Die unbewohnbare Erde - David Wallace-Wells - E-Book
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Die unbewohnbare Erde E-Book

David Wallace-Wells

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Beschreibung

Die heute schon spürbaren und die schlimmstmöglichen Folgen der Klimaerwärmung sind das Thema des Journalisten David Wallace-Wells in diesem spektakulären Report. Wie kann und wird das Leben auf der Erde in nur 40, 50, 60 Jahren aussehen? Sicher ist: Heutige Teenager und Kinder werden noch erleben, wie sich die Bedingungen für die Menschheit auf der Erde dramatisch verschlechtern, sie werden erleben, wie sie in Teilen unbewohnbar wird. Wallace-Wells macht die vielen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Mehrheit der Menschen oft gar nicht erreichen, begreifbar, ja fühlbar. Und am Ende steht die drängende Frage: Haben wir überhaupt noch eine Chance, das Unheil abzuwenden?

Ein polarisierendes, aufrüttelndes und fesselndes Debattenbuch zu einem Thema, das der Menschheit zunehmend unter den Nägeln brennt.

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Wie wird die Welt in 30 Jahren aussehen? Wie in 50 Jahren? Und wie lange wird unser Planet überhaupt noch bewohnbar bleiben?

»Es ist schlimmer, viel schlimmer, als Sie denken.« So beginnt David Wallace-Wells seinen glühenden und mitreißenden Report. Wenn wir nur die Spanne eines Menschenlebens brauchten, um die Welt an den Rand der Klimakatastrophe zu bringen, wie dramatisch kann es dann noch in der Lebenszeit heutiger Teenager werden? Auf neueste Ergebnisse der Klimaforschung gestützt beschreibt Wallace-Wells, was die Wissenschaft oft nur begrenzt veranschaulichen kann: Die Klimaerwärmung wird in den kommenden Jahrzehnten unseren Alltag drastisch verändern. Wir werden noch erleben, dass der Herbst nicht mehr bunt ist und der Kaffee knapp wird. Wenn wir jetzt nicht aktiv eingreifen, werden schon in ein paar Jahrzehnten Städte wie London und Kopenhagen vollständig unter Wasser stehen und Südeuropa im Jahr 2080 unter dauerhafter Dürre leiden.

»[Der Klimawandel] umgibt uns, beherrscht uns auf ganz reale Weise – unsere Ernteerträge, unsere Pandemien, unser Migrationsverhalten und unsere Bürgerkriege, Kriminalitätswellen und häusliche Gewalt, Hurrikans, Hitzewellen, Sturzregenfälle und Megadürren, den Verlauf unseres Wirtschaftswachstums und das, was damit zusammenhängt – und das ist heute nahezu alles.«  David Wallace-Wells

DAVID WALLACE-WELLS

DIE

UNBEWOHNBARE

ERDE

Leben nach der Erderwärmung

Aus dem Amerikanischen

von Elisabeth Schmalen

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

»The Uninhabitable Earth« bei Tim Duggan Books.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 7/2019

© by David Wallace-Wells 2019

© der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Ludwig Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Tilcher

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München

unter Verwendung eines Motives von: Getty Images/jcrosemann

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-24386-9V003

www.Ludwig-Verlag.de

Für Risa und Rocca,

für meine Mutter und meinen Vater

Inhalt

I   Kaskaden

II   Elemente des Chaos

Hitzetod

Hunger

Ertrinken

Flächenbrand

Naturkatastrophen, die keine mehr sind

Süßwassermangel

Sterbende Meere

Verpestete Luft

Seuchenalarm

Wirtschaftskollaps

Klimakonflikte

»Systeme« 2

III   Das Klimakaleidoskop

Erzählungen

Krisenwirtschaft

Die Kirche der Technologie

Konsumpolitik

Geschichte jenseits des Fortschritts

Ethik am Ende der Welt

IV   Das anthropische Prinzip

Dank

Quellen

Anmerkungen

I

––— Kaskaden ––—

Es ist schlimmer, viel schlimmer, als Sie denken. Das langsame Voranschreiten des Klimawandels ist ein Märchen, das vielleicht ebenso viel Schaden anrichtet wie die Behauptung, es gäbe ihn gar nicht. Und gemeinsam mit einigen anderen fügt sich dieses Märchen zu einer Anthologie tröstlichen Irrglaubens: dass die Erderwärmung eine arktische Sage sei, die sich weit von uns entfernt abspielt; dass es ausschließlich um die Höhe des Meeresspiegels und den Verlauf der Küsten ginge, nicht um eine umfassende Krise, die keinen Ort unberührt und kein Leben unverändert lässt; dass es sich um eine Krise der »Natur« handle und mit den Menschen nichts zu tun habe; dass sich diese beiden Bereiche trennen ließen und wir heute außerhalb, abseits oder zumindest vor der Natur geschützt lebten statt unentrinnbar und buchstäblich in ihrer Mitte; dass Wohlstand ein Schutzschild gegen die Verheerungen der Erwärmung bilde; dass das Verbrennen fossiler Energieträger der Preis des beständigen Wirtschaftswachstums sei; dass uns das Wachstum und die Technologien, die es hervorbringt, zwangsläufig einen Weg aus der Umweltkatastrophe bahnenwird; dass es in der langen Geschichte der Menschheit irgendetwas gegeben hätte, dessen Ausmaß und Tragweite mit dieser Bedrohung vergleichbar gewesen wären, und dass wir deshalb zuversichtlich davon ausgehen könnten, es sei möglich, sie mit dem Blick zu bannen.

Nichts davon stimmt. Aber fangen wir damit an, wie schnell die Veränderungen ablaufen. Die Erde hat vor dem Massenaussterben, das wir gerade durchmachen, bereits fünf andere erlebt, von denen jedes einzelne den Bestand der Lebewesen so umfassend reduzierte, dass es einem Drücken des Reset-Knopfs gleichkam.1 Der phylogenetische Baum der Erde dehnte sich immer wieder aus und zog sich zusammen, wie eine Lunge: Vor 450 Millionen Jahren waren 86 Prozent aller Arten ausgestorben, 70 Millionen Jahre später dann 75 Prozent, wiederum 100 Millionen Jahre später 96 Prozent, noch einmal 50 Millionen Jahre später 80 Prozent und 150 Millionen Jahre danach erneut 75 Prozent.2 Wenn Sie dem Teenageralter entwachsen sind, haben Sie in der Schule wahrscheinlich gelernt, dass diese Massenaussterben auf Asteroideneinschläge zurückzuführen seien. Doch in Wahrheit hingen alle – bis auf die Katastrophe, die die Dinosaurier auslöschte – mit einem Klimawandel durch Treibhausgase zusammen.3 Das berüchtigtste Ereignis spielte sich vor 252 Millionen Jahren ab: Es begann damit, dass die Temperatur auf der Erde durch Kohlendioxid um fünf Grad anstieg; dann nahm es an Fahrt auf, als durch diese Erhitzung Methan freigesetzt wurde – ein anderes Treibhausgas –, und endete damit, dass bis auf einen kleinen Bruchteil alles Leben auf unserem Planeten tot war.4 Heute setzen wir der Atmosphäre deutlich schneller Kohlendioxid zu – den meisten Schätzungen zufolge etwa zehnmal so schnell.5 Das ist hundertmal so schnell wie zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit vor dem Beginn der Industrialisierung. 6 Und schon jetzt befindet sich ein Drittel mehr Kohlendioxid in der Atmosphäre als je zuvor in den letzten 800 000 Jahren 7 – vielleicht sogar in den letzten 15 Millionen Jahren. 8 Damals gab es keine Menschen. Der Meeresspiegel lag mehr als 30 Meter höher. 9

Viele Menschen verstehen den Klimawandel im Grunde als moralische und wirtschaftliche Schulden, die sich seit dem Beginn der industriellen Revolution angehäuft haben und jetzt nach mehreren Jahrhunderten zurückgezahlt werden müssen. Dabei ist mehr als die Hälfte des durch das Verbrennen fossiler Energieträger in die Atmosphäre beförderten Kohlendioxids in den letzten drei Jahrzehnten dorthin gelangt. 10 Das heißt, dass wir dem Planeten und seiner Fähigkeit, Menschen und ihrer Zivilisation ein Zuhause zu bieten, in der Zeit, die verstrichen ist, seit Al Gore sein erstes Buch über den Klimawandel veröffentlicht hat, mehr Schaden zugefügt haben als in allen Jahrhunderten – allen Jahrtausenden – zuvor. Die Vereinten Nationen gaben 1992 die Klimarahmenkonvention heraus, in der sie der Welt unmissverständliche Forschungsergebnisse präsentierten; demnach haben wir also mittlerweile genauso viel Schaden wissentlich angerichtet wie unwissentlich. Die Erderwärmung mag uns wie ein aufgeblähtes Moralstück vorkommen, das sich während mehrerer Jahrhunderte abspielt und eine Art alttestamentarische Strafe über die Urururenkel derer bringt, die dafür verantwortlich sind, da es die im 18. Jahrhundert in England einsetzende Kohleverbrennung war, die alles, was später kam, auslöste; doch diese Erzählweise weist die Schuld historischen Schurken zu und spricht uns, die wir heute leben, davon frei – unberechtigterweise. Der Großteil des Kohlendioxids gelangte erst in die Atmosphäre, als die erste Folge der amerikanischen Sitcom Seinfeld schon ausgestrahlt worden war. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind es etwa 85 Prozent.11 Die Geschichte dieses Kamikazeflugs der industrialisierten Welt umfasst nur eine einzige Lebensspanne – wir haben die Erde innerhalb der Zeit, die zwischen einer Taufe oder einer Bar-Mizwa und einer Beerdigung vergeht, aus einem robust wirkenden Zustand an den Rand der Katastrophe gebracht.

Diese Lebensspanne ist uns allen vertraut. Als mein Vater 1938 geboren wurde – zu seinen ersten Erinnerungen zählten die Nachricht des Angriffs auf Pearl Harbor und die Bilder der sagenumwobenen Air Force in den darauf folgenden Propagandafilmen –, erschien das Klimasystem den meisten Menschen stabil. Zwar hatten die Wissenschaftler den Treibhauseffekt da bereits seit einem dreiviertel Jahrhundert verstanden und wussten, dass das Kohlendioxid, das beim Verbrennen von Holz, Kohle und Öl entstand, die Erde aufheizen und alles durcheinanderbringen konnte, aber beobachtet hatten sie den Effekt bisher nicht – nicht so richtig, noch nicht –, wodurch er weniger wie eine Tatsache als mehr wie eine dunkle Prophezeiung wirkte, die sich erst in einer weit entfernten Zukunft bewahrheiten sollte, oder vielleicht nie.12 Als mein Vater 2016 starb, nur wenige Wochen nachdem Politiker aus aller Welt verzweifelt das Pariser Klimaschutzabkommen unterzeichnet hatten, war das Klimasystem dabei, in Richtung Katastrophe zu kippen, da die Grenze, die die Umweltwissenschaftler der modernen Industrie beim CO2 jahrelang als leuchtend rote Linie mit der Aufschrift Kein Durchlass vor die Nase gesetzt hatten – 400 ppm (Parts per Million) in der Erdatmosphäre, wie es in der unheimlich banalen Sprache der Klimatologen heißt –, gerade überschritten worden war.13 Und damit war das Ende natürlich noch nicht erreicht: Zwei Jahre später betrug der Monatsdurchschnitt 411, und mittlerweile ist die Luft genauso mit Schuldgefühlen durchsetzt wie mit Kohlendioxid, obwohl wir gern glauben wollen, unsere Atemluft sei frei davon.14

Die Lebensspanne lässt sich auch am Beispiel meiner Mutter darstellen: Sie kam 1945 als Kind einer jüdisch-deutschen Familie zur Welt, die vor den Schornsteinen floh, durch die die Asche ihrer Verwandten aufstieg, und genießt heute ihr 73. Lebensjahr im amerikanischen Konsumgüterparadies – ein Paradies, das durch Fabriken in Schwellenländern aufrechterhalten wird, die sich ebenfalls innerhalb einer Lebensspanne ihren Weg in die globale Mittelschicht erarbeitet haben, mit all den Verlockungen und durch fossile Brennstoffe verfügbaren Privilegien, die mit einem solchen Aufstieg einhergehen: Elektrizität, Autos, Flugreisen, rotes Fleisch. Meine Mutter hat 58 dieser Jahre als Raucherin verbracht, ihre filterlosen Zigaretten bestellt sie heute stangenweise aus China.

Es ist auch die Lebensspanne vieler der Wissenschaftler, die als Erste auf das Problem des Klimawandels aufmerksam machten, und einige von ihnen sind, so unglaublich es auch klingt, bis in die heutige Zeit aktiv – so schnell sind wir an dieser Klippe angelangt. Einige Wissenschaftler forschten sogar mit Mitteln von Exxon, einem Unternehmen, das sich mittlerweile einer Reihe von Klagen ausgesetzt sieht, in denen es um die Verantwortung für die auf uns zurollende Klimaentwicklung geht, die Teile der Erde bis zum Ende des Jahrhunderts – vorbehaltlich eines Kurswechsels in Bezug auf die fossilen Brennstoffe – für Menschen mehr oder weniger unbewohnbar zu machen droht. Denn das ist der Pfad, den wir heute so unbekümmert beschreiten – hin zu einer Erwärmung um mehr als vier Grad bis 2100.15 Laut einigen Schätzungen würde das bedeuten, dass große Gebiete in Afrika, Australien und den Vereinigten Staaten, die Teile von Südamerika, die nördlich von Patagonien liegen, und ganz Asien südlich von Sibirien durch Hitze, Verwüstung und Überschwemmungen unbewohnbar wären.16 Ganz sicher wären sie und viele weitere Regionen unwirtlich. So sieht unser Fahrplan für die Zukunft aus, zumindest sind das die Eckpunkte. Und wenn unser Planet innerhalb der Lebensspanne einer Generation bis an den Rand einer Klimakatastrophe gebracht wurde, bedeutet das, dass die Verantwortung dafür, das abzuwenden, ebenfalls einer einzigen Generation zufällt. Wir wissen auch, wem – uns.

Ich bin kein Umweltschützer und sehe mich nicht einmal als Naturliebhaber. Ich habe mein gesamtes Leben in Städten verbracht und erfreue mich an Apparaten, die in industriellen Lieferketten entstehen, auf die ich kaum einen Gedanken verschwende. Ich war noch nie campen, zumindest nicht freiwillig, und obwohl ich es immer als eine gute Idee angesehen habe, die Flüsse und unsere Luft sauber zu halten, fand ich es auch schlüssig, dass man zwischen Wirtschaftswachstum und dem Preis, den die Natur dafür zahlt, abwägen müsse – und kam zu dem Schluss, dass in den meisten Fällen wohl das Wachstum vorging. Ich würde nicht mit meinen eigenen Händen eine Kuh schlachten, um einen Hamburger zu essen, habe aber auch nicht vor, Veganer zu werden. Ich neige zu der Ansicht, dass man es ruhig genießen kann, an der Spitze der Nahrungskette zu stehen, weil ich keine großen Schwierigkeiten damit habe, eine moralische Grenze zwischen uns und anderen Tieren zu ziehen, und es sogar herabsetzend gegenüber Frauen und Nichtweißen finde, dass plötzlich die Rede davon ist, Menschenaffen und Tintenfischen einen an die Menschenrechte angelehnten Rechtsschutz einzuräumen, nur ein oder zwei Generationen, nachdem wir endlich das Monopol der weißen Männer in dieser Hinsicht aufgebrochen haben. In diesen Aspekten – zumindest in vielen von ihnen – bin ich ein typischer Amerikaner, der sein Leben, was den Klimawandel angeht, verhängnisvoll selbstgefällig und vorsätzlich verblendet verbracht hat. Dabei ist dieser Klimawandel nicht nur die massivste Gefahr, der das menschliche Leben auf der Erde je ausgesetzt war, sondern schlicht eine Bedrohung von einer ganz neuen Größe und Reichweite. Denn sie betrifft das menschliche Leben in seinem gesamten Umfang.

Vor einigen Jahren begann ich, Geschichten über den Klimawandel zu sammeln, viele von ihnen so furchterregend, mitreißend oder unheimlich, dass selbst die kleinsten Anekdoten wie Fabeln wirkten: eine Gruppe von Arktisforschern, die vom schmelzenden Eis in ihrer Forschungsstation eingeschlossen wurde, auf einer Insel, auf der auch mehrere Eisbären lebten;17 ein russischer Junge, der sich an einem aufgetauten Rentierkadaver, der viele Jahrzehnte lang im Permafrostboden eingefroren gewesen war, mit Milzbrand ansteckte und daran starb.18 Anfangs schien es, als bildeten diese Nachrichten eine neue Form der Allegorie. Aber natürlich ist der Klimawandel keine Allegorie.

Ab 2011 strömten ungefähr eine Million syrische Flüchtlinge nach Europa, die ein durch den Klimawandel und Dürren befeuerter Bürgerkrieg aus ihrer Heimat vertrieben hatte – und ein großer Teil des »populistischen Moments«, das der gesamte Westen gerade erlebt, ist eine Folge der Panik, die diese Massenmigration ausgelöst hat.19 Die bevorstehende Überflutung von Bangladesch droht, die Anzahl der Flüchtlinge mindestens zu verzehnfachen und sie in eine Welt zu entsenden, die noch stärker durch das Klimachaos destabilisiert und – so muss man befürchten – umso weniger aufgeschlossen ist, je brauner die Haut der Menschen in Not ist.20 Hinzu kommen die Flüchtlinge aus weiteren Regionen Südasiens, den Ländern Afrikas, die südlich der Sahara liegen, und aus Lateinamerika – 140 Millionen bis 2050, schätzt die Weltbank,21 also mehr als hundertmal so viele wie im Verlauf der europäischen Syrien-»Krise«22.

Die Vorhersagen der Vereinten Nationen sind noch erschreckender.23 200 Millionen Klimaflüchtlinge bis 2050.24 Das entspricht der gesamten Weltbevölkerung in der Blütezeit des Römischen Reiches, falls man sich vorstellen kann, dass jeder Mensch, der damals irgendwo auf der Erde lebte, sein Zuhause verlor und sich auf den Weg durch unwirtliche Gegenden machte, um ein neues zu finden. Und das obere Ende dessen, was in den nächsten 30 Jahren denkbar ist, sieht laut den Vereinten Nationen deutlich schlimmer aus: »eine Milliarde oder mehr Gefährdete, die kaum eine andere Wahl haben, als zu kämpfen oder zu fliehen«25. Eine Milliarde oder mehr. Das sind mehr Menschen, als heute in Nord- und Südamerika zusammen leben, und so viele, wie es noch 1820, als die industrielle Revolution im vollen Gange war, auf der ganzen Welt gab.26 Das legt nahe, dass wir die Geschichte nicht als eine Abfolge von Jahren auf einem Zeitstrahl betrachten sollten, sondern eher als einen sich immer weiter aufblähenden Ballon des Bevölkerungswachstums, das dafür sorgt, dass sich die Menschheit immer weiter über den ganzen Globus ausbreitet, bis der Ballon eine pralle Kugelform erreicht. Einer der Gründe, warum der Kohlendioxidausstoß in der letzten Generation so stark angestiegen ist, bietet gleichzeitig eine Erklärung dafür, warum die Geschichte so viel schneller abzulaufen scheint und überall jedes Jahr so viel mehr passiert: So ist es eben, wenn es derart viel mehr Menschen gibt. Schätzungen zufolge sind 15 Prozent aller menschlichen Erfahrungen im Verlauf der Geschichte Menschen zuzuordnen, die heute noch am Leben sind und ihren ökologischen Fußabdruck auf der Erde hinterlassen.27

Diese Flüchtlingszahlen sind hoch gegriffen; sie wurden vor Jahren von Forschungsgruppen ausgegeben, die damit Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Zweck oder ein bestimmtes Ziel lenken wollten. Die realen Zahlen werden mit großer Sicherheit geringer ausfallen, und Wissenschaftler schenken heute eher Projektionen Glauben, in denen von Dutzenden Millionen statt von Hunderten Millionen Menschen die Rede ist. Aber die Tatsache, dass die großen Zahlen nur das obere Ende der Skala des Möglichen darstellen, sollte uns nicht in Selbstzufriedenheit wiegen – wenn wir das Worst-Case-Szenario außen vor lassen, verfälscht das unsere Sicht auf wahrscheinlichere Entwicklungen, weil wir diese dann als Schreckensszenarien betrachten, auf die wir uns nicht gewissenhaft einstellen müssen. Grenzwerte zeigen, was denkbar ist, damit wir aus dem, was dazwischen liegt, besser ablesen können, was wahrscheinlich ist. Und vielleicht stellen sie sich sogar doch als die besseren Richtwerte heraus, führt man sich vor Augen, dass die Optimisten in dem halben Jahrhundert der Klimafurcht, das wir bereits hinter uns haben, niemals richtig gelegen haben.

