Fahrer sagt, bringt ihn zum Lachen. »Kapiert?«

»Härteres Zeug?«

»Na, geht doch.«

»Mehr hab ich nicht.«

»Ich rede nicht von dem, was du hast, ich rede von dem, was du weißt.«

»Was ich weiß?«

»Du hast mich schon verstanden.«

Beide drehen sich um und blicken in Richtung East River, zwei besinnliche Männer, einer von ihnen mit den Armen auf dem Rücken. Schließlich atmet der Junge schwer aus. »Na ja, ich kann Ihnen sagen, wo man Stoff kriegt.«

»Das soll ein Witz sein, oder?«, braust Lugo auf. »Ich kann dir sagen, wo es Stoff gibt. Ich kann dir fünfzig Stellen sagen. Ich kann dir sieben Tage die Woche besseres Zeug besorgen, für die Hälfte, mit verbundenen Augen.«

Der Junge seufzt, bemüht sich, die Blicke der nur mäßig neugierigen Anwohner zu meiden, die aus dem Banco-de-Ponce-Automatencenter und dem Dunkin’ Donuts kommen, und der Collegestudenten, die in Taxis auftauchen und verschwinden.

»Komm schon, eine Hand wäscht die andere.« Lugo wirft die Tüte abwesend von Hand zu Hand, lässt sie fallen, hebt sie wieder auf.

»Wie denn?«

»Ich will eine Kanone.«

»Eine was? Ich kenne keine Kanone.«

»Du brauchst auch keine zu kennen. Aber du kennst einen, der jemanden kennt, stimmt’s?«

»Ach, Mann …«

»Zunächst mal kannst du mir doch sicher sagen, wo du dieses Zeug her hast, oder?«

»Ich weiß nichts von Kanonen, Mann. Das hier sind für vierzig Dollar Gras. Hab ich mit meiner eigenen Kohle gekauft, zum Entspannen und Partymachen. Alle, die ich kenne, machen das, gehen arbeiten, zur Schule, knallen sich zu. Fertig.«

»Hm … gibt also keinen, den du anrufst nach dem Motto ›Yo, da hat mich gerade in der Siedlung einer abgezogen, ich brauch mal ’ne Wumme.‹«

»Wumme?«

Lugo krümmt den Zeigefinger.

»Sie meinen eine Knarre?«

»Knarre, Wumme …« Lugo wendet sich ab und zieht seinen Pferdeschwanz stramm.

»Pfff …« Der Junge sieht weg. »Ich weiß von einem Messer.«

Lugo lacht. »Meine Mutter hat ein Messer.«

»Meins ist gebraucht.«

»Vergiss es.« Er deutet mit dem Kinn auf den anderen Jungen. »Und dein Wasserträger hier?«

»Mein Cousin? Der ist halb zurückgeblieben.«

»Und die andere Hälfte?«

»Also, echt jetzt.« Der Fahrer wackelt mit dem Kopf wie eine Kuh.

Wieder kommt ein Streifenwagen, diesmal, um den Verhafteten abzuholen.

»Na schön, denk drüber nach, ja?«, sagt Lugo. »Wir sehen uns in ein paar Stunden im Bunker.«

»Und was ist mit meinem Auto?«

»Dein Gilbert Grape hier, hat der einen Führerschein?«

»Sein Bruder.«

»Dann sag ihm, er soll seinen Bruder anrufen, dass der seinen Arsch hier runterbewegt, bevor ihr abgeschleppt werdet.«

»Scheiße.« Dann ruft er: »Raymond! Hast du gehört?«

Der Cousin nickt, macht aber keine Anstalten, sein Handy von der Kühlerhaube zu nehmen.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.« Mit der Hand auf seinem Schädel setzt Lugo ihn hinten in den Streifenwagen. »Schon mal gesessen?«

Der Junge wendet den Kopf ab und murmelt etwas.

»Schon gut, mir kannst du es sagen.«

»Ich hab ›Ja‹ gesagt.«

»Wegen?«

Der Junge zuckt beschämt die Schultern. »Dem hier.«

»Aha. Hier in der Gegend?«

»Hm-hm.«

»Wie lang her?«

»Heiligabend.«

»Heiligabend, für so was?« Lugo zieht eine Grimasse. »Das ist krass. Wer macht denn so ’ne Schei … Weißt du noch, wer dich da abgegriffen hat?«

»Hm-hm«, murmelt der Junge, dann sieht er Lugo ins Gesicht. »Sie.«

 

Eine Stunde später, als der Junge im Achten geparkt ist, sind sie wieder draußen, noch ein, zwei Stunden Waffenjagd, wahrscheinlich vergeblich, noch ein paar Stunden Personalien für Daley, den festnehmenden Beamten, und da Daley versorgt ist, suchen sie noch einen für Scharf, eine allerletzte Runde, bevor sie sich in einem der Parks nach Mitternacht eine übertretene Sperrstunde krallen, das geht immer.

Beim fünfzigsten Mal südwärts auf der Houston in die Ludlow spürt Daley etwas im Schatten der Maschendrähte unter Katz’s Delicatessen, nichts Greifbares, aber … »Donnie, fahr mal rum.«

Lugo hetzt das Taxi einmal um den Block: Ludlow, Stanton, Essex, Houston, schleicht wieder links in die Ludlow, eben an Katz vorbei und steht plötzlich neben einem Wagen voller lümmelnder Zivilfahnder vom Rauschgift, dessen Fahrer sie argwöhnisch beäugt. Hier fischen wir.

1Wumme

Um zehn Uhr morgens verließ Eric Cash, fünfunddreißig, seine Wohnung in der Stanton Street, steckte sich eine Zigarette an und ging zur Arbeit.

Als er vor acht Jahren her zog, war ihm die Lower East Side verwunschen vorgekommen, und hin und wieder konnte ihn, wie heute, ein schlichter Spaziergang noch immer bezaubern, Spuren überall der jiddischen Boomtown des neunzehnten Jahrhunderts: in der klaustrophobischen Enge der Straßenschluchten mit ihren hängenden Gärten aus uralten Feuertreppen, in den verwitterten Steinsatyrn, die lüstern zwischen den angenagten Fensterrahmen über der Erotic Boutique herabfeixten, in dem verblichenen hebräischen Schriftzug über der alten sozialistischen Kantine, die einem asiatischen Massagesalon gewichen war, der dem Szenetreff für Kids gewichen war; das und mehr in den vier Blocks auf Erics täglichem Weg zur Arbeit. Nach knapp einem Jahrzehnt in diesem Viertel, selbst an einem solch sonnendurchfluteten Oktobermorgen, erschien ihm dieses ganze ethnohistorische Mischmasch allerdings langsam etwas gestrig. Genau wie er.

Eric war ein jüdischer Upstate New Yorker, fünf Generationen entfernt von hier, aber er wusste, wo er war, er verstand den Witz; das laboratorio dei gelati, die tibetischen Hutläden, Forsyth House 88 mit seinen originalgetreu restaurierten Kaltwasserwohnungen, die sich nicht allzu sehr von den unrestaurierten Mietwohnungen um sie herum unterschieden, und in seiner Funktion als Geschäftsführer im Café Berkmann, dem Flaggschiff des Wir-sind-dabei, war er, an den seltenen Tagen, da das Biest ein Nickerchen einlegte, gern Teil der Pointe.

Was ihn an dieser Gegend allerdings wirklich packte, war nicht ihre nostalgische Ironie, sondern ihr Jetzt, ihr unbedingtes Hier und Jetzt, das ihn im Innersten antrieb, ein Verlangen, es zu schaffen, das durch seine vollkommene Ahnungslosigkeit, wie dieses »Es« auszusehen hatte, um ein Vielfaches verschärft wurde.

Er hatte keine besondere Begabung oder Neigung, schlimmer noch, eine gewisse Begabung, eine vage Neigung: Er spielte die Hauptrolle in einer vor zwei Jahren vom Forsyth House 88 gesponserten Kellertheater-Produktion des Dybbuk, seine dritte kleine Rolle seit dem College, und hatte in einem inzwischen eingegangenen Alphabet-City-Literaturblättchen eine Kurzgeschichte veröffentlicht, seine vierte in zehn Jahren, wobei nichts davon irgendwo hinführte. Und diese unerfüllte Sehnsucht nach eigenen Meriten machte es ihm praktisch unmöglich, einen Film anzusehen, ein Buch zu lesen oder auch nur ein neues Restaurant auszuprobieren – sämtlich Errungenschaften von Gleichaltrigen oder Jüngeren –, ohne mit dem Schädel voran gegen die nächste Wand laufen zu wollen.

Zwei Blocks von seinem Arbeitsplatz entfernt stutzte er, als er zu einer träge kriechenden Prozession aufschloss, die sich weiter, als sein Auge reichte, nach Westen die Rivington Street hinaufschlängelte. Was immer das war, es hatte nichts mit ihm zu tun, in der Schlange standen überwiegend Latinos, höchstwahrscheinlich aus den unsanierten Wohnungen unterhalb der Delancey und dem halben Dutzend unsterblicher Sozialbausiedlungen, die dies hier, das goldgelbe Herz der Lower East Side, umfingen wie ein Jai-Alai-Wurfkorb. Alle, darunter viele Kinder, wirkten herausgeputzt wie für den Kirchgang oder irgendeinen religiösen Feiertag.

Eric konnte sich auch nicht vorstellen, dass es irgendwas mit dem Berkmann zu tun hatte, und tatsächlich führte die Schlange geradewegs am Café vorbei, versperrte allerdings gründlich und gedankenlos den Eingang. Eric sah, wie zwei Partien jeweils behutsam versuchten, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, schnell aufgaben und woanders essen gingen. Ein flüchtiger Blick durch eines der großen Seitenfenster zeigte ihm, dass das Café ungewöhnlich leer war und die vormittägliche Notbesetzung die Zahl der Gäste übertraf. Was ihm aber wirklich an die Nieren ging, war der Anblick des Besitzers Harry Steele, seines Chefs, hinten allein an einem Zweiertisch, dessen ewige Leichenbittermiene durch die Aufregung auf Apfelgröße geschrumpft war.

Zumindest konnte Eric von hier aus endlich sehen, wohin die Schlange führte: dem Sana’a 24/7, einem von drei jemenitischen Brüdern geführten Minimarkt drei Blocks westlich vom Berkmann an der Ecke Rivington und Eldridge. Sein erster Gedanke war, dass jemand am Vortag einen riesigen Powerball-Jackpot geknackt hatte oder vielleicht die staatliche Lotterie wieder mal in die Hundertmillionen geklettert war, aber nein, es war etwas anderes. Eric folgte der Schlange westwärts, vorbei an den frischen Ruinen der zuletzt eingestürzten Synagoge und am angrenzenden People’s Park bis zur Ecke direkt gegenüber dem Sana’a, wo die Schatten der zwei Jahre alten Banner NEUERÖFFNUNG über sein Gesicht spielten.

»Hallo, Eric …« Ein junger chinesischer Uniformierter, Fenton Ma, der den Verkehr auf der Kreuzung regelte, nickte ihm zu. »Verrückt, oder?«

»Was ist denn los?«

»Maria ist da drin.« Ma wurde von der wogenden Menge, die er in Schach hielt, vorwärtsgespült.

»Was für eine Maria?«

»Die Jungfrau. Sie ist gestern Abend im Kondenswasser auf einer der Tiefkühlertüren erschienen. Spricht sich schnell rum so was hier, nicht?« Wieder wurde er vorgespült.

Dann sah Eric, wie sich auf der dem Seitenfenster gegenüber liegenden Straßenseite eine zweite Menschenmenge bildete: eine Menge, die die Menge beobachtete, in diesem Fall überwiegend jung, weiß und amüsiert. »Sie ist hiiiier«, tönte es aus dieser Gruppe.

Eric war schon immer gut darin gewesen, sich durch eine Meute zu schlängeln, gut trainiert allein schon durch den täglichen zigfachen Versuch, bei Berkmann zum Reservierungspult vorzudringen, und so schaffte er es in den engen Laden, ohne dass ihm jemand hinterherpöbelte. Drinnen spielte Nazir, einer der jemenitischen Brüder, ein großgewachsener, hagerer Mann mit einem Adamsapfel wie ein Tomahawk, Türsteher und Kassierer, eine Hand mit einem fetten Bündel Dollarnoten besetzt, die andere den einlaufenden Pilgern mit lockenden Fingern entgegengestreckt. »Grüßt Maria.« Seine Stimme forsch und melodisch. »Sie liebt euch sehr.«

Die Jungfrau war eine vierzig Zentimeter große kürbisrunde Silhouette aus Reif an der Glastür des Bier- und Seltersregals, ihr geschmeidig sich verjüngendes Haupt über dem breiteren Unterbau leicht zur Seite geneigt, was Eric ein wenig an all die Marias in der Kunstgeschichte erinnerte, die ihr bedecktes Haupt neigen, um das Kind in ihren Armen zu betrachten, aber eigentlich war das ziemlich weit hergeholt.

Die Leute, die um Eric herum knieten, hielten Fotohandys und Camcorders in die Höhe, legten im Laden erstandene Blumensträuße nieder, Kerzen, Ballons – auf einem stand DU BIST SO EINZIGARTIG –, handschriftliche Botschaften und weitere Andenken, vor allem aber blickten sie ausdruckslos, zum Teil mit gefalteten Händen, bis Tariq, der zweite jemenitische Bruder, zu ihnen trat, »Maria sagt jetzt auf Wiedersehen«, und die Gemeinde mit diesen Worten zum Lieferanteneingang hinauskomplimentierte, um für die nächste Gruppe Platz zu schaffen.

 

Als Eric wieder am Eingang des Ladens angekommen war, hatte ein älterer Polizist Fenton Ma abgelöst, auf seiner Marke stand LO PRESTO.

»Darf ich Sie was fragen?«, sagte Eric vorsichtig, da er den Mann nicht kannte, »haben Sie sie da drin gesehen?«

»Wen, die Jungfrau?« Lo Presto sah ihn unbewegt an. »Kommt drauf an, was Sie ›sehen‹ nennen.«

»Na ja. Sehen.«

»Also, ich sag Ihnen was.« Er blickte in die Ferne und tastete in seiner Brusttasche nach einer Zigarette. »Gegen acht heute Morgen, ja? Gehen paar Typen vom neunten Revier rein, ja, von wegen nur mal gucken? Kniet direkt vor dem Ding Servisio Tucker, der hat vor circa sechs Monaten auf der Avenue D seine Frau umgebracht. Also, die Kollegen haben seitdem die ganze Gegend umgekrempelt, ja? Und heute Morgen brauchen sie nur reinmarschieren, und da hockt er, auf den Knien. Er guckt sie an, feuchte Augen, streckt die Arme aus für die Handschellen und sagt: ›Okay, gut, bin jetzt bereit‹.«

»Hm.« Eric war ganz gebannt und spürte einen Anflug von Optimismus.

»Also …« Lo Presto steckte sich endlich eine an und blies genüsslich den Rauch aus. »Ob ich sie gesehen hab? Wer weiß. Aber wenn das, was ich Ihnen da grad erzählt hab, kein Wunder ist, weiß ich auch nicht.«

 

An einem strahlenden, ruhigen Morgen wie diesem, wenn das Berkmann leer war, befreit von der dichten, alkoholisierten Fieberhaftigkeit des Vorabends, war der Raum ein luftiger Palast, und nirgends sonst im Viertel war es schöner als hier in einem lackierten Korbstuhl mit dem entspannten Luxus eines Café au lait und der New York Times, während das Sonnenlicht von den Naturfliesen schwappte, umgeben von Weinregalen mit kryptisch schablonierten Nummern auf den Flaschen, Drahtglas und teilentsilberten Spiegeln, dies alles aus diversen Lagerhäusern in New Jersey aufgestöbert vom Besitzer Harry Steele: ein Restaurant im Gewand eines Theaters im Gewand der Nostalgie. Für Eric waren die ersten Augenblicke im Café jeden Tag wie die ersten Augenblicke in einem Major-League-Baseballstadion: mit diesem schwirrenden Rausch von Raum und geometrischer Perfektion, kam er doch aus seiner knochenschmalen Dreizimmerwohnung, in der eines der beiden Fenster auf den Lichtschacht ging, der eigentlich für Querlüftung gedacht war, seit dem Jahr des McKinley-Attentats jedoch als Müllschlucker diente.

Obwohl er an diesem Vormittag nichts weiter zu tun hatte, als die Zeitungen auf ihrem pseudoantiken Holzständer zu ordnen oder sich auf sein Pult zu lehnen, flattrig vom vielen Kaffee, den ihm die beiden Probe-Barkeeper servierten, war ihm jedoch selbst diese flüchtige Freude verwehrt. In seiner kribbeligen Langeweile genehmigte er sich einen Moment, die neuen Kräfte hinterm Tresen zu begutachten: einen Schwarzen mit grünen Augen und Dreadlocks namens Cleveland und einen Weißen – Spike? Mike? –, der gerade auf der verzinkten Tresenplatte lehnte und mit einem pummeligen Freund plauderte, der die Prozession erfolgreich durchbrochen hatte. Dieser Freund hatte offensichtlich einen noch größeren Kater als Eric.

Es hieß, nach vierzehn Jahren immer wieder unterbrochener Tätigkeit für Harry Steele sehe Eric inzwischen aus wie sein Chef; beide hatten diese mürrischen Tränensäcke wie Serge Gainsbourg oder Lou Reed, denselben gleichgültigen Körperbau, mit dem Unterschied, dass bei Harry Steele der Mangel an Attraktivität den Nimbus seines goldenen Händchens nur noch nährte.

Eine Kellnerin vom Grouchie, die sich alle sieben Zwerge in Marschrichtung aufwärts auf die Innenseite ihres Oberschenkels hatte tätowieren lassen, hatte Eric einmal gesagt, die Menschen seien entweder Hunde oder Katzen, und er sei auf jeden Fall ein Hund, zwanghaft darum bemüht, die Bedürfnisse eines jeden zu erahnen – ziemlich schäbig, so was jemandem zu sagen, mit dem man gerade geschlafen hat, aber es war wohl was dran, denn trotz seines permanenten »Ich bin aber mehr«-Mantras setzte ihn in diesem Moment der hilflose Frust seines Chefs akut unter Strom.

Jedenfalls saß Steele jetzt nicht mehr allein an dem kleinen Tisch, sondern mit seinem Händler Paulie Shaw, einem spitzgesichtigen Drecksack, der Eric mit seinem wachen Blick, seiner rasanten Zunge und allgemein angespannten Aura an zu viele Schattenspieler aus den Tagen der Schande erinnerte. Während er eine fünfte Tasse Kaffee ausschlug, sah er zu, wie Paulie einen Aluminium-Aktenkoffer öffnete und dessen samtenem Innenleben einige rechteckige Glas-Negative in je eigenem Futteral entnahm. »›Ludlow Street Sweatshop‹«, sagte Paulie und hielt das Negativ an den Kanten hoch. »›Blinder Bettler, 1888‹. ›Humpen Bier‹. ›Banditenrast‹ – das hier, wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, so viel wert wie alle anderen zusammengenommen. Und schließlich und endlich die ›Mott Street Barracks‹.«

»Phantastisch«, murmelte Steele, und sein Blick wanderte zum wiederholten Mal zur Wunderprozession, zum leeren Café.

»Jedes einzelne von Riis für seine Vorträge persönlich handgerahmt«, sagte Paulie. »Der Mann war seiner Zeit Lichtjahre voraus, völlig multimedial, hat sechzig bis hundert davon auf einer riesigen Leinwand zu Musik ineinander überblenden lassen. Die feinen Matronen müssen sich die Eier abgejammert haben.«

»Okay.« Steele hörte nur halb zu.

»Okay?« Paulie beugte sich herab, um Steeles Blick zu erhaschen. »Zu dem, was wir für die Zahl, die wir besprochen haben?«

»Jaja.« Steeles Knie wippten unterm Tisch.

Der verkaterte Typ an der Bar lachte plötzlich über etwas, das sein Freund gesagt hat; das Gebell hallte von den gefliesten Wänden wider.

»Mike, stimmt’s?« Eric deutete mit dem Kinn auf den Probe-Barkeeper.

»Ike«, erwiderte der ganz locker, nach wie vor auf die Zinkfläche gestützt, als gehörte ihm die Bar. Er hatte einen kahlrasierten Schädel und eine Schar von Retro-Tattoos auf der Innenseite seiner Unterarme – Hula-Mädchen, Meerjungfrauen, Teufelsköpfe, Panther –, doch sein Lächeln war hold wie ein Himmelszelt. Dieser Junge, dachte Eric, die wandelnde Reklame für dieses Viertel.

»Ike, sieh mal nach, ob sie was brauchen.«

»Alles klar, Chef.«

»Presto«, sagte sein Freund.

Als Ike hinter der Bar hervorkam und auf den kleinen Tisch zuging, hob Paulie gerade die Samteinlage seines Köfferchens an und brachte eine weitere Lage Mitbringsel zum Vorschein, aus der er ein großes terrakottabraunes Taschenbuch holte. »Sie mögen doch Orwell?«, sagte er zu Steele. »Der Weg nach Wigan Pier, die Fahnen vom Victor Gollancz Left Wing Buchclub, 1937. Das hier existiert eigentlich gar nicht.«

»Nur die Riis-Tafeln.« Steeles Blick wanderte wieder zu der beinahe reglosen Schlange. »Das hält man doch im Arsch nicht aus«, bollerte er in den Saal.

»Wie wär’s mit Henry Miller«, sagte Paulie schnell und wühlte in seinem Koffer. »Mögen Sie Henry Miller?«

Ikes Schatten fiel auf den Tisch, Paulie wandte sich um und beäugte ihn über die Schulter. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»Wollen Sie irgendwas?«, fragte Ike.

»Wir sind durch«, antwortete Steele.

»Henry Miller.« Paulie zog ein gebundenes Buch heraus. »Erstausgabe, Der klimatisierte Alptraum, makelloser Schutzumschlag, und Sie glauben es nicht, Nelson – A – Rockefeller gewidmet.«

Auf der Rivington Street entbrannte ein Streit auf Spanisch, und jemand wurde mit dumpfem Knall gegen das Caféfenster geschubst.

»Dieses Viertel«, sagte Steele fröhlich und sah zum ersten Mal an diesem mausetoten Vormittag Eric an. »Bisschen zu viel durcheinander, nicht genug miteinander, stimmt’s?« Dann wandte er sich an seinen Händler: »Wie wär’s mit Splittern vom Wahren Kreuz?«

»Vom was?«

Und schon war Eric, der Hund mit dem Jungengesicht, zur Tür hinaus.

 

Einen Block vom Restaurant entfernt, sein Herz wummerte, weil er nicht wusste, wie er genau anstellen sollte, was er anzustellen hatte, rief jemand »Yo, Sekunde«, und als er sich umdrehte, kam Ike auf ihn zugelaufen und steckte sich dabei eine Zigarette an.

»Gehst du die Jungfrau angucken?«

»So ähnlich«, sagte Eric.

»Hab grad Pause, kann ich mit?«

Eric zögerte, fragte sich, ob ein Zeuge die Sache erschweren oder erleichtern würde, aber Ike schloss sich ihm einfach an.

»Eric, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Ike Marcus.« Er reichte ihm die Hand. »Und, Eric, was machst du so?«

»Wie meinst du das, was ich mache?« Eric wusste genau, wie es gemeint war.

»Ich meine, außer …« Der Junge war jedenfalls so gescheit, sich selbst zu unterbrechen.

»Ich schreibe.« Eric erzählte das überhaupt nicht gern, aber er wollte sie beide vom Haken lassen.

»Ehrlich?«, sagte Ike dankbar. »Ich auch.«

»Schön«, erwiderte Eric knapp und dachte, Wer hat dich denn gefragt? Sein einzig brauchbares Projekt im Moment war ein Skript, fünftausend vorab, noch mal zwanzig bei Ablieferung, irgendetwas über die Lower East Side in ihrer Blütezeit, sprich Judenzeit, in Auftrag gegeben von einem Gast im Berkmann, einem ehemaligen Alphabet-City-Hausbesetzer, dann Immobiliengorilla, der neuerdings Filmemacher sein wollte; Filmemacher wollten sie alle sein …

»Bist du ursprünglich von hier?«, fragte Ike.

»Alle sind ursprünglich von hier.« Eric riss sich zusammen: »Upstate.«

»Ist nicht wahr, ich auch.«

»Wo denn da?«

»Riverdale.« Dann packte er Eric am Arm und blieb stehen. »Wahnsinn.«

 

Das Dach der riesigen Synagoge war erst vor zwei Tagen eingestürzt, geblieben war die drei Stockwerke hohe Rückwand mit den leicht beschädigten Zwillings-Davidsternen; Sonnenlicht fiel durch die Risse. Im Windschatten dieser Mauer standen das Vorlesepult, der Toraschrein, eine Menora, deren Schaft die Form eines Elchbullen hatte, und vier silberne Kerzenleuchter noch immer wie Requisiten auf einer Bühne, und eine intakte Reihe von sechs Bänken verstärkten den Eindruck eines Freilufttheaters. Ansonsten war nur noch ein hügeliges Trümmerfeld übrig, und Eric und Ike hielten auf ihrem Weg zum Minimarkt mit einer Horde von Feinkostmännern mit Kufis, Fabrikarbeitern nach der Schicht und Kindern diverser Nationalitäten, die sämtlich die Schule schwänzten, auf dem Gehweg vor der Absperrung inne.

»Wahnsinn«, sagte Ike wieder und nickte zu einem großgewachsenen Orthodoxen, der sich in speckigem Anzug und Filzhut, das Ohr ans Handy gekettet, den Weg durch die Trümmerhügel bahnte, um die ramponierten Überreste von Gebetsbüchern zu retten, wobei er lose und eingerissene Seiten unter Backsteinen und Putzbrocken stapelte, um sie am Wegfliegen zu hindern. Zwei Teenager, ein hellhäutiger und ein Latino, folgten ihm und stopften die geborgenen Seiten in Kissenbezüge.

»Sieht aus wie eine moderne Shakespearebühne, finde ich«, sagte Ike. »Brutus und Pompeius in voller Camouflage mit ihren Tec-9.«

»Eher wie Godot.«

»Was meinst du, wie viel zahlt er den Jungs?«

»So wenig wie möglich.«

Ein großer junger Mann mit einer leuchtend grünen Jarmulke, die mit dem Logo der New York Jets verziert war, stand neben ihnen und kritzelte wie wild in einen Stenoblock. Eric hatte das ungemütliche Gefühl, dass er ihr Gespräch festhielt.

»Für wen schreiben Sie?«, fragte Ike freundlich.

»Die Post«, antwortete er.

»Ehrlich?«

»Ja.«

»Super.« Ike grinste und schüttelte ihm sogar die Hand.

Dieser Junge, dachte Eric, ist der Heuler.

»Was ist denn hier passiert, Mann?«, fragte Ike.

»Ganze Scheiße eingestürzt.« Der Reporter zuckte die Schultern und klappte sein Notizbuch zu. Als er wegging, merkten sie, dass er einen Klumpfuß hatte.

»Das würde mir ja stinken«, flüsterte Ike.

»Verzeihung, Sir!« Ein bebrillter Schwarzer, der mehr oder weniger Fetzen am Leib, aber eine Aktentasche in der Hand trug, rief dem Orthodoxen zu, der noch immer telefonierte. »Bauen Sie wieder auf?«

»Natürlich.«

»Sehr gut«, sagte der Lumpenmann und ging.

»Wir sollten hier verschwinden.« Ike schlug Eric auf den Arm und steuerte die Jungfrau an.

 

Als sie beim Sana’a ankamen, drehte sich Eric zu Ike um, bereit, ihn in die Kunst des Vordrängelns einzuführen, doch der Junge war bereits durch, gab Nazir seinen Dollar Eintrittsgeld und verschwand im Laden.

Von Bittstellern flankiert, knieten sie nebeneinander wie Schlagmänner vor der Jungfrau, wo der Gabenschrein seit Erics letztem Besuch um das Dreifache gewachsen war. Zunächst dachte er daran, einen der Brüder anzuhauen, sie zu bitten, doch wenigstens die Schlange draußen umzuleiten, damit sie nicht alle anderen Geschäfte im Viertel lahmlegte, dann aber wurde ihm klar, dass die Schlange genau das war: draußen, soll heißen, ihrem Zugriff entzogen. Konnte man sie also nur noch bitten, die Jungfrau ganz abzuschaffen, unwahrscheinlich bei dem ganzen Kleingeld. Konnte man also nur noch …

»Leck mich«, flüsterte Eric und dann an Ike gewandt: »Darf ich dich mal was Persönliches fragen?« Seine Stimme fedrig vor Anspannung.

»Unbedingt.«

»Diese ganzen Tattoos, was willst du denn eines Tages deinen Kindern erzählen?«

»Meinen Kindern? Ich bin mein eigenes Kind.«

»Mein eigenes Kind.« Eric massierte sich die Brust, als wollte er mehr Luft hereinlassen. »Das gefällt mir.«

»Ja? Prima, weil es stimmt.«

»Scheiße«, sagte Eric. »Wie macht man das denn …«

»Was?«, flüsterte Ike, griff beiläufig nach der Kühlschranktür, öffnete sie einige Sekunden und schloss sie wieder. »Das?«

Binnen einer Minute hatte der Einstrom feuchter Luft das Kondensmuster verändert und die Jungfrau ins Nirwana befördert. Eine Viertelstunde später hatte sich die Neuigkeit über die Rivington Street ergossen und die Wunderschlange in Wohlgefallen aufgelöst. Zur Mittagszeit betrug die Wartezeit für einen Tisch im Café Berkmann zwanzig Minuten.

 

»Also, du hast hier noch nicht gewohnt in der Blütezeit, kannst du also nicht wissen, aber vor zehn, zwölf Jahren?« Little Dap Williams rhabarberte vor sich hin, während er den nächsten Stapel Bibelseiten unter einem Backstein hervorholte. »Mann, da waren, da gab es schlimme Finger hier. Die Purples in der Avenue C, die Hernandez-Brüder in A und B, Delta Force in den Cahans, Nigger namens Maquetumba in den Lemlichs direkt. Die Hälfte ist auf Nimmerwiedersehen eingebuchtet, die andere Hälfte ist tot, die harten Jungs, also hocken da nur noch die alten Knochen, nippen ihre Bierchen und erzählen sich Storys aus der guten alten Zeit, die und ein Haufen Milchnigger, Hohlbirnen, alle für sich mit ihren klitzekleinen Kokstütchen, und keiner macht ’ne Ansage.«

»Maquetumba?« Tristans Kissenbezug war fast voll.

»Dominikaner. Inzwischen tot. Mein Bruder hat mir erzählt, er und seine Leute haben die Lemlichs eingemottet.«

»Was ist das für ein Name?«

»Sag ich doch, Dominikaner.«

»Aber was bedeutet der?«

»Maquetumba? Mann, solltest du doch wissen, bist doch Dominikaner.«

»Puerto-Ricaner.«

»Dasselbe, oder?«

Tristan zuckte mit den Schultern.

»Ssss.« Little Dap atmete scharf ein. »So was wie ›er, der die meisten fallen lässt‹ oder so Scheiße.«

»Was fallen lässt?«

Little Dap sah ihn nur an.

»Ach so.« Tat so, als hätte er es kapiert. Tristan war einfach nur froh, mit Little Dap abzuhängen, überhaupt mit jemandem abzuhängen, wo er rund um die Uhr mit seinem Ex-Stiefvater, dessen neuer Frau, Kindern, Regeln und Fäusten zusammenleben musste. Schon wie er hier gelandet war, um auf diesem Scheißhaufen Bibelseiten zusammenzuklauben, erschien wie ein kleines Wunder.

Nachdem er die Hamster – seine Brüder und seine Schwester, die eigentlich keine Brüder und keine Schwester waren – heute Morgen zur Schule gebracht hatte, hatte er selbst keine Lust auf Schule gehabt. Also hatte er um zehn vor der Seward Park High School gesessen und nicht gewusst, was er machen sollte, und niemanden, mit dem er es machen konnte, als Little Dap sich aus dem Gebäude verdrückte, mit einem Nicken an ihm vorbeilief, dann die Schultern zuckte, zurückging und ihn fragte, ob er sich beim jüdischen Sturzbau ein bisschen Kleingeld verdienen wolle.

Wann immer er beschloss, die Schule zu schwänzen, schienen alle anderen ausgerechnet an dem Tag hinzugehen und umgekehrt. Wenn er die Hamster nicht gleich morgens zur Schule bringen müsste, könnte er einfach beim Candy Store am Seward Park rumhängen, mit all den anderen aus den Lemlichs Cola und Ring Dings frühstücken und überlegen, was man mit dem Tag anfängt, aber er kam da nicht rechtzeitig hin. Dasselbe nachmittags, alle kamen nach der Schule zusammen und beschlossen, wo man hinging, Tristan klemmte wieder mit der umgekehrten Hamstertour fest und hatte keinen Schimmer, wo sie hin waren. Und sein Ex-Stiefvater erlaubte ihm kein Handy.

»Ja, die Siedlungen sind jetzt total offen«, sagte Little Dap wieder.

»Und dein Bruder?«

Tristan wusste Bescheid über Big Dap, alle wussten Bescheid über den einzigen Nigger in der Geschichte, der jemals in einem Fahrstuhl mit einem Polizisten aneinandergerempelt war, dem Typen mit dessen Knarre ins Bein geschossen hatte und aus der Nummer rausgekommen war.

»Dap? Pfff … Nigger ist zu faul. Ich meine, der könnte die Lemlichs schmeißen, wenn er wollte jedenfalls, die machen sich ja alle vor ihm ins Hemd, also, wenn er sich ins Zeug legen würde, okay? Aber Scheiße, der will nur so pillepalle wie möglich an die Kohle. Ran an die Ecke, ›Yo, Shorty, dealst du? Hundert die Woche‹. Einsammeln, zurück zu Shyannes Bude, Hirn rauspaffen, Glotze. Das ist kein Leben.«

»Mal zehn Ecken?«

Tristan kriegte bloß 25, 30 Dollar pro Lieferung für Smoov, und Smoov haute ihn nur an, wenn sonst keiner da war.

»Weit offen …« Little Dap schüttelte den Kopf, als handelte es sich um eine Tragödie.

»Und jetzt? Machst du da drüben den King, oder was?«

»Bin ich bescheuert? Und dann in irgendeinem unterirdischen Supermax landen? Alter Knochen hier aus dem Kiez hat erzählt, in so einem Bau wirst du in einem Jahr zehn Jahre älter, und die armen Schweine liegen rund um die Uhr da und träumen, wie sie sich am besten umbringen.«

»Echt?«

»Da geh ich doch lieber wieder zur Gladiatorenschule.«

»Echt.«

Tristan hatte weder im Jugendknast noch, seit er siebzehn geworden war letztes Jahr, in den Katakomben gesessen, er war nur wie alle ein paar Mal unter Auflagen freigelassen worden wegen der üblichen Scheiße: Drogenbesitz, unbefugtes Betreten – alias nach der Sperrstunde im Park rumhängen –, eine Klopperei und Pissen aus dem Schlafzimmerfenster.

»Ich sag dir aber mal, was ich mache«, sagte Little Dap. »Ein Pack reindröhnen heute Abend, drauf sein, morgen ausschlafen und Party.«

»Deinem eigenen Bruder Eckenmiete zahlen?«

»Von mir nimmt der nichts.«

»Du hast die Kohle für ein Pack?«, fragte Tristan.

Dap machte das Gleiche wie Tristan, Botengänge, vielleicht öfter, weil er beliebter war, aber er bekam auch noch Geld von seiner Großmutter und machte hin und wieder Kollekte für seinen Bruder.

»Nicht jetzt aktuell, aber heute Abend – komm ich wieder hier hoch, zieh einen Zombie ab und bin präpariert.«

»Alles klar.« Tristan konnte nicht recht folgen.

»Es gibt da diesen Friseurladen in Washington Heights, okay? Wenn du ein hermano dominicano bist, verkaufen sie dir ein Gramm für zwanzig Dollar, ich überleg jetzt also, lass uns hier einen Zombie abziehen, mit dem Kies oben hoch, du besorgst das Zeug, wir kommen wieder runter um Tompkins Park rum, verticken das G den weißen Jungs, die aus den Bars kommen, für hundert, kapierst du? Wir gehen da oben hoch mit, sagen wir, zweihundert für zehn Gramm, kommen zurück, verkaufen für tausend, kannst dir ausrechnen.«

Wir …

»Echt, oder?«

»Scheiße mal echt.«

Aber Washington Heights. Oder auch nur hierher zurück. Sie waren bloß fünf oder sechs Blocks von den Lemlichs entfernt, aber Tristan konnte die Male, die er von Botengängen abgesehen so weit von zu Hause weg gewesen war, fast an seinen Fingern abzählen. Er ging nicht gern nördlich über die Houston Street hinaus oder westlich über die Essex, und ganz und gar nicht gern lieferte er Stoff an die Ärzte und Schwestern oben im Bellevue oder der Gelenkeklinik an der NYU, beides so weit oben in der Stadt, das könnte genauso gut Ausland sein. Eigentlich war die einzige problemlose Lieferadresse das Anwaltsbüro in der Hester Street, ziemlich in der Nähe, wobei dieser rothaarige Anwalt Danny, wenn es ihn packte, Tristan plötzlich »Che« nannte wegen seinem Ziegenbärtchen, und Tristan hatte keine Ahnung, wie er ihm das abgewöhnen sollte.

Es war ihm ein Rätsel, wie Smoov, der nur ein Jahr älter war als er, so abgeklärt in all diese Uptown-Bars bei den Krankenhäusern marschieren und die Ärzte, Schwestern, Anwälte und sonst wen anquatschen konnte, um seinen Kundenstamm zu erweitern. Scheiße, er wäre nicht mal hier auf dieser Müllhalde, wenn Little Dap nicht gesagt hätte, Komm mit.

»Und, machst du mit?«

»Ich weiß nicht.« Sein Ex-Stiefvater, die Fäuste. »Muss vielleicht auf die Kleinen aufpassen.«

»Siehst du?« Little Dap sprach mit dem Schutt. »Milchnigger, wo man hinguckt.«

»Vielleicht krieg ich das geregelt«, murmelte Tristan.

»Hey, yo«, rief Little Dap dem Rabbiner zu oder was immer der war. »Was machen Sie mit den Kerzenständern da hinten?«

»Das geht dich nichts an.«

»Wie bitte?« Little Dap wollte ausflippen.

Der Bärtige telefonierte wieder und beachtete ihn nicht.

»Hab Sie was ganz Harmloses gefragt. Meinen Sie, ich will die klauen, oder was?«

Der Mann lächelte, nahm kurz das Telefon unterm Kinn weg. »Die gehen in die neue Synagoge.«

»Scheiß ich drauf«, sagte Little Dap und warf seinen Kissenbezug hin.

