Die Unsichtbaren - Nanni Balestrini - E-Book

Die Unsichtbaren E-Book

Nanni Balestrini

4,5

Beschreibung

Protagonist des Romans »Die Unsichtbaren« ist ein Basismilitanter der Generation von 1977, der »Autonomia«, die das Land in ein riesiges Laboratorium neuer Lebensentwürfe verwandelte. Es war eine Zeit nicht enden wollender Massendemonstrationen, der Hausbesetzungen, linken Kulturzentren und freien Radios. Mit beispielloser Kreativität und Radikalität forderte eine Bewegung von Jugendlichen die herrschende Kultur und das Bürgertum heraus und artikulierte ihre Ablehnung in Fabriken, Schulen und Stadtvierteln lustvoll und zugleich militant.

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Seitenzahl: 396

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Die Unsichtbaren erschien 1987 im Verlag Bompiano, Mailand (Originaltitel: Gli Invisibile),die deutschsprachige Erstausgabe 1988 im Verlag Antje Kunstmann, München. Gemeinsam mit den Romanen Wir wollen alles (ISBN EPub 978-3-86241-611-0) und Der Verleger (ISBN EPub 978-3-86241-613-4) ist das Buch Teil der Romantrilogie Die große Revolte (ISBN EPub 978-3-86241-610-3).

© Berlin/Hamburg 2008

Assoziation A

Gneisenaustr. 2a

10961 Berlin

www.assoziation-a.de

[email protected]

[email protected]

ISBN EPub: 978-3-86241-612-7

Inhalt

Die Unsichtbaren

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Zweiter Teil

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Dritter Teil

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Vierter Teil

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Die Unsichtbaren

Aus dem Italienischen von Renate Heimbucher-Bengs

Für Sergio

Erster Teil

1

das Kellergeschoss ist ein Gewirr von Gängen erhellt alle zwanzig dreißig Meter von staubigen Neonröhren die an langen brüchigen Kabeln von der nackten Zementdecke hängen die tiefe Risse durchziehen so lang dass ihr Ende nicht zu sehen ist und stellenweise senkt sie sich bläht sich herab wie unter einem ungeheuren Gewicht das von oben auf ihr lastet sie ein- und niederdrückt alle vier fünf Meter stützen sie dicke Balken das Holz ist morsch und modrig der Boden überzogen von einem dünnen Film fauligen Wassers ein widerlich süßer Aasgeruch mischt sich in den Modergeruch da und dort an einer Abzweigung oder einer Kreuzung zweier Gänge kleine Sand- oder Zementhaufen nass und breit getreten liegen gebliebene Schaufeln und anderes rostiges Werkzeug die Luft ist feucht und aus dem Mund kommen kleine Dampfwölkchen wenn man die ekelhafte Luft atmet

das unregelmäßige Getrappel des stummen kleinen Zugs vermischt sich mit dem einförmigen Kettengerassel tönt hohl wenn es über die nassen Holzstege geht die Schatten verlängern sich hinter den Füßen wenn sie sich den neonbeleuchteten Stellen nähern verschwinden und erscheinen gleich darauf vorne wieder werden länger die Schritte tasten sich vorwärts man passt auf wohin man den Fuß setzt und auf die Ketten um nicht zu stark nach vorn oder hinten zu zerren und möglichst immer den gleichen Abstand zum Vordermann oder Hintermann zu halten und achtet darauf mit der rechten Schulter die glitschig nasse Wand nicht zu streifen und links den waagrecht vorgestreckten MP-Läufen auszuweichen während der kleine Trupp mehrmals nach rechts und links und links und rechts abbiegt bis er völlig die Orientierung verloren hat

dann steigen wir eine beklemmend enge halbdunkle Treppe hinauf mit langen Rampen hohen unbequemen Stufen Gezerre an den Ketten das an den Handgelenken schmerzt und am Ende der letzten Treppe das Licht einer kleinen Tür und wir schlüpfen hinaus oben an einer Treppe zu einem riesigen hell erleuchteten Saal voller Leute die sich da unten bewegen plötzlich spüre ich am Bein eine Schnauze die drohend knurrt schwarze weit geöffnete Pupillen große vorstehende Augen zwei lange weiße Zähne verzerrte aufgestülpte rote Lefzen ein gewaltiger großer Hund das schwarzglänzende Fell am lauernd gekrümmten Rücken gesträubt die aufgestellten Ohren unablässig bebend der Carabiniere der ihn an der Leine hält zeigt keine Regung in seinem kugelsicheren Antiterrorismus-Schutzanzug neuesten Stils