Meine Geschichtensammlung wuchs täglich, aber kaum etwas davon schaffte es in die Berichterstattung über den Klimawandel im Fernsehen oder in der Zeitung, selbst wenn es dabei um die neuesten Forschungsergebnisse ging, die in den renommiertesten Fachzeitschriften erschienen waren. Natürlich war der Klimawandel ein Thema in den Medien, und er wurde auch mit Sorge beobachtet. Aber die Diskussion möglicher Auswirkungen blieb auf einen täuschend engen Bereich begrenzt, fast ausschließlich auf den Anstieg des Meeresspiegels. Ebenso besorgniserregend war, wie optimistisch die Berichterstattung alles in allem klang. Schon 1997, als das grundlegende Kyoto-Protokoll unterzeichnet wurde, galt eine Erwärmung um zwei Grad als Grenzwert zur Katastrophe: überflutete Städte, dramatische Dürren und Hitzewellen, eine Erde, die täglich von Wirbelstürmen und Monsunregengüssen heimgesucht wurde, die wir bisher unter dem Begriff »Naturkatastrophen« kannten, aber bald wohl einfach »schlechtes Wetter« nennen werden. Vor Kurzem hat der Außenminister der Marshallinseln eine weitere Bezeichnung für einen derartigen Temperaturanstieg in den Raum geworfen: »Völkermord«.28

Es besteht kaum eine Chance, dieses Szenario abzuwenden. Das Kyoto-Protokoll hat praktisch nichts bewirkt; in den 20 Jahren, die seit der Unterzeichnung vergangen sind, haben sich unsere Emissionen trotz aller Bemühungen, Gesetze und Fortschritte im Bereich der erneuerbaren Energien im Vergleich zu den 20 Jahren davor erhöht. 2016 wurde die Erwärmung um höchstens zwei Grad im Pariser Klimaabkommen als globales Ziel festgeschrieben, und geht man nach den Zeitungen, ist eine Erwärmung um diesen Wert ungefähr das schlimmste Szenario, das man sich ausmalen darf, ohne als verantwortungslos zu gelten; doch ein paar Jahre danach macht kein Industrieland Anstalten, seine Zusagen einzuhalten, und das Zwei-Grad-Ziel wirkt nun eher wie ein Best-Case-Szenario, dessen Erreichen im Augenblick schwer vorstellbar scheint. Jenseits davon erstreckt sich eine ganze Glockenkurve schlimmerer Möglichkeiten, die aber sorgsam vor der Öffentlichkeit verborgen werden.29

Für diejenigen, die über das Klima berichten, gilt es mittlerweile irgendwie als unschicklich, diese hässlichen Szenarien – und die Tatsache, dass wir unsere Chance vertan haben, in der besseren Hälfte der Kurve zu landen – zu erwähnen. Die Gründe dafür sind fast zu zahlreich, um sie aufzulisten, und so unbestimmt, dass man sie besser als Impulse bezeichnet. Vielleicht haben wir aus Anstandsgründen beschlossen, nicht über eine Welt zu reden, die sich um mehr als zwei Grad erwärmt, oder aus schlichter Angst, oder aus Angst, der Panikmache bezichtigt zu werden. Vielleicht war es, weil wir vom Erfolg technischer Errungenschaften überzeugt sind – was im Grunde nichts anderes ist als Marktgläubigkeit – oder aus Rücksicht auf innerparteiliche Differenzen oder sogar auf die Prioritätensetzung einer Partei, oder aus Skepsis der umweltbewussten Linken gegenüber, wie ich sie immer gehegt habe, oder aus purem Desinteresse am Schicksal weit in der Zukunft liegender Ökosysteme, wie ich es ebenfalls immer gehabt habe. Die wissenschaftlichen Zusammenhänge, die vielen Fachbegriffe und die schwer zu durchblickenden Zahlen verwirrten uns, oder wir befürchteten zumindest, dass die wissenschaftlichen Zusammenhänge, die vielen Fachbegriffe und die schwer zu durchblickenden Zahlen andere verwirren könnten. Wir brauchten zu lange, um das Tempo des Klimawandels zu verstehen, gingen halb konspirativ von der Verantwortlichkeit der globalen Eliten und ihrer Institutionen aus oder huldigten diesen Eliten und Institutionen, was auch immer wir von ihnen hielten. Vielleicht wollten wir nicht an furchterregendere Voraussagen glauben, weil wir meinten, gerade zum ersten Mal von der Erwärmung gehört zu haben, und davon ausgingen, dass die Dinge seit der Ausstrahlung des Films Eine unbequeme Wahrheit doch noch gar so viel schlimmer geworden sein könnten, oder weil wir gern Auto fuhren, Fleisch aßen und lauter andere Dinge taten, über die wir nicht zu genau nachdenken wollten, oder weil wir uns so »postindustriell« fühlten, dass es schwer vorstellbar war, dass wir immer noch von etwas so Materiellem wie den Heizkesseln der fossilen Brennstoffe abhängig sind. Vielleicht lag es daran, dass wir gefährlich gut darin waren, schlechte Nachrichten in eine immer absurder werdende Vorstellung von »Normalität« einzubinden, oder dass wir aus dem Fenster schauten und dort noch alles gut aussah. Oder daran, dass es uns langweilte, immer wieder die gleiche Geschichte zu lesen und zu schreiben; oder daran, dass das Klima ein so globales und deshalb allgemeines Thema ist, dass es die abgedroschensten politischen Ideen auf den Plan ruft; oder daran, dass wir noch nicht überblickten, wie sehr der Klimawandel unser Leben verändern könnte; oder daran, dass wir ganz eigennützig kein Problem damit hatten, die Erde zu zerstören, wenn nur die Bewohner anderer Regionen oder die Menschen, die sie später wütend von uns erben würden, darunter leiden mussten. Oder daran, dass wir zu sehr an einen zielgerichteten Verlauf der Geschichte und an den ewigen Fortschritt glaubten, als dass wir auf die Idee gekommen wären, dass die Geschichte auch einen Bogen in Richtung Klimagerechtigkeit schlagen könnte. Oder dass wir, wenn wir wirklich ehrlich zu uns selbst waren, die Welt bereits jetzt als einen Nullsummen-Konkurrenzkampf um die Ressourcen betrachteten und davon ausgingen, dass wir letzten Endes wahrscheinlich doch wieder als Gewinner dastehen würden, zumindest relativ betrachtet – dank der Vorteile, über die wir ohnehin schon verfügten, und durch unser Glück in der Geburtslotterie. Vielleicht hatten wir zu viel Angst um unsere Jobs und unsere Wirtschaft, um uns über die Jobs und die Wirtschaft der Zukunft Gedanken zu machen; oder wir fürchteten uns vor Robotern oder starrten auf unsere neuen Handys. Vielleicht war es aber auch so, dass wir trotz unseres Untergangsreflexes in kulturellen Fragen und des Angstkomplexes der Politik an einer tief sitzenden Alleswird-gut-Illusion litten, wenn es um das große Ganze ging, oder es gab sonst irgendwelche Gründe – das Klimakaleidoskop, das unsere Instinkte hinsichtlich der Umweltzerstörung in eine unheimliche Selbstzufriedenheit überführt, setzt sich aus so vielen Aspekten zusammen, dass es schwierig ist, das gesamte Bild der Klimaverzerrung auszumachen. Aber egal, ob es eine Frage des Nichtwollens oder des Nichtkönnens war: Wir haben uns den wissenschaftlichen Erkenntnissen einfach nicht gestellt.

Dies ist kein Buch über die wissenschaftlichen Aspekte der Erderwärmung; vielmehr handelt es davon, wie sich diese Erwärmung auf unser Leben hier auf diesem Planeten auswirkt. Aber was haben die Forschungen denn ergeben? Sie unterliegen schwierigen Voraussetzungen, da sie von zwei ungewissen Faktoren abhängen: wie sich die Menschen verhalten werden, vor allem wenn es um den Ausstoß von Treibhausgasen geht, und wie das Klima darauf reagiert, sowohl hinsichtlich der direkten Erwärmung als auch einer Vielzahl von komplexeren und manchmal widersprüchlichen Rückkopplungseffekten. Doch trotz dieser Einschränkungen sprechen die Forschungsergebnisse eine klare – eine erschreckend klare – Sprache. Der Intergovernmental Panel on Climate Change der Vereinten Nationen (IPCC oder Weltklimarat, wie er im Deutschen oft genannt wird) liefert den Goldstandard, wenn es um die Einschätzung des Zustands unseres Planeten und den wahrscheinlichen Verlauf des Klimawandels geht – auch deshalb, weil es sich um eine konservative Institution handelt, die nur absolut unstrittige Forschungsergebnisse berücksichtigt. Der nächste Sachstandsbericht des Weltklimarats wird für das Jahr 2022 erwartet, aber schon der letzte besagte, dass wir, selbst wenn wir umgehend gegen die Emissionen vorgehen und sofort alle Maßnahmen in Angriff nehmen, die wir im Pariser Klimaschutzabkommen zugesagt, aber noch lange nicht umgesetzt haben, mit einer Erderwärmung um etwa 3,2 Grad rechnen müssen, also um knapp das Dreifache des Anstiegs, der sich seit Beginn der Industrialisierung ereignet hat.30 Das würde das eigentlich undenkbare Schmelzen der Eisschilde der Erde nicht nur in den Bereich des Möglichen rücken, sondern es sogar ganz real machen.31 Dann würden irgendwann nicht nur Miami und Dhaka unter Wasser stehen, sondern auch Shanghai, Hongkong und 100 weitere Städte auf der Welt.32 Der Kipppunkt für diese Entwicklung soll bei rund zwei Grad liegen, und in der jüngeren Vergangenheit haben mehrere umstrittene Studien ergeben, dass wir selbst dann mit einem solchen Anstieg bis Ende des Jahrhunderts rechnen müssten, wenn wir rasch jeden CO2-Ausstoß unterbänden.33

Die Verheerungen durch den Klimawandel werden 2100 kein plötzliches Ende nehmen, nur weil die meisten Modelle üblicherweise an jenem Punkt enden. Deshalb bezeichnen manche Forscher, die sich mit der Erderwärmung befassen, die darauffolgenden 100 Jahre als das »Höllenjahrhundert«34. Der Klimawandel geschieht schnell, viel schneller, als wir es anscheinend begreifen und anerkennen können, aber er hält lange an, fast länger, als wir in der Lage sind, uns vorzustellen.

In Texten über die Klimaerwärmung finden sich oft Analogien aus der Erdgeschichte: Als es auf der Erde das letzte Mal so warm war, heißt es da, war der Meeresspiegel so und so hoch. Diese Zusammenhänge sind kein Zufall. Vereinfacht gesagt gilt: Der Meeresspiegel war so hoch, weil es auf der Erde so warm war, und die geologischen Daten sind das beste Modell, das wir haben, um das höchst komplizierte Klimasystem zu verstehen und einzuschätzen, wie viel Schaden ein Temperaturanstieg um zwei oder vier oder sechs Grad anrichten wird. Besonders beunruhigend sind deshalb jüngste Untersuchungen der weit in der Vergangenheit liegenden Erdgeschichte, die nahelegen, dass unsere aktuellen Klimamodelle das Ausmaß der Erwärmung, das bis 2100 erreicht sein wird, um etwa die Hälfte unterschätzt haben.35 Anders formuliert: Die Temperaturen könnten letztendlich um das Doppelte dessen steigen, was der Weltklimarat voraussagt. Selbst wenn wir die Vorgaben des Pariser Abkommens umsetzen, würde die Erwärmung dann vier Grad betragen, was eine grüne Sahara und eine von Bränden dominierte Savanne anstelle der tropischen Regenwälder zur Folge hätte.36 Die Verfasser eines kürzlich veröffentlichten Artikels vertraten die Meinung, dass die Temperaturen sogar noch stärker steigen könnten – selbst bei einem kompletten Wegfall der Emissionen seien vier oder fünf Grad denkbar, was die Bewohnbarkeit der Erde ernsthaft gefährden würde. »Hitzekammer Erde« nannten sie dieses Szenario.37

Da es um so kleine Zahlen geht – eins, zwei, vier –, neigen wir dazu, die Unterschiede zwischen ihnen zu verwischen. Die bisherigen Erfahrungen und die Geschichte der Menschheit bieten keine guten Anhaltspunkte dafür, was uns bei diesen Werten erwartet, aber ähnlich wie bei Weltkriegen oder wiederkehrenden Krebstumoren gilt: Wir wollen nicht einmal einen davon erleben. Bei zwei Grad begännen die Eisschilde zu verschwinden,38 400 Millionen Menschen würden an Wassermangel leiden, die Großstädte rund um den Äquator würden unbewohnbar und selbst in den nördlichen Breitengraden würden Hitzewellen jeden Sommer Tausende Menschen das Leben kosten.39 Es gäbe 32-mal so viele extreme Hitzeperioden in Indien wie heute, von denen jede einzelne fünfmal so lange andauern würde und die insgesamt 93-mal so viele Menschen beträfen.40 Das ist das BestCase-Szenario. Bei drei Grad würde Südeuropa dauerhaft verdorren, während die durchschnittliche Trockenzeit in Mittelamerika 19 Monate und in der Karibik 21 Monate länger andauern würde. In Nordafrika wären es 60 Monate mehr – fünf Jahre. Im Mittelmeerraum würde doppelt so viel Fläche Waldbränden zum Opfer fallen, in den USA sechsmal so viel oder noch mehr. Bei einer Erwärmung um vier Grad gäbe es allein in Lateinamerika jährlich acht Millionen mehr Denguefieber-Fälle und fast jährlich eine globale Nahrungsmittelkrise.41 Die Anzahl der hitzebedingten Todesfälle könnte um 9 Prozent steigen.42 Die Schäden durch über die Ufer tretende Flüsse würden sich in Bangladesch verdreißigfachen, in Indien verzwanzigfachen und in Großbritannien sogar versechzigfachen. An manchen Orten wäre es möglich, dass sechs klimabedingte Naturkatastrophen gleichzeitig auftreten, und die Schäden könnten weltweit über 600 Billionen Dollar betragen – das übersteigt das gesamte Vermögen, das es heute auf der ganzen Welt gibt. Die Anzahl der Kriege und Konflikte könnte sich verdoppeln.

Selbst wenn wir es schaffen, die Erwärmung bis 2100 auf unter zwei Grad zu begrenzen, enthält die Atmosphäre dann 500 ppm Kohlendioxid – vielleicht mehr. Das letzte Mal, als das der Fall war, vor 16 Millionen Jahren, war die Erde nicht zwei, sondern zwischen fünf und acht Grad wärmer, was zu einem Anstieg des Meeresspiegels um knapp 40 Meter führte.43 Einige dieser Prozesse laufen über Jahrtausende ab, aber sie sind unumkehrbar und daher dauerhaft. Niemand sollte sich der Hoffnung hingeben, den Klimawandel einfach rückgängig zu machen. Das geht nicht. Er wird uns davonlaufen.

Das alles trägt dazu bei, dass der Klimawandel das ist, was der Wissenschaftler Timothy Morton ein »Hyperobjekt« nennt – ein Konzept, das so groß und komplex ist, dass es nie vollständig erfasst werden kann, wie das Internet.44 Viele Aspekte des Klimawandels – sein Umfang, seine Tragweite, seine Brutalität – erfüllen diese Definition schon ganz allein; zusammen könnten sie ihn in eine noch höhere und noch unbegreifbarere begriffliche Kategorie aufsteigen lassen. Aber was unserem Geist vielleicht am meisten zu schaffen macht, sind die zeitlichen Dimensionen: Die schlimmsten Auswirkungen treffen so viel später ein, dass wir ihnen reflexhaft ihre Existenz absprechen.

Doch irgendwann werden diese Auswirkungen uns und unsere Wahrnehmung vorführen. Die ökologischen Dramen, die wir durch die Bodennutzung und das Verbrennen fossiler Energieträger – ein Jahrhundert lang ganz allmählich und seit ein paar Jahrzehnten sehr rasch – verursacht haben, werden sich über Jahrtausende hinziehen, über einen längeren Zeitraum, als es bisher Menschen gibt; zum Teil werden Lebewesen und Umgebungen eine Rolle spielen, die wir noch gar nicht kennen und die überhaupt erst durch die Kräfte der Erwärmung entstehen werden. Und daher haben wir mit uns selbst die praktische Abmachung getroffen, nur den Teil des Klimawandels zu betrachten, der in diesem Jahrhundert zu beobachten sein wird. Bis 2100 wird sich die Erde laut den Vereinten Nationen um 4,5 Grad erwärmt haben, wenn wir so weitermachen wie bisher.45 Das wäre weiter von dem Weg entfernt, den das Pariser Abkommen vorgibt, als der Weg des Pariser Abkommens vom Zwei-Grad-Ziel entfernt ist, das die Schwelle zur Katastrophe darstellt und das wir dann um mehr als das Doppelte verfehlen würden.

Wie die amerikanische Wissenschaftlerin Naomi Oreskes geschrieben hat, enthalten unsere Modelle viel zu viele Ungewissheiten, um ihre Vorhersagen wortwörtlich zu nehmen.46 Doch wenn man diese bestehenden Modelle immer wieder durchspielt, wie es Gernot Wagner und Martin Weitzman in ihrem Buch Klimaschock getan haben, landet man mit einer Wahrscheinlichkeit von 11 Prozent bei einer Erwärmung von über sechs Grad.47 Ein kürzlich erschienener Text des Nobelpreisträgers William D. Nordhaus legt nahe, dass ein Wirtschaftswachstum, das die Erwartungen übertrifft, in mehr als einem Drittel der Fälle dafür sorgen würde, dass die Emissionen das Worst-CaseSzenario des »Weiter so«, das die UN ermittelt haben, übersteigen – mit anderen Worten, dass uns ein Temperaturanstieg um fünf Grad oder mehr bevorstünde.48

Für das Weiter-so-Szenario findet sich in der Einschätzung des Weltklimarats aus dem Jahr 2014 ein Maximalwert – also ein Worst-Case-Wert einer Worst-Case-Entwicklung – von acht Grad. Dann wäre es am Äquator und in den Tropen so heiß, dass die Menschen dort sich nicht im Freien bewegen könnten, ohne zu sterben.49

Doch in einer acht Grad wärmeren Welt wären die direkten Auswirkungen der Hitze das geringste Problem: Der Meeresspiegel würde irgendwann um 60 Meter ansteigen,50 sodass zwei Drittel der heute größten Städte der Welt unter Wasser ständen,51 auf kaum einer Landfläche ließen sich noch effizient die Pflanzen anbauen, von denen wir uns heute ernähren;52 Wälder würden von tobenden Feuerstürmen und Küsten immer häufiger von immer heftigeren Wirbelstürmen heimgesucht. Die Tropenkrankheiten würden sich nach Norden ausbreiten und sich wie eine erstickende Decke selbst über Teile der Welt legen, die wir heute als Arktis bezeichnen,53 ungefähr ein Drittel der Erde wäre durch die direkte Hitze unbewohnbar und das, was für uns heute buchstäblich beispiellose und unerträgliche Dürren und Hitzewellen sind, würde dann zum Alltag der Menschen gehören, die unter diesen Umständen noch fortbestehen.

Diese acht Grad werden wir so gut wie sicher nicht erreichen. Einige kürzlich erschienene Artikel legen sogar nahe, dass unser Klima in Wahrheit gar nicht so empfindlich auf Emissionen reagiert, wie wir dachten, und dass selbst der Weiter-So-Pfad im schlimmsten Fall nur zu einem Anstieg um fünf Grad bis zum Ende des Jahrhunderts führen würde und es wahrscheinlich eher vier Grad wären.54 Aber fünf Grad sind fast so unvorstellbar wie acht, und vier Grad sind nicht viel besser: Die Welt würde an einem ständigen Lebensmittelmangel leiden, und die Alpen wären so trocken wie das Atlasgebirge.55

Zwischen diesem Szenario und der Welt, in der wir jetzt leben, liegt nur die offene Frage nach dem Verhalten des Menschen. Eine gewisse weitere Erwärmung ist uns aufgrund der verzögerten Reaktion unseres Planeten auf die Treibhausgase heute schon sicher. Aber welchen der aufgezeichneten Pfade wir einschlagen – eine Erwärmung um zwei, um drei, um vier, fünf oder sogar acht Grad –, hängt in überwältigendem Maß davon ab, welche Entscheidungen wir jetzt treffen. Das einzige, was uns vor vier Grad bewahren könnte, ist unser Wille, einen neuen Kurs einzuschlagen, und den müssen wir erst noch unter Beweis stellen. Da die Erde so groß und so ökologisch vielfältig ist, wie sie ist, da der Mensch sich als anpassungsfähig erwiesen hat und sich wahrscheinlich weiter anpassen wird, um einer tödlichen Bedrohung zu entgehen, und weil die verheerenden Effekte der Erderwärmung schon bald endgültig zu gewaltig sein werden, um sie zu ignorieren oder sogar zu verleugnen, ist es unwahrscheinlich, dass der Klimawandel unseren Planeten tatsächlich unbewohnbar machen wird. Doch wenn wir nichts gegen den Kohlendioxidausstoß unternehmen, wenn die Industrie in den kommenden 30 Jahren genauso weitermacht wie bisher und immer mehr CO2 freisetzt, wird das Leben in ganzen Regionen bis zum Ende des Jahrhunderts nach allen Standards, die wir heute haben, unerträglich sein.

Vor ein paar Jahren überlegte der Biologe E.O. Wilson unter dem Schlagwort »Die Hälfte der Erde«, ob wir uns an den vom Klimawandel ausgeübten Druck anpassen könnten, indem wir der Natur die halbe Erde überlassen, damit sie sich dort ungestört erholen kann, und den Menschen die andere, bewohnbare Hälfte des Planeten zuweisen.56 Dieser Teil könnte auch kleiner ausfallen, vielleicht sogar beträchtlich kleiner, und das nicht ganz freiwillig – schließlich lautet der Untertitel von Wilsons Buches Ein Planet kämpft um sein Leben. Auf längere Sicht ist auch der noch erschreckendere Ausgang möglich – dass die bewohnbare Erde sich verdunkelt, während sie einem durch den Menschen verursachten Untergang entgegenstrebt.

Es wäre schon eine spektakuläre Kombination aus Pech und schlechten Entscheidungen nötig, um eine solche Art von Erdverschwinden innerhalb unserer Lebenszeit herbeizuführen. Aber die Tatsache, dass wir diesen Albtraum überhaupt ins Reich des Möglichen gerückt haben, ist vielleicht die erdrückendste kulturelle und historische Erkenntnis der Moderne – der Aspekt unserer Zeit, den die Historiker der Zukunft untersuchen werden und von dem wir gehofft hätten, dass schon die vorherigen Generationen die Weitsicht gehabt hätten, ihn ins Auge zu fassen. Was wir auch tun, um die Erwärmung aufzuhalten, und wie aggressiv wir uns auch gegen ihre Auswirkungen zu schützen versuchen, wir werden diejenigen sein, die die Zerstörung des menschlichen Lebens auf der Erde in Sichtweite geholt haben – nah genug, dass wir deutlich erkennen können, wie sie aussieht, und halbwegs genau wissen, wie sie unsere Kinder und Enkel bestrafen würde. Sogar nah genug, dass wir die Auswirkungen langsam selbst zu spüren bekommen, wenn wir nichts dagegen unternehmen.

Es ist fast schon schwer zu glauben, wie viel wie schnell passiert ist. Im Spätsommer 2017 entstanden im Atlantik drei Hurrikans auf einmal, die sich zunächst hintereinander in die gleiche Richtung bewegten, wie aufmarschierende Soldaten.57 Hurrikan Harvey brachte, als er auf das Festland traf, einen derartig starken Sturzregen über Houston, dass mancherorts von einem »500 000-Jahres-Ereignis« die Rede war – was bedeutete, dass eine solche Niederschlagsmenge dort eigentlich nur alle 500 Jahrtausende zu erwarten wäre.58

Aufmerksame Beobachter von Umweltnachrichten wissen bereits, wie bedeutungslos der Klimawandel derartige Formulierungen gemacht hat. Aber in gewisser Hinsicht sind solche Zahlen doch nützlich: Sie zeigen uns, wie weit uns die Erderwärmung von allen Richtwerten entfernt hat, an denen sich unsere Großeltern beim Thema Naturkatastrophen noch orientierten. Nimmt man die gängigere Zahl von 500 Jahren als Beispiel, bedeutet das, dass ein solches Unwetter in der gesamten Zeit des Römischen Reiches einmal vorkommen sollte. Vor 500 Jahren hatten sich die Engländer noch nicht auf der anderen Seite des Atlantiks niedergelassen – wir reden hier also von einem Sturm im Verlauf der ganzen Zeit, in der die Europäer auf dem amerikanischen Kontinent eintrafen und Kolonien gründeten, in der die Kolonisten eine Revolution und die Amerikaner einen Bürgerkrieg und zwei Weltkriege bestritten, in der ihre Nachkommen ein Baumwollimperium auf dem Rücken von Sklaven errichteten, die Sklaven freiließen und dann deren Nachkommen malträtierten, in der eine Industrialisierung und eine Postindustrialisierung stattfanden, in der die Amerikaner im Kalten Krieg triumphierten, das »Ende der Geschichte« ausriefen und nur ein Jahrzehnt später deren dramatische Rückkehr erlebten. Ein Sturm in all diesen Jahren – das ist es, was wir laut der meteorologischen Aufzeichnungen erwarten dürften. Nur einer. Harvey brachte die dritte Fünfhundertjahresflut seit 2015 über Houston.59 Und in manchen Gebieten war das Unwetter so heftig, wie es angeblich sogar noch tausendmal seltener vorkam.

Im gleichen Jahr wurde Irland von einem atlantischen Wirbelsturm heimgesucht,60 verloren 45 Millionen Menschen in Südasien durch Überschwemmungen ihre Häuser,61 legten beispiellose Flächenbrände weite Teile von Kalifornien in Schutt und Asche. Und dann war da noch eine ganz neue Kategorie des alltäglichen Albtraums, die einst unvorstellbare, vom Klimawandel erfundene Kategorie der unbemerkten Naturkatastrophen – Krisen von so gewaltigem Ausmaß, dass sie sich früher für Jahrhunderte in unser Gedächtnis eingebrannt hätten, ziehen heute einfach so an uns vorüber, ignoriert, übersehen oder vergessen. 2016 setzte eine »Jahrtausendflut« den kleinen Ort Ellicott City im US-Bundesstaat Maryland unter Wasser, um nur ein beliebiges Beispiel herauszugreifen, und zwei Jahre später geschah das Gleiche noch einmal.62 In einer Woche im Sommer 2018 litten Dutzende Orte überall auf der Welt unter Rekordhitzewellen, von Denver über Burlington bis nach Ottawa, von Glasgow über Shannon bis nach Belfast, von Tiflis über Eriwan bis hin zu ausgedehnten Landstrichen in Südrussland.63 Im Monat zuvor war die Tagestemperatur in einer Stadt im Oman auf 50 Grad gestiegen und sank auch nachts nicht unter 42 Grad, während im kanadischen Quebec 54 Menschen durch die Hitze starben.64 In der gleichen Woche loderten im Westen der USA 100 große Waldbrände,65 darunter einer in Kalifornien, der sich an einem einzigen Tag um über 1 500 Hektar ausdehnte,66 und ein anderer in Colorado, bei dem die Flammen wie bei einem Vulkanausbruch 100 Meter gen Himmel schossen, einen ganzen Vorort verschluckten und ganz nebenbei einen neuen Begriff prägten, den »Feuer-Tsunami«67. Auf der anderen Seite der Erde erlebte Japan sintflutartige Regengüsse, sodass 1,2 Millionen Menschen evakuiert werden mussten.68 Später in jenem Sommer zwang der Taifun Mangkhut 2,45 Millionen Festlandchinesen, ihre Häuser zu verlassen,69 in der gleichen Woche, in der der Hurrikan Florence über North und South Carolina hinwegfegte, die Hafenstadt Wilmington kurzzeitig in eine Insel verwandelte70 und das Wasser in weiten Landstrichen durch Schweineexkremente und Asche verseuchte.71 Unterwegs erzeugten die Ausläufer von Florence Dutzende von Tornados.72 Im vorausgegangenen Monat hatte der indische Bundesstaat Kerala eine der schlimmsten Überschwemmungen seit fast 100 Jahren erlebt.73 Im Oktober ließ ein Wirbelsturm im Pazifik die hawaiianische Insel East Island komplett im Meer versinken.74 Und im November – traditionellerweise der Auftakt der Regensaison in Kalifornien – erlebte der US-Bundesstaat stattdessen einen der tödlichsten Brände seiner Geschichte, das sogenannte Camp Fire, das Hunderte Quadratkilometer rund um Chico verbrannte und zu Dutzenden Toten und vielen Vermissten führte, ironischerweise in einer Stadt mit dem Namen Paradise.75 Die Zerstörungen waren so gewaltig, dass das Woolsey Fire, das gleichzeitig in der Nähe von Los Angeles wütete und zur kurzfristigen Evakuierung von 170 000 Menschen führte, dagegen fast in den Hintergrund trat.

Die Verlockung ist groß, beim Blick auf diese lange Reihe von Ereignissen zu denken: Der Klimawandel ist hier. Und eine Reaktion darauf, Umstände eintreffen zu sehen, die schon lange vorhergesagt waren, ist das Gefühl, in eine neue Ära einzutreten, in der alles anders ist. So beschrieb auch der kalifornische Gouverneur Jerry Brown zunächst die Lage, als sich sein Staat mitten im Waldbrandchaos befand: »das neue Normal«76.

Die Wahrheit ist allerdings viel beängstigender. Wir haben es mit dem Ende des Normalen zu tun, es wird kein Normal mehr geben. Wir haben die Umweltbedingungen, die es dem Menschen gestatteten, zu dem zu werden, was er ist, bereits hinter uns gelassen – im Rahmen einer ungewissen und ungeplanten Wette darauf, wie viel er wohl ertragen kann. Das Klimasystem, das uns und alles, was wir unter den Oberbegriffen »Gesellschaft« und »Zivilisation« kennen, großgezogen hat, ist gestorben, wie ein Elternteil. Doch das Klimasystem, das wir seit einigen Jahren beobachten, das immer und immer wieder auf die Erde einprügelt, bietet keinen Ausblick auf unsere düstere Zukunft. Es wäre zutreffender, es als Produkt unserer jüngeren Klimavergangenheit zu bezeichnen, das sich bereits jetzt auf dem Weg in den Mülleimer der Umweltnostalgie befindet. So etwas wie eine »Naturkatastrophe« gibt es nicht mehr, und es ist falsch zu sagen, dass die Lage sich verschlechtern wird – genau genommen ist das schon passiert. Selbst wenn die Menschheit wundersamerweise sofort damit aufhören würde, Kohlendioxid in die Luft zu pusten, stände uns immer noch ein gewisser Temperaturanstieg durch den bisherigen Ausstoß bevor. Und da unsere Emissionen weltweit betrachtet immer noch steigen, sind wir natürlich weit davon entfernt, der Atmosphäre kein CO2 mehr zuzuführen, und damit auch weit davon entfernt, den Klimawandel aufzuhalten. Die desaströsen Auswirkungen, die wir heute überall um uns herum erleben, sind immer noch besser als das Best-Case-Szenario und die Klimakatastrophen, die die Erderwärmung mit sich bringen wird.

Das heißt, dass wir noch lange kein neues Gleichgewicht erreicht haben. Wir haben nur den ersten Schritt auf die Planke getan, die vom Piratenschiff aufs offene Meer hinausragt. Vielleicht liegt es an der ermüdenden, irreführenden Debatte darüber, ob der Klimawandel »real« ist, dass viele von uns den falschen Eindruck gewonnen haben, es drehe sich um eine Ja-oder-Nein-Frage. Aber das stimmt nicht, genauso wenig wie die Annahme, es ginge um »das heutige Wetter für immer« oder »den Weltuntergang morgen«. Es handelt sich um eine Entwicklung, die immer schlimmer werden wird, solange wir weiter Treibhausgase erzeugen. Daher werden wir das Leben in einem durch unser Tun entstandenen Klima auch nicht als Übergang von einem stabilen Ökosystem in ein anderes, etwas schlechteres erleben, egal wie degradiert oder zerstörerisch das Klima dann auch ist. Die Auswirkungen werden häufiger und extremer werden, je stärker sich die Erde aufheizt: von einem Grad auf 1,5 auf ziemlich sicher zwei Grad und darüber hinaus. Die Klimakatastrophen der letzten Jahre mögen den Eindruck erwecken, als könne der Planet nicht mehr aushalten. Dabei betreten wir diese schöne neue Welt, die in sich zusammenbricht, sobald wir den Fuß hineinsetzen, gerade erst.

Viele dieser Wetterereignisse wurden von Diskussionen über ihre Auslöser begleitet – darüber, wie viel dessen, was sie uns angetan haben, daraus resultiert, was wir der Erde angetan haben. Für diejenigen, die ganz genau wissen wollen, wie sich ein gewaltiger Wirbelsturm aus einem ruhigen Meer erhebt, lohnen sich diese Untersuchungen, doch für alle praktischen Fragen halten sich die Bedeutung und die Erkenntnisse der Debatte stark in Grenzen. Die Modelle könnten ergeben, dass ein konkreter Hurrikan vielleicht 40 Prozent seiner Kraft der menschengemachten Erderwärmung verdankt und eine bestimmte Dürreperiode heute möglicherweise um 50 Prozent schlimmer ausfällt als es im 17. Jahrhundert der Fall gewesen wäre. Aber der Klimawandel ist kein isolierter Hinweis, den wir am Tatort eines lokalen Verbrechens aufspüren können – eines Wirbelsturms, einer Hitzewelle, einer Hungersnot, eines Kriegs. Die Erderwärmung ist kein konkreter Täter, sondern eine Verschwörung. Wir alle leben innerhalb des Klimas und innerhalb der Veränderungen, die wir verursacht haben; sie schließen uns und alles, was wir tun, ein. Wenn Wirbelstürme einer bestimmten Stärke heute fünfmal häufiger in der Karibik auftreten als in präkolumbischen Zeiten, grenzt es an Belanglosigkeit, darüber zu streiten, ob dieser oder jener »klimabedingt« ist. Alle heutigen Hurrikans entstehen in den Wettersystemen, die wir verdorben haben, und deshalb gibt es mehr von ihnen und sie sind heftiger. Das Gleiche gilt für Flächenbrände: Das einzelne Feuer mag durch eine Grillparty oder ein defektes Stromkabel ausgelöst worden sein, aber dass die Brände insgesamt schneller, stärker und länger lodern, liegt an der Erderwärmung, die uns in der Feuersaison keine Atempause mehr gönnt. Der Klimawandel findet nicht hier oder dort statt, sondern überall, und überall gleichzeitig. Wenn wir uns nicht entschließen, ihm Einhalt zu gebieten, wird er niemals aufhören.

In den vergangenen Jahrzehnten ist der Begriff »Anthropozän« aus dem Wortschatz des akademischen Diskurses in den allgemeinen Sprachgebrauch hinübergewandert – als Bezeichnung des geologischen Zeitalters, in dem wir heute leben, und als Hinweis darauf, dass es sich um eine Ära handelt, die es durch das menschliche Eingreifen auf die Schautafel der Tiefenzeit geschafft hat. Eine Problematik des Begriffs besteht darin, dass er eine Eroberung der Natur impliziert, dass sogar die biblische »Herrschaft« darin nachhallt. Und egal, wie optimistisch Sie der Auffassung, wir hätten die Natur bereits verwüstet, gegenüberstehen – was mit Sicherheit der Fall ist –, so ist es doch noch etwas anderes, sich vorzustellen, dass wir sie nur provoziert haben und zunächst durch unsere Unwissenheit und später durch unser Leugnen ein Klimasystem geschaffen haben, das nun über Jahrhunderte hinweg Krieg gegen uns führen wird, vielleicht bis es uns vernichtet hat. Das ist es, was der Meeresforscher Wally Broecker, der onkelhafte Meeresforscher, der zur Verbreitung des Begriffs »globale Erderwärmung« beitrug, meint, wenn er die Erde als »zornige Bestie« bezeichnet.77 Man könnte auch »Kriegsmaschine« sagen. Wir füttern sie jeden Tag mit neuen Waffen.

Die Auswirkungen des Klimawandels werden nicht in Form einzelner Ereignisse auftreten – das ist ein weiterer Irrglaube. Stattdessen werden sie in noch nie dagewesenen Kaskaden über uns hereinbrechen, Wasserfälle und Lawinen der Zerstörung, die unserem Planeten einen Schlag nach dem anderen verpassen, immer heftiger und aufeinander aufbauend, auf eine Weise, die unsere Reaktionsfähigkeit zersetzt und einen Großteil der Landschaft umpflügt, die wir seit Jahrhunderten als sicheren Grund betrachten, auf der wir uns bewegen, Häuser und Straßen bauen, unsere Kinder durch die Schulzeit bringen und sie ins Erwachsenenleben führen – immer in der Gewissheit, alles sei sicher. Diese Kaskaden untergraben das Versprechen, dass die Welt, die wir uns aus der Natur gebaut und erschaffen haben, uns auch gegen diese beschützen werde, statt sich mit den Kräften der Katastrophe gegen ihre Schöpfer zu verbünden.

Denken Sie an die Waldbrände in Kalifornien. Im März 2018 riefen die Verantwortlichen des County Santa Barbara die verpflichtende Evakuierung der Bewohner von Montecito, Goleta, Santa Barbara, Summerland und Carpinteria aus – wo schon im vorausgegangenen Dezember ein schlimmes Feuer gewütet hatte. Es war dort die vierte klimabedingte Evakuierungsanordnung innerhalb von nur drei Monaten, aber nur bei der ersten war ein Feuer die Ursache gewesen.78 Bei den beiden anderen ging es um Erdrutsche, die dieses Feuer ermöglicht hatte, was dazu führte, dass die Bewohner eines der nobelsten Orte im glamourösesten Bundesstaat des bei Weitem mächtigsten Landes der Welt befürchten mussten, ihre geliebten Weinreben und Pferdeställe, ihre Weltklassestrände und die großzügig ausgestatteten Schulen könnten unter einer Schlammlawine begraben werden, wenn der ganze Ort ebenso gründlich verwüstet würde wie die ausladenden Siedlungen aus improvisierten Hütten, die die Rohingya-Flüchtlinge aus Myanmar in der Monsunregion in Bangladesch errichtet hatten.79 Und so kam es dann auch. Mehr als ein Dutzend Menschen starben, darunter ein Kleinkind, das vom Schlamm mitgerissen und kilometerweit den Hang hinab bis zum Meer getragen wurde.80 Die Schulen blieben geschlossen und die großen Verbindungsstraßen waren blockiert, sodass die Rettungsfahrzeuge nicht durchkamen und der Ort in eine Binneninsel verwandelt wurde, wie hinter einer Barrikade, erstickt durch eine Schlinge aus Schlamm.

Manche Klimakaskaden werden weltumspannend ablaufen – und ihr Ausmaß sorgt dafür, dass ihre Auswirkungen durch den merkwürdigen Taschenspielertrick der Umweltveränderungen fast unbemerkt bleiben. Eine wärmer werdende Erde führt zum Abschmelzen des arktischen Eises, was bedeutet, dass weniger Sonnenlicht reflektiert und dafür mehr absorbiert wird, wodurch sich die Erde noch schneller erwärmt, was wiederum dazu führt, dass die Meere weniger Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen und sich die Erde noch schneller erwärmt. Eine wärmer werdende Erde lässt auch den Permafrostboden in der Arktis auftauen, der 1 800 Gigatonnen Kohlenstoff bindet81 – mehr als doppelt so viel, wie sich momentan in der Erdatmosphäre befinden –, und der, wenn der Boden taut, teilweise in Form von Methan entweichen könnte, das auf ein Jahrhundert gerechnet ein 34-mal stärkeres Treibhausgas ist als Kohlendioxid.82 Auf zwei Jahrzehnte betrachtet wirkt es sogar 86-mal so stark. Eine heißere Erde ist unterm Strich schlecht für die Pflanzenwelt, was ein Waldsterben auslösen würde – Dschungelgebiete so groß wie ganze Länder und Dickichte, die sich über so viele Kilometer erstrecken, dass sie Mythen und Legenden hervorgebracht haben, würden verkümmern und schrumpfen –, was der natürlichen Fähigkeit des Planeten, Kohlendioxid aufzunehmen und in Sauerstoff umzuwandeln, einen schweren Schlag versetzen würde, was zu noch höheren Temperaturen führt, was noch mehr Waldsterben auslöst und so weiter. Höhere Temperaturen bedeuten mehr Waldbrände, was wiederum weniger Bäume bedeutet, was eine geringere CO2-Aufnahme bedeutet, was mehr Kohlendioxid in der Luft bedeutet, was eine noch wärmere Erde bedeutet – und so weiter. Eine wärmere Erde steigert den Wasserdampf in der Atmosphäre, und da Wasserdampf ein Treibhausgas ist, lässt auch das die Temperatur ansteigen – und so weiter. Wärmere Meere können weniger Hitze absorbieren, was heißt, dass mehr davon in der Luft verbleibt, und weniger Sauerstoff in sich lösen, was dem Phytoplankton zusetzt, das im Ozean das erledigt, was die Pflanzen auf dem Land übernehmen: Es vertilgt Kohlenstoff und produziert Sauerstoff. Sein Verschwinden lässt die Kohlendioxidmenge steigen, was die Erde weiter erwärmt – und so weiter. Das ist es, was die Klimaforscher »Rückkopplungen« nennen, und es gibt noch mehr solche Systeme.83 Manche wirken in die entgegengesetzte Richtung und schwächen den Klimawandel ab. Doch deutlich mehr von ihnen würden den Temperaturanstieg beschleunigen, wenn wir sie erst einmal auslösen. Und wie genau sich diese komplexen, gegenläufigen Systeme aufeinander auswirken – welche Effekte durch Rückkopplungen verstärkt und welche unterlaufen würden – ist unbekannt, was alle Bemühungen, für unsere Klimazukunft zu planen, in eine dunkle Wolke der Ungewissheit hüllt. Wir wissen, wie der bestmögliche Ausgang des Klimawandels aussieht – so unrealistisch er auch sein mag –, weil dieses Szenario der Welt, in der wir heute leben, ziemlich ähnlich sähe. Aber wir haben noch kaum einen Gedanken auf die Kaskaden verwendet, die uns in den höllenähnlichen Bereich der Glockenkurve befördern könnten.

Andere Kaskaden wirken sich regional aus, sie brechen über bestimmte Menschengruppen herein und zwingen sie in die Knie. Und das kann durchaus im Wortsinn gemeint sein – in der Schweiz hat der Klimawandel aufgrund von sogenannten »Regen auf Schnee«-Ereignissen eine ganz neue Form von Lawinen hervorgebracht, wie sie auch zum Überlaufen des Oroville-Staudamms in Nordkalifornien und den Überschwemmungen im kanadischen Alberta im Jahr 2013 führten, die Schäden in Höhe von fünf Milliarden Dollar anrichteten.84 Aber schon jetzt gibt es auch andere Arten von Auswirkungen. Der klimabedingte Wassermangel und Ernteausfälle drängen Klimaflüchtlinge in die Nachbarregionen, die ohnehin schon unter Ressourcenknappheit leiden. Der Anstieg des Meeresspiegels überspült Anbauflächen mit Salzwasser; er verwandelt Ackerland in Brackwassersümpfe, die denjenigen, die auf sie angewiesen sind, nicht mehr genügend Nahrung liefern; er setzt Elektrizitätswerke unter Wasser und sorgt dadurch gerade dann, wenn der Strom am dringendsten gebraucht wird, für Ausfälle; und er beschädigt Chemiefabriken und Atomkraftwerke, sodass diese ihre giftigen Gase in die Luft blasen. Die Regenfälle, die auf das Camp Fire folgten, überschwemmten die Zeltstädte, die hastig für die Opfer der ersten Katastrophe errichtet worden waren. Im Fall der Erdrutsche von Santa Barbara verwandelte die Dürre einen ganzen Staat zunächst in trockenes Buschwerk, das nur auf einen Funken wartete, dann folgte ein Jahr mit außergewöhnlich starkem, monsunähnlichem Niederschlag, der die Pflanzen wachsen und gedeihen ließ, bevor die Brände sich durch die Landschaft fraßen und die Berghänge von allen Pflanzen befreiten, deren Wurzelwerk die Millionen Tonnen loser Erde des hoch aufragenden Küstengebirges, wo sich oft Wolkenberge auftürmen und abregnen, hätte festigen können.

So manch einer, der das Ganze aus der Ferne beobachtete, fragte sich ungläubig, wie ein Erdrutsch so viele Menschenleben kosten konnte. Die Antwort lautet: Genauso wie Wirbelstürme und Tornados – indem die Landschaft zur Waffe wird, sei sie »menschengemacht« oder »natürlichen Ursprungs«. Das Tödliche an Windkatastrophen ist nicht der Wind, so heftig er auch sein mag, sondern es sind Bäume, die aus der Erde gerissen werden und sich in Keulen verwandeln, Stromleitungen, die zu Peitschen und elektrisch geladenen Schlingen werden, Häuser, die über zusammengekauerten Bewohnern einstürzen, und Autos, die durch die Gegend wirbeln. Und dann sind da noch die Folgen – die Unterbrechung der Nahrungsmittel- und Medikamentenversorgung, die verschütteten Straßen, die den Ersthelfern den Zugang versperren, die zerstörten Telefonleitungen und Funkmasten, die dafür sorgen, dass alte und kranke Menschen still und ohne Unterstützung leiden und aufs Überleben hoffen müssen.

Doch ein Großteil der Welt ist nicht Santa Barbara mit seinem dick aufgetragenen, scheinbar unendlichen Wohlstand im Stil der spanischen Missionen. In den kommenden Jahrzehnten werden viele der schlimmsten Klimakatastrophen genau diejenigen Menschen treffen, die sich am wenigsten dagegen wehren und davon erholen können. Das ist es, was oft als das Problem der »Klimagerechtigkeit« bezeichnet wird – ein treffenderer, weniger schwammiger Begriff wäre »Klimakastenwesen«. Dieses Problem stellt sich auch innerhalb von Staaten, selbst reichen, wo die Bedürftigsten in den Sumpfgebieten, den Überflutungszonen, den unzureichend an die Wasserversorgung angeschlossenen Landstrichen leben, in denen die Infrastruktur am empfindlichsten ist – unterm Strich eine unbeabsichtigte Umweltapartheid. Allein in Texas leben 500 000 arme Latinos in heruntergekommenen Siedlungen namens »colonias«, wo es kein Abpumpsystem für die immer häufiger auftretenden Überschwemmungen gibt.85

Weltweit betrachtet geht die Schere noch weiter auseinander: Die ärmsten Bevölkerungsgruppen werden in unserer neuen heißen Welt stärker leiden. Mit Ausnahme von Australien verfügen alle Länder, in denen die Temperaturen am deutlichsten ansteigen, über ein niedriges Bruttoinlandsprodukt (BIP), und das, obwohl weite Teile des globalen Südens die Erdatmosphäre bisher noch nicht in großem Maße verschmutzt haben.86 Das ist eine der vielen historischen Ironien des Klimawandels, die man eigentlich eher als Grausamkeiten bezeichnen müsste, so gnadenlos ist das Leid, das dadurch entsteht. Doch auch wenn die Verheerungen durch die Erderwärmung hauptsächlich die Ärmsten des Planeten treffen werden, kann doch auch die industrialisierte Welt sie nicht von sich fernhalten, so sehr die Bewohner der nördlichen Hemisphäre es sich – in einem wenig ehrenwerten Impuls – auch wünschen mögen. Dafür schlägt die Klimakatastrophe zu wahllos zu.

Der Glaube, dass das Klima von irgendeiner heute bestehenden Institution oder einem vom Menschen geschaffenen Instrument sinnvoll gelenkt oder beherrscht werden kann, ist vielmehr ein weiterer naiver Klimairrglaube. Die Erde hat viele Jahrtausende überstanden, ohne dass es so etwas wie eine Weltregierung gegeben hätte – sogar fast die gesamte Geschichte der menschlichen Zivilisation über, die meist aus miteinander konkurrierenden Stämmen, Sippen, Reichen und Nationalstaaten bestand und erst nach zwei brutalen Weltkriegen begann, häppchenweise eine Art Kooperationsplan zu entwerfen – nicht nur in Form des Völkerbundes und der Vereinten Nationen, sondern später auch in Form der Europäischen Union und sogar der globalisierten Märkte, die trotz all ihrer Schwächen dennoch eine Vision einer nationenübergreifenden Beteiligung verfolgen, geprägt durch den neoliberalen Ethos, dass das Leben auf Erden ein Positivsummenspiel sei. Wenn man eine Bedrohung erfinden wollte, die groß und global genug ist, um tatsächlich ein System echter internationaler Zusammenarbeit herbeizuführen, käme dabei der Klimawandel heraus – die allgegenwärtige, überwältigende und absolute Gefahr. Und dennoch haben wir jetzt gerade, da eine derartige Kooperation dringend benötigt wird – ja, sogar unerlässlich ist, um die Welt, die wir kennen, in irgendeiner Form zu erhalten –, nichts Besseres zu tun, als diese Allianzen abzubauen, in unsere nationalistischen Schlupfwinkel zu kriechen und uns von der kollektiven Verantwortung und einander zurückzuziehen. Auch dieser rasante Vertrauensverlust zählt zu den Kaskaden.

Wie sehr die Welt unter unseren Füßen uns tatsächlich fremd sein wird, ist noch nicht klar, und wie sich die Veränderungen bemerkbar machen, bleibt eine offene Frage. Den Umweltfreunden, die die Natur lange als außerweltlichen Rückzugsort angepriesen haben, ist es zu verdanken, dass wir ihre Zerstörung nun als etwas betrachten, das fernab unseres modernen Lebens abläuft – so weit davon entfernt, dass die Verheerungen die bequemen Formen einer Parabel annehmen, wie Geschichten von Äsop; wir ästhetisieren sie, auch wenn wir wissen, dass die Verluste tragisch sind.

Der Klimawandel könnte bald schon bewirken, dass sich Bäume im Herbst einfach braun färben, und dann werden wir ganze Malerschulen, in denen sich jahrhundertelang alles darum drehte, die Rot- und Orangetöne zu treffen, die wir nicht mehr zu Gesicht bekommen, wenn wir auf der Straße aus dem Autofenster schauen, in einem völlig anderen Licht betrachten.87 Die Kaffeepflanzen in Lateinamerika werden keine Früchte mehr tragen, und die Häuser am Strand werden trotz immer höherer Stelzen trotzdem noch überschwemmt werden.88 In vielen Fällen reicht schon der Blick in die Gegenwart. Allein in den letzten 40 Jahren sind laut dem World Wildlife Fund mehr als die Hälfte aller Wirbeltierarten ausgestorben, und die Anzahl der fliegenden Insekten ist in den letzten 25 Jahren um drei Viertel zurückgegangen, wie eine Studie deutscher Naturforscher ergab.89 Der empfindliche Tanz der Blumen und ihrer Bestäuber ist gestört,90 ebenso wie das Wanderverhalten des Kabeljaus, der von der amerikanischen Ostküste Richtung Arktis geflohen ist und sich so den Fischern entzieht, die seit Jahrhunderten mit ihm ihren Lebensunterhalt verdienen.91 Ebenfalls gestört ist der Winterschlaf des Schwarzbären, viele der Tiere bleiben jetzt das ganze Jahr über wach.92 Tierarten, die sich über Millionen Jahre auseinanderentwickelt haben, aber durch den Klimawandel örtlich zusammengeführt wurden, vermehren sich erstmals miteinander, was ganz neue Mischlingsformen hervorbringt, etwa den Pizzly-Bär und den Coywolf. Zoos sind bereits heute Naturkundemuseen, Kinderbücher hoffnungslos veraltet.93

Auch ältere Fabeln werden umgeschrieben: Die Geschichte von Atlantis, die seit Jahrtausenden existiert und fasziniert, wird sich mit der wahren Geschichte der Marshallinseln und von Miami Beach messen müssen, beides Orte, die sich durch ihr Versinken in Schnorchelparadiese verwandeln. Das merkwürdige Märchen vom Weihnachtsmann und seiner Geschenkewerkstatt in der Polarregion wird noch seltsamer klingen, wenn die Sommer in der Arktis eisfrei bleiben, und die Frage, wie wir die Odyssee lesen werden, wenn sich der Mittelmeerraum in eine Wüste verwandelt hat,94 wie der Glanz der griechischen Inseln darunter leiden wird, wenn eine Decke aus Saharastaub dort dauerhaft den Blick in den Himmel trübt,95 oder was es für den Stellenwert der Pyramiden bedeutet, wenn der Nil austrocknet,96 löst schmerzliche Empfindungen aus. Außerdem werden wir die Grenze zwischen den USA und Mexiko wohl ganz anders betrachten, wenn sie nur noch eine Linie im trockenen Flussbett des Rio Grande ist – er wird schon heute »Rio Sand« genannt.97 Der arrogante Westen hat fünf Jahrhunderte lang verächtlich auf diejenigen hinabgeschaut, die von tropischen Krankheiten heimgesucht wurden, und man fragt sich, wie sich das verändern wird, wenn die Malaria und Denguefieber übertragenden Moskitoarten auch in Kopenhagen und Chicago umherschwirren.

Wir verstehen Geschichten über die Natur jedoch schon so lange als Allegorien, dass wir anscheinend nicht in der Lage sind, zu erkennen, dass die Bedeutung des Klimawandels über eine Parabel hinausgeht. Er umgibt uns, beherrscht uns auf ganz reale Weise – unsere Ernteerträge, unsere Pandemien, unser Migrationsverhalten und unsere Bürgerkriege, Kriminalitätswellen und häusliche Gewalt, Hurrikans, Hitzewellen, Sturzregenfälle und Megadürren, den Verlauf unseres Wirtschaftswachstums und das, was damit zusammenhängt – und das ist heute nahezu alles. Allein in Südasien könnten sich laut der Weltbank die Lebensumstände von 800 Millionen Menschen bis 2050 rapide verschlechtern, wenn wir bei den Emissionen so weitermachen wie bisher,98 und vielleicht würde eine Verlangsamung des Klimawandels sogar zeigen, dass der Wohlstand dessen, was der schwedische Humanökologe Andreas Malm als »fossilen Kapitalismus« bezeichnet,99 nur eine Illusion ist, die allein dadurch ein paar Jahrhunderte lang aufrechterhalten wurde, dass wir den Energiewert der fossilen Brennstoffe zu dem hinzugerechnet haben, was vor Holz, Öl und Kohle eine ewige malthusianische Falle war. In dem Fall müssten wir das Bild, dass der Verlauf der Geschichte unaufhaltsam mit materiellem Fortschritt verbunden ist, korrigieren – zumindest in Bezug auf zuverlässigen und weltweiten Fortschritt – und irgendwie damit zurechtkommen, wie sehr dieses falsche Bild selbst unser Denken geprägt hat, oft auf tyrannische Art und Weise.

Anpassungen an den Klimawandel werden oft nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet, was sie dem Markt einbringen, aber in den kommenden Jahrzehnten wird sich diese Sichtweise wohl drehen: Dann ist begrenzter Wohlstand etwas, das die aggressiveren Maßnahmen mit sich bringen. Jeder Grad Erwärmung, hat man errechnet, kostet ein Land in den gemäßigten Breiten, beispielsweise die USA, etwa ein Prozent des BIP, und laut einer kürzlich veröffentlichten Studie würde ein Temperaturanstieg um zwei statt um 1,5 Grad die Welt 20 Billionen Dollar kosten.100 Denken Sie noch ein oder zwei Grad weiter, und die Zahl schießt nach oben – das ist der Zinseszins der Umweltkatastrophe; eine Erderwärmung um 3,7 Grad würde Schäden im Wert von 551 Billionen Dollar verursachen,101 laut mindestenseiner Untersuchung; dabei beträgt das weltweite Vermögen heute gerade 280 Billionen Dollar.102 Wenn sich unser CO2-Ausstoß weiter so entwickelt wie bisher, ist die Erde 2100 vier Grad wärmer; setzt man pro Grad ein Prozent des BIP an, ist bis dahin jede Chance auf Wirtschaftswachstum mehr oder weniger vertan, denn das hat seit mehr als 40 Jahren nie die Grenze von 5 Prozent überstiegen.103 Eine Randgruppe besorgter Wissenschaftler nennt diese Aussicht »stationäre Wirtschaft«104, aber letztendlich bedeutet sie eine umfassende Abkehr von der Wirtschaft als Leitstern und vom Wachstum als Lingua franca, in der wir im modernen Leben all unsere Hoffnungen und Ziele ausdrücken. Der Begriff »stationär« passt auch zur schleichenden Angst, dass die Geschichte eben doch keine fortschreitende Entwicklung ist, wie wir eigentlich erst seit wenigen hundert Jahren glauben, sondern eher zyklisch abläuft, wie wir es in den Jahrtausenden zuvor für gesichert hielten. Mehr noch: In dem Bild, das uns das Konzept der stationären Wirtschaft von einem naturgegebenen Wettkampf um die Ressourcen vermittelt, erscheint alles von der Politik über den Handel bis hin zum Krieg wie ein brutales Nullsummenspiel.

Jahrhundertelang haben wir die Natur als Spiegel betrachtet, auf den wir uns erst projizieren und in dem wir uns dann beobachten. Aber worin besteht die Moral? Wir können nichts aus der Erderwärmung lernen, weil wir nicht genügend Zeit oder Abstand dazu haben, um über ihre Lehren nachzudenken. Schließlich erzählen wir die Geschichte nicht nur, sondern leben sie. Das heißt, wir versuchen es – die Bedrohung ist gewaltig. Wie gewaltig? Ein Aufsatz aus dem Jahr 2018 geht auf die furchtbaren Details ein. In der Fachzeitschrift Nature Climate Change