Die Ungehorsamen - Nicolas Lindt - E-Book

Die Ungehorsamen E-Book

Nicolas Lindt

0,0

Beschreibung

Astrid und Chantal wollten heiraten. Doch ein Virus mit dem Namen Corona bringt die Welt zum Stillstand. Das öffentliche Leben wird von den Behörden geschlossen, jede Versammlung ist untersagt, mehr als 5 Menschen dürfen sich nicht mehr treffen. Auch in der Schweiz wird der Bevölkerung dringend nahegelegt, zu Hause zu bleiben. Astrid und Chantal müssen ihre Hochzeit absagen. Aber das wollen sie nicht. Sie haben sich auf diesen Tag so gefreut, und sie beschliessen: Wir heiraten trotzdem. Wie geplant am 11. April. Mitten im Lockdown - an einem geheimen Ort im Toggenburg. Eine beinahe wahre Geschichte aus den ersten Wochen der Zeitrechnung nach Corona.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 206

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Erster Teil

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Zweiter Teil

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Dritter Teil

Epilog

Vorbemerkung

Dies ist eine beinahe wahre Geschichte aus den ersten Wochen der neuen Zeitrechnung nach Corona. Sie besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil schildere ich die Vorgeschichte, wie sie das Brautpaar erlebt hat. Im zweiten Teil komme ich selber ins Spiel. Der Schluss gehört dann wieder Astrid und Chantal.

Mit Rücksicht auf die Beteiligten sind Namen und Ortsangaben geändert worden.

Erster Teil

I

Der Lockdown kam über Nacht, doch er kam nicht von selbst. Auserwählte verordneten ihn für das ganze Volk, unter Berufung auf ein ansteckendes, gefährliches weltweites Virus mit dem schönen Namen Corona, das auch im eigenen Land Zehntausende dahinraffen könnte. Die Universitäten und Schulen wurden geschlossen, die Läden wurden geschlossen, die Lokale wurden geschlossen, die Sportplätze und die Spielplätze, die Seeufer und die Pärke, die Erholung in der Natur, alles wurde verriegelt und abgesperrt. Veranstaltungen wurden verboten, Gottesdienste wurden verboten, Versammlungen, Konferenzen wurden verboten, Besuche in Kliniken, Gefängnissen, Altersheimen wurden verboten. Die Arztpraxen und die Spitäler durften nur noch dringende Fälle behandeln, und die einzigen Läden, die noch geöffnet hatten, waren die Post, die Bank, Apotheken und Lebensmittelgeschäfte. Doch die Zahl der Kunden wurde beschränkt, und an der Kasse oder am Schalter musste eine trennende Plexiglasscheibe vor Ansteckung schützen.

Dringend empfohlen wurde das Desinfizieren der Hände. Dringend empfohlen wurden Gesundheitsmasken. Dringend empfohlen wurde 2 Meter Abstand zu halten. Dringend empfohlen wurde, zuhause zu bleiben und die Wohnung nur für wichtige Besorgungen zu verlassen. Das geschäftliche Leben wurde von einem Tag auf den andern heruntergefahren. Betriebe gingen in Kurzarbeit, andere stoppten die Produktion ganz. Dringend empfohlen wurde Homeoffice.

Vom 20. März an stand das Land still. Und die Gesellschaft zerfiel in Stücke. Zusammensein in grösseren Gruppen, sei es draussen oder zuhause, wurde verboten. Höchstens 5 Personen waren erlaubt.

«Wir sind zwei. Das ist gestattet», sagte Astrid zu Chantal. Sie umarmten sich, als wären sie allein auf der Welt. Sie lachten bitter und weinten, weil ihre Hochzeit geplatzt war. Drei Wochen später, am 11. April, an einem Samstag, dem Jahrestag ihrer Verlobung, hätte sie stattfinden sollen, in einem ehemaligen Grandhotel in den Bergen, eine Spätwinterhochzeit, bei Sonne auf der Terrasse, bei Kälte und Schnee im Kronleuchtersaal, mit 50 Gästen. Nun mussten sie ihren Gästen absagen: Hochzeit verschoben, auf ein noch unbestimmtes neues Datum. Möglicherweise erst nächstes Jahr.

