Die Unbehausten - Barbara Kingsolver - E-Book

Die Unbehausten E-Book

Barbara Kingsolver

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Beschreibung

Davon, was es bedeutet, eine Zuflucht zu haben in der Welt Von der gefeierten Autorin von ›Demon Copperhead‹: ein großer Roman über zwei Menschen, 150 Jahre voneinander entfernt, die sich auf ihre Weisen zurechtfinden müssen in einer aus den Fugen geratenen Welt. Alles scheint um Willa Knox zusammenzubrechen: Als freie Journalistin steht sie ohne Aufträge da. Ihr Mann Iano verliert seine Professur, Sohn Zeke, als Harvard-Absolvent der große Hoffnungsträger der Familie, ist gerade Vater geworden – aber alleinerziehend. Und ihr schwerkranker Schwiegervater schwärmt vom »Megafon«, dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten. Am selben Fleck, 150 Jahre zuvor, freundet sich ein Lehrer namens Thatcher mit seiner eigenbrötlerischen Nachbarin an. Die Naturforscherin Mary Treat steht in lebhaftem Austausch mit Charles Darwin, doch in der verschworenen Ortsgemeinschaft wird die Theorie von der Evolution als Sünde angeprangert. Was verbindet diese Menschen über die Jahrhunderte hinweg? Ein viktorianisches Haus, das ihnen über dem Kopf einzustürzen droht – und eine Zeit, in der damals wie heute kein Stein auf dem anderen bleibt.  Warmherzig, humorvoll und zutiefst menschlich erzählt Barbara Kingsolver von den Verwerfungen der Gegenwart, in denen gespenstisch vertraut die Vergangenheit anklingt. Übersetzt von Dirk van Gunsteren »Ein lebendig wimmelndes Haus der Literatur, raffiniert und fesselnd.« Meg Wolitzer »Von enormer Aktualität, schmerzhaft vertraut und hinreißend geschrieben.« NPR »So voller Witz und Lebensnähe, dass man meint, mit den Figuren am Küchentisch zu sitzen und um Rat in ihren Krisen gebeten zu werden.« The Times

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Seitenzahl: 725

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Alles scheint um Willa Knox zusammenzubrechen: Als freie Journalistin steht sie ohne Aufträge da. Ihr Mann Iano verliert seine Professur, Sohn Zeke, als Harvard-Absolvent der große Hoffnungsträger der Familie, ist gerade Vater geworden – aber alleinerziehend. Und ihr schwerkranker Schwiegervater schwärmt vom »Megafon«, dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten.

Am selben Fleck, 150 Jahre zuvor, freundet sich ein Lehrer namens Thatcher mit seiner eigenbrötlerischen Nachbarin an. Die Naturforscherin Mary Treat steht in lebhaftem Austausch mit Charles Darwin, doch in der verschworenen Ortsgemeinschaft wird die Theorie von der Evolution als Sünde angeprangert.

Was verbindet diese Menschen über die Jahrhunderte hinweg? Ein viktorianisches Haus, das ihnen über dem Kopf einzustürzen droht – und eine Zeit, in der damals wie heute kein Stein auf dem anderen bleibt.

Barbara Kingsolver

Die Unbehausten

Roman

Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren

Das letzte Nein weicht schließlich einem Ja,

Und von dem Ja hängt ab, was werden wird.

Wallace Stevens: »Der gut gekleidete Mann mit Bart«

1Ruine

»Das Einfachste wäre, es abzureißen«, sagte der Mann. »Das Haus ist eine Ruine.«

Während sie diese Nachricht verarbeitete, brauste das Blut in ihren Ohren: Es war das Gebrüll bäuerlicher Vorfahren, die sich mit Steinen in den Händen gegen eine Zwangsräumung wehrten. Aber dieser Mann war Bauingenieur. Willa hatte ihn kommen lassen und konnte ihn wieder wegschicken. Sie ließ die Panik etwas abklingen. Er stand da, betrachtete ihre Ruine und schien über seine Diagnose eine gewisse Befriedigung zu empfinden. Sie suchte nach Worten.

»Es ist doch kein Lebewesen. Man kann es nicht einfach für tot erklären. Wenn irgendein tragendes Teil nicht mehr trägt, kann man es ersetzen. Habe ich recht?«

»Das stimmt. Was ich sagen will, ist: Bei den tragenden Teilen, die ersetzt werden müssten, handelt es sich um alle. Tut mir leid. Sie haben kein Fundament.«

Wieder dieses Brausen in den Ohren. Sie starrte den Mann an, dessen schwarzer Overall mit Spinnweben aus den Kriechzwischenräumen überzogen war. Er hieß Petrofaccio. Pete. »Wie kann ein so altes Haus kein Fundament haben?«

»Nicht das ganze Haus. Aber dieser Anbau, sehen Sie dort? Die Wände haben, wie gesagt, kein Fundament. Und der Anbau beinhaltet Ihre Küche, Ihre Badezimmer, praktisch alles, was ein funktionales Haus braucht.«

Schließt ein, dachte sie. Beinhalten klingt so geschwollen.

Nebenan schlüpfte einer der Jungs zur Hintertür raus. Sein Blick streifte Willa, glitt aber rasch weiter, während er durch das Labyrinth aus Fahrzeugen im Garten zur hinteren Gasse ging. Er und sein Bruder arbeiteten hauptsächlich nachts an den Wagen und schoben sich unter tragbaren Baustellenlampen die Werkzeuge zu. Ihr leises Geflachse und die gelegentlichen spanischen Flüche und Triumphlaute trieben durchs Fenster in Willas Schlafzimmer wie die Nachtmusik einer neuen Stadt. Sie hatte nichts gegen diesen Autofriedhof, auch nicht gegen die gut aussehenden Jungs und ihre Freunde, die allesamt Sportshorts und Badelatschen trugen, als wäre das ganze Leben eine Umkleide. Nein, falsch war etwas anderes: dass über ihr Haus ein Todesurteil gefällt wurde, während das nebenan mit seinem durchhängenden Dach und der leprös abblätternden Vinylverkleidung so nonchalant dastand. Willas Haus war ein Backsteinhaus, keine Hütte aus Stöcken und Stroh, nichts, was mal eben so davongeweht wurde.

Das Schweigen dauerte schon so lange, dass sie nicht mehr wusste, woran sie anknüpfen sollte. Mr Petrofaccio betrachtete höflich die zwei mächtigen Bäume, die den Garten und den halben Block beschatteten. Willa hatte die beiden Riesen schon öfter vom Küchenfenster aus bewundert und angenommen, dass sie so alt waren wie das Haus, ihnen aber keine höhere Lebenserwartung zugetraut.

»Ich hab keine Ahnung, warum einer so was gebaut hat«, sagte Petrofaccio schließlich. »Einen Anbau ohne Fundament. Kein ordentlicher Bauunternehmer würde das tun.«

Genau besehen schienen die Mauern tatsächlich direkt auf der Erde zu stehen, die untersten Backsteinlagen torkelten entspannt aus der Reihe. Der Panzer eines rostigen Blechdachs spannte sich über die Giebel im zweiten Stock und den zweigeschossigen Anbau hinter dem Haus, der offenbar in Eile hinzugefügt worden war. Zwei hohe Schornsteine neigten sich in entgegengesetzte Richtungen. Risse, gezackt wie Blitze, zogen sich durch die Backsteinmauern. Wie hatte sie das alles übersehen können? Willa war doch sonst immer diejenige, die bei jedem anstehenden Arzttermin, jedem nächtlichen Klingeln des Telefons den Schutzschild hochfuhr und gleich mit dem Schlimmsten rechnete, damit das Leben sie nicht kalt erwischte. Dennoch hatte sie heute morgen einen Bauingenieur angerufen, ohne ein ungutes Gefühl zu haben. Vielleicht in der Annahme, ihre Familie habe ihre Unglücksquote bereits erfüllt.

»Ich kann Ihnen nicht den Auftrag geben, mein Haus abzureißen und ein neues zu bauen.« Willa fuhr mit den Fingern durch das Haar an ihren Schläfen und kam sich idiotisch vor. Beide-Hände-an-den-Schläfen war eine nervöse Angewohnheit, die sie seit etwa zwanzig Jahren ablegen wollte – seit ihre Kinder ihr gesagt hatten, sie sehe aus wie Der Schrei. Sie schob die Fäuste in die Taschen ihrer Khakishorts. »Wir dachten, wir renovieren und verkaufen es und suchen uns was anderes, näher an Philadelphia. So viel Platz brauchen wir gar nicht. Niemand braucht so viel Platz.«

Zu solchen moralischen Aspekten hatte Mr Petrofaccio keine Meinung.

»Aber Sie sagen, wir müssen es restaurieren lassen, bevor wir es verkaufen können. Und mir ist aufgefallen, dass vor ungefähr jedem vierten Haus in dieser Stadt ein Zu-verkaufen-Schild steht. Soll das heißen, die sind alle in besserem Zustand als das hier?«

»Jedes vierte Haus ist übertrieben. Jedes zehnte kommt ungefähr hin.«

»Und? Gibt es Käufer?«

»Nein, gibt es nicht.«

»Also noch ein Grund, dieses Haus nicht abzureißen.« Sie merkte, dass ihre Logik im Augenblick nicht ganz wasserdicht war. »Okay, wissen Sie was? Der Hauptgrund ist, dass wir hier leben. Mein pflegebedürftiger Schwiegervater wohnt bei uns. Und unsere Tochter.«

»Und irgendwo gibt’s auch noch ein Baby, oder? Ich hab die Babysachen gesehen, eine Wiege und so. Als ich die Risse an den Rohrleitungen im zweiten Stock untersucht habe.«

Ihr Unterkiefer klappte herunter.

»’tschuldigung«, sagte er. »Ich musste hinter die Wiege kriechen, um die Leitungen zu prüfen. Sie haben gesagt, Sie wollen sich verkleinern – da hab ich mich gewundert. Ganz schön große Familie.«

Sie gab keine Antwort. Pete zog ein Taschentuch hervor, rieb sich damit über das Gesicht, putzte sich die Nase und steckte es wieder weg. In seinem Overall schmorte er wahrscheinlich im eigenen Saft.

»Das ist ein freudiges Ereignis, Ma’am«, sagte er. »So ein Baby.«

»Danke. Es ist mein Enkel, gerade erst geboren. Wir fahren dieses Wochenende nach Boston, um ihn kennenzulernen und die Wiege vorbeizubringen.«

Pete nickte nachdenklich. »Bei allem Respekt, Ma’am, aber normalerweise lässt man ein Haus ansehen, bevor man es kauft.«

»Wir haben es ja nicht gekauft!« Sie zwang sich zu einem neutralen Ton. »Wir haben es geerbt. Wir waren in Virginia, und nachdem meine Tante gestorben war, haben wir uns gefragt, was wir mit diesem alten Haus in New Jersey machen sollten. Auf einmal bekam mein Mann ein Angebot von der Chancel. Eine halbe Stunde Fahrt von hier – zu gut, um wahr zu sein, oder?«

»Ihr Mann ist Professor?« Petes Nasenflügel blähten sich ein wenig. Vielleicht witterte er Geld und hing dem weitverbreiteten Irrglauben an, Akademiker hätten es.

»Mit einem Einjahresvertrag, der möglicherweise nicht verlängert wird«, sagte sie, damit das geklärt war. »Meine Tante hatte das Haus für eine Weile vermietet. Sie war in einem Seniorenheim in Atlantic City.«

»Mein Beileid.«

»Es ist jetzt ein Jahr her. Sie und meine Mutter sind im Abstand von einer Woche gestorben, an der gleichen seltenen Krebsart. Sie waren Zwillinge. Neunundsiebzig.«

»Verrückt. Ich meine, traurig, aber das ist wie in einer von diesen Zeitschriften. Irgendwelches komisches Zeug, das die sich ausdenken und das kein Mensch glaubt.«

Sie stieß ein unfrohes Lachen aus. »Ich bin Zeitschriftenredakteurin.«

»Ach, tatsächlich? Newsweek, National Geographic, so was?«

»Ja, so was. Hochglanzpapier und mit Preisen ausgezeichnet. Meine ist pleitegegangen.«

Pete schnalzte mit der Zunge. »Tut mir leid, das zu hören.«

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie hier draußen herumstehen lasse. Kann ich Ihnen ein Glas Eistee anbieten?«

»Nein danke. Ich muss noch einen Termitenbefall in der Elmer begutachten.«

»Na gut.« Obwohl sie alles, was er gesagt hatte, am liebsten vergessen hätte, fand Willa seinen Akzent faszinierend. Vor dem Umzug hatte sie sich mit Grauen vorgestellt, von Menschen mit New-Jersey-Dialekt umgeben zu sein, die Sachen sagten wie »Wir schießen ein To-a und singen im Cho-a«, aber der Süden von Jersey war voller linguistischer Überraschungen. Dieser Pete war ein heimisches Gewächs, teils bedächtiger, die Silben dehnender Sohn Philadelphias, teils Pennsylvania-Amish oder so. Sie sah, dass er die Garage an der Grundstücksgrenze musterte: zweigeschossig, antike Fenster, dichter Efeupelz. »Glauben Sie, das Gebäude gehört zum Haus?«, fragte sie. »Aus der Urkunde geht das nicht genau hervor.«

»Das ist nicht Ihrs. Wahrscheinlich ist es das Bedingungshaus von nebenan.«

»Das Bedingungshaus.«

»Ja, Ma’am. Als diese Grundstücke seinerzeit verkauft wurden, gab es Bedingungen: Man musste Verbesserungen vornehmen, beweisen, dass man tatsächlich hier wohnen wollte, Bäume pflanzen und so weiter. Die Leute haben solche Bedingungshäuser gebaut und darin gewohnt, während ihr richtiges Haus fertiggestellt wurde.«

»Tatsächlich.«

»Wenn Sie sich hier umsehen, werden Sie noch ein paar finden, alle nach demselben Plan gebaut. Fachwerk, schnell und billig, wie eine Scheune. Mit diesen Bedingungshäusern hat sich einer eine goldene Nase verdient, würde ich sagen.«

»Von welcher Zeit reden wir hier?«

»Landis«, sagte er. »Nie von ihm gehört?«

»Er war … so eine Art Bauunternehmer?«

»Eher so was wie ein König, seinerzeit. Als er das Land hier gekauft hat, war das alles noch wilde Wildnis. Dreißigtausend Morgen, und kein Mensch außer ein paar Indianern und entlaufenen Sklaven. Also hat er seinen großen Plan entworfen, damit die Leute kommen. Der Himmel auf Erden und so.«

»Eine von diesen utopischen Gemeinschaften? Sie wollen mich auf den Arm nehmen.«

»Nein, will ich nicht. Farmen wie aus dem Bilderbuch. Ist Ihnen aufgefallen, wie die Straßen hier heißen? Plum, Peach, Apple und so weiter. Almond.« Er sprach es Ohl-mond aus. Willa hatte auch bemerkt, dass er Verschleifungen vermied und gern »seinerzeit« sagte. Sie wünschte, sie hätte ihr Diktiergerät eingesteckt.

»Ja, das ist mir aufgefallen. Wenn meine Tochter mit dem Hund draußen war, hat sie immer Lust auf Obst.«

Pete lachte. »Das klingt nach einem gesunden Kind. Meine Töchter wollen immer bloß Gummibärchen und Diätlimo. Ich kann Ihnen sagen: Meine Frau macht das ganz wahnsinnig.«

Willa hatte nicht vor, Tigs Verhalten zu erklären. »Also hat er das Ganze Vineland genannt, um Menschen anzulocken wie Fruchtfliegen.«

»Soviel ich weiß, hatte Captain Landis eine Menge für Weinbau übrig, und wer kennt sich damit besser aus als die Italiener? Also gründete er eine Zeitung in italienischer Sprache, damit die richtigen Leute kamen. Die Petrofaccios stammten aus Palermo. Meine Nonna hatte noch ein Album mit Zeitungsausschnitten.«

Willa lächelte. »Landis war also ein Säufer.«

»Nein, Ma’am, das ist ja das Verrückte: In Vineland war kein Alkohol erlaubt, absolut gar nicht. Das war seinerzeit eine sehr strenge Regel.«

Willa sah die Löcher in dieser Geschichte, aber vielleicht ließ sich ein Feature daraus machen: Utopien des 19. Jahrhunderts und ihr Untergang. »Sind Sie sicher, dass die Garage zum Nachbarhaus gehört? Nicht dass wir sie bräuchten.« Sie lachte. »Es sei denn als neues Zuhause.«

Irritierenderweise lachte er nicht. »Die gehört zu denen. Das sieht man am Winkel und dem Abstand.«

Sie nahm an, dass die Nachbarn das nicht wussten, sonst wäre die Garage längst mit allerlei Zeug aus ihrem Garten der Schrottkarren vollgestopft gewesen. Pete musterte das Ranchhaus mit der abblätternden Fassade. »Das ursprüngliche Haus ist weg, und das ist ein Jammer. Diese alten Gebäude waren seinerzeit richtige Schönheiten. Wie Ihrs.«

»Nur dass diese auf schwankendem Grund steht. Was vermutlich schon vielen Schönheiten zum Verhängnis geworden ist.«

Pete sah sie an und fand dieses Thema für Witze offenbar ungeeignet.

»Aber wenn es so ein Jammer ist, diese Häuser zu verlieren, sollte unseres dann nicht gerettet werden? Gibt es für so was Fördergelder? Für Denkmalschutz?«

Er zuckte die Schultern. »Die Taschen unseres schönen Städtchens sind im Augenblick wirklich sehr leer.«

»Aber irgendwann müssen sie ziemlich voll gewesen sein. Das alles hört sich so an, als wäre dieses schöne Städtchen mit dem Arbeitsethos von Einwanderern und altem Geld aufgebaut worden, das irgendwie einfach zur Stelle war.«

»Geld«, sagte Mr Petrofaccio und starrte über die ausgeschlachteten Fords und Chevys hinweg auf zwei junge Frauen, die Kinderwagen durch die mit Kies bestreute Gasse schoben und sich dabei in einer melodischen asiatischen Sprache unterhielten. »Wo geht es hin?«

Diese Frage hatte sich Willa ebenfalls gestellt. In ihrer Familie, in ihrer Branche und der ihres Mannes, in den angeschlagenen Volkswirtschaften Europas und der ganzen verdammten Welt – wo war das Geld, das es früher mal gegeben hatte? Ihr Mann war promovierter Politikwissenschaftler, ihr Sohn hatte Wirtschaft studiert, doch beide schienen sich nicht besonders für dieses Mysterium zu interessieren, das Willa so beschäftigte. Jedenfalls nicht für seine spezifischen Auswirkungen.

»Das wäre natürlich was: Geld von der Regierung«, sagte Pete. »Weil keiner von denen, die hier wohnen, so viel hat, wie man bräuchte. Bis zu einem gewissen Punkt kann man so ein Haus noch abstützen, aber dann nicht mehr.«

Willa atmete tief aus. »Okay. Das war nicht die Art von kurzer Einschätzung, mit der ich gerechnet hatte. Sie sagen also, wenn wir unser Haus nicht abreißen lassen, sind unsere einzigen Optionen irgendwelche provisorischen Maßnahmen, die allesamt nicht besonders gut aussehen. Vielleicht sollten wir noch einen Termin vereinbaren, bei dem auch mein Mann dabei sein kann.«

»Gut.« Pete gab ihr seine Visitenkarte und schüttelte ihr mitfühlend die Hand. Sie wusste bereits, dass ihr kontaktfreudiger Mann ihn zu seinem Kumpel machen würde. Ihr ganzes Eheleben hindurch hatte sie Iano Telefonnummern mit Klempnern und Mechanikern austauschen sehen – er war, lange vor Facebook, der geborene Facebook-Freund.

»Wir rufen Sie an, wenn ich ihm die schlechte Nachricht überbracht habe. Aber ich warne Sie: Mein Mann wird Ihnen einen Haufen Gründe aufzählen, warum wir dieses Haus nicht abreißen lassen können. Und seine Gründe sind nicht dieselben wie meine. Zusammen können wir Sie ganz schön auf Trab halten.«

Mr Petrofaccio nickte. »Bei allem Respekt – so was höre ich andauernd. Aber davon ist noch kein Haus restauriert worden.«

 

Willa verbrachte eine rastlose Stunde im leeren zweiten Stock und versuchte zu entscheiden, wo sie ihr Arbeitszimmer einrichten würde. Nach einem Monat in diesem Haus war unten alles ganz gut organisiert, doch zum zweiten Stock war sie noch nicht so recht vorgedrungen und hatte nur einen der Räume zum Dachboden erklärt. Dort standen jetzt die antike Wiege und das übliche Zeug: Weihnachtsbaumschmuck, wenig benutzte Sportsachen und Schachteln mit Kinderandenken, von Fingerfarbengemälden aus dem Kindergarten bis hin zu Tigs abgefahrenen Postern und Zekes Highschool-Jahrbüchern, signiert von all den Mädchen, die ihn »unvergesslich süüüß« fanden.

Willa fiel ein, warum der Mann hinter all das Zeug gekrochen war: um die Risse in den Rohrleitungen zu untersuchen. Herrgott. Das klang nach einem Aneurysma. Die freundliche Art, mit der er seine niederschmetternde Prognose abgegeben hatte, war regelrecht erschütternd gewesen. Genau wie beim letzten Onkologen ihrer Mutter.

Um aus dieser Abwärtsspirale herauszukommen, entschied sie sich für das Zimmer mit Aussicht auf ihre automobilen Nachbarn. Kein erfreulicher Anblick, hätten manche gesagt, doch das sanfte, vom Laub der riesigen Buche gedämpfte Nachmittagslicht war einfach überwältigend. Und der Hartholzboden hier oben war in ziemlich gutem Zustand, bis auf den verkratzten, gräulich verfärbten Pfad, der durch die vier miteinander verbundenen Zimmer führte. Ihr fiel ein, dass Zeke und Tig und einer ihrer längst gestorbenen Hunde sich in einem ihrer Häuser durch eine ähnliche Abfolge von Räumen gejagt hatten. In welchem? In Boulder, fiel ihr ein. Sie erinnerte sich an das Küchenfenster und den Blick auf die Berge. Und an ihre Sehnsucht, dorthin zu fliehen: Sie war mit zwei Kindern im Vorschulalter zu Hause angebunden gewesen, während Iano sich redlich bemüht hatte, seinen ersten Versuch, eine Festanstellung zu bekommen, in den Sand zu setzen.

Diese Dachgeschossräume heizten sich auf wie ein Ofen. Alle Fenster des Hauses reichten vom Boden bis zur Decke, und die meisten hatten sich bisher nicht öffnen lassen. Sie trat ein paarmal gegen einen der Rahmen, gab es schließlich auf und setzte sich auf den Boden. Dann packte sie eine ihrer Bücherkisten aus, stapelte die Bücher nach Kategorien und packte sie wütend wieder ein. In Anbetracht des Zustands dieses Nestes war Nestbau geradezu absurd. Sie schloss die Augen, lehnte sich an die Wand und spürte das rhythmische Summen von Nicks Sauerstoffgerät im ersten Stock. Die bedrückende Präsenz ihres Schwiegervaters und seines lebenserhaltenden Apparats durchdrang den ganzen Haushalt und sorgte zuverlässig dafür, dass sie sich nie allein und entspannt fühlen konnte. Sie wünschte, Iano wäre da. Das Semester begann erst in einigen Wochen, aber in seinem neuen Büro erwarteten ihn bereits jede Menge dringender Arbeiten.

Das Wort Büro schlug eine nostalgische Saite in ihr an. Angesichts ihres Alters und ihrer Branche – Mitte fünfzig, Journalismus – würde sie vielleicht nie mehr ein normales Arbeitsleben mit Kolleginnen und Büroklatsch haben, keinen regelmäßigen Anlass, die Jogginghose auszuziehen. Dass der Rest ihres produktiven Lebens von einem Tag auf den anderen gestrichen worden war, fühlte sich an wie eine Amputation. Während ihrer letzten Jahre bei der Zeitschrift hatte sie mehr denn je per Video kommuniziert, doch die regelmäßigen Fahrten zur Redaktion am Stadtrand von Washington, D.C. hatten sie so viel Lebenskraft gekostet, dass sie begonnen hatte, ihre freiberuflich arbeitenden Kollegen zu beneiden. Von diesem Neid war Willa in Nullkommanichts geheilt worden. Sie hatte begriffen, dass ein Büro sie zu etwas Offiziellem machte. Rückblickend stand ihre ganze Karriere infrage. Wachte man als Freiberufler eines Tages auf und hatte keinen Beruf mehr? Schon um nicht verrückt zu werden, musste sie ein paar Themenvorschläge an diverse Redaktionen schicken, und der erste Schritt in diese Richtung war ein Zimmer für sich allein. Und jetzt wurde selbst dieses simple Projekt überschattet.

Sie legte sich auf den Boden und sah hoch zu den konzentrischen Ringen an der Decke. Iano hatte vorgeschlagen, sie zu übermalen und zu vergessen, denn er war Iano. Willa dagegen hatte gedacht, wenn die Dachbalken dort oben eine dunkle Flüssigkeit absonderten, müsse der Schaden wohl so groß sein, dass man lieber einen Fachmann zurate zog. Vielleicht musste das Blechdach geflickt werden, vielleicht waren ein paar Balken morsch. Aber das ganze Haus eine Ruine? Der Schock lastete auf Willa wie ein persönliches Versagen. Als hätte sie dieses Unglück heraufbeschworen, weil sie es nicht hatte kommen sehen.

Sie zwang sich aufzustehen und ging hinunter. Dort weckte sie Dixie, die auf dem Teppich in der Eingangshalle schlief, nahm sie an die Leine und nötigte sie zu einem Spaziergang. Mithilfe eines sündteuren Hunde-Prozac hatte Dixie ihre lebenslange Panik vor Autofahrten überwunden und den Umzug von Virginia hierher hinter sich gebracht, schien diesen Horror aber verarbeiten zu wollen, indem sie den Rest ihrer Tage verschlief. Willa sah die Vorzüge dieses Programms.

»Schön langsam«, sagte sie und fragte sich, wie Dixies alte Augen wohl Vinelands Bürgersteige wahrnahmen, die überall rissig und von den Wurzeln riesiger alter Bäume aufgebrochen waren. In jeder Straße bot sich ein ähnliches Bild: alte Eichen und Ahorne, aufgereiht wie die Säulen des Parthenon. Was der Bauingenieur über dieses Utopia erzählt hatte, war insofern glaubwürdig, als diese Bäume eine gründliche Stadtplanung verrieten. Willa ging am Nachbarhaus mit seinem großzügig bemessenen und mit Autos bepflanzten Eckgrundstück vorbei und bog an der Sixth nach Süden ab, kam aber nur langsam voran, denn Dixie musste jeden Baumstamm inspizieren. Was das Entleeren ihrer Blase betraf, war sie wählerisch, doch sie wollte unbedingt die örtlichen Neuigkeiten erschnuppern, offenbar in dem Glauben, sie wären anders als gestern. Wie die älteren Vinelander, die hier und da in einem Diner saßen und das lokale Wochenblatt studierten, als hielten sie es für möglich, dass seit dem Erscheinen der letzten Ausgabe irgendetwas passiert war.

Sie überquerte die Landis Avenue, die grotesk überdimensioniert war, mindestens so breit wie eine vierspurige Schnellstraße. Iano hatte ein paar unterhaltsame Theorien entwickelt, doch die Wahrheit war banal: Der Landbaron Landis hatte die nach ihm benannte Straße entsprechend der Größe seines Egos angelegt. Er hätte sie ebenso gut mit Gold pflastern können. Wenn er sein sterbendes Städtchen jetzt sehen könnte: Die Magistrale lag so verlassen da, dass Willa bedenkenlos ihr Handy hervorholen und auf die Uhr sehen konnte, während sie und ihr offiziell für blind erklärter Hund die Straßenseite wechselten.

Sie wollte Iano anrufen und ihm von der neuesten Entwicklung ihrer Familienkatastrophe erzählen, damit er an ihrem Gefühl zu ertrinken teilhaben konnte. Aber Iano war jetzt auf dem Heimweg und ließ sich am Steuer zu leicht ablenken. Sie hatte gleich nach der schlechten Nachricht, ja eigentlich schon während ihrer Verkündung, als Mr Petrofaccio sich die Nase geputzt hatte, ihre Mutter anrufen wollen. Ihr erster Gedanke am Morgen und ihr letzter am Abend galt ihrer Mutter. Wenn Willa nach einem Streit mit Tig am Boden zerstört gewesen war, hatte ihre Mutter sie wieder aufgerichtet. Einen so wichtigen Menschen verlor man nicht durch den Tod, sondern dadurch, dass man weiterlebte.

Willa und Dixie gingen an der Pfandleihe, dem Sozialamt, einem Thai-Restaurant und dem Number One Chinese Market vorbei und bogen dann nach Süden ab. Nach fünf von Bäumen überwölbten und mit Einfamilienhäusern bebauten Blocks, an der Ecke Eighth und Quince, entschloss sich Dixie, an einen Ahornstamm zu pinkeln. Die meisten Anwesen in diesem Block stammten aus derselben viktorianischen Zeit und waren mehr oder weniger heruntergekommen, zwei standen zum Verkauf. Und tatsächlich entdeckte sie im Garten hinter den Häusern zwei garagenähnliche Gebäude von identischer Bauweise, was durch jahrelangen sehr unterschiedlichen Gebrauch aber nicht ins Auge sprang: Das eine beherbergte einen Honda, das andere war ein typischer, mit alten Nummernschildern gepflasterter Männerschuppen. Sie musste kurz in ihrem Gedächtnis kramen, bis ihr das Wort wieder einfiel: Bedingungshaus. Schnell errichtete Vorläufer der sorgfältiger geplanten Villen, die nun verfielen.

Dixie watschelte heimwärts. Willa folgte ihr und spürte das Wort Ruine hinter ihrem Brustbein. Wie konnte es sein, dass zwei hart arbeitende Menschen, die im Leben alles richtig gemacht hatten, in ihren Fünfzigern praktisch mittellos dastanden? Sie war wütend auf Iano wegen Verfehlungen, die, wie sie wusste, eigentlich keine waren. Sein serienmäßiges Versagen, eine unbefristete Stelle zu finden? Nicht seine Schuld. Viele Akademiker verbrachten ihr gesamtes Arbeitsleben mit der Suche nach einer Festanstellung und zogen von einer Stadt in die andere, eine neue Klasse gebildeter Nomaden. Ihre Kinder hatten auf die Frage, wo sie aufgewachsen waren, eigentlich keine Antwort. In irgendwelchen »Übergangslösungen«, mit Eltern, die zu den unmöglichsten Zeiten gearbeitet hatten. Sie hatten ihre Hausaufgaben im Flur vor dem Sitzungssaal der Fakultät gemacht. Hatten im Garten irgendeines Dekans mit dem Nachwuchs von Physikern und Kunsthistorikern gespielt, während die Erwachsenen billigen Wein in sich reingeschüttet und gut gelaunt bissige Bemerkungen über ihre Vorgesetzten ausgetauscht hatten. Jetzt hatte Iano ohne ein Wort der Klage eine Dozentenstelle angenommen, die für jemanden mit seinen Qualifikationen eigentlich eine Beleidigung war. Er war der einzige verbliebene Versorger der Familie, und darum sollte man ihm den Vorwurf ersparen, er sei nicht imstande, ein heikles Telefongespräch am Steuer zu führen.

Früher hatte das nie eine Rolle gespielt. Solange Willa ihre Mutter als Beraterin gehabt hatte, war es ganz schön gewesen, dass Iano immer der witzige, sexy Typ war, der sich nicht mal über den Tod oder die Steuern den Kopf zerbrochen, ihr Blumen aus fremden Gärten mitgebracht und einmal, unterwegs zu einem Empfang beim Hochschulleiter, ihre unbequemen, drückenden Schuhe aus dem Wagenfenster geworfen hatte. Sie konnte von ihm nicht erwarten, auf einmal ein vollkommen anderer Mensch zu sein. Sie war die Krisenmanagerin, er war der, der Krisen aus dem Weg ging. Ehen verhärteten sich im Lauf der Zeit wie Arterien, und sie und Iano waren über dreißig Jahre verheiratet. Heute Abend würde er hereingewirbelt kommen wie ein warmer Südwind, ihr in der Küche einen Kuss geben und sich dann umziehen, und sie würden vor dem Abendessen keine Gelegenheit haben, miteinander zu sprechen.

Also würde sie die Bombe für alle gleichzeitig platzen lassen. Sie waren erwachsen und hatten ein Recht darauf, an Willas Sorge teilzuhaben, das Haus könnte über ihnen einstürzen. Old Nick mit seinem Sauerstoffgerät und der wütenden Verachtung für alles, was nach Sozialstaat aussah, würde den Herausforderungen der Obdachlosigkeit wohl kaum gewachsen sein. Tig dagegen würde vielleicht ein Freudenfeuer entzünden und im Garten tanzen, wenn es Ziegelsteine regnete. Willa hatte oft versucht, die moralische Ausrichtung ihrer Tochter zu ergründen, und war stets gescheitert, doch immer schien es darum zu gehen, irgendwelche festgefügten Strukturen zum Einsturz zu bringen.

 

Willas Plan für den Abend löste sich in Luft auf, als sie das Wasser für die Spaghetti aufsetzte. Iano hatte sie, wie vorhergesehen, geküsst und war im Schlafzimmer verschwunden. Aber dann kam er wieder in die Küche und brachte ihr mit bestürzter Miene ihr Handy. Dass er ihre Anrufe entgegennahm und ihre Textnachrichten las, war etwas, über das sie schon lange mit ihm sprechen wollte, doch jetzt war nicht der rechte Moment. Er hielt das Ding, als wäre es glühend heiß.

Sie fuhr zurück. »Was? Ist es Zeke?«

Er nickte ausdruckslos.

»Ist was passiert? Herrgott, Iano. Was?«

Iano legte das Handy auf die Theke. Zitternd nahm sie es in die Hand. »Hallo?«

»Mom, ich bin’s.«

»O Gott, Zeke. Dir geht’s gut! Ist mit dem Baby alles in Ordnung?«

Zeke schluchzte, er keuchte. Das war ein Grad von Verzweiflung, den sie mit ihrem umsichtigen Sohn gar nicht in Verbindung bringen konnte. Sie wartete, ohne zu merken, dass sie den Atem anhielt.

»Dem Baby geht’s gut«, sagte er schließlich. »Aber Helene …«

»O nein! Ein Problem mit dem Kaiserschnitt? So was passiert manchmal. Musste sie wieder ins Krankenhaus?«

Iano sah sie traurig an und schüttelte den Kopf. Unter dem dunklen, gepflegten Bart war sein Gesicht beängstigend bleich, und dass er offenbar mehr wusste als sie, war verstörend. Sie kehrte ihm den Rücken zu und lauschte dem Schweigen ihres Sohns, der um Fassung rang.

»Mom, Helene ist gestorben. Sie ist tot.«

»Mein Gott! Wie ist das passiert?«

Er schwieg so lange, dass Willa schon dachte, die Frage sei vielleicht taktlos gewesen. Ihre Gedanken flatterten herum wie ein gefangener Vogel.

»Sie hat Tabletten genommen«, sagte er schließlich. »Sie hat sich umgebracht.«

»Ihr habt Tabletten herumliegen? Mit einem Baby im Haus?«

»Es wird noch etwas dauern, bis er einen Schraubverschluss öffnen kann, Mom.«

Die Zurechtweisung brachte Willa zu sich und auf den Boden der Tatsachen. »Hast du den Notarzt gerufen?«

»Natürlich.«

»Tut mir leid, ich bin … einfach total geschockt. Wann ist das passiert?«

»Wie spät ist es jetzt? Ich bin um Viertel vor sechs nach Hause gekommen. Sie ist noch hier.«

»Wer?«

»Helene, Mom. Sie liegt im Schlafzimmer. Sie hat so ein Ding im Mund. Ein Beatmungsgerät. Sie haben versucht, sie wiederzubeleben, obwohl es wahrscheinlich aussichtslos war. Und sie haben gesagt, es muss da bleiben, bis der Leichenbeschauer sie gesehen hat. Es macht mich völlig fertig – ihr Gesicht ist ganz verzerrt, und es sieht aus, als würde es sehr wehtun. Aber wahrscheinlich ist es dumm, über so was nachzudenken.«

»Sind die Sanitäter noch da? Was passiert jetzt?«

»Nein, sie sind schon weg. Sie hatten einen anderen Notruf, der, na ja, du weißt schon, dringend war. Gleich kommt der Leichenbeschauer und dann der Bestatter, der sie mitnimmt. Die Sanitäter haben mir Telefonnummern dagelassen.«

»Ach Schatz … Bist du jetzt allein in der Wohnung?«

»Aldus ist hier.«

Gott, dachte sie. Aldus. Erst ein paar Wochen auf der Welt, und jetzt das.

»Ich sitze auf dem Sofa«, sagte Zeke, offenbar im Verlangen weiterzusprechen. »Er liegt neben mir und schläft. Wahrscheinlich ist er ganz erschöpft, weil er so lange … Er war so hungrig. Und verängstigt, glaube ich. Herrgott – wie kann er aufwachsen, ohne seine Mutter je gekannt zu haben? Was wird das mit ihm machen?«

»Das sehen wir dann, wenn es so weit ist. Im Augenblick ist es wichtig, dass du nicht allein bist. Sobald wir aufgelegt haben, rufst du jemanden an. Nicht den Leichenbeschauer, sondern einen Freund. Ach, Helenes arme Eltern! Wie lange brauchen sie, um nach Boston zu kommen?«

Der Laut, den er ausstieß, erschreckte sie: als würde ein Tier stöhnen. An die entsetzliche Aufgabe, Helenes Eltern benachrichtigen zu müssen, hatte er noch gar nicht gedacht.

»Soll ich mit ihnen sprechen?«, fragte Willa.

»Ihr kennt euch ja gar nicht. Wie würde es sich anfühlen, eine solche Nachricht von einer Fremden zu bekommen?«

»Okay, aber bitte ruf einen Freund an. Du wirst eine Menge entscheiden müssen. Als Mama gestorben ist, war ich fassungslos, wie viele praktische Dinge sofort geklärt werden mussten. Hast du irgendeine Vorstellung … was sie wollen würde?«

Sie hörte Zeke atmen und schluchzen und wieder atmen und schluchzen – es klang wie ein stotternder Motor. »Darüber haben wir nicht gesprochen«, brachte er schließlich hervor. »Wenn das Thema Tod aufkam, dann nur, weil ich sie gebeten habe, es nicht zu tun.«

»Wie meinst du das?« Sie drehte sich um, aber Iano war nicht mehr da. Sie ging zur Tür und sah ins Esszimmer, wo Tig mit Nick Backgammon spielte, damit er beim Warten auf das Essen keinen Wutanfall bekam. Sie saßen einander gegenüber, ein sehr ungleiches Paar: die winzige Tig mit ihren abstehenden Dreadlocks und der massige Nick mit den Sauerstoffschläuchen, die seine Wangen zu einer permanenten Grimasse verzogen.

»Heute morgen schien sie ganz … normal«, sagte Zeke. »Sie war gestern mit Aldus beim Kinderarzt und erleichtert, weil es ihm … na ja, gut geht. Er nimmt zu. Heute wollte sie mit ihm einen Spaziergang machen. Wir haben noch Witze darüber gemacht, ob sie für den Kinderwagen eine Gebrauchsanweisung braucht.«

Willa staunte, wie zusammenhängend er das erzählte. Als Journalistin hatte sie genug Tatorte gesehen, um zu wissen, dass Menschen in Ausnahmesituationen ganz unterschiedlich reagierten und stets auf das zurückgriffen, was sie gewohnt waren. Dieser vernünftige, unendlich traurige Mann am Telefon war das blanke Holz unter der Borke ihres Sohns. Sie merkte, dass das Nudelwasser überkochte, und schaltete den Herd aus. »Du hast gesagt, wenn das Thema Tod aufkam, hast du sie gebeten, es nicht zu tun. Was heißt das, Zeke?«

»Ich hab ihr nicht mal einen Abschiedskuss gegeben, Mom. Ich meine, vielleicht hab ich’s getan – ich weiß es nicht mehr. Das ist so traurig.«

»Soll das heißen, sie hat von Selbstmord gesprochen?«

»Sie hätte diese Antidepressiva nicht absetzen dürfen. Ich hätte sie davon abhalten sollen. Niemand hätte das von ihr verlangen sollen.«

»Gib nicht dir die Schuld. Mit den Medikamenten hattest du nichts zu tun. Es muss irgendwelche Risiken für das Baby gegeben haben. Was hat sie genommen?«

»Das Mittel, von dem sie gesagt haben, dass sie es unbedingt absetzen muss, hieß Paroxetin. Ich glaube, dann haben sie es mit Prozac probiert, aber ich weiß es nicht mehr genau. Nach dem ersten Trimester durfte sie wieder was nehmen, aber nachdem sie das Zeug erst mal komplett abgesetzt hatte, hat nichts mehr gewirkt. Sie war wie gelähmt vor Angst, das Falsche zu tun. Auf diesen Tablettenschachteln stehen alle möglichen Warnhinweise zu Nebenwirkungen. Wie konnte sie in den Spiegel sehen und solche Tabletten nehmen – während der Schwangerschaft? Warnhinweise von der schwarz eingerahmten Sorte, so wie ›Rauchen ist krebserregend‹. Schon ziemlich extrem.«

Zerknirscht dachte Willa an die Fehler, die sie Helene hätte verzeihen sollen: das Gejammer über die Misslichkeiten der Schwangerschaft, die Lethargie. »Das tut mir leid. Es muss sehr schwer für euch gewesen sein.«

»Für sie schwerer als für mich. Offensichtlich.«

»Du hast bestimmt nicht verlangt, dass sie die Antidepressiva absetzen soll.«

»Vielleicht hab ich zu viel von ihr erwartet. Das tue ich oft, Mom. Dann denke ich, wenn mir was leichtfällt, muss es anderen auch leichtfallen. Vielleicht hat sie sich schuldig gefühlt.«

»Ich bin sicher, die Ärzte haben sie beraten. Wie ich Helene kenne, hat sie sich gut informiert.«

»Aber hatte sie denn eine andere Wahl? Du kannst dir nicht vorstellen, was sie durchgemacht hat. Jeder einzelne Tag der Schwangerschaft war die Hölle. Sie war besessen von dem Gedanken, mit dem Baby könnte irgendwas nicht in Ordnung sein, es könnte tot oder behindert sein. Sie hatte die möglichen Auswirkungen von SSRI-haltigen Medikamenten auf die Entwicklung ungeborener Kinder auswendig gelernt: Anenzephalie – das ist, wenn das Kind ohne Gehirn zur Welt kommt – oder Omphalozele – da quellen die Eingeweide aus einem Loch in der Bauchdecke. Es wurde zu einem Monster. Sie wollte es einfach nicht.«

»Was sagst du da? Natürlich wollte sie das Kind.« Willa hatte immer angenommen, dass Zeke derjenige war, der es nicht gewollt hatte. Zeke, der schon mit einem Jahr sein Spielzeug weggeräumt hatte, dieser unwahrscheinliche, strebsame Sohn, der aus der Verbindung seiner unsteten Eltern hervorgegangen war, würde sich seinen Lebensplan nicht einfach so von einem Kind durchkreuzen lassen. Willa konnte gar nicht glauben, dass er sich über Verhütung keine Gedanken gemacht hatte. »So sind Jungs nun mal« hatte sie öfter gehört, aber sie hatte nur einen, und der machte alles richtig, jedes Mal. Sie und Iano hatten sich zurückgehalten und nicht zu einer Abtreibung geraten, diese Schwangerschaft aber immer nur als eine Verpflichtung gesehen, die ihrem Sohn auferlegt worden war, wenn nicht gar als einen Hinterhalt. Insgeheim hatte sie sich allen möglichen Spekulationen hingegeben, doch in keinem dieser Szenarien gab es eine Helene, die dieses Kind einfach nicht wollte.

Sie versuchte, sich Zeke in seiner Wohnung vorzustellen. »Hast … hast du sie gefunden?«

Tig erschien in der Tür und machte große Augen. In ihren weiten Sachen wirkte sie geradezu schmerzhaft klein, und die Dreadlocks standen von ihrem Kopf ab wie bei einem erschrockenen Menschen in einem Cartoon. Sie hatte wohl einiges gehört und konnte den Rest in Willas Gesicht lesen.

Willa zeigte auf die Nudelpackung und den Topf voll Sauce und hob bittend die Augenbrauen. Ihre Tochter war keine, die Wünsche ohne Weiteres erfüllte. Als Willa vom Herd zurücktrat, rechnete sie mit Widerstand, doch Tig nahm stumm ihren Platz ein und machte sich ans Kochen.

»Ja«, sagte Zeke. »Ich bin von der Arbeit nach Hause gekommen, und Aldus hat so geschrien, dass er kaum noch Luft gekriegt hat. Es war der Horror. Ich weiß nicht, wie lange er … Ich hab ihn gewickelt, ein Fläschchen warm gemacht und ihn gefüttert. Ich dachte, sie schläft. Sie hat all die Monate so viel geschlafen. Damit war ich also ungefähr eine Stunde beschäftigt. Ich dachte, ich lasse sie schlafen. Herrgott, Mom. Was, wenn ich früher ins Schlafzimmer gegangen wäre? Was, wenn ich sie hätte retten können?«

»Das Baby hatte schon eine Weile geschrien, als du nach Hause gekommen bist – da war sie sicher nicht mehr bei Bewusstsein. Mach dir keine Vorwürfe, Zeke. Bitte, Schatz. Du hast dich um deinen Sohn gekümmert.«

Willa spürte das Gewicht dieser Worte, noch während sie sie aussprach. Sie waren wie ein Schlag in die Magengrube, und anscheinend stöhnte sie auf, denn Tig drehte sich besorgt nach ihr um. Es kostete Willa Mühe, sich auf den Beinen zu halten, sich nicht zu Boden sinken zu lassen und die Knie an die Brust zu ziehen, während sie das Handy mit Zekes Stimme an ihr Ohr drückte. Ihr pflichtbewusster, vielversprechender Sohn würde sich von jetzt an um sein Kind kümmern, tagein, tagaus, gestrandet in der Einsamkeit eines alleinerziehenden Elternteils. Wut auf die tote Helene stieg wie Säure in ihrer Kehle auf. So sinnlos.

Tig sah sie an und hatte dabei etwas von einer guten Fee: Der Kochlöffel in ihrer Hand war wie ein Zauberstab. Hinter ihr kochte das Nudelwasser. Willa schloss die Augen und zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sagen: »Ich kann morgen früh da sein.«

 

Dass sie einmal in einer großen Bostoner Kirche sitzen und versuchen würde, ein schreiendes Baby zu beruhigen, und zwar in einem Designerkostüm, das der Frau im Sarg gehört hatte – darauf wäre nicht mal Willas blühende Fantasie gekommen. Die schmal geschnittene Jacke beengte sie. Mr Armani hatte beim Entwurf dieses Kleidungsstücks bestimmt nicht daran gedacht, dass die Trägerin womöglich mal ein Baby auf dem Arm halten würde, aber ihn traf keine Schuld. Willa hatte eine Jeans eingepackt und war zur Rettung ihres Sohnes herbeigeeilt, ohne einen Gedanken an Trauerkleidung zu verschwenden. Das war vor vier oder fünf Tagen gewesen; sie hatte den Überblick verloren. Aldus hatte im Unterscheiden von Tag und Nacht keinerlei Fortschritte gemacht, und Willa funktionierte mit weniger Schlaf, als sie für menschenmöglich gehalten hatte. Etwa eine halbe Stunde vor der Trauerfeier fiel ihr ein, dass sie sich umziehen musste. Sie stürzte sich auf Helenes Garderobe. In den Schränken hing alles farblich sortiert auf hölzernen Kleiderbügeln, und in dieser disziplinierten Ordnung entdeckte sie etwas von dem, was diese tote Frau mit ihrem eigenen Sohn verbunden hatte. Über Helenes teuren Geschmack allerdings war sie verblüfft. Sie suchte die Etiketten nach Größenangaben ab und schnappte nach Luft: Fendi, Versace, Ralph Lauren. Zum Glück schienen einige der Sachen zu passen. Helene hatte anscheinend schon etwas zugelegt, bevor sie sich dann schicke, bürotaugliche Umstandskleidung angeschafft hatte.

Willa war erleichtert gewesen, etwas Besseres zu finden als ein T-Shirt, hatte aber nicht daran gedacht, dass die Kirche mit Helenes und Zekes Freunden vollgepackt sein würde. Jetzt wurde ihr bewusst, dass sie dieses dunkelblaue Seidenkostüm, das Helene zuletzt bei irgendeiner Beförderungsfeier getragen hatte, womöglich erkennen würden. Und darum sah sie jetzt aus wie die böse Schwiegermutter, die sich, noch bevor Helene unter der Erde war, über ihre Designergarderobe hergemacht hatte. Sie erkannte die Misslichkeit der Situation, empfand sie aber nur wie von fern, abgeschirmt durch eine Mauer aus Erschöpfung. Außerdem war das Kostüm vermutlich getarnt durch die Milchstreifen auf dem Revers.

Das Weinen des Babys ging in eine Reihe von Schluchzern über und verstummte. Einen Augenblick lang herrschte würdevolle Stille, bis Aldus sie erneut mit einem Geschrei zerriss, das sich an- und abschwellend wie eine Sirene über die gedämpfte Orgelmusik erhob. Allen Ängsten vor pharmakologischen Schäden zum Trotz hatte Helenes Sohn eine kräftige Stimme. Und doch fühlte er sich in Willas Armen so leicht an wie eine winzige rosige Maus. Es war Jahrzehnte her, dass Willa ein so kleines Baby getröstet hatte, und sie war selbst den Tränen nahe. Sie fing Zekes Blick auf, nickte in Richtung Mittelgang, stand auf und schob sich unbeholfen zwischen den Knien der Trauergäste und der Rückseite der Kirchenbank hindurch. Vielleicht war es Paranoia infolge von Schlafentzug, aber sie spürte missbilligende Blicke im Rücken. Oder jedenfalls keine Dankbarkeit für das Geschenk von Helenes DNA, das hier mitten unter ihnen war. Die gut gekleidete Gemeinde erschien ihr ziemlich hochnäsig, was sie auf Helenes Einfluss zurückführte. Zekes Freunde waren immer nette, bescheidene Jungs gewesen, die ehrlich teilten und auch die ganz schlechten Sportler mitspielen ließen. Na gut, das war zu seinen Pfadfinderzeiten gewesen. Sie wusste eigentlich nicht, wer Zeke in Boston geworden war, erst als Student an der Harvard Business School und jetzt als aufstrebender junger Akademiker, der inmitten einiger der notorisch erfolgsgeilsten Arschlöcher dieses Planeten seinen Weg suchte.

Sie ging im hinteren Teil der Kirche auf und ab, sah zu den Ausgängen und fragte sich, ob sie in irgendeinem Untergeschoss Zuflucht suchen oder hinaus auf die Straße gehen sollte. Es regnete. Immer wieder drehten sich einzelne Köpfe nach ihr um und vergewisserten sich, dass dieses Kind noch immer die Quelle all des Lärms war. Willa starrte zurück und nahm es ihnen übel. Würde es nicht eines Tages von Bedeutung sein, dass der Junge an der Beerdigung seiner Mutter teilgenommen hatte? Dieses vollkommene Kind war das Letzte, was Helene hervorgebracht hatte, und Aldus hatte jedes Recht, hier zu sein, denn er war der einzige anwesende Blutsverwandte. Abgesehen von Helenes Eltern, die gerade rechtzeitig zum Gottesdienst aus London eingetroffen waren. Aldus war der Name von Helenes Vater, aber ob das rechtfertigte, ihn im Umlauf zu halten, mochte dahingestellt sein. In Gedanken ging sie die Trauergäste in der ersten Reihe durch und versuchte, Helenes Mutter mit den sorgfältig gefärbten Haaren zu erkennen. Die arme Frau hatte ihre Tochter verloren.

Sie legte Aldus an die andere Schulter und registrierte mit stummer Bestürzung, wie viel Milch er gespuckt hatte. Es war wahrscheinlich das Schlimmste, was ein Armani-Kostüm je zu erdulden gehabt hatte, aber Willa hatte ohnehin nichts damit vor. Vielleicht würde sie das ganze Zeug in die Altkleidersammlung geben. Oder eine Mail an Helenes dünne, hochnäsige Freundinnen schicken, sie sollten vorbeischauen und sich ein Andenken aussuchen. Wie auch immer, es tat weh, ein Vermögen an Designerkleidung – wahrscheinlich den größten Sachwert des Paars – zu verschenken, nachdem Zeke sich für diese Beerdigung ernsthaft verschuldet hatte.

Die Pfarrerin, eine Frau mit rundem Gesicht und einer eulenhaften Brille, säuselte sich durch eine Allzwecktrauerrede. Es war ziemlich offensichtlich, dass sie Helene nicht gekannt hatte. Willa fragte sich, ob Zeke ihr überhaupt gesagt hatte, dass es Selbstmord gewesen war. »Anglikanische Kirche« hatte Zekes Vermutung auf die Frage gelautet, was Helenes Eltern wollen würden; allerdings waren sie nicht da gewesen und hatten nichts organisiert oder bezahlt. Er hatte in den ersten verwirrenden Stunden seine Kreditkarten hinlegen müssen, und die Einbalsamierung war horrend teuer gewesen. Die Eltern hatten nur einen einzigen Wunsch geäußert: Sie wollten ihre Tochter noch ein letztes Mal sehen, und so hatte Zeke die zusätzlichen Kosten für einen offenen Sarg auf sich genommen.

Willa hatte nur wenig mit ihnen gesprochen, hauptsächlich um Ianos Abwesenheit zu entschuldigen, wobei sie die neue Stelle und den pflegebedürftigen Vater betont und nicht erwähnt hatte, dass sie sich einen so kurzfristig gebuchten Flug gar nicht leisten konnten. Die Eltern erschienen ihr auf Anhieb distanziert, und das nicht nur im geografischen Sinn. Helene hatte ihre Jugend in Internaten verbracht. Sie waren Briten, und so fanden sie das wahrscheinlich normaler als Willa. Sie wusste, dass sie sich vor Klischees hüten und versuchen musste, Helenes Leben rückblickend nicht als eine Aneinanderreihung emotionaler Verletzungen zu betrachten, die schließlich zu diesem Suizid geführt hatten. Hirnchemie, sagte Zeke, und das verstand Willa. Gegen Ende ihrer Tätigkeit bei der Zeitschrift war sie Redakteurin im Wissenschafts- und Gesundheitsressort gewesen; sie hatte eine professionelle Herangehensweise an Krankheiten. Helene war so gesund wie alle anderen gewesen – die Frau, in die Zeke sich verliebt hatte –, doch dann hatte ihre Hirnchemie begonnen, diesen entsetzlichen Horror zu produzieren, vor dem der Rest der Menschheit nur durch Serotonin bewahrt wurde.

Aldus fiel schließlich im Sturzflug in den Schlaf und verstummte, stieß hin und wieder auf, war aber entspannt. Willa strich über seinen wilden Haarschopf. Für einen Säugling hatte er ungewöhnlich viel Haar: es war pechschwarz wie das von Helene und stand von seinem Kopf ab, als wäre das seine Reaktion auf die Schrecken der Welt, in der er gelandet war. Beim Anblick seiner durchscheinenden Lider und gespitzten Lippen regten sich in Willa sowohl Beschützerinstinkt als auch Sorge um ihren hochgewachsenen, gut aussehenden, am Boden zerstörten Sohn, der jetzt zum Rednerpult ging. Sie hatte ihn gewarnt – es würde sehr schwer werden, vor all den Menschen nicht die Fassung zu verlieren, schwerer als jede Präsentation, die er je gehalten hatte. Und dann hatte Zeke ihr gesagt, was er vorlesen wollte: Helenes Abschiedsbrief. Willa war ausgerastet und hatte ein paar Sachen geschrien, die ihr jetzt leidtaten. Sie waren erschöpft. Als er ihr den Brief zu lesen gab, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten.

Zeke hatte natürlich recht. Die Arme musste monatelang an diesem Aufsatz gefeilt haben, dieser Bilanz ihrer Dankbarkeit für Zekes Liebe und die drei gemeinsamen Jahre und ihrer Hoffnungen für das gemeinsame Kind. Für den Trauergottesdienst brauchte Zeke nur den verhängnisvollen Schluss wegzulassen, zu dem Helene gekommen war: dass das größte Geschenk, das sie ihrem Mann und ihrem Kind machen konnte, die Entfernung ihrer eigenen Verderben bringenden Person aus dem Leben der beiden war.

 

Willa hatte aufgehört sich zu fragen, ob alles noch schlimmer werden konnte. Jetzt, als sie im Schlafzimmer ihres Sohns saß, den Nachttisch seiner Freundin ausräumte und Fläschchen wegwarf, auf denen O Play und Love Lube stand, verspürte sie eine abstrakte Erleichterung darüber, dass die beiden trotz allem – trotz Schwangerschaft, Depressionen und Medikamenten, die bekanntermaßen die Libido beeinträchtigten – ein Liebesleben gehabt hatten. Dieses Sichten und Sortieren fühlte sich so surreal an wie alles, seit sie auf der Interstate 95 nach Boston gerast war, angefangen damit, dass sie im Bett einer soeben Verstorbenen geschlafen hatte. Als sie irgendwann frühmorgens angekommen war, hatte Zeke ihr das Bett überlassen und war auf das Sofa neben dem Babybett umgezogen. Das Tageslicht hatte sich langsam durchgesetzt, und sie hatte schlaflos genau dort gelegen, wo Helene ihr Leben beendet hatte. Schließlich war Willa aufgestanden und wie ein Gespenst aus einem viktorianischen Schauerroman ins Wohnzimmer geschlichen, um das Kind in seinem Bettchen und den völlig erledigten jungen Vater auf dem Sofa zu betrachten. Sie hatte sich danach gesehnt, wie diese beiden in Bewusstlosigkeit zu versinken – alles, nur nicht zurück in dieses unheimliche Schlafzimmer. Sie hatte nicht fragen können, auf welcher Seite des Betts Helene geschlafen hatte, doch die Frage hatte sie beschäftigt, bis jetzt, da die Kleider eingepackt waren und sie sich den Nachttischen zuwandte.

Bei dem Trauerempfang oder wie immer man das nennen sollte, was Helenes tüchtige Freunde in der Kanzlei organisiert hatten, trat die bedrückende Wahrheit zutage: Mehrere Leben waren beendet. Zeke und sein Kind würden einen ganz und gar ungeplanten Weg einschlagen, und die erste Etappe war der Auszug aus dieser Wohnung, die er sich nun nicht mehr leisten konnte. Der Mietvertrag lautete auf Helenes Namen, sodass er für nichts haftbar war. Willa hatte ihre Zweifel – nach ihrer Erfahrung zog man gegen Vermieter immer den Kürzeren –, doch Zeke erklärte ihr, das sei eben einer der Vorteile, wenn man nicht verheiratet sei. Auch Helenes hohe Kreditkartenschulden würden nicht sein Problem sein. Und ihr Mercedes mit seinen schwindelerregenden Leasingraten würde im Nu wieder beim Händler stehen.

Für Iano und Willa, die traditionsagnostischen Babyboomer, hatte der Familienstand der beiden anfangs keine Rolle gespielt. Es war normal, zusammen, aber nicht verheiratet zu sein. Doch als die Schwangerschaft weiter fortschritt, nahm Iano an, sein ritterlicher Sohn werde darauf bestehen, die Mutter seines Kindes zu heiraten. Er irrte sich: Diese jungen Leute fanden die Ehe in juristischer wie emotionaler Hinsicht uninteressant. Helene sei Anwältin, erklärte Zeke, und brauche keinen vom Staat Massachusetts formulierten Standardvertrag, um ihr Privatleben zu regeln. Es gab noch Ritterlichkeit auf der Welt, allerdings gehörten die Pferde heutzutage eben nicht mehr nur den Männern, und auf diese Art Rettung waren Frauen wie Helene ohnehin nicht angewiesen. Hier, in Zekes Privatsphäre, begann Willa zu verstehen.

Sie wusste nicht, wie sie ihn trösten sollte, wenn er Stunde um Stunde durch den Sumpf seiner Trauer watete und ihr nichts anderes übrig blieb, als zuzusehen. Doch sie wollte nirgendwo anders sein und konnte sich auch gar nicht erinnern, wann sie zuletzt mehr als eine Stunde miteinander verbracht hatten, nur sie und Zeke. Bei seinen Besuchen hatten die geschwisterliche Rivalität und Ianos Überschwänglichkeit alle Luft verbraucht. Diese stillen Tage in seiner Wohnung waren anders. Willa hätte sich niemals eingestanden, dass sie ihren Sohn ihrer Tochter vorzog, doch es bestand kein Zweifel daran, welches ihrer Kinder sie leichter zu lieben fand. Zeke war komplikationslos zur Welt gekommen und aufgewachsen, und das Temperament, das er entwickelt hatte, war dem ihren so ähnlich, dass die Grenzen zwischen ihnen für Willa manchmal verschwammen. Man machte Bemerkungen über Zekes Ähnlichkeit mit seinem Vater, und oberflächlich betrachtet stimmte das: Er hatte Ianos Größe und Statur, seine vertrauenerweckenden, weit auseinanderliegenden Augen. »Ganz wie der Papa!«, riefen die griechischen Verwandten jedes Mal, wenn sie Zeke sahen, und Willa hatte keine Einwände – sie liebte seinen Papa. Noch immer machte ihr Herz manchmal einen Sprung, wenn sie ihren Mann in der Tür stehen sah. Aber das dunkelblonde Haar hatte Zeke von Willa, wie auch alles andere, was in ihm war. Eine attraktive griechische Gussform, gefüllt mit der bleichen angelsächsischen Mentalität einer pflichtbewussten mütterlichen Linie.

Tig war das Gegenteil, klein und zierlich wie Willa, mit Willas hoch gewölbten Augenbrauen und ihrem spitzen Kinn, aber dunklen Augen und einem Innenleben, in dem die Energie ihres Vaters brodelte. Schon als Kleinkind hatten sie sie Antsy genannt, denn Antigone sah zwar auf der Geburtsurkunde gut aus, eignete sich aber nicht als Name für ein tatsächlich existierendes Kind – was Willa nicht verwunderte. Der Spitzname passte gut: Das Mädchen hatte Ameisen im Hintern. Auf der Highschool hatte sie sich wieder Antigone erkämpft, aber ihre Freundinnen hatten das erst zu Tigger und dann zu Tig verkürzt. Niemand nannte sie mehr Antigone außer Iano, der Verantwortliche, der nach wie vor zu der Namenswahl stand.

Willa vermisste Iano sehr, hatte aber seit der Beerdigung nicht mehr zu Hause angerufen. Es gab so viel zu erzählen, und Iano schien sich geradezu dagegen zu wehren, es zu begreifen. Er sah das Walten einer griechischen Tragödie und fand noch immer, die Schwangerschaft sei eine schlechte Idee gewesen, während Aldus hier im Wohnzimmer war und das Babybett und der Wickeltisch neben dem Fernseher standen. Von Idee konnte wirklich keine Rede mehr sein.

Willa war mit dem Nachttisch fertig und machte gleich weiter. Im Badezimmer stand ein verwirrendes Sortiment von hautverjüngenden Produkten für eine schöne Frau in den Zwanzigern. Willa warf alles in einen Müllbeutel, nachdem sie kurz überlegt hatte, ob es verwerflich wäre, ein paar der teureren Nachtcremes zu behalten. Auch die Pillenfläschchen warf sie weg und versuchte, nicht zu lesen, was darauf stand. Zeke war nebenan, wo Helene sich ein Arbeitszimmer eingerichtet hatte, das dann das Kinderzimmer hatte werden sollen. Es war noch immer ein Arbeitszimmer, obwohl das Kind längst auf der Welt war. Helene hatte keine Veränderungen vorgenommen, keine Wand in Pastellfarben gestrichen, kein Mobile aufgehängt, nichts von all den erwartungsfrohen Dingen getan, mit denen Mütter ihre Babys auf die Welt lockten. In dieser von Trauer erfüllten Wohnung war dieses Nicht-Kinderzimmer für Willa am unerträglichsten, allerdings nur, weil sie normale Mutterschaft kannte. Es waren fast immer die Frauen, die ihre Männer ins Babyland führten, sie drängten, sich Namen auszudenken und die Einrichtung des Kinderzimmers anzugehen. Zeke ahnte nicht, was ihm entgangen war.

Er war dabei, Ordner einzupacken, die an Helenes Arbeitgeber geschickt werden mussten – das war immerhin weniger persönlich als Haarbürsten und Rasierer. Willa bat ihn immer wieder, sich nichts aufzubürden, was unerträglich war, aber was war denn nicht unerträglich? Er besaß noch immer die Impulse des charmanten jungen Mannes, der er war, sprang herbei, um Willa etwas Schweres abzunehmen, hielt Helenes Mutter die Wagentür auf, doch bei alldem wirkte er wie ein Schlafwandler. Wenn das Baby weinte, schien Zeke erleichtert, aus dem Helene-Sumpf steigen und elementarere Bedürfnisse stillen zu können. Die einzige Freude in dieser Wohnung kam vom direkten Kontakt mit Babyhaut, und so ermahnte Willa sich, im Hintergrund zu bleiben, und überließ das Füttern und Wickeln meist Zeke. Sie sah ihren Sohn zum Vater werden: Er hielt das winzige Leben in seinen großen Händen und betrachtete das rosenknospige Gesicht aus nächster Nähe, doch sie hätte nicht sagen können, ob er sich ebenso Hals über Kopf verliebte wie sie damals bei ihrem Erstgeborenen. Wenn der Beginn einer Liebe von Verzweiflung überschattet wurde, war ihr Wirken vielleicht eingeschränkt. Möglicherweise würde Zeke dem Kind die Schuld für seinen Verlust geben. Die Schwangerschaft hatte Helene umgebracht – das war eine Tatsache. Willa verbrachte Stunden mit dem Bemühen, dieses Thema nicht anzusprechen. Es war schwer genug, die notwendigen Fragen zu klären, zum Beispiel wo Zeke wohnen würde.

Bei den Schubladen im Bad legte sie eine Pause ein, stellte sich in die Tür und sah zu, wie Zeke Kartons voller Aktenordner im Flur aufreihte wie Güterwaggons. Er kniete neben einem davon und schlug die vier Deckelklappen zu.

»Wenn du dir Wohnungen ansehen willst, kann ich Aldus heute Nachmittag übernehmen.«

Er sah zu ihr auf, mit einem Gesichtsausdruck, der sie verwirrte. Vermutlich Angst.

»Oder ich könnte gehen«, fügte sie schnell hinzu. »Ich weiß nicht genau, was du dir vorstellst oder welches Viertel du dir leisten kannst, aber wenn du mir sagst, was du dir ungefähr vorstellst, kann ich mich ein bisschen umsehen.«

Er saß auf dem Boden, die Unterarme auf den Knien, und seufzte. »Ich kann mir keine Wohnung leisten, Mom. In keinem Viertel von Boston. Ich hatte gedacht, ich könnte bei Michael und Sharon einziehen, aber die haben mir gerade geschrieben. Ein Baby verändert eben alles.«

»Du wolltest bei deinen Freunden einziehen?« Willa war fassungslos. Er war doch kein Student, der mal eben auf dem Sofa eines Freundes kampieren konnte. Er war Vater.

»Sie haben nicht ausdrücklich gesagt, dass es wegen Aldus ist. Aber ich bin sicher, sein Auftritt bei der Trauerfeier war ein Augenöffner. Ich wusste, es war viel verlangt.«

Willa brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten, unter anderem auch ihren Anteil daran: dass es ihr nicht gelungen war, Aldus zu beruhigen. Hatten diese Leute bis dahin nicht gewusst, dass Babys manchmal weinen? »Ist das der, mit dem du während des Studiums zusammengewohnt hast?«, fragte sie vorsichtig. »Du wolltest bei ihm einziehen?«

»Genau, der Michael, mit dem ich das Start-up geplant habe. Von Zeke, Mike und Jake. Michael ist inzwischen verheiratet, das hab ich dir doch erzählt. Sie haben sich ein Haus in Southie gekauft, da ist viel Platz. Na ja, ein Extrazimmer, aber immerhin. Wir hatten gedacht, wir könnten die Firma von dort aufziehen, bis wir uns die Betriebskosten für ein Büro leisten können.«

»Du hast ihn also gebeten, die Betriebskosten für dich und Aldus zu übernehmen.«

Zeke sah unglücklich aus. Jede Zurückweisung schmerzte, aber diese besonders. Willa hasste dieses selbstzufriedene Pärchen mit seiner kinderlosen Sorglosigkeit. Und auch Helene und ihre kurzsichtigen Ärzte und alle anderen, die einen Anteil an diesem ungeheuerlichen Schicksalsschlag hatten, durch den ihr Sohn gezwungen war, seine Freunde um Obdach zu bitten. »Ihr beide braucht eine eigene Wohnung«, sagte sie ruhig. »Ihr seid jetzt eine Familie. Wir werden schon was finden, das du dir leisten kannst.«

»Werden wir nicht, Mom. Ich habe kein Einkommen.«

»Du arbeitest doch Vollzeit.«

»Genau genommen ist es ein Praktikum.«

»Aber du arbeitest so viel. Du hängst dich mehr rein und bekommst mehr Provisionen als irgendjemand sonst in dem Büro da.«

»Ja, aber trotzdem ist es nur ein Praktikum. Wenn man was draufhat, bieten sie einem meist nach sechs Monaten oder so eine bezahlte Stelle an.«

»Das klingt nach Leibeigenschaft. Du hast doch schon was drauf. Die sollten dich bezahlen. Ein bezahltes Praktikum ist doch nichts völlig Abwegiges.«

»Das haben sie mir angeboten, aber das hätte nichts gebracht. In dem Moment, in dem ich irgendeine Form von Gehalt beziehe, muss ich anfangen, meinen Studienkredit zurückzuzahlen. Das könnten wir uns jetzt einfach nicht leisten. Helene und ich hatten es durchgerechnet und waren zu dem Schluss gekommen, dass wir vorerst ausschließlich von ihrem Einkommen leben mussten.«

»Na gut, aber die Situation hat sich geändert. Könntest du nicht noch mal mit ihnen verhandeln?«

»Da ist immer noch der Studienkredit.«

Willa hatte nie danach gefragt, wie hoch seine Schulden waren, und jetzt graute ihr davor. Früher hatte Iano als Erziehungsberechtigter alles unterschreiben müssen, doch seit seinem ersten Jahr in Stanford hatte Zeke großen Wert darauf gelegt, seine finanziellen Angelegenheiten selbst zu regeln. Sie nickte langsam. »Wie viel?«

Er zuckte die Schultern. »Über hundert. Ungefähr hundertzehntausend.«

»Gott, Zeke! Ich wusste nicht, dass es so viel ist. Du hast doch die ganze Zeit gearbeitet.«

»Klar, für Mindestlohn. Das hat gerade mal für die Bücher gereicht.«

Willa konnte sich nicht vorstellen, wie man derart vorbelastet ins Erwachsenenleben eintreten sollte. Sie selbst hatte als Stipendiatin an staatlichen Unis studiert. »Wir hätten nicht zulassen dürfen, dass du dir das auflädst.«

»Du wolltest das ja auch nicht. Weißt du noch, wie sehr du dich ins Zeug gelegt hast, um mir Stanford auszureden? Aber Dad hat gesagt, ich soll es machen, und ich … ich wollte so sehr.«

Es war eine schmerzhafte Erinnerung. Ein Haus, uneins mit sich selbst – die Achillesferse ihres Elterndaseins. »Ich wollte nicht, dass du nicht nach Stanford gehst. Ich dachte nur, ein Jahr später wäre es vielleicht einfacher gewesen. Dass du dann hättest wechseln können.«

»Klar, ich hätte wie Tig das Stipendium für Dozentenkinder nehmen und auf irgendein mieses Hippiecollege gehen können.«

»Ivins ist nicht mies, es ist ein gutes College. Hippie? Kann sein. Aber für Tig war dieses Programm genau das Richtige. Wenn man sich ansieht, was sie alles angefangen und wieder hingeschmissen hat. Bei dir ist das anders – du bringst die Dinge zu Ende. Iano hat immer gesagt, dass sie Studenten nicht in ein Loch stecken, aus dem sie nicht mehr rauskommen. Wir haben uns keine allzu großen Sorgen gemacht.«

Er sah sie an, seine Augen hatten das unbestimmte Blau des Meers. Als Willa jung gewesen war, hatte sie ihrer Mutter alles erzählt: was auf ihrem ersten Gehaltsscheck stand, oder dass ihre Periode ausgeblieben war. War es jetzt normal, dass Eltern im Dunkeln tappten? Sie wusste nie, was sie fragen durfte. Anscheinend schämte sich Zeke für seine finanziellen Schwierigkeiten.

»Offenbar hätten wir uns aber Sorgen machen sollen.«

Er zuckte die Schultern. »Das ist meine Zwickmühle: Wenn Sanderson mir ein Einstiegsgehalt zahlen würde, wäre ich sofort im Minus.«

»Ich verstehe.« Sie lehnte sich an den Türrahmen und spürte einen beinahe körperlichen Verlust, als ihre Annahmen in sich zusammenfielen. Zeke hatte sich an die Regeln gehalten. Wie sie alle. Willa und Iano hatten zwei Kinder großgezogen, ein erfolgreiches und ein kompliziertes. Das war ihre Geschichte, schon immer. Seit wie vielen Jahren stimmte sie nicht mehr?

»Gibt es … hatte Helene eine Altersvorsorge über ihren Arbeitgeber?«

»Wenn ja, hätte ich keinen Anspruch darauf. Wir waren nicht verheiratet.«

»Ach ja. Das heißt, du kriegst auch keine Sozialversicherungsleistungen. Aber das Baby vielleicht.«

Zeke schien verblüfft über den Gedanken, dass sein Sohn eine juristische Person sein könnte. Willa fand eine Waisenrente eher unwahrscheinlich. Helene war Ausländerin gewesen und hatte gerade erst ihren Abschluss gemacht. Sie war wohl nicht lange genug berufstätig gewesen, um solche Ansprüche zu erwerben. »Tut mir leid, dass ich mit solchen praktischen Fragen komme, Schatz, aber …«

»Ja, ich stecke in der Scheiße. Mit einem Baby an Bord.«

»Es tut mir leid. Hatte sie denn eine Lebensversicherung? Dann wärst du der Begünstigte, egal, ob verheiratet oder nicht.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »Selbstmord, Mom. Dafür bezahlt keiner.«

»Oh. Natürlich, ich weiß. Aber ist das nicht Diskriminierung? Es ist so …«

»Unbarmherzig?«

»Nein, ich wollte sagen, es ist so dumm. Helene ist an einer Depression gestorben. An einer Krankheit, herbeigeführt durch die Schwangerschaft und einen Frauenarzt, der mehr an das Baby als an die Mutter gedacht hat.«

»So könnte man argumentieren, aber ich bin sicher, die Versicherung hat einen Haufen Anwälte, die dagegenhalten würden.«

Willa wusste nicht weiter. »Was wirst du jetzt tun?«

Er wandte sich ab, und in dieser Bewegung sah sie alle Niederlagen seines Lebens: den knapp verpassten ersten Platz beim Leichtathletikwettkampf, das blonde Mädchen, das die Verabredung zum Schulball hatte platzen lassen, die Prüfung, die er wegen einer Magen-Darm-Grippe in den Sand gesetzt hatte. Seine Niederlagen waren so selten, dass Willa sie an einer Hand abzählen konnte, jedenfalls die, von denen sie wusste. Mangels Übung nahm Zeke sie sich sehr zu Herzen. Er war in allem gut, außer im Verarbeiten von Enttäuschungen.

»Hast du wenigstens schon eine Tagesmutter? Ich nehme an, Helene wollte wieder arbeiten.«

Zeke sah sie mit einem seltsam flehenden Blick an. Dann erhob er sich und ging durch den Flur in die Küche. Sie klappte noch einen der Kartons zu, und weil ihr absolut nichts anderes einfiel, zählte sie bis zehn und folgte ihm. Er starrte in den geöffneten Kühlschrank.

»Ich weiß, es ist schwer, darüber zu sprechen. Ich kann eine Weile bleiben und dir helfen. Wenn ihr nächste Woche den Termin beim Kinderarzt habt, komme ich mit. Aber irgendwann müssen wir einen Plan machen.«

»Du musst das nicht für mich tun, Mom.«

»Ich weiß. Und trotzdem.«

Er knallte die Kühlschranktür zu. »Ich hab das Helene mindestens hundertmal gesagt: Wir müssen einen Plan machen. Wahrscheinlich hab ich genauso geklungen wie du gerade. Jetzt weiß ich, wie sich das für sie angefühlt haben muss.«

»Das ist ein nicht gerade ausgefallener Wunsch. Wenn ein Kind unterwegs ist.«

»Ich habe ihr vorgeschlagen, dass wir uns verschiedene Einrichtungen ansehen. Ich habe ihr gesagt, sie kann Elternzeit nehmen, wenn sie will. Aber sie musste doch irgendwas wollen.«

Willa hörte die Wut heraus, die sie selbst seit Tagen auf Helene hatte. Sie würden sie abwechselnd bezähmen müssen. Es war wichtig, dass das Kind seine Mutter liebte, und das hing für immer von ihnen ab. »Sie konnte nicht klar denken. Das wissen wir doch.«

»Was wir wissen, ist, dass sie das alles von langer Hand geplant hatte.«

»Das kann nicht sein. Sie hat dich geliebt. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen – du hast alles richtig gemacht.«

»Das sagst du die ganze Zeit, Mom. Manchmal macht man alles richtig und kriegt trotzdem bloß ein großes verdammtes Nichts! Schon mal darüber nachgedacht?«

Weil er lauter wurde, sprach sie umso leiser. »Ich sage das, weil es stimmt. Sie hat dich geliebt, Zeke. Du warst gut zu ihr. Sie hat das nicht geplant. Ihren Tod, ja, vielleicht, aber nicht die Folgen. Sie hat das nicht getan, um dein Leben zu ruinieren.«

»Und trotzdem«, sagte er.