Die unsichtbare Hand - M. McDonnell. Bodkin - E-Book

Die unsichtbare Hand E-Book

M. McDonnell Bodkin

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Der Band enthält eine Reihe von spannenden und unterhaltsamen Kriminalerzählungen, in denen immer wieder die Figur des Detektiven Paul Beck im Zentrum steht. Inhalt: "Die Fahrgeschwindigkeit des Schiffs", "Zwischen dem Teufel und dem tiefen Meer", "Die unsichtbare Hand", "Eigenhändig gesiegelt" und "Rasche Erledigung". Die fünf kurzen Geschichten sind allesamt zeitlose kriminalistische Perlen, in denen McDonnell Bodkin sein ganzes Können entfaltet. In der Titelgeschichte wird bei der Einfahrt eines Zuges in die Station von Suberton ein Toter in einem Abteil gefunden. Es handelt sich um einen reichen Gutsherrn mit schwachem Herz. Paul Beck löst auch diesen Fall, aber wird er die Aufklärung des Verbrechens selbst überleben? Denn am Ende richtet der Mörder seinen Revolver auf ihn ...-

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Seitenzahl: 173

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Matthias McDonnell Bodkin

Die unsichtbare Hand

Kriminalgeschichten

Saga

Ebook-Kolophon

M. Mc Donnell Bodkin: Die unsichtbare Hand. © 1926 M. Mc Donnell Bodkin. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.

ISBN: 9788711462553

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

Die Fahrgeschwindigkeit des Schiffs

Die Sache begann so: Sie liess ihre Börse fallen, und er fing sie im Fallen auf. Aber nun darf man nicht gleich denken, dies sei der Anfang einer Liebesgeschichte. O nein, die Dame war zwar jung und hübsch, trug aber schon einen Ehering am Finger, und der Herr war wohlbeleibt und seelenruhig und hatte die erste Jugend hinter sich.

Sie standen nebeneinander auf dem oberen Promenadedeck des grossen Dampfers „Titania‚, der in der grauen Morgendämmerung, einem sich leise fortbewegendem Eiland ähnlich, zwischen den vielen Schiffen hindurch ruhig aus dem Hafen von New York hinausfuhr. Über Meer und Himmel breitete sich ein leichter Nebel, der allem ringsum eine mattgraue Farbe verlieh, und die gewaltige Statue der Freiheit hob sich über der stillen Wasserfläche von dem noch helleren Grau des Himmels ab wie eine schöne graue Radierung. Hoch oben in der emporgestreckten Hand der kolossalen Gestalt schimmerte das Leuchtfeuer durch den Nebel. Langsam nahm die Morgenhelle zu, der graue Nebel wurde weiss, und die Dämmerung wich dem Lichte. Im Osten schimmerten die Wolken jetzt in hellem Glanze, und plötzlich tauchte der blutrote Rand der Sonne über dem Wasser auf.

Und gerade in diesem Augenblick entfiel der hübschen Frau Eyre, als sie sich über die Reling beugte, der Geldbeutel; und Herr Rhondel fing ihn mit einem Griff, gleich dem Stoss eines Falken, einen halben Meter von ihrer Hand auf.

„Ich spiele Kricket,‚ erklärte er seine Geschicklichkeit, als er den Beutel seiner schönen Eigentümerin zurückgab.

„Vielen Dank,‚ sagte sie. „Das haben Sie fein gemacht. In dieser Börse waren fünfhundert Dollar auf dem geraden Wege zum Meeresgrund, als Sie dazwischen kamen und sie auffingen. Aber sehen Sie nur, ist das nicht grossartig?‚ — Sie deutete mit ihrer kleinen Hand auf die rotleuchtende Sonne. — „Ja, die Sonne versteht es, Leben in die Welt zu bringen.‚

„Sie machen wohl diese Reise zum erstenmal?‚ fragte Herr Rhondel, ohne von dieser Gelegenheit, sich über die Eigenschaften der Sonne auszusprechen, Gebrauch zu machen.

„Ja freilich, Bob und ich reisen zum erstenmal in die alte Heimat.‚

„Sie stammen wohl aus Irland?‚

Dies war ein gewagter Schuss.

Die kaum dem Mädchenalter entwachsene junge Dame war der Typus einer echten Amerikanerin, gross, schlank, graziös, mit einer hübschen Kopfhaltung, und wenn sie sprach, konnte man in ihrer Stimme, wenn auch nicht sehr auffallend doch ganz deutlich die bekannte Klangfarbe der Amerikaner wahrnehmen, die so angenehm klingt, wenn sie von reizenden Lippen tönt. Aber trotzdem ging der Schuss den rechten Weg und traf ins Schwarze, und die vergissmeinnichtblauen Augen wurden plötzlich dunkel wie Veilchen.

„Ob ich aus Irland stamme? Ja natürlich und Bob auch. Mein Grossvater mütterlicherseits ist zwar schon in den vierziger Jahren herübergekommen; aber Bob ist durch und durch Irländer. Ein Irländer vom Scheitel bis zur Sohle! Horch, ist das nicht die Frühstücksglocke? Kommen Sie doch mit mir! Wir wollen uns zusammensetzen, wir drei. Ich will es gleich beim Steward in Ordnung bringen. Mein Alter wird Ihnen sicher gefallen.‚

Sie brachte es auch in Ordnung, und bald sass Herr Rhondel an dem reichbesetzten Frühstückstisch neben der jungen Frau. An ihrer andern Seite sass ihr „Alter‚, ein hübscher, glattrasierter, etwa fünfundzwanzigjähriger junger Mann.

„Wo hast du denn gesteckt, Kitty? Schon seit anderthalb Minuten warte ich auf dich, und ich habe einen Wolfshunger,‚ sagte Bob, der sich schon während des Sprechens einen grossen Apfel schälte.

„Ich habe die Sonne aufgehen sehen und dabei aus Unachtsamkeit meinen Geldbeutel über die Reling fallen lassen.‚

„Wie schade!‚

„Reg’ dich nicht auf; es ist alles gut, Herr Rhondel hier fing ihn geschickt auf. Das ist also Bob, Herr Rhondel, Bob Eyre, mein Gatte. Ihr könnt euch hinter meinem Rücken die Hände schütteln.‚

Sie setzte sich bolzgerade, ganz dicht an den Tisch hin, und die beiden Herren drückten sich hinter ihrem Rücken die Hände, Herr Eyre mit einem bewundernden Blick auf den schöngeformten kleinen, von glänzenden, rotbraunen Flechten umrahmten Kopf.

„Versuchen Sie einen Bückling, Herr Rhondel,‚ sagte Bob. „Und dann ein Stück Filet, das ist die beste Grundlage für ein Frühstück. Willst du etwas Seezunge, Kitty?‚

Während des langen Frühstücks unterhielten sich die drei sehr gemütlich miteinander, und als sie aufstanden, waren sie schon die besten Freunde. Herr Rhondel schob seinen Schiffsstuhl neben Frau Eyre und machte gar kein Geheimnis aus seiner Bewunderung für die junge Frau. Bob Eyre ging auf Deck zum Wurfscheibenspiel; er hatte Quecksilber im Blut und konnte keinen Augenblick stillsitzen; sein Gehirn und seine Muskeln waren so voll rastloser Lebenskraft, dass er unaufhörlich etwas tun und etwas vorhaben musste.

Die Fahrgäste gewöhnten sich sehr rasch an das gleichmässige Leben an Bord, und so sassen am dritten Reisetage Frau Eyre und Herr Rhondel zu gewohnter Stunde in ihren Schiffstühlen auch wieder nebeneinander, während Herr Eyre sich am Scheibenwerfen beteiligte.

„Darf ich rauchen?‚ fragte Herr Rhondel.

„Natürlich. Im Munde eines andern liebe ich die Zigarre sogar, nur ich selbst rauche nicht einmal eine Zigarette; ich mag es nicht.‚

Sorgfältig suchte sie in ihrem Buch die Stelle auf, wo sie stehengeblieben war, und legte dann das Buch, Druck nach unten, auf die Decke, in die Herr Rhondel sie vorhin behaglich eingewickelt hatte.

„Sie sind der berühmte südafrikanische Millionär, — nicht wahr, Herr Rhondel?‚

„Man behauptet es.‚

„O, Sie brauchen nicht ärgerlich zu werden! Ich wollte Sie nur warnen, denn hier an Bord sind einige Bauernfänger; ich bin dem Doktor um den Bart gegangen, bis er es mir gesagt hat. Auf den paar letzten Fahrten haben die Schwindler so viele Tauben gerupft, dass jetzt die Gesellschaft einen Detektiv zum Aufpassen mitnimmt. Welcher der Herren aber dieser Detektiv ist, konnte oder wollte mir der Doktor nicht sagen. Meiner Ansicht nach ist es der Geistliche, der hochwürdige Herr Abel Lankin.‚

„Nein, nein, der gewiss nicht,‚ entgegnete Herr Rhondel.

„Aber ich hab’ ihn nun einmal im Verdacht. Sein Aussehen ist zu unschuldig, um natürlich zu sein. Sehen Sie sich ihn nur einmal an, dort steht er mit dem verrückten Frauenzimmer. Ist der nicht das reinste Schaf? Nun, ich hoffe nur, dass es ihm gelingt, die Betrüger zu entlarven.‚

Herr Rhondel schloss sich dieser Hoffnung an, und dann sprang die Unterhaltung der beiden von einem Gegenstand zum andern über. Ruhig zog indessen das mächtige Schiff — der grösste und schnellste Passagierdampfer der Welt — durch die Wogen dahin.

Offenherzig und rückhaltlos wie ein Kind gab sich Frau Eyre ihrer neuen Freundschaft hin. Sie erzählte dem Freunde nicht nur ihre eigene ganze Lebensgeschichte, sondern auch alles, was sie von ihrem Gatten wusste.

„Ich bin früher in New York Telephonistin gewesen,‚ vertraute sie Herrn Rhondel an. „Meine Eltern hätten mich zwar daheimbehalten können, aber ich wollte nicht. Als ich Bob kennen lernte, war er Wagenführer auf der Strassenbahn, und als wir heirateten, schon Inspektor. Unsre Hochzeitsreise machten wir an den Niagara, und zum Schluss erlaubten wir uns noch einen Aufenthalt im Hotel Manhattan — bis die Dollars zu Ende gingen. Da wir beabsichtigt hatten, uns in New York niederzulassen, waren wir eben auf der Suche nach einer kleinen Wohnung, als die Nachricht kam, die uns jetzt in die alte Heimat treibt.‚

„Welche Nachricht?‚ fragte Herr Rhondel, während er sich bedächtig eine neue Zigarre an dem glühenden Restchen der alten anzündete, das er dann über Bord in den Wellenschaum warf. Diese offenherzige, niedliche Frau fesselte ihn wirklich, und er stellte seine Frage nicht nur aus Neugierde.

„Ja, ja, für Sie ist diese Frage eine höchst einfache Sache. Sie können mit Leichtigkeit ‚welche Nachricht‘ fragen, die Antwort darauf ist aber für mich durchaus nicht so einfach. Ich verstehe die Geschichte ja selbst nicht und bin sehr im Zweifel, ob es bei Bob anders ist. Ganz langsam und mühselig habe ich die Erklärung Stück für Stück aus ihm herausschälen müssen wie den Kern aus einer Nuss, und dann blieben erst noch ein paar Restchen drinnen stecken. Sehen Sie, Bob war drüben in Irland ursprünglich Gutsbesitzer gewesen; aber dieser Besitz hatte ihm keinen roten Heller eingebracht. Sein jährliches Einkommen betrug beträchtlich weniger als nichts; so zog er in die Vereinigten Staaten und überliess die Verwaltung der Hypotheken seinem Rechtsanwalt.

Wie oft hatte er mir erzählt, er sei der erste seines Geschlechts, der je einen Pfennig selbst verdient habe. Dann hat der englische Kongress irgend einen Beschluss gefasst, wodurch der Wert des Grundbesitzes künstlich in die Höhe getrieben wird, und Bobs Grundstück ist dadurch plötzlich wertvoll geworden. Ich weiss nicht, wie sich alles zugetragen hat; aber die Pächter kauften das Land und der Staat bezahlte dafür; und Bob erhielt noch eine Gratifikation dafür, dass er überhaupt zu dem hohen Preise verkaufte.

Dann kaufte die Regierung, der Senat, das Haus der Lords, oder meinetwegen auch der König selbst — was weiss ich — Bobs Schloss und den angrenzenden Grundbesitz, der nicht verpachtet gewesen war. Aber nachdem sie es gekauft hatten, verkauften sie es wieder an Bob, jedoch zu einem niedrigeren Preise, als dafür bezahlt worden war, und machten ihm also mit dem Überschuss einfach ein Geschenk. In dem Brief von Bobs Rechtsanwalt war alles erklärt; ich habe zwar natürlich kein Wort davon verstanden, nur der Schluss war klar und deutlich: durch den schönen Handel bekam Bob bare fünfzigtausend Pfund, und das alte Schloss auf der andern Seite wartet nun auch auf ihn.

‚Wir wollen hinüber, Kitty,‘ sagte er zu mir. ‚Wir werden alle beide unsre Freude daran haben. Ich bin mit den Leuten drüben immer gut ausgekommen, wenn wir auch wegen des Pachtzinses manchmal verschiedener Meinung gewesen sind. Sie werden sich über meine Rückkehr aber doch freuen, und beim Anblick der Frau Kitty Eyre werden die Leute unsrer Gegend grosse Augen machen. Wir zwei wollen aber auch Leben in die Bude bringen. In Irland hält man fünfzigtausend Pfund für ein Vermögen. Ich will den Leuten zeigen, was ein Gut bewirtschaften heisst. Wenn man’s richtig angreift, kommt sicher etwas dabei heraus. Wir richten einen Hühnerhof und eine Milchwirtschaft ein, und du, Kitty, darfst nur wählen, welches von den beiden du übernehmen willst; aber ich wette gleich hundert Dollar, dass meine Einnahmen die deinen am Jahresschluss weit übersteigen.‘ Nun, die Wette habe ich angenommen, nun heisst’s Hühnerkorb gegen Milchkanne. Meine Hühner sollen gewinnen, das ist beschlossene Sache.‚

In diesem Augenblick kam Bob Eyre, in einem blauen Flanellanzug und hellgelben Schuhen mit Gummiabsätzen, vom Scheibenwerfen noch ganz erhitzt, dahergeschlendert. Er hatte eine hübsche, ebenmässige Gestalt, und die ganze Erscheinung zeigte durch ihren leichten Gang und die elastischen Bewegungen unverkennbar die gute Abstammung, wie ein Vollblutpferd die edle Rasse nie verleugnet.

Bei seiner Frau angelangt, öffnete Bob seine wohlgeformte Hand und zeigte ihr eine ganze Handvoll Silber- und Goldmünzen.

„Mit der Wurfschaufel gewonnen,‚ erklärte er ihr. „Mein Spielgefährte hielt sich für wunder was.‚

Er setzte sich dicht neben seiner Frau auf den Boden und schob die graue Sportmütze auf seinem Krauskopf zurück.

„Ehe wir an Land kommen, möchte ich nur noch mal so einen Happen gewinnen,‚ sagte er. „Gib acht, ob mir’s nicht gelingt! Spielen Sie Poker?‚ wandte er sich plötzlich an Herrn Rhondel.

„Manchmal,‚ erwiderte dieser, und sein Lächeln galt einer angenehmen Erinnerung. „Spielen Sie?‚

„Will’s meinen, aber nicht hoch. Von einem halben bis zu fünf Dollar, das ist das Höchste. Meiner Ansicht nach sollte ein ehrlicher Mann nie mehr wagen, als er nach dem letzten Spiel auch bezahlen kann. Aber ich möchte gar zu gern einmal an einem richtigen Glückspiel teilnehmen. Ich glaube, ich würde die Bank sprengen.‚

„Warum tun Sie es denn nicht?‚ sagte Herr Rhondel gleichgültig.

„Ich kann nicht. Der Kapitän hat alle hohen Einsätze verboten. Er ist zwar selbst ein richtiger Sportsmann, sagt auch, es tue ihm leid, aber den Befehlen der Gesellschaft müsse nachgekommen werden. Es ist ein Detektiv an Bord, ein unbedeutender Knirps, der sich als Hans-guck-in-die-Luft aufspielt, aber überall herumschnüffelt. Als ich vorhin eine Spielpartie anregen wollte, hat der alte Oberst Rollin mir ihn gezeigt. ‚Unmöglich, alter Junge, solange der Kunde in der Nähe ist,‘ sagte er. ‚Der hat Luchsaugen.‘‚

„Ich bin nur froh, Bobsie, dass alles Hasardspiel verboten ist,‚ fiel die junge Frau ein. „Du würdest die ganzen fünfzigtausend Pfund auf eine Karte setzen, wenn du dächtest, dein Nachbar sei ein Prahlhans, und wenn er dann den ganzen Einsatz ohne weiteres einstriche, würdest du noch lachen.‚

„Übertreib doch nicht, Kleine, so bin ich gar nicht. Ausserdem ist’s meine letzte Gelegenheit, diese Art Aufregung kennen zu lernen. Du weisst ja, ich habe versprochen, nach unsrer Ankunft im Vaterland bei keinem Spiel und bei keiner Wette mehr als fünf Dollar zu setzen, und du weisst auch, dass ich mein Wort halte.‚

In diesem Augenblick ging Fräulein Phöbe Everly vorüber — das richtige moderne Mädchen, gertenschlank und von rastloser Beweglichkeit.

„Müde?‚ Nur dieses eine Wort warf sie Bob Eyre im Vorübergehen zu, und auf diese Herausforderung hin sprang Bob sofort auf.

„Wollen wir Scheibenwerfen?‚ gab er zurück.

„Nein, wir wollen lieber einen ordentlichen Gang machen. Ich möchte Sie etwas fragen.‚

Und mit einem freundlichen Kopfnicken, das Kitty galt, führte sie Bob mit sich fort.

„Nun, was wollten Sie fragen?‚ sagte er, nachdem sie das halbe Promenadendeck durchmessen hatten. „Hoffentlich handelt es sich nicht um ‚die Frage‘ — denn ich könnte nicht — ich bin schon verheiratet.‚

„Ach, darüber machen Sie sich keine Sorge, bei dem Spiel tue ich nie mit. Sie sollen mir nur erklären, was das heisst: ein Groschen auf die Fahrgeschwindigkeit.‚

„Das weiss ich selbst nicht.‚

„Dann tun Sie mir den Gefallen und machen Sie es ausfindig. Beim Lunch heute morgen hat nämlich der alte Oberst M’Clure meinem Väterchen den Kopf vollgeschwatzt über die Fahrgeschwindigkeit des Tages, über Versteigerung der Zahlen; über das ‚lange Feld‘ und das ‚kurze Feld‘. Aber als ich fragte, was das heisse, schickte mich mein Vater fort, indem er sagte, kleine Mädchen brauchten nicht alles zu wissen, das sei nicht gesund für sie. Aber nun gerade will ich es herausbringen.‚

„Überlassen Sie das mir,‚ sagte Bob Eyre. „Wenn es sich um ein Glückspiel handelt, und es sieht ganz danach aus, dann möchte ich es selbst gerne ergründen.‚

Kurz nachher wandte sich Bob mit ein paar diplomatischen Fragen an den Oberst M’Clure und fand ihn äusserst freundlich und mitteilsam. Seine frische Gesichtsfarbe, seine weissen Haare und sein weisser Bart gaben dem alten Oberst das Aussehen eines recht wohlwollenden Knechts Ruprecht. Aber es war nicht jenes gewisse salbungsvolle Wohlwollen, denn im Trinken und Anekdotenerzählen konnte er es mit jedem aufnehmen, und für einen niedergeschlagenen Menschen war schon sein lustiges Lachen eine wahre Aufheiterung.

„Die Fahrgeschwindigkeit des Schiffs,‚ antwortete er auf Bobs offene Frage in lautem Ton. „Mein lieber Junge,‚ — er gehörte zu der Menschensorte, die alle jungen Leute mit „mein lieber Junge‚ anredet. „Sie wollen mir doch nicht weismachen, Sie hätten noch nie etwas von der Lotterie mit der Fahrgeschwindigkeit des Schiffs gehört?‚

„Bitte, gestatten Sie mir doch, wenigstens ab und zu einmal die Wahrheit zu sagen, Herr Oberst,‚ versetzte Bob. „Bedenken Sie, dass dies erst meine zweite Seereise ist, und die erste hab’ ich im Zwischendeck gemacht.‚

„Nun, jedenfalls sind Sie mit Ihrer Frage bei mir vor die rechte Schmiede gekommen. Ich bin mindestens schon zwanzigmal der Geschäftsführer und Auktionator einer solchen Lotterie gewesen und könnte ohne diese Unterhaltung so eine Reise gar nicht durchmachen. Wenn man sich bei dieser Lotterie beteiligt, vergeht einem die Zeit auf See im Handumdrehen, ja fast zu schnell, darauf können Sie Ihren letzten Dollar wetten. Ich will Ihnen etwas sagen, Herr —‚

„Nur immer langsam voran —‚ unterbrach Bob Eyre den Begeisterten, ehe dieser auf seinem Steckenpferd weitersprengte. „Zuerst sagen Sie mir, was die ganze Geschichte eigentlich ist.‚

Jetzt wurde der Oberst sofort sachlich und fing an, das Spiel zu erklären.

„Haben Sie die kleine Landkarte bemerkt, die zwischen der Bibliothek und dem Rauchzimmer in der Halle des oberen Decks hängt?‚

Eyre nickte.

„Dann haben Sie wohl auch bemerkt, dass auf dieser Karte die von dem Schiff täglich zurückgelegte Strecke mit einem roten Strich auf dem blauen Meere eingezeichnet wird, und zwar mit Angabe der Meilen in deutlichen Zahlen.‚

„Und daneben ist zugleich auch die ganze letzte Reise eingezeichnet,‚ fügte Bob bei.

„Richtig, mein Junge. Ich sehe, Sie gehen mit offenen Augen durch die Welt. Haben Sie dann vielleicht auch weiter bemerkt, dass die tägliche Meilenzahl zwischen vierhundertfünfundachtzig und fünfhundertzwanzig Meilen schwankt? Der Unterschied beträgt also zwanzig bis dreissig Meilen, und es werden durchschnittlich fünfhundert Meilen zurückgelegt. Und jetzt will ich Ihnen noch sagen, wie die Lotterie gehandhabt wird. Unsrer zwanzig etwa — oft einer mehr, oft einer weniger — zahlen je ein Pfund in die Kasse. Dann werden Lose mit Nummern innerhalb eines gegebenen Spielraums — sagen wir von vierhundertneunzig bis fünfhundertzehn — in einen Hut geworfen und gezogen. Die Nummer, die dann mit der an diesem Tage zurückgelegten Meilenzahl übereinstimmt, gewinnt die Einsätze. Verstehen Sie?‚

„Ja, aber ich verstehe nicht —‚

„Nur ruhig, junger Mann! Weiss schon, was Sie sagen wollen. Vielleicht trifft keines der Lose die angegebene Fahrgeschwindigkeit. Für diesen Fall haben wir das ‚lange Feld‘, das heisst, alle Zahlen über der höchsten, und das ‚kurze Feld‘, nämlich alle Zahlen unter der niedrigsten Losnummer in jenem Hute. Aber auch das ist noch nicht alles; das beste kommt noch. Sobald die Lose gezogen sind, werden sie öffentlich versteigert. Jeder kann dann wieder auf seine eigene Nummer bieten. Ersteigert er sie selbst, dann hat er nur den halben Preis dafür in die allgemeine Kasse zu zahlen; kauft sie jedoch ein andrer, dann bekommt der Eigentümer des Loses die Hälfte des Kaufpreises, die andre Hälfte fliesst in die Kasse. ‚Das lange und das kurze Feld‘ werden gar nicht verlost, sondern sofort versteigert, und diese Versteigerung ist immer der Hauptspass, das kann ich Ihnen versichern.‚

„Ei, das ist ja ein bombenmässiges Spiel!‚ rief Bob Eyre begeistert. „Ist noch ein Platz für mich übrig?‚

„Ich will sehen, ob ich Sie noch hineinschieben kann, mein Junge. In einer halben Stunde ist die Ziehung. Siebzehn sind schon dabei. Sie geben den Achtzehnten.‚

Als Bob später, wie es die Pflicht gebot, versuchte, Fräulein Phöbe das Geheimnis zu erklären, schnitt sie ihm mitten in seiner Rede ohne weiteres das Wort ab. „Das klingt ja wie ein Scherzrätsel, und Scherzrätsel hasse ich,‚ bemerkte sie und liess ihn stehen.

Aber als sich Bob später bei der Lotterie einfand, war Fräulein Everlys Vater, der Richter Everly, auch unter den Versammelten, ja, selbst Herr Rhondel hatte sich zur Teilnahme an dem Spiele überreden lassen. Unter einem Schwall gutmütiger Witze und Neckereien, zu denen Oberst M’Clure die meisten beisteuerte, nahm die Versteigerung im Rauchzimmer einen äusserst lebhaften Verlauf.

Bob Eyre blieb dabei, es sei ein bombenmässiges Spiel, und er wurde in dieser Ansicht noch bestärkt, als er zwei Tage nachher den ganzen Inhalt der Kasse gewann, bare hundertvierunddreissig Pfund, und zwar mit der Nummer 505, die er bei der Versteigerung um elf Pfund gekauft, nachdem er seine eigene Nummer 504 um zehn Pfund wieder verkauft gehabt hatte.

Aber dieser Erfolg stieg dem guten Bob in den Kopf; er wichste der ganzen Gesellschaft, was sie nur trinken wollte, und am nächsten Tag stolzierte er mit geschwollenem Kamm auf seine Frau zu, die behaglich lesend auf Deck sass.

„Hab’ ich es dir nicht gesagt, Kitty?‚ krähte er. „Dass ich es mit diesen Schlauköpfen wohl aufnehmen und sie bei ihrem eigenen Spiel schlagen könnte, das war mir von Anfang an klar. Ein bisschen Kopfarbeit, das ist alles, weiter braucht’s nicht. Ich gab genau auf Wind und Wetter acht und habe dann gleich beim ersten Versuch ganz aus eigener Weisheit die richtige Zahl getroffen. Das war ein guter Schuss, nicht wahr, Kleine, und da hast du deinen Anteil vom Gewinn.‚ Damit goss er einen hellklingenden Strom goldener Münzen in Kittys Schoss.

„Wenn du es jetzt nur dabei bewenden liessest, Bob; mir ist gar nicht wohl bei der Sache.‚

„Ach was, die Angst brachte die Katze um, heisst es, oder war es die Sorge? Na, es ist auch gleichgültig, was schuld daran war — jedenfalls soll keins von beiden meinem Mäuschen etwas anhaben. Verlass dich nur auf deinen Gatten, er steuert dich sicher durch. Ich wollte nur, ich könnte die Herren dazu bringen, etwas höhere Einsätze zu machen. Solch kleine Würfe machen mir keinen Spass.‚

Am selben Abend noch — das Schiff war jetzt nur noch eine Tagesreise von Queenstown entfernt, wurde Bob Eyres Wunsch erfüllt. Der Dampfer war in der letzten Zeit sehr rasch gefahren, durchschnittlich fünfhundertfünfzehn Meilen am Tag, und es erregte deshalb allgemeines Erstaunen, als Oberst M’Clure, der meistens das ganze Spiel leitete, dieses Mal die Nummern für die Lotterie von 485 bis 510 bestimmte.