von der Stelle wo wir sind führt die Treppe steil hinab bis unten in den Saal und von dort ragen ringsum dicke zylindrische metallicgrau gestrichene Eisenstangen auf bis zur Decke der riesige Käfig ist voller Carabinieri in kugelsicheren metallicgrauen Schutzanzügen oben unten an beiden Seiten mit weiteren großen schwarzen nervös knurrenden Hunden einem nach dem anderen nehmen die Carabinieri uns die Ketten ab lösen die Handschellen von den roten schmerzenden Handgelenken das grelle Blitzlichtfeuer der Fotografen schlägt uns ins Gesicht Hunde nein Schakale auch sie verrenken sich bücken sich recken sich auf Zehenspitzen ein hektisches Ballett heben die Arme strecken sie noch höher mit den Jackenärmeln die zu den Ellenbogen hochrutschen und noch höher

wir reiben uns die roten Handgelenke stecken uns Zigaretten an gehen ein bisschen die Treppe rauf und runter winken dem einen oder anderen Angehörigen setzen uns zu zweit oder zu dritt nebeneinander und wechseln ein paar leise Sätze die Fotografen drunten beugen die Knie schnellen mit dem Rumpf nach links und nach rechts wie Schlangenmenschen im Zirkus neigen sich vor zu den Bestien im Käfig versuchen den Kopf durch die Gitterstäbe zu zwängen und die langen Objektive zwischen den Armen und Beinen der Carabinieri durchzuschieben die eine reglose Mauer bilden lassen mit fahrigen Fingern die Kameras auf und nieder tanzen und knipsen schießen grelle Blitze auf die Gesichter im Käfig und dann flammt in einer Ecke ein noch grelleres Licht auf und es beginnt das Surren der Fernsehkameras

ich setze mich auf die oberste Treppenstufe und drunten sehe ich die Anwälte mit den lässig um die Schultern geworfenen schwarzen Roben wie sie ruhig miteinander plaudern in kleinen Grüppchen hinter den abgewetzten Holztischen auf der rechten Seite sitzt parallel zum Käfig aufgereiht das Gericht mit dem finsteren und nachdenklichen Vorsitzenden in der Mitte die hohe Rückenlehne überragt ein ganzes Stück seinen Kopf daneben der Beisitzer hingefläzt auf einem zweiten Stuhl mit hoher Lehne und rechts und links die Geschworenen Männer und Frauen die Gesichter fast alle hinter großen dunklen Brillen verborgen die grünweißroten Schärpen schräg über den mattfarbenen Pullis bauschigen Blusen mit gestärkten Krägen Anzügen in unterschiedlichen Grautönen grünlichen bläulichen oder gelblichen Krawatten und hinten rechts ein wenig abseits das Podium der Staatsanwaltschaft

über den Köpfen der Richter bilden Millionen von Steinchen ein riesiges angestaubtes und verblichenes Mosaik das bis zur Decke reicht und eine wirre Szene darstellt eine wütende Schlacht zur Linken die bösen Mächte verkörpert durch eigentümlich gekrümmte ineinander verschlungene unheimliche Gestalten vorwiegend in Grün und Violett und zur Rechten die guten Mächte engelhaft ätherisch harmonisch in lichtem Blau in der Mitte stoßen sie aufeinander in einer wütenden Schlacht doch die Mächte des Bösen sind schon klar besiegt und treten den Rückzug an verfolgt von den unerbittlichen Mächten des Guten darunter prangt in einem vergoldeten Oval die imposante Gestalt der Justitia mit verbundenen Augen in einer Hand das Schwert in der anderen die Waage und noch weiter unten in erhabenen Lettern die Aufschrift vor dem Gesetz sind alle gleich

links hinter der Polizeisperre sind die Holzschranken hinter den Schranken sind die Plätze für das Publikum aber Publikum ist keines da der Zuhörerraum ist so gut wie leer bis auf einige Familienangehörige Mutter Vater Schwester Bruder Kusine Onkel Schwägerin kein Freund kein Genosse weil alle Angst haben weil das Gerichtsgebäude sich von außen wie ein Kriegsschauplatz präsentiert Sperrgitter und Stacheldraht Polizeikordons und Carabinieri eine Absperrung hinter der anderen und Panzerfahrzeuge an den strategisch wichtigen Punkten während andere Panzerfahrzