Die winzige Schlinge - M. McDonnell Bodkin - E-Book

Die winzige Schlinge E-Book

M. McDonnell Bodkin

0,0

Beschreibung

Das Pfeifen der Lokomotive unterbrach seinen Redefluß; gleich darauf kam der lange Zug mit Geknarr und Gekreisch in den Bahnhof eingefahren, und alles geriet in Bewegung. Die Schaffner liefen an den Wagen entlang und schrieen aus voller Kehle; einer von ihnen, ein erhitzt aussehender junger Mann, blieb vor einem Wagen erster Klasse zunächst der Lokomotive stehen. Erst preßte er das Gesicht gegen die Scheiben, dann drückte er auf die Klinke. Doch die Tür war verschlossen. Er zog seinen Schlüssel heraus, warf die Tür zurück und sprang ins Coupé hinein. Im nächsten Augenblick klang der durchdringende Schrei: »Mord! Mord!« schrill in die Nacht hinaus, allen andern Lärm übertönend. Perkins und Beck rannten den Bahnsteig entlang bis zu der offenen Türe, vor der sich schon eine Menge zu sammeln begann ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 199

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



M. McDonnell Bodkin

Die winzige Schlinge

und andre Detektivgeschichten

Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Margarete Jacobi

idb

ISBN 9783961509010  

Verschwindende Diamanten.

Sie glich einem bunten Schmetterling im Blumengarten, und es kribbelte sie bis in die Fingerspitzen vor Unruhe und Aufregung. In dem großen Zimmer des großen Hauses der obern Belgravestraße, das jetzt wirklich einem Garten voller Blumenbeete ähnelte, war nur ein kleiner freier Raum gelassen, wo sie auf einem zweisitzigen Sofa allein saß und ungeduldig mit den Füßchen auf dem weichen Teppich trappelte. Das ganze übrige Zimmer stand voll langer, runder und ovaler Tische, die mit lauter hübschem Schmuck und Tand, wie ihn junge Mädchen lieben, über und über bedeckt waren. Mindestens ein halbes Dutzend der vornehmsten Juwelier- und Galanterieläden von Regent-Street schienen ihre Schaufenster hier ausgeleert zu haben. Die Tische strahlten von Silber, Gold und Edelsteinen; schwere, bunte Seidenstoffe, gemalte Fächer, zierliche Vasen und kostbare Porzellanservice sah man, wohin das Auge blickte.

Lilian Ray und Sydney Harcourt sollten nämlich die nächste Woche Hochzeit halten; in ganz London gab es kein interessanteres Brautpaar. Mit ihrem hübschen Gesicht und ihrem liebenswürdigen Wesen hatte sich Lilian die Herzen im Sturm erobert, und daß der gutherzige, aber heißblütige Harcourt über Hals und Kopf in sein Verderben gerannt wäre, wenn sie ihn nicht noch rechtzeitig festgehalten hätte, wußte alle Welt. So fand denn die Verlobung jedermanns Beifall, und während der drei letzten Wochen waren die Hochzeitsgeschenke von allen Seiten herbeigeströmt und hatten das vordere Wohnzimmer förmlich überflutet.

Daß Lilian sich in großer Aufregung befand, war sehr begreiflich, denn sie erwartete ihren Bräutigam, der ihr die berühmten Harcourtschen Diamanten bringen sollte, die seit einem halben Jahrhundert in der vornehmen Welt Londons mit Entzücken und heimlichem Neide betrachtet wurden. Aus ihrem dunkeln, aber sichern Verließ in der Bank waren die funkelnden Edelsteine nach Herrn Ophirs Juwelierladen in Bond-Street geschafft worden; denn ihre Fassung war zu altmodisch, und es sollte zugleich untersucht werden, ob die zierlichen silbernen Klammern, die die kostbaren Steinchen umfaßten, auch noch ihre Pflicht und Schuldigkeit täten. Um die glänzende Pracht in bestem Lichte zu zeigen, war obendrein ein funkelnagelneues Etui für den Schmuck bestellt worden.

An der Straßentür klingelt es und Lilian fliegt ans Fenster; doch gleich wendet sie wieder ärgerlich den Kopf wie ein verwöhntes Kind. »Noch ein Reisesack – das ist der siebente – bei zweien ist Schloß und Bügel von Gold. Dort stehen sie alle in Reih und Glied und sperren die goldenen und silbernen Zähne auf. Wie können nur die Leute denken – –«

Sie vollendete den Satz nicht, denn eben kam eine Droschke rasch um die Ecke gefahren und sie erblickte ein junges strahlendes Gesicht und ein flaches Päckchen; dann sank sie wieder aufs Sofa zurück und holte tief Atem. Es klingelte wieder; jemand stürmte die Treppe herauf, immer vier Stufen auf einmal. Sie kannte den Schritt, saß aber mäuschenstill. Im nächsten Augenblick stand er im Zimmer. Ihre Augen hießen ihn willkommen, aber ihre Lippen schmollten: »Du kommst zehn Minuten zu früh, Sydney, und ich habe so viel zu tun. Was bringst du mir denn da?«

»O du kleine Heuchlerin! Und dabei sehnst du mich schon seit einer Stunde mit den Diamanten herbei. Ich habe nicht übel Lust, sie wieder fortzutragen.«

Er saß schon neben ihr, hatte den rechten Arm um sie geschlungen und hielt das Juwelenkästchen in seiner Linken weit weg von ihr. Errötend und lachend machte sie sich los, um die Diamanten zu erhaschen. Doch er kam ihr zuvor. Rasch sprang er auf und hielt das Etui acht Fuß hoch in die Luft. Lilian stellte sich auf die Fußspitzen; mit einer Hand konnte sie seinen Ellbogen erreichen, mit der andern griff sie ihm in die braunen Locken und machte sich zum Sprung bereit. Dabei kam sie seinem Gesicht zu nah und konnte sich nicht wehren. Die Folgen waren unvermeidlich.

»O, du böser Mensch!« rief sie unwillkürlich in ihrer Überraschung.

»Vorausbezahlung«, erwiderte er lachend und legte ihr das kostbare Etui in die Hand. »Es stimmt nicht ganz, das gestehe ich ein: doch bin ich bereit, dir herauszugeben, soviel du willst.«

Lilian war mit ihrem Schatz nach dem Sofa entflohen.

»Nun sei einmal einen Augenblick vernünftig und reiche mir die Schere, die dort in dem Arbeitskörbchen neben der eingerahmten Photographie auf dem Tisch liegt.«

Das Etui war in hellbraunes Papier gewickelt, mit Bindfaden verschnürt und fest zugesiegelt. Hastig zerschnitt sie die Schnur, ohne die großen roten Siegel zu verletzen, und ließ die Papierhülle auf den Teppich fallen.

Aus dem weichen weißen Seidenpapier kam das neue Etui von hellbraunem Saffian zum Vorschein, auf dem ein verschlungenes L. H. in goldenen Buchstaben prangte. Lilian stieß einen leisen Freudenschrei aus; die Diamanten waren nun wirklich ihr Eigentum. Der glückliche Bräutigam neben ihr sah sie liebevoll an, wie man ein hübsches spielendes Kind betrachtet, und tat, als wolle er ihr den Schmuck entreißen. Doch sie hielt ihn fest, zögerte noch einen Augenblick, holte tief Atem, um sich auf den entzückenden Anblick vorzubereiten, und öffnete das Etui. – Es war leer!

Das Futter von violettem Samt mit dem erhöhten Mittelpunkt sah nur etwas zerknittert aus, wie ein Bett, in dem jemand gelegen hat. Das war alles. Lilian schaute ihren Bräutigam halb belustigt, halb vorwurfsvoll an; sie dachte, er habe ihr einen Streich gespielt. Doch er machte ein erschrecktes und überraschtes Gesicht.

»Was soll das heißen, Sydney? Treibst du Scherz mit mir?« fragte sie.

»Ich begreife es nicht, Lily«, versetzte er mit völlig veränderter Stimme. »Es ist mir unfaßlich. Ich bringe dir das Etui, wie Herr Ophir es mir übergeben hat. Er sagte, er habe die Diamanten hineingelegt und das Paket eigenhändig versiegelt. Sieh nur«, sagte er, das Papier vom Boden aufhebend, »die Siegel sind noch unverletzt. Seitdem hat es kein Mensch berührt außer dir und mir, aber die Diamanten sind fort! Dem alten Ophir würde es auch nicht im Traum einfallen, mir solchen Streich zu spielen. Und doch weiß ich keine andre Erklärung, als daß er ... Nein, das wäre zu abgeschmackt. Er ist ein ungeheuer reicher Mann und so zuverlässig wie die Bank von England. Noch als er mir das kostbare Paket einhändigte, hat er mich zur Vorsicht ermahnt: ›Das Etui hat einen Wert von zwanzigtausend Pfund, Herr Harcourt,‹ sagte er, ›geben Sie es nicht aus der Hand, damit es nicht Schaden leidet.‹ Natürlich folgte ich seinem Rat, und trotzdem sind die Diamanten aus dem Etui und dem versiegelten Papier spurlos verschwunden.«

Er starrte trübsinnig auf das violette Samtfutter: »Ich muß gleich mit Herrn Ophir sprechen.«

»O Sydney, laß mich nicht allein!«

»Nun, dann will ich ihm schreiben. Die Sache wird wohl auf einem lächerlichen Mißverständnis beruhen. Vielleicht hat er mir ein falsches Etui gegeben oder jemand hat ein leeres Etui untergeschoben, während Ophir einen Augenblick wegsah. Wir werden uns wohl an einen Geheimpolizisten wenden müssen. Das will ich ihm auf der Stelle vorschlagen. Wo kann ich ein paar Zeilen schreiben?«

»Dort auf dem Tisch steht eine ganze Reihe von Tintenfässern.«

Lilian schob ihm ein zierliches Schreibzeug aus Perlmutter und Schildkrot hin. Die in Silber gefaßten Behälter waren mit wohlriechender Tinte gefüllt. »Schaff mir doch ordentliche Tinte, Lily«, sagte Harcourt in so gereiztem Ton, wie sie ihn noch nicht an ihm kannte, und mit einer Ungeduld, die zu seinem stets sonnigheiteren Wesen durchaus nicht paßte, »mit diesem Zeug kann ich unmöglich an den alten Ophir schreiben.«

Sie glitt geräuschlos zum Zimmer hinaus, und als sie gleich darauf wieder eintrat, saß Harcourt auf dem Sofa und hatte die Papierhülle mit den Siegeln und den Bindfaden in der Hand. »Unbegreiflich!« murmelte er. »Es ist, als wären sie in der Luft verschwunden. Aber wenn uns irgend jemand helfen kann, so ist es der alte Ophir.«

Harcourt brummte erst ein wenig darüber, wie unbrauchbar Tinte und Papier der Damen sind, dann schrieb er:

»Geehrter Herr Ophir!

»Ich habe Ihnen etwas sehr Merkwürdiges mitzuteilen: Nachdem Sie mir das Etui übergeben hatten, bin ich damit geradeswegs nach der Belgravestraße zu Fräulein Ray gefahren, die in meiner Gegenwart die Schnur zerschnitten hat, ohne die Siegel zu erbrechen. Zu unsrer größten Überraschung fanden wir indes keine Diamanten darin. Es muß irgend ein Irrtum vorgefallen sein. Vielleicht sind Sie im stande, das Rätsel zu lösen. Falls Sie Unredlichkeit argwöhnen, bitte ich Sie herzlich, einen Geheimpolizisten anzunehmen. Der Kutscher soll auf Antwort warten.

In Eile Ihr ergebener

Sydney Harcourt.«

Er lief selbst die Treppe hinunter und rief eine Droschke an, die langsam die Straße daherfuhr. Wie der Wind kam der Kutscher vorgefahren und warf fast einen Bettler um, der am Hause dicht neben dem Prellstein herumlungerte.

»Hier, Kutscher, bringen Sie dies Briefchen zu Herrn Ophir in der Bondstraße. Die Adresse steht auf dem Umschlag. Warten Sie auf Antwort. Ich zahle die doppelte Taxe, wenn Sie rasch wiederkommen.«

Der Kutscher nahm den Brief in Empfang, legte die Hand an den Hut und jagte fort wie der Pfeil vom Bogen.

Harcourt warf dem scheltenden Bettler einen Schilling hin und schlug die Tür zu. Hätte er noch eine Sekunde verweilt, so würde er gesehen haben, wie der Bettler in größter Schnelligkeit davonlief und um die Ecke verschwand.

»O Sydney, mach doch kein so trostloses Gesicht«, flehte Lilian, deren neckische Laune verflogen war. »Es wird sich ja alles aufklären. Geschieht es aber nicht, so macht mir das auch keinen Kummer. Dein Vater liebt uns beide viel zu sehr, um ernstlich böse zu werden. Du kannst ja auch überhaupt nichts dafür.«

»Ja, siehst du, Lily, die verteufelten Dinger – verzeih, aber ich bin ganz außer mir – sie sind nun doch einmal aus meinen Händen verschwunden. Wer sie in seinen Besitz bekommen hat, kann hohe Summen daraus lösen. Ich habe früher etwas toll gewirtschaftet, ehe ich dich kennen lernte, liebes Herz, und viele glauben, ich hätte über meine Mittel gelebt. Natürlich werde ich ins Gerede kommen, und mich soll's nicht wundern, wenn böse Zungen sagen – nein, das will ich lieber nicht aussprechen; mich kümmert's auch keinen Pfifferling. Du selbst wirst nur immer Gutes von mir denken und reden, und ich möchte um alle Diamanten von Golkonda keine Wolke auf deiner schönen Stirn und keine Träne in deinen blauen Augen sehen. Mögen die kostbaren Steine zum Kuckuck fahren – hier ist ein stärkerer Magnet.«

Die Liebe ist eine allmächtige Zauberin. In fünf Minuten hatte das Brautpaar die Diamanten so gänzlich aus dem Sinne gelassen, wie sie aus dem Etui verschwunden waren. Erst als eine Droschke angerasselt kam und vor der Tür hielt, wurden sie wieder in die Alltagswelt zurückversetzt.

Ein Diener trat ein und brachte auf einem silbernen Teller eine nicht sehr saubere Visitenkarte. Harcourt nahm sie in Empfang und Lilian, die ihm über die Schulter sah, las den Namen

Paul Beck

Privatdetektiv.

»Wie sieht er aus, Tomlinson?«

»Ein starker Mann in grauem Anzug. Kommt mir nicht sehr gescheit vor.«

»Laß ihn heraufkommen.«

»Was soll das heißen? Wer kann es sein?« murmelte Harcourt unruhig, als der Diener fort war. »Der Mann kann unmöglich schon von Ophir zurückkommen, geschweige daß dieser in so kurzer Zeit hätte einen Geheimpolizisten auftreiben können. Daraus werde ein andrer klug.«

»Weißt du, er kam angefahren wie der Wind. Und wir wundern uns ja immer, wie schnell die Zeit vergeht, wenn wir von unserer Zukunft reden.«

Jetzt machte der Diener die Türe weit auf, um Herrn Paul Beck anzumelden. Der Detektiv schien alles Aufsehen vermeiden zu wollen. Er kam ganz leise ins Zimmer geschlichen und stellte sich so viel wie möglich mit dem Rücken gegen das Licht, als sei ihm die Heimlichkeit zur Gewohnheit geworden. Der vierschrötige Mann im dunkelgrauen Anzug machte eher den Eindruck eines ehrbaren Milchhändlers, der sich zur Ruhe gesetzt hat, als eines Geheimpolizisten. Ein rötlicher Backenbart umrahmte sein blühendes Gesicht, und das hellbraune Haar kräuselte sich wie die Locken eines Pudels. Seine großen blauen Augen schauten verwundert drein und er lächelte so unschuldig wie ein Kind.

Lilian glaubte zu bemerken, daß er beim Eintreten einen raschen scharfen Blick nach dem Tisch hin warf, wo das leere Schmucketui lag, und auf die Papierhülle am Boden. Aber der lebhafte Ausdruck war gleich wieder aus seinem Gesicht verschwunden, wie der Schein eines erlöschenden Lichts.

Harcourt kannte den Mann seinem Rufe nach als einen der geschicktesten Geheimpolizisten Londons, von dem man wußte, daß er schon Rätsel gelöst hatte, an denen alle Künste der Polizei gescheitert waren. Nach seinem Äußern zu urteilen, hätte man das kaum für möglich gehalten.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Beck«, sagte er. »Vermutlich kommen Sie wegen – – –«

»Wegen der Diamanten«, fiel ihm jener rasch ins Wort. »Ich war glücklicherweise gerade bei Herrn Ophir, als Ihr Zettel eintraf, und er forderte mich auf, den Fall zu übernehmen. Ihr Droschkenkutscher hat sich möglichst beeilt, und hier bin ich.«

»Die Tatsachen sind Ihnen bereits mitgeteilt.«

»In aller Kürze.«

»Und Sie glauben – – –«

»Ich glaube nicht, ich weiß, wie und wo ich der Diamanten habhaft werden kann.«

Er sprach sehr zuversichtlich, und es kam Lilian vor, als spiele ein Lächeln um seinen unschuldvollen Mund, während er ein Auge halb zukniff.

»Das freut mich ja von ganzem Herzen«, sagte Harcourt. »Die Sache macht mir große Sorge. Hat Herr Ophir vielleicht eine Vermutung geäußert – – –«

»Nein; daran lag mir auch nichts«, fiel Beck wieder ein. »Zum Reden ist keine Zeit. Es gilt der frischen Spur zu folgen. Ist dies hier das Diamantenetui?«

»Ja«, sagte Harcourt, während er es in die Hand nahm und öffnete, »ganz so leer, wie es herkam.«

Beck schloß das Etui rasch wieder und steckte es in die Tasche. »Dort liegt wohl das Papier und der Bindfaden der Verpackung?«

Harcourt nickte und jener hob beides sorgfältig auf und steckte es in seine andre Tasche.

»Wie Sie sehen, sind die Siegel noch unerbrochen«, bemerkte Harcourt. »Den Bindfaden hat Fräulein Ray entzweigeschnitten, aber als sie –«

»Ich empfehle mich Ihnen, Herr Harcourt«, unterbrach ihn der Geheimpolizist ohne weitere Förmlichkeit. »Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein.«

»Haben Sie denn alle nötigen Erkundigungen eingezogen?« fragte Harcourt erstaunt. »Unmöglich können sie doch schon den Schlüssel gefunden haben.«

»Ich habe alles gefunden, was ich suchte und wollte. Wie ich den Dieb fangen kann, ist mir ganz klar. Sobald ich Ihnen Neues zu berichten habe, werde ich schreiben. Einstweilen sage ich Ihnen lebewohl.«

Er hatte augenscheinlich große Eile, sein Werk in Angriff zu nehmen. Noch bevor Harcourt ein Wort erwidern konnte, war er zum Zimmer hinaus und die Treppe hinunter. Die Haustür selber öffnend, sprang er in die Droschke, die er hatte warten lassen, und der Kutscher jagte davon, daß die Funken stoben.

Noch war er nicht fünf Minuten fort, als von der entgegengesetzten Seite der Straße her abermals eine Droschke angerasselt kam.

Lilian und Sydney hatten sich noch kaum von ihrer Verwunderung über den kurzen Abschied des Geheimpolizisten erholt, als Tomlinson wieder mit einer, diesmal makellosen, Visitenkarte erschien, auf der

Paul Beck

Privatdetektiv

stand.

Harcourt fuhr erstaunt in die Höhe und Lilian sah halb überrascht halb belustigt aus.

»Ist es derselbe Mann, Tomlinson?«

»Jawohl. Aber er scheint mir ein sehr zerstreuter Herr zu sein. ›Ist in der letzten Viertelstunde jemand hier gewesen?‹ fragte er wie atemlos, als ich ihm aufmachte. ›Sie selbst waren doch vor kaum fünf Minuten hier,‹ sagte ich. ›Wirklich?‹ rief er und lachte dabei ganz sonderbar. ›Sind Sie Ihrer Sache auch gewiß – und bin ich jetzt hier?‹ Ich sah ihn scharf an, aber er schien ganz nüchtern zu sein. ›Freilich sind Sie hier,‹ sagte ich, ›Sie stehen ja in ganzer Person vor mir.‹ – ›O, ich meine nur, ob ich überhaupt fortgegangen bin?‹ – ›Sie sind in einer Droschke weggefahren, was die Pferde laufen konnten,‹ antwortete ich, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen, denn er machte ein ganz ernsthaftes Gesicht und sah ordentlich betreten aus, als ich die Droschke erwähnte. ›Schade, schade,‹ murmelte er, ›ich bin zehn Minuten zu spät gekommen. Doch das läßt sich eben nicht ändern. Bringen Sie nur die Karte hinein, mein Lieber.‹ – Wollen Sie ihn empfangen, Herr Harcourt?«

»Natürlich.«

»Wie merkwürdig!« rief Lilian. »Er kann doch die Diamanten nicht in fünf Minuten gefunden haben.«

»Vielleicht hat er doch eine Spur entdeckt. Daß er draußen in der Vorhalle den braven Tomlinson zum besten gehabt, beweist, daß er über irgend etwas sehr guter Laune ist. Ich hätte dem alten Burschen solche Späße wahrhaftig nicht zugetraut.«

»Herr Paul Beck«, meldete der Diener.

In dem Wesen des Geheimpolizisten war eine gewisse unbeschreibliche Veränderung bemerkbar. Seine Bewegungen waren weniger plötzlich, sein Gang nicht so schleichend; auch stellte er sich nicht immer absichtlich mit dem Rücken gegen das Licht.

»Sie kommen rasch zurück, Herr Beck«, sagte Harcourt. »Haben Sie eine Spur gefunden?«

»Ich wäre gern fünf Minuten früher gekommen«, versetzte der Geheimpolizist mit völlig veränderter Stimme. »Leider habe ich die Fährte verloren und muß mich erst zurechtfinden. – Wo ist das Diamantenetui?«

»Das habe ich Ihnen ja selbst vor fünf Minuten gegeben.«

»Mir?« fragte Beck, besann sich aber und verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das fast aussah wie eine Grimasse. »Jawohl, Sie haben es mir gegeben. Und was habe ich denn damit getan?«

»Ich verstehe Sie ganz und gar nicht.«

»Das ist auch unnötig! Sie brauchen mir nur zu antworten.«

»Entschuldigen Sie, Herr Beck, dies ist nicht der Augenblick für schlechte Späße, und ich bin auch durchaus nicht dazu aufgelegt.«

»Sie werden später schon noch einsehen, daß ich keinen Spaß mit Ihnen getrieben habe, Herr Harcourt. Dem Spaßmacher aber hoffe ich noch tüchtig heimzuleuchten. Übrigens komme ich von Herrn Ophir.«

»Das haben Sie mir schon einmal gesagt.«

»So, dann wiederhole ich es eben. Herr Ophir hat mich beauftragt, die verlorenen Diamanten zu finden, und ich erlaube mir die höfliche Frage, was aus dem Etui geworden ist.«

»Genau das, was Sie selbst damit gemacht haben.« Harcourt wurde rot vor Ärger über diese kaltblütige Frechheit; aber Lilian schlug sich ins Mittel.

»Sie haben es in die Tasche gesteckt und mit fortgenommen, Herr Beck.«

»Hatte ich große Eile?«

»Sie nahmen sich keinen Augenblick Zeit.«

»War ich genau so gekleidet wie jetzt?«

»Auf ein Haar.«

»Und auch mein ganzes Äußeres war ebenso?«

»Vollkommen.«

»Sowohl die Gestalt wie das Gesicht?«

»Mir scheint, Sie haben jetzt weniger Kunst aufgewendet.«

»Kunst? Was wollen Sie damit sagen, Fräulein?«

»Nun, es kam mir so vor, als hätten Sie sich verschönern wollen. Ihre Wangen sahen aus wie geschminkt.«

»Und stellte ich mich immer mit dem Rücken gegen das Licht?«

»Wie gut Sie sich daran erinnern!«

Beck lachte; Harcourt aber brach zornig los: »Glauben Sie nicht, daß es jetzt genug ist mit der Narretei?«

»Mehr als genug«, gab Beck ruhig zur Antwort. »Ich habe die Ehre, Ihnen guten Morgen zu wünschen, Herr Harcourt; auch Ihnen, gnädiges Fräulein!« Und als er sich an Lilian wandte, lag offenbare Bewunderung im Ton seiner Stimme.

»O Sydney«, rief sie, sobald die Türe sich hinter jenem geschlossen hatte, »ich bin noch durch und durch erschüttert. Ein so verworrenes Geheimnis ist noch nie dagewesen. Welcher von ihnen mag nur der richtige Herr Beck sein?«

»Welcher? Was in aller Welt meinst du denn? Mir ist schon so wie so ganz schwindelig zu Mute. Beide sind jedenfalls derselbe Herr Beck – der richtige oder falsche, wofür du ihn nun halten magst.«

Unterdessen fuhr Beck in schnellstem Trabe nach Herrn Ophirs Wohnung in der Bondstraße zurück. Er fand den angesehenen Juwelier in seinem kleinen Bureau hinter dem von Edelsteinen funkelnden Laden, doch schien ihn seine gewöhnlich so würdevolle Haltung verlassen zu haben.

»Nun, was bringen Sie?« fragte er in großer Aufregung, nachdem der Geheimpolizist die Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hatte.

»Ich glaube, ich bin dem Diebe auf der Spur, wenigstens kann ich mit ziemlicher Gewißheit sagen, in wessen Händen die Diamanten sind.«

»Herr Harcourt hat ein etwas ausschweifendes Leben geführt, ehe es zu dieser Verlobung kam«, sagte Ophir in unsicherem Ton und mit verlegenem Lächeln.

»Von wem haben Sie das neue Etui machen lassen?« fragte Beck, dem Gespräch ganz unvermittelt eine andre Wendung gebend.

»Hm – ja so – von Smithson, einem sehr geschickten und zuverlässigen Meister. Der schon seit zwanzig Jahren für mich arbeitet. Das Etui war ganz vorzüglich angefertigt.«

»Wer hat es Ihnen überbracht?«

»Einer von Smithsons Leuten.«

»Sagten Sie nicht, der Mann habe zugesehen, wie Sie die Diamanten in das Etui legten und das Paket zusiegelten?«

»Ja, er stand nur ein paar Schritte entfernt. Auch zwei von meinen eigenen Angestellten waren zugegen. Wenn Sie diese etwa befragen möchten, will ich Carton und Cuison gleich rufen lassen.«

»Nein, daran ist mir einstweilen nichts gelegen. Aber um Smithsons Adresse möchte ich Sie bitten, Herr Ophir. Vermutlich würde es uns von Nutzen sein, wenn wir seines Boten habhaft werden könnten.«

»Das bezweifle ich sehr, Herr Beck, denn es war ein ganz gewöhnlicher Arbeiter. Meine eigenen Leute wären weit zuverlässigere Zeugen. Vielleicht dürften Sie auch Mühe haben, ihn zu finden. Doch darüber kann ich Ihnen natürlich keine bestimmte Auskunft geben.«

Der alte Herr sah ganz erhitzt und aufgeregt aus, was den Detektiv sichtlich wunder nahm. »Besten Dank für Ihren Rat, Herr Ophir«, sagte er. »Ich ziehe es jedoch vor, auf meine Weise ans Werk zu gehen.«

Zwanzig Minuten später stand der unermüdliche Paul Beck schon in Smithsons Werkstatt, um den Meister auszufragen; allein es führte zu nichts. Der Mann, der Herrn Ophir das Etui überbracht hatte, war zugleich der Verfertiger. Einen geschickteren Arbeiter hatte Smithson noch nie gehabt: er hieß Mulligan und war erst vor zehn Tagen bei ihm eingetreten. Ob er aus Irland oder Holland stammte, wußte der Meister nicht; jedenfalls verstand er sein Gewerbe. Mulligan mochte sich wohl in bedrängter Lage befinden, denn er verlangte keinen hohen Lohn. Doch war er kaum eine halbe Stunde in der Werkstatt gewesen, da zeigte er schon, was er leisten konnte; deshalb hatte ihn auch Smithson das Etui zu den Harcourt-Diamanten anfertigen lassen, als die Bestellung kam. Den ganzen Tag über war er damit beschäftigt gewesen; abends nahm er dann das Etui mit nach Hause und brachte es am andern Morgen fertig zurück. »So schnell und gut hat mir noch niemand eine Arbeit geliefert«, schloß der Meister seinen Bericht.

»Aber wie hat er das angestellt? Sie haben ihn doch die Diamanten nicht nach Hause nehmen lassen?«

»Wo denken Sie hin!« rief Smithson eifrig und warf einen verwunderten Blick auf den großen Detektiv, der mit dem unschuldvollsten Ausdruck vor ihm stand, ohne eine Miene zu verziehen. »Die Diamanten hat er nicht zu Gesicht bekommen; davon war keine Rede.«

»Wie hat er denn aber ein passendes Etui machen können?«

»Nach unserm Modell – dem alten Etui.«

»Haben Sie das noch hier?« Bei dieser Frage verriet Herr Beck zum erstenmal ein lebhaftes Interesse.

»Ja, ich glaube, es muß noch irgendwo sein. Ich will gleich nachsehen.«

Gleich darauf kehrte er mit einem abgescheuerten und verschossenen Schmucketui aus vormals dunkelgrünem Saffianleder zurück, dessen inwendiger weißer Samtbezug vor Alter gelb geworden war.

»Hier ist das Modell, Herr Beck. Der erhöhte Mittelpunkt war für den großen Stern bestimmt und ringsum in die Vertiefung kam das Halsband zu liegen.«

»Ganz richtig!« versetzte Beck. Er legte für seine gewöhnlich sehr ruhige Art merkwürdig viel Ausdruck in diese Worte.

»Nicht wahr, Sie können mir das alte Etui überlassen?« fragte er nach einer Pause.

»Gewiß. Herr Ophir wird nichts dagegen haben.«

»Sagen Sie einmal, Smithson«, begann Beck wieder, »hat nicht jener Mulligan – so hieß er ja wohl? – sich auf Herrn Ophir berufen?«

»Freilich; das fällt mir erst jetzt wieder ein. Als er zu mir kam, erkundigte er sich, ob ich nicht für Herrn Ophir arbeite: es schien ihm sehr daran gelegen zu sein. Er wußte viel Gutes von Ophir zu sagen und meinte, wenn ich wollte, könnte er sich wohl eine Empfehlung von ihm geben lassen. Doch ich verlangte es nicht; Mulligans Arbeit war mir Empfehlung genug. So halte ich es in meinem Geschäft.«

Der Geheimpolizist steckte das Etui in die Rocktasche und näherte sich der Türe. Auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen.

»Besten Dank für die Auskunft, Smithson. Nicht wahr, am Nachmittag ist Mulligan nicht zur Arbeit gekommen?«