Tristan sah die Gaffer hinter der Absperrung an – Sandneger, plattgesichtige Chinesen, blancos, sonstige Nasen – und stellte sich vor, dass sie alle da waren, um ihn anzustarren, zu sehen, was der Ziegenbart verbarg, den Blitz darunter, wusste zwar, dass es nicht stimmte, aber es gefiel ihm trotzdem nicht, also konzentrierte er sich auf die Arbeit, die er bezahlt kriegte. Fette 20 Dollar.

Als er wieder aufsah, starrte ihn der Rabbiner oder was immer an, ein gequältes Lächeln im Gesicht. »Was?« Tristan errötete, dann folgte er dem Blick des Mannes und sah die Bibelseite, auf der er stand.

 

In der Spätnachmittagsflaute wanderte Eric hinter die Bar und machte sich einen leichten Hennessy Soda. Eigentlich trank er tagsüber nicht, doch seitdem sie die Jungfrau geknackt hatten, trieb ihn eine diffuse Unruhe um. Der Chef hatte ihm nicht mal gedankt, nicht mal mit einem wissenden Nicken, wobei es wahrscheinlich klüger war für jemanden in Steeles Position, nicht nachzufragen, dann wusste er auch nichts.

Nachdem Eric die Barkeeper in der Mittagshektik beobachtet hatte, hielt er sie beide für geeignet. Cleveland, der Schwarze, war kein Cocktailkünstler, aber, viel wichtiger, ein liebenswürdiger Plauderer, und Ike, der ganz ordentliche Drinks mixte, hatte ein nettes Lachen. Beide hatten bestimmt in spätestens einem Monat ihr festes Gefolge.

Ikes kleine Einlage hatte er nicht lustig gefunden. Natürlich war ihm dieselbe Idee gekommen, aber der Junge hatte nicht mal die Geduld aufgebracht, sich umzusehen und abzuschätzen, ob die Pilger ihnen vielleicht das Fell über die Ohren ziehen würden, bevor sie verschwinden konnten. Zum Glück war die Jungfrau mit einiger Verzögerung verdampft, und sie waren beinahe außer Hörweite gewesen, als das Lamento losbrach.

»Eric.« Ike pirschte sich an ihn heran, als er den Cognac zurückstellte. »Wenn du willst, mach ich die für dich.«

»Schon gut.«

Obwohl drei Frauen von einem Einkaufsbummel hereinkamen und auf die Bar zuhielten, lungerte Ike weiter bei Eric herum und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Kann ich dir was sagen?« Er senkte die Stimme. »Ich bin ja nicht abergläubisch oder so, aber die Nummer, die ich da heute Morgen abgezogen habe? Ich hab echt Schiss, dass mir das in die Fresse fliegt.«

Gerührt von der Offenheit des Jungen, wollte Eric gerade etwas Trockenes, Tröstliches zum Besten geben, aber der Schwachkopf kam ihm zuvor und boxte ihm grinsend an die Schulter. »Hab dich nur verarscht, Mann«, dann wandte er sich den Ladys zu.

 

Tristan nahm den Joint und grub die Füße in den Kies auf dem Dach ihres Hauses in den Lemlichs, während sie beide auf das meilenhohe Polizeipräsidium am One Police Plaza nur wenige Blocks entfernt blickten. Nicht nur pfiff er heute Abend drauf, wann er zu Hause sein sollte, er hatte auch die Hamster nicht von ihren diversen Schulen abgeholt: eine Premiere. Das würde er schwer büßen, aber bei ihm zu Hause gab es immer für irgendwas Keile, und er konnte nicht fassen, dass Little Dap noch immer mit ihm zusammen war, also scheiß drauf.

»Gehen wir jetzt nach Washington Heights?«, murmelte er.

»Eins nach dem anderen.«

»Was.«

»Wie was …« Little Dap reckte den Hals. »Erst mal die Kohle, Padner.«

»Ach«, sagte Tristan, »Scheiße.« Er war so auf die große Reise nach Washington Heights fixiert, dass er diesen Teil ganz vergessen hatte.

»Wie.« Little Dap nahm einen Schluck Bier. »Du hast noch nie …«

»Doch, nein, so richtig …«

Little Dap zuckte die Schultern, »Kleinigkeit«, und reichte ihm den Joint.

Tristan konnte vor Scham nicht aufhören zu grinsen.

»Aber ich kann’s nicht ohne meinen Specht machen.« Little Dap bohrte ihm den Finger in die Brust. »Verstehst du?«

Ein blutroter Mond schob sich hinter 1PP hervor.

»Warum holst du dir nicht einfach paar Jungs von der Ecke?« Tristan hustete eine Wolke aus. »Sagst, du sammelst für Big Dap, wir flitzen hoch, holen den Scheiß ab« – Husten – »kommen hier zurück, machen was draus, bevor er Wind davon kriegt, und dann bekommt er seine Kohle wie sonst auch.«

So viele Worte auf einmal hatte er seit einem Jahr nicht von sich gegeben.

»Nee, hm-hm.« Little Dap streckte den Hals. »Hab ich mal versucht, gab paar Probleme, ja? Keine gute Idee. Dap und seine Kohle, da hält man sich besser raus. Ich meine, Scheiße, mich können sie ja einbuchten, werd mit dieser Gladiatorenklapse schon fertig, beziehungsweise, ehrlich gesagt, ich könnte da unterrichten, aber Dap, wenn der hochgeht und dich in die Finger kriegt, nee, hm-hm. Und das ist gleich noch so was, weil wir müssen total in Deckung gehen. All die Fettsäcke aus dem Achten? Die suchen ständig nach einem Vorwand, um meinen Bruder dranzukriegen wegen dem Polizisten, auf den er geschossen hat, also nageln sie mich fest, und dann heißt es, ›Na, Little Dap, wo ist denn Big Dap?‹ Als ob der mein automatisches Superhin wäre bei jedem Ding, und dann haben sie gleich noch einen Vorwand, ihm von hier bis zum Fluss Feuer unterm Arsch zu machen. Aber was sie mit ihm machen, egal – krieg ich doppelt zurück.«

Tristan erinnerte sich, wie Big Dap einmal letztes Jahr auf der Straße ausgeholt und Little Dap vor aller Augen so verdroschen hatte, dass die Schläge wie Kanonendonner klangen. Dann dachte er an die Augen seines Ex-Stiefvaters, wie sie hervortraten, wenn er vollgelaufen war und drauf und dran, so zuzuballern, dass einem Hören und Sehen verging. Da wollte Tristan nicht mehr mitmachen. »Dann solltest du’s vielleicht lassen«, sagte er und bemühte sich, es so klingen so lassen, als wäre er um Little Dap besorgt.

»Ach was, ist schon okay, ist in Ordnung.«

Sie rauchten eine Weile schweigend. Tristan fand, dass die Manhattan Bridge Gottes Unterarm war, der den Weg nach Brooklyn versperrte.

»Übrigens« – Little Dap verschluckte sich – »nur eins, wenn wir da rausgehen, okay? Hände weg von den Chinesen, die werden so oft abgezogen, die haben praktisch nie mehr was dabei, und selbst wenn: Da kommt man auf sie zu, und sie sagen, ›Da‹, halten dir die Kohle hin, bevor du überhaupt was sagen kannst.«

»Na und?«

»Respektlos.«

»Wie bitte?«

»Woher wollen die wissen, was ich vorhabe, bevor ich bei ihnen bin?«

»Aha.«

»Aber die Weißen?« Little Dap schnaubte vor Lachen Rauch aus. »Heilige Scheiße, die sind so …« Er krümmte sich, Hand vor dem Mund. »Hab ich da letztes Jahr diesen Typen vor mir und halt ihm die Knarre in die Fresse? Das Arschloch hat kein Geld dabei, fragt der mich also, ob ich auch Schecks nehme, von wegen, auf wen soll ich ihn ausstellen?«

»Nein!« Tristan lachte jetzt auch, als wären alle hier oben alte Hasen.

»Hier.« Little Dap zog aus seiner Gesäßtasche einen zerknitterten, blassblauen Scheck. Er war von einer Bank in Traverse City, Michigan, vor sechs Monaten ausgestellt über 100 Dollar.

»Willst du den etwa einlösen?« Tristan war plötzlich ganz benommen vor Kameradschaft.

»Ach was, Mann, wenn ich den einlöse, können die den ja zurückverfolgen. Behalte ich aus Jux.«

»Aber wenn sie den bei dir finden, das ist doch Beweismaterial, oder?«, murmelte Tristan. »Diese Bank hier anrufen, fragen, wer der Typ ist, ob er in New York überfallen wurde …«

Erneutes Schweigen, Tristan fürchtete, Little Dap beleidigt, ihn als Idioten hingestellt zu haben. Aber der war viel zu hinüber, um das mitzukriegen, seine Augen schwammen wie zwei Kirschen in Buttermilch.

»Also, was meinst du.« Er reichte Tristan die Lunte weiter. »Bist du jetzt mein Specht da draußen, oder was … Ich will’s hören, aus deinem Mund.«

Tristan nahm einen letzten Zug. »Ja, ist gut.« Die Worte kamen herausgepufft wie Rauchsignale.

»Na schön.« Little Dap hielt die Faust zum Klatschen hin, und Tristan kämpfte gegen das nächste entgleiste Lächeln an, es fühlte sich so gut an, irgendwas fühlte sich jedenfalls gut an.

»Mann, du grinst dir ja echt den Arsch ab«, sagte Little Dap, steckte sich die Kippe in den Mund, holte die Waffe aus seinem Sweatshirt und versuchte, sie zu übergeben.

Mit einem Lachen, wenn man es denn so nennen konnte, wich Tristan zurück.

»Wie jetzt.« Little Dap blinzelte.

»Nee.«

»Nee? Wie, du meinst, du gehst da raus und machst – was, so einen Schlucker anbrüllen?« Er packte Tristan am Handgelenk. »Du sollst das Ding ja nicht benutzen, Mann.« Er knallte es ihm in die Hand. »Bloß zeigen.«

Tristan wollte die Waffe eigentlich zurückgeben, aber dann lag sie in seiner Hand, wohlig und schwer.

»Nee, Mann, das tut dir gut«, sagte Little Dap, »Gangster, verstehst du? Erste Mal ist wie erster Sex, machst es halt, um’s hinter dich zu bringen, danach kannst du dran arbeiten, und dann macht es Spaß.«

»Ist gut.« Tristan starrte die ganze Zeit nur auf das Ding in seiner Hand. »Darf ich dich was fragen?«

Little Dap wartete. Und wartete.

»Was ist denn dieser Scheißspecht?«

»Ein Specht? Soldat-Partner-Knecht.«

»Okay.«

»Okay?«

»Okay.« Grinsen. Grinsen.

»Du bist jetzt drin, Alter.« Little Dap sah zu, wie Tristan die Waffe ansah. »Bewährungsprobe.«

2Lügner

Erste am Tatort um 4.00 Uhr früh am Ende einer Doppelschicht war Lugos Lebensqualität, noch immer im Pseudotaxi beim Durchkämmen des Viertels, seit 1.00 Uhr allerdings als Leihgabe für die Anti-Graffiti-Einsatztruppe mit einem frisch installierten Laptop auf dem Armaturenbrett, wo nonstop eine Diashow bekannter Tagger aus der Gegend lief.

In dieser geisterfrühen Stille fanden sie zwei himmelwärts blickende Männer unter einer Straßenlaterne vor der Eldridge Street 27, einem alten fünfstöckigen Mietshaus. Als sie vorsichtig aus dem Taxi stiegen, kam plötzlich ein Weißer mit irrem Blick aus dem Haus auf sie zugestürzt, in der rechten Hand etwas Silbriges. Vollgepumpt mit Adrenalin zogen sie ihre Waffen, und als der Mann vier Pistolen auf seine Brust zielen sah, segelte das Handy geradewegs durch die Fensterscheibe des angrenzenden Sana’a; binnen Sekunden platzte einer der jemenitischen Brüder aus dem Laden, eine abgesägte Fischkeule über der linken Schulter wie einen Baseballschläger.

 

Um 4.15 Uhr bekam Matty Clark einen Anruf von Bobby Oh von der Nachtschicht: tödliche Schießerei in Ihrem Revier, dachte, vielleicht interessiert es Sie, just zum Abschluss seines letzten Wacheinsatzes – Mitternacht bis vier, drei Tage die Woche – in einer schlanken Bar in der Chrystie Street, ohne Schild, ohne Telefonnummer, mit Kundschaft »nur nach Vereinbarung«, die durch eine schmale, ramponierte Tür von diesem düsteren Abschnitt einer überwiegend von Chinesen bevölkerten Seitenstraße hereingesummt wurde; einzelfassgereifter Cruzan Rum, Absinth und Cocktails mit geriebenem Ingwer oder brennenden Zuckerwürfeln die Spezialitäten des Hauses.

Matty war ein rotblonder Ire mit kantigem Kinn und der Figur eines alternden Highschool-Fullbacks, hängeschultrig und kompakt, dessen niedriger Körperschwerpunkt trotz seiner Massigkeit den Eindruck erweckte, als würde er gleiten statt gehen. Wenn man ihn was fragte, verengten sich seine ohnehin schmalen Augen zu Schlitzen, und seine Lippen verschwanden ganz, als wäre Sprechen oder auch nur Denken ein schmerzhafter Prozess. Dadurch wirkte er auf manche etwas langsam, auf andere wie ein mürrischer Hitzkopf; er war weder das eine noch das andere, wobei er in der Regel gewiss kein großes Bedürfnis verspürte, seine Gedanken zu verbalisieren.

Es gab keinen einzigen Abend in seiner Zeit im No Name, an dem er nicht der älteste Mensch im Raum war. Der Barkeeper/Besitzer mit dem Kindergesicht: Josh, wie ein verkleideter Zwölfjähriger mit Ärmelschonern, Hosenträgern und pomadegescheiteltem Topfschnitt, aber so ernst bei der Sache wie ein Kinsey-Forscher, der über jeden Drink zunächst mit Kinngrübeln sinnierte und schließlich mit einem Hinweis an seine ebenso jungen Kunden versah: »Heute Abend bieten wir …« Im gesamten klapperdürren Etablissement der Geruch nach Teelichtern, der einzigen Lichtquelle, der Geruch nach Besonderheit …

Obwohl die Kundschaft hauptsächlich aus den Eloi der Lower East Side und Williamsburg bestand, war in einen Vorfall vor einem Monat ein schwermetalliger Trupp von Bronx-Morlocken verwickelt gewesen, die davon sprachen, wiederzukommen und den Schuppen hochgehen zu lassen. Umgehend war durch die Vermittlung eines Ex-Bullen ein Treffen anberaumt worden zwischen dem Besitzer und Matty, dessen inoffizieller Auftrag der letzten Wochen darin bestanden hatte, still in der kerzenschummrigen Ecke zu sitzen, Geschmack an knisternden Edith-Piaf-Aufnahmen zu finden, sich nicht an die seidigen Mixologinnen ranzumachen und sich nicht zu sehr verbeulen zu lassen, sollte es tatsächlich rundgehen. Es war ein Spaziergang, zumal für jemanden, der es mit vierundvierzig noch immer als Strafe empfand, nachts die Augen zu schließen, der wie jeder Kollege gern undeklariertes Kleingeld anfasste und der Entstehung von Drinks zusah, die er wohl zuletzt im Stork Club gesehen hatte.

Und jetzt, da der Einsatz vorbei war, der einzige Trost an seinem letzten Abend die unverhoffte Verletzung der Hände-weg-von-den-Mixologinnen-Regel – unverhofft, weil sie angefangen hatte: eine Neue, groß, dunkel und launisch wie ein langer Rauchkräusel, die ihn den ganzen Abend beäugt und ihm, wenn der Kindskönig nicht hinsah, Proben über den Tresen zugeschoben und schließlich zu ihrer Drei-Uhr-Pause ein Zeichen gegeben hatte, Matty ihr hinterher durch den Lieferanteneingang in den verborgenen, von Mietshäusern eingefassten Hof. Nachdem er ihren Joint ausgeschlagen und ihr ein paar Züge lang zugesehen hatte, war sie einfach auf ihn gesprungen, Arme um seinen Nacken, Beine um seine Hüften geklammert, und er hatte losgelegt, mehr aus Zugzwang und zur Entlastung des Rückens denn aus Leidenschaft, und sie gegen die Backsteinmauer gerammt. Sie war gut und gern fünfzehn Jahre jünger als er, aber er konnte sich nicht mal genug entspannen, um das zu genießen, um sie zu erkunden, es ging nur ums Springen, Hieven, Rammen, bis sie zu seinem Schrecken anfing zu weinen, worauf er sie zarter rammte und sie auf der Stelle austrocknete. »Was soll das?«

»Entschuldigung.« Wieder heftiger, als würde er eine Anrichte verrücken: Hier, Lady? So, Lady? Aufreibender Sex, kein großer Spaß, aber immerhin Sex. Außerdem wirkte sie wieder glücklich, weinte wieder.

Also.

Zum Anruf der Nachtschicht …

Er konnte den ersten Angriff ihnen überlassen bis zu seiner Schicht um acht oder jetzt dazustoßen; Matty entschied sich für jetzt, denn die Bar war so nah am Tatort, dass er das gelbe Flatterband von hier aus sehen konnte. Wozu für ein paar Stunden nach Hause fahren?

Außerdem waren seine Söhne einige Tage bei ihm, und die mochte er nicht besonders.

Zwei waren es: einer, den er bei sich immer den Großen nannte, ein Arschloch von einem Kleinstadtbullen oben in Lake George, wohin seine Exfrau nach der Scheidung gezogen war, und der jüngere, den er natürlich den Anderen nannte, ein stiller Teenager, der noch Windeln getragen hatte, als sie sich trennten. Matty war bestenfalls ein gleichgültiger Vater, konnte aber nicht dagegen an, und die Jungs waren ihrerseits so konditioniert, ihn als entfernten Verwandten in New York City zu betrachten, irgendso einen Typen, der von Bluts wegen verpflichtet war, sie hin und wieder bei sich übernachten zu lassen.

Hinzu kam, dass seine Exfrau ihm vor ungefähr einem Monat telefonisch mitgeteilt hatte, der Andere verticke höchstwahrscheinlich in seiner Highschool Gras. Als Matty daraufhin den Großen in seiner Polizeiwache angerufen und der ein bisschen zu schnell »Ich kümmere mich drum« gesagt hatte, wusste er, dass die beiden unter einer Decke steckten, und ließ es auf sich beruhen.

Lieber weiterarbeiten …

Als er um 4.35 Uhr, zwanzig Minuten nach dem Anruf, am Tatort ankam, war es noch dunkel, auch wenn in einem nahen Bäumchen der erste Vogel des Tages vor sich hin zwitscherte und die uralten Dächer der Mietshäuser in der Eldridge Street sich langsam vom Himmel abhoben.

Unmittelbar unter der Straßenlaterne vor dem Haus stand eine gelbe Spurentafel neben einer verschossenen Patronenhülse, Matty tippte auf eine 22er oder 25er, aber die beiden Männer waren weg: Einer war mit dem Krankenwagen weggeschafft worden und hatte ein fast acrylgrelles Blutrinnsal hinterlassen, das auf die Bordsteinkante zuschlängelte; der andere stand jetzt da mit alkoholverdrehten Augenlidern und kotzte ein paar Häuser weiter südwärts über die Verandaverschalung. Ein Uniformierter stand als Babysitter dezent vor dem Wind und rauchte eine Zigarette.

Matty hatte seine Außenverbrechen am liebsten in den Morgenstunden, weil die unheimliche Ruhe der Straße einen intimeren Dialog mit dem Tatort gestattete; und so sinnierte er nun über die Patronenhülse, 22er oder 25er, und dachte, Amateure, 4.00 Uhr morgens, die Desperadostunde, Schütze oder Schützen jung, womöglich Junkies auf der Suche nach ein paar Scheinen, wollten diesen Scheiß gar nicht benutzen, jetzt bunkern sie sich eine Weile ein, sehen sich an, »Mann, haben wir gerade …«, schütteln es ab, bedröhnen sich, holen sich Nachschub, und Matty sagte sich, mal sehen, wer gerade raus ist, mit Bewährungshelfern sprechen, mit den Kollegen von der Siedlung, Drogenplätze aufsuchen, Dealer.

Nazir, einer der beiden Jemeniten, die rund um die Uhr den Minimarkt betrieben, war wieder im Laden und saß trübe hinter seiner frisch zertrümmerten Schaufensterauslage von katerdezimierenden Pharmazeutika, die selten genutzten Rollläden waren auf Geheiß der Kollegen, wie Matty vermutete, über der schmalen Tür heruntergezogen.

Er zählte sechs Uniformen, vier Sweatshirts, aber keine Sportjacken. Dann kam Bobby Oh, der Nachtschichtleiter, der ihn angerufen hatte, aus dem Hausflur der Eldridge Street 27. »Ganz allein?«, fragte Matty kopfschüttelnd.

»Werd heute Nacht gezogen wie eine Klaviersaite«, antwortete Bobby – ein kleiner, drahtiger Koreaner mittleren Alters, stets geschäftig mit hektischem Blick. »Barschießerei in Inwood, Vergewaltigung in Tudor City, Fahrerflucht in Chelsea …«

»… Pfadfinder vermissen ein Kind, Chruschtschow wird in Idlewild erwartet …«

»… und ein Bulle oben in Harlem mit einer Murmel ausgeknockt.«

»Mit einer was?« Matty suchte die Straße nach Überwachungskameras ab.

»Der Typ war Lieutenant.« Bobby zuckte die Schultern.

»Also, was ist passiert.« Er zog einen Stenoblock aus seiner Innentasche.

»Folgendes …« – Bobby blätterte in seinem Block – »drei Weiße sind ein paar Stunden um die Häuser gezogen, letzte Station Café Berkmann in der Rivington Street Ecke Norfolk, von dort westlich auf der Rivington, dann südlich auf der Eldridge, werden vor der Siebenundzwanzig hier von zwei Männern, schwarz und/oder Hispanic, angehauen, einer zieht eine Waffe und sagt: »Ich will alles.« Einer, unser Zeuge Eric Cash, Hand auf der Brieftasche, ergibt sich, der zweite, Steven Boulware« – Bobby deutete mit dem Stift auf den Mann, der gekotzt hatte und sich nun selbst umschlang – »ist so zugeballert, dass er gleich mal ein Nickerchen auf dem Gehweg abhält, aber der Dritte, Isaac Marcus? Baut sich vor dem Schützen auf und sagt – Zitat: ›Heute nicht, mein Freund.‹«

»›Heute nicht, mein Freund.‹« Matty schüttelte verwundert den Kopf.

»Mündlicher Selbstmord. Jedenfalls, ein Schuss« – er deutet mit dem Stift auf die Patronenhülse neben der gelben Tafel – »Volltreffer ins Herz, Schütze und Partner ab ostwärts auf der Delancey.«

Ostwärts auf der Delancey: Matty betrachtete flüchtig die beiden Möglichkeiten, die diversen Siedlungen dort oder die U-Bahn, die Lower East Side war zu isoliert, zu verschlungen außer für Jugendliche aus den hiesigen Siedlungen oder die Brooklyn-Klientel, die gern zwischen hüben und drüben pendelte.

»Lebensqualität kommt fünf Minuten später, eine drauf der Wagen vom Gouverneur Hospital. Marcus war auf der Stelle tot, habe mit dem Doc persönlich gesprochen.«

»Name?«

Bobby konsultierte seine Notizen. »Prahash. Samram Prahash.«

»Notrufe?«

»Nichts.«