Es war bloss eine Hochzeit. Doch Astrid und Chantal liebten sich. Sie hatten lange gezögert, ihre Liebe zu zeigen. Es hatte sie Mut gekostet.

«Wir feiern die Hochzeit zu zweit. Oder wir laden Tanja und Evelyne ein», sagte Astrid, «und Deborah. Dann sind wir fünf. Fünf ist erlaubt.»

«Nein. So will ich es nicht. Ich wollte es richtig», erwiderte Chantal. Sie weinte noch mehr.

Irgendwann war genug geklagt. Sie mussten sich den neuen Bedingungen stellen. Astrid telefonierte mit ihrem Geschäft, einer Krankenkasse, und es wurde beschlossen, sie könne von zuhause aus arbeiten. Für Chantal dagegen war der Lockdown katastrophal. Als selbständige Physiotherapeutin musste sie ihre Praxis von heute auf morgen schliessen. Die Schliessung traf sie nicht unvorbereitet, sie hatte sie kommen sehen, auch weil Astrid sie davor gewarnt hatte. Doch erst jetzt wurden ihr die Konsequenzen richtig bewusst. Hätte sie noch immer als festangestellte Physiotherapeutin im Spital gearbeitet, wäre ihr Lohn, wie der von Astrid, gesichert gewesen. Die Selbständigkeit, in die sie sich mit Leidenschaft hineingestürzt hatte, wurde ihr nun zum Verhängnis.

Noch ein Grund zum Weinen für Chantal. Doch Astrids Zuversicht trocknete ihre Tränen: «Ich verdiene so viel wie vorher, und wir haben noch das Ersparte. Das reicht für lange. Die Ausgaben für die Hochzeit sparen wir auch. Wir kommen über die Runden.»

Das stimmte. Existenzielle Sorgen mussten sie vorläufig keine haben. Aber die Aussicht, untätig in der Wohnung sitzen zu müssen, fand Chantal schlimm.

«Wir haben endlich mehr Zeit für uns. Füreinander.» Astrid wusste immer eine beruhigende Antwort, das liebte Chantal an ihr. «Schliesslich wollten wir heiraten. Dann ist das jetzt unser Honeymoon.»

Honeymoon auf Balkonien. Normalerweise sahen sie sich an Werktagen morgens nur kurz und dann erst wieder abends. Jetzt aber sind sie den ganzen Tag beieinander. Astrid muss auch jetzt früher aufstehen, um während der Bürozeiten präsent zu sein. Chantal schläft etwas länger. Um neun Uhr, wenn Astrid Pause macht, frühstücken sie zusammen. Mittags bereitet Chantal für beide das Essen zu. Gegen Abend, wenn Astrid ihren PC ausschalten kann, wartet Chantal schon ungeduldig auf sie, und mit ihr wartet auch Bravo, der Hund. Er ist ihr gemeinsames Kind, mittelgross, mit viel Pelz, eine Strassenmischung, die sie vom Tierheim haben. Vorher nahm ihn Chantal in ihre Praxis mit, jetzt bleibt er mit ihnen zuhause.

Zu dritt gehen sie dann spazieren. Sie wohnen in einem Hausteil am Dorfrand, hinter dem Haus beginnen die Felder, hinter den Feldern beginnt der Wald. Als sie zusammenzogen, war für sie beide klar: Wir wollen aufs Land. Sie schlagen den Wanderweg ein, lassen den Hund frei laufen, halten sich an den Händen und reden, und manchmal bleiben sie stehen, und wenn sie sich unbeobachtet fühlen, küssen sie sich.

Astrid würde Chantal auch küssen, wenn Leute vorbeigehen, doch Chantal geniert sich und flüstert: „Astrid, nicht jetzt!“ Sie sagt es mit ernster, tadelnder Stimme, damit ihre Liebste aufhört. Doch Astrid küsst sie gleich noch einmal.

Wieder zuhause, angeleitet von einer App, machen sie zusammen Aerobic, und Bravo bellt, weil er mitmachen möchte. Dann essen sie etwas, trinken Wein – Astrid mehr, Chantal weniger –, schalten den Fernseher ein, lesen oder hängen am Smartphone und chatten mit ihren gemeinsamen Freundinnen, die genauso wie sie zuhause sitzen. Manchmal skypen sie auch mit ihren Eltern, Astrid häufiger, Chantal weniger oft, weil vor allem die Beziehung zu ihrer Mutter angespannt ist. Die Mutter hat Chantals Partnerin nie akzeptiert. Nie wirklich.

In den ersten Tagen sehen sie niemanden ausser die Leute im Supermarkt, wenn sie einkaufen gehen. Vorher erledigte Chantal den Einkauf jeweils allein, auf dem Rückweg von ihrer Praxis. Jetzt machen sie es zusammen, damit sie täglich wenigstens einmal unter die Leute kommen. Aber das Einkaufen macht keinen Spass, weil eine strenge Regelung gilt. Nur eine beschränkte Zahl von Kunden darf sich im Laden aufhalten. Deshalb bildet sich vor dem Eingang eine Schlange von Wartenden, die in gebührender Distanz voneinander stumm dastehen und des Augenblicks harren, bis sie den halbleeren Laden endlich betreten dürfen.

Auch im Innern des Supermarkts achten die Menschen darauf, einander nicht nahe zu kommen. Eine ängstliche, unfreie Stimmung herrscht, die noch geschürt wird von einer weiblichen Lautsprecherstimme, welche die Kundschaft alle paar Minuten ermahnt, Abstand zu wahren und beim Betreten und Verlassen des Supermarkts die Hände zu desinfizieren, um sich selbst und die anderen Kunden zu schützen.

Nach ein paar Tagen kann Astrid die Lautsprecherstimme schon nicht mehr hören, bleibt jedesmal mitten im Laden stehen, wenn die Ansage wiederholt wird, und hält sich die Ohren zu, sodass alle es sehen können. Auch Chantal findet die Aufforderung übertrieben, aber mit den Gedanken ist sie bei dem, was sie einkaufen will, und hört gar nicht hin.

Auch auf der Post, wo Astrid ein Paket zurückschicken will, müssen sie draussen warten, weil nur maximal drei Personen im Innern erlaubt sind. Astrid begibt sich dann allein in die Post, darf die Sicherheitslinie am Eingang aber nicht übertreten, bis ein Schalter frei für sie wird. Doch sie steht bereits vor der nächsten Hürde, als die Postangestellte, anstatt sie zu bedienen, sie nur abwartend anschaut. Da erst merkt Astrid, dass sie auch vor dem Schalter selbst hinter eine gelbe Linie zurücktreten muss.

«Aber zwischen Ihnen und mir ist doch die Trennwand aus Glas», wendet sie ein.

«Ich weiss», sagt die Frau, fast entschuldigend, «aber Sie müssen den Abstand trotzdem einhalten.» Sie trägt Plastikhandschuhe, als wäre Astrid eine unhygienische Kundin. Und als Astrid die Post danach so rasch wie möglich verlassen will, folgt eine weitere Hürde. Zum Hinausgehen, ruft ihr die Postangestellte nach, dürfe Astrid nicht den Eingang benützen. Sie müsse den Ausgang bei den Postfächern nehmen.

«Ich werde verrückt», sagt sie draussen zu Chantal, «und ich glaube, ich kann das nicht.»

«Was kannst du nicht?» fragt Chantal, die Astrids Bedrücktheit spürt.

«Mich an all das gewöhnen.»

«Was bleibt uns anderes übrig?» meint Chantal.

Astrid schaut sie entrüstet an. «Vielleicht hast du recht», lenkt sie dann ein. Aber eigentlich teilt sie die Haltung von Chantal nicht. Darin sind sie verschieden. Chantal nimmt die Dinge eher so, wie sie sind. Astrid will sie verändern. In den sechs Jahren, seitdem sie zusammen sind, haben sie deswegen öfters gestritten. Aber sie haben sich auch immer wieder gefunden. Weil jede der anderen etwas geben kann, das ihr fehlt.

Nach einer Woche sind sie der Zweisamkeit überdrüssig. Auch das Skypen und Chatten kann die Begegnungen nicht ersetzen, die sie gewohnt sind. Chantal, der die Decke mehr auf den Kopf fällt, fängt damit an.

«Wir könnten Tanja und Evelyne zu uns einladen», schlägt sie vor, «morgen Samstag, zu einem Nachtessen. Das ist nicht verboten. Oder wir gehen zu ihnen, wenn sie nicht zu uns kommen wollen.»

«Bleiben Sie zuhause!» warnt Astrid mit erhobenem Zeigefinger. Dann lacht sie, und Chantal schreibt Evelyne eine Nachricht. Evelyne wäre eine der beiden Trauzeuginnen gewesen. Chantal hat sie in ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin kennengelernt, die Evelyne später abbrach. Doch da waren sie bereits gute Freundinnen – sicher auch deshalb, weil sie beide auf Frauen stehen. Evelyne war schon damals mit Tanja zusammen, und als sich Chantal in Astrid verliebte, entstand eine Freundschaft zu viert. Sonst meldet sich Evelyne immer sofort. Diesmal lässt sie sich Zeit mit der Antwort.

«Sie muss es mit Tanja besprechen», glaubt Chantal.

Die Minuten vergehen. Eine Viertelstunde vergeht. Chantal schickt eine zweite Nachricht. Endlich meldet sich Evelyne. Chantal liest vor:

«Wir haben es hin und her besprochen und finden es keine gute Idee. Der Bundesrat sagt, man solle zuhause bleiben und wegen der Infektionsgefahr alle Kontakte vermeiden, die nicht unbedingt notwendig sind. Tanja und ich haben beschlossen, dass wir uns daran halten. Je disziplinierter man ist, desto schneller geht der Virus vorbei. Das solltet ihr auch so sehen. Tut uns echt leid!»

«Was ist das bloss für ein Tonfall», sagt Astrid, «so kenne ich Evelyne gar nicht. Sie tönt wie der Bundesrat selbst. Oder kommt das von Tanja, diese plötzliche Ängstlichkeit? – Tanja war schon immer die brave. Weisst du noch, damals in Kreta, als wir um Mitternacht schwimmen gingen? Alle waren wir nackt. Nur Tanja machte nicht mit.»

Als habe Evelyne es gehört, folgt eine neue Nachricht von ihr:

«Sorry, wirklich. Wir vermissen euch auch. Schrecklich sogar! Und wegen eurer Hochzeit tut es uns leid. Ich habe mich so gefreut, Chantals Trauzeugin sein zu dürfen. Aber wir können uns sicher bald wieder sehen.»

«Schade», seufzt Chantal.

«Mehr als nur schade», sagt Astrid. «Diese übertriebene Vorsicht nervt mich. Wir gehören nicht zur Risikogruppe. Wir sind jung. Warum sollen wir uns nicht zu viert treffen dürfen?»

«Aber sie haben im Fernsehen gesagt», antwortet Chantal, «dass jeder Kontakt die Verbreitung des Virus erleichtere. Hausarrest, wie in Italien, möchte ich uns nicht wünschen. Wir dürfen wenigstens noch ins Freie. Wir dürfen gehen, wohin wir wollen. Wir könnten morgen ins Auto sitzen und übers Wochenende ins Tessin fahren. Theoretisch.»

«Und was willst du dort machen?» fragt Astrid. «Pizza essen im geschlossenen Restaurant? Und wo übernachten? Alles ist zu.»

Sie laden Deborah ein, eine weitere gemeinsame Freundin und die Trauzeugin Astrids. Astrid lernte Debbie im Beachvolleyball kennen. Wegen einer Schulterverletzung musste Astrid als Aktive aufhören, doch sie war eine Topspielerin. In den ersten Jahren, bevor sie durchstartete, bildete sie mit Debbie ein Team. Später spielten sie nicht mehr zusammen. Doch Freundinnen sind sie geblieben.

Debbie, die gerade single ist, freut sich über die Einladung. Sie hat keine Angst vor Corona und sie bringt Tim, ihren Bruder mit, mit dem sie zusammenwohnt. Etwas Abwechslung braucht auch er. Astrid macht Pizza, Chantal die Vorspeise, Tim und Debbie bringen das Dessert, dazu trinken sie Wein. Nach den langen, abwechslungslosen Tagen zuhause ist das Bedürfnis, zu reden, gross. Chantal und Astrid geben ihrer Enttäuschung Ausdruck, dass ihre Hochzeit dem Lockdown zum Opfer fällt, und Deborah bedauert es ebenso. Es tut ihr leid für Chantal und Astrid, die ihre Freundinnen sind, und ausserdem ist sie selber enttäuscht, weil sie an der Hochzeit Gelegenheit gehabt hätte, ihre heimliche Liebe Alicia wiederzusehen.

Vom Thema Hochzeit kommen sie auf das Virus zu sprechen und ob es wirklich gefährlicher als eine Grippe ist. Chantal findet die grosse Zahl Infizierter in so vielen Ländern bedenklich, doch Debbie erwidert, die Infiziertenzahlen seien nur deshalb so hoch, weil eben viel mehr Leute getestet würden als bei Grippeviren in früheren Jahren.

«Und vor allem», sagt Debbie, «bedeutet infiziert noch lange nicht krank. Die meisten, die das Virus mit sich herumtragen, merken davon fast oder gar nichts. Diese Zahlen machen mir deshalb noch keinen Eindruck.»

Deborah beschäftigt sich engagiert mit der Materie, doch das sind sich die andern von ihr gewohnt. Sie arbeitet in einer Kommunikationsagentur und war schon immer ein kritischer Mensch.

«Aber die vielen Toten», sagt Chantal, «findest du das nicht schlimm?»

«Wenn jemand stirbt», antwortet Debbie, und sie redet wie immer sehr klug, «ist das natürlich traurig. Aber ich habe gelesen, dass fast alle bisher Verstorbenen 80 und älter waren, im Ausland ebenso wie bei uns.» Deborah hat sich in Fahrt geredet. «Die meisten waren schon vorher krank. Oder körperlich schwach und gebrechlich. Weil sie aber positiv auf das Virus getestet wurden, heisst es dann: Sie sind am Virus gestorben. So macht man den Leuten Angst. Man zählt alle Toten mit einem positiven Testergebnis zusammen und bezeichnet sie als Corona–Tote. Dann sieht es wie eine Pandemie aus. Und die Angst macht die Leute gleich noch mehr krank.»

«Aber warum wollen sie, dass wir Angst haben?» fragt Chantal. Sie hat in den letzten Tagen gemerkt, dass auch sie verunsichert ist.

Astrid schaltet sich ein: «Damit man uns besser unter Kontrolle hat! Damit wir gehorchen! Alle schlucken die Massnahmen ohne Widerspruch. Alle bleiben zuhause. Hätte mir jemand vor einem Monat gesagt, dass im ganzen Land sämtliche Schulen, die Restaurants und die Geschäfte, die Sportplätze und sogar die Seepromenaden geschlossen sind, und hätte mir jemand gesagt, dass niemand mehr ein– oder ausreisen darf, dann hätte ich laut herausgelacht.»

Chantal zweifelt noch immer. «Vielleicht ist es sinnvoll, dass wir alle zuhause bleiben, damit sich das Virus nicht noch mehr verbreiten kann. Das leuchtet mir ein, auch wenn ich diesen Hausarrest schrecklich finde. Und auch wenn ich im Moment nichts verdiene.»

«Was du sagst», entgegnet ihr Deborah, «ist die Haltung des Bundesrats und die Haltung seiner Experten. Das sind Virologen, die im Auftrag des Bundes ihre Gutachten und Empfehlungen machen. Und weil der Bund sie bezahlt, sagen sie, was der Bundesrat hören will. Aber es gibt auch unabhängige Stimmen, Virologen, Epidemiologen, die eine total andere Meinung haben. Sie finden es völlig falsch, dass die ganze Gesellschaft weggesperrt wird, nur um die Risikogruppe der Alten und Kranken zu schützen. Sie finden im Gegenteil, dass sich das Virus verbreiten muss, damit ein möglichst grosser Teil der Gesellschaft dagegen immun werden kann. Von Schweden habt ihr sicher gelesen. Dort läuft das öffentliche Leben mehr oder weniger normal weiter.“

«Wow, Debbie», sagt Chantal, «woher weisst du das alles? Und warum bist du so sicher, dass die andere Meinung die richtige ist?»

«Dass es andere Stimmen gibt», sagt Astrid zu Chantal, «habe auch ich dir erzählt. Und ich sagte dir auch, dass du nicht alles glauben sollst, was die Experten im Fernsehen sagen.»

«Ja, aber du hast es von Debbie. Sie hat dir die Links geschickt und beliefert dich auf Facebook mit den neuesten Informationen.» Chantal gefällt es, ihre Verlobte ein wenig eifersüchtig zu machen.

«Im Fernsehen und in der Presse hörst du nur immer die eine Seite», sagt Debbie. «Wenn du die Wahrheit erfahren willst, kommst du nicht um die anderen Medien herum.» Auf YouTube werde sie täglich fündig. Warum beispielsweise die WHO, die Pharmaindustrie und Bill Gates, der Microsoft–Milliardär, am Corona–Virus ein so grosses Interesse hätten, das erfahre man nirgendwo sonst.

«Hab’ ich ihr alles erzählt», winkt Astrid ab, «aber sie glaubt es mir nicht.»

«Ich sage nicht, dass ich dir diese Dinge nicht glaube», erwidert Chantal, «aber es geht mir zu weit. Dann kann ich es nicht mehr hören.»

«Ich kann es manchmal auch nicht mehr hören», lässt sich Tim jetzt vernehmen, «Meine belesene grosse Schwester redet ständig davon. Sogar schon beim Frühstück, wenn ich noch nicht einmal wach bin.»

Die grosse Schwester verteidigt sich. Sie findet das alles wichtig, er etwa nicht? Seit dem Zweiten Weltkrieg habe der Bundesrat nie mehr Notrecht beschlossen. «Das ist siebzig Jahre her! Jetzt kann er alles allein entscheiden. Die Demokratie ist aufgehoben, für wie lange, wissen wir nicht. Und der Grund dafür ist ein Grippevirus! Ein Grippevirus, wie er in der Winterzeit jedesmal vorkommt. Als wäre der Virus ein Krieg, der uns bedroht.»

Deborah findet die ganze Entwicklung erschreckend, und Astrid pflichtet ihr bei. Chantal meint, sie wisse noch immer nicht, was sie glauben solle. Und Tim widmet sich seinem Smartphone. Sie reden noch eine Weile weiter, bis Astrid schliesslich ein Brettspiel hervorholt. Denn ein Spielabend war doch der Plan. Aber das Spiel ist dem Ernst gewichen, dem Ernst der Lage, den sie alle nicht wollen, der sich aber nicht wegschicken lässt.

II

Auch in den folgenden Tagen versuchen sich Astrid und Chantal an die neue Situation zu gewöhnen und das Positive zu sehen. Und positiv wäre doch eigentlich, dass sie noch nie soviel Zeit miteinander verbringen konnten wie jetzt. Sie sagen das auch zueinander, doch es nützt ihnen nichts. Denn mit jedem weiteren Tag zuhause wächst vor allem bei Chantal die Unsicherheit, wie es finanziell bei ihr weitergehen soll.

Vom staatlichen Angebot, Selbständigerwerbende mit einem Erwerbsersatz über die Runden zu helfen, hat sie natürlich Gebrauch gemacht und die nötigen Unterlagen mit Astrids Hilfe zusammengestellt und eingereicht. Doch sie hat keine Ahnung, wann sie mit dem Geld rechnen kann und wieviel sie bekommen wird. Denn ihre eigene Praxis hat sie erst seit knapp einem Jahr. Vielleicht genügt das noch nicht, um Erwerbsersatz zu erhalten.

Immerhin hat sie gespart, bevor sie sich selbständig machte. Deshalb gelang es ihr, während der ersten Zeit ihrer Praxis ohne fremde Hilfe über die Runden zu kommen. Zwar anerbot sich Astrid, als sie zusammenzogen, vorerst die ganze Miete und auch die Haushaltkosten zu übernehmen. Aber das wollte Chantal auf keinen Fall, sie wollte nicht abhängig sein. Umso mehr ärgert es sie, dass ihre Liebste jetzt vielleicht doch für sie einspringen muss. Denn von ihrem Ersparten ist nicht mehr viel übrig, und wie Chantal die nächste Miete für ihren Praxisraum aufbringen soll, weiss sie nicht.

Für ihre Website hat sie ein Video aufgenommen, um ihren Kundinnen online zu demonstrieren, wie sie zum Beispiel mit einfachen Übungen ihre Rückenbeschwerden lindern können. Sie bietet ihnen auch an, solche Übungen via Skype mit ihnen zusammen zu machen, doch bis jetzt haben sich nur vereinzelte Interessierte bei ihr gemeldet. Mehrmals pro Woche begibt sie sich in die Praxis, um den Raum neu zu gestalten und sich mit Tutorials weiterzubilden. Aber auch dies bringt kein Geld, und die Tutorials kann Chantal ebenso gut zu Hause machen.

Von Zukunftsängsten bedrängt, und weil sie viel freie Zeit hat, beginnt sich auch Chantal vermehrt im Internet umzusehen. Dem Beispiel von Debbie und Astrid folgend, entwickelt sie ein wachsendes Interesse an all den alternativen Berichten, Interviews und Videoblogs, die sie zum Thema findet. Zwischen ihr und Astrid beginnt ein täglicher Wettstreit um die neuesten Informationen: Hast du das schon gesehen? Hast du jenes gelesen? Musst du dir unbedingt anschauen! – Doch sie gehen unterschiedlich mit ihren Erkenntnissen um. Während Astrid, nicht anders als Debbie, das vom Staat verordnete Notrecht immer kritischer sieht, bleibt Chantal in ihrer Haltung gespalten und informiert sich auch nach wie vor in den regierungstreuen Kanälen und Medien.

Dann sitzen sie auf dem Bett, Chantal mit dem PC auf ihren Knien, und geraten in heftige Diskussionen, Astrid will Chantal davon überzeugen, das gleiche wie sie zu denken, Chantal will aber nicht, beide werden emotional und beharren auf ihrer Meinung – bis Astrid den Arm um ihre Verlobte legt und lacht und sagt:

«Das liebe ich, wenn du so wütend wirst.»

Chantal bestreitet, wütend zu sein, aber Astrid küsst sie und hindert sie daran, weiterzureden. Chantal lässt es geschehen – doch plötzlich vergräbt sie den Kopf an der Schulter Astrids, und Astrid spürt, dass sie weint.

«Was hast du?» fragt sie besorgt und drückt ihre Freundin an sich.

Chantal hebt ihren Kopf, tupft sich die Tränen ab und blickt Astrid herausfordernd an. «Jetzt bin ich wirklich wütend, und weisst du warum? Weil wir die ganze Zeit nur über dieses Corona reden – obwohl wir doch etwas ganz anderes wollten. Wir wollten heiraten!»

«Stimmt. Du hast recht.» Astrid senkt betroffen den Blick. «Ich glaube, ich verdränge es einfach. Weil es sonst weh tut.»

«Ich kann es nicht so verdrängen wie du. Ich denke ständig daran. Hast du überhaupt gemerkt, was heute für ein Tag ist? Heute hätten wir unseren Termin auf dem Standesamt. Dass wir ihn absagen mussten, finde ich nicht so schlimm. Wir dürfen ja sowieso nicht heiraten, ich meine: nicht standesamtlich heiraten. Aber genau deshalb war mir die Hochzeit so wichtig. Unsere feierliche Hochzeit, Astrid, an unserem Tag! Der 11. April bleibt für mich ein magisches Datum. Ich habe mich so auf die Trauung gefreut. Ich habe mir alles so wunderschön ausgemalt. Und ich tue es immer noch.» Sie will zu einem Taschentuch greifen. Astrid küsst ihr die Tränen weg. Neue quellen hervor.

«Kindisch, nicht wahr?» lächelt Chantal und kommt gleich wieder ins Schluchzen. «Ich führe mich auf wie die letzte Hollywoodbraut. Und ja, ich weiss, wir werden die Hochzeit irgendwann nachholen. Irgendwann – oder nie.»

«Wir werden sie bestimmt nachholen», antwortet Astrid. Auch in ihren Augen glitzert es jetzt, aber sie will sich zusammennehmen. «Das haben wir uns versprochen. Wir müssen nur warten, bis die ganze Corona–Geschichte vorbei ist. Dann finden wir einen neuen Termin. Dann wird es uns bestimmt auch gelingen, uns wieder zu freuen.»

Chantal beruhigt sich, und auf einmal lächelt sie, als würde sie etwas verraten wollen: «Eigentlich sollte es bis zuletzt ein Geheimnis bleiben, aber jetzt will ich’s dir sagen: Ich habe bereits ein Kleid für die Hochzeit.»

Astrid rückt erstaunt von ihr ab. «Wollten wir das nicht zusammen aussuchen?»

«Ich konnte nicht länger warten. Du hast es immer hinausgeschoben. Am Ende hätten wir in den Jeans geheiratet. Da bin ich mit Deborah losgezogen. Sie hat mir geholfen.»

Astrid kann schlecht verbergen, dass sie betupft ist. Aber es stimmt, sie hat das Thema hinausgeschoben, weil sie nicht wusste, was sie selber anziehen würde.

Jetzt wird sie neugierig. «Zeigst du es mir, das Kleid? – Nein, zeig es mir nicht», entscheidet sie dann.

«Ich würde es dir sowieso nicht zeigen», sagt Chantal, «ausserdem ist es gut versteckt, an einem sicheren Ort. Aber ich verrate dir, wie es nicht aussieht. Und ich habe mir auch Gedanken zu deinem Outfit gemacht.»

Sie reden über Hochzeitskleider, als wäre die Hochzeit nicht abgesagt, und sie gönnen sich danach einen Film, den sie zwar beide schon kennen, der sie aber vergessen lässt, wie bedrückend im Moment alles ist. Die Braut, die sich nicht traut heisst der Film – doch kaum hat er angefangen, drückt Chantal unerwartet auf STOP, wendet sich ihrer Liebsten zu und sagt:

«Versprich mir, dass das Virus nicht unser Leben bestimmen darf. Versprich mir, dass wir unsere Liebe schützen.»

Überrascht von Chantals Ernsthaftigkeit, ist Astrid einen Augenblick sprachlos. Dann fasst sie sich. «Ja. Ich verspreche es. Weil ich dich liebe. Und wir werden heiraten.»

III

Am folgenden Tag, als sie wie üblich mit Bravo spazieren gehen wollen, ist der Wanderweg, der in ihrer Nähe beginnt, mit rotweissen Bändern versperrt. Sie haben gelesen, dass beliebte Naherholungsgebiete überall nicht mehr zugänglich sind, damit sich die Menschen nicht nahe kommen und sich entscheiden, zu Hause zu bleiben. Ausserdem hat Chantal gesehen, dass die Schulhausanlage abgesperrt ist, der Spielplatz im Zentrum des Dorfes und die Bänke im kleinen Park. Sie hat es Astrid erzählt, und Astrid hat nur den Kopf geschüttelt und ihr Unverständnis zum Ausdruck gebracht.

Jetzt stehen sie vor den rotweissen Bändern, und Bravo schaut sie erwartungsvoll an, warum sie nicht weitergehen. Astrids Miene verrät ihren Unmut.

«Siehst du das?» sagt sie und zeigt auf die Absperrung. «Spinnen die jetzt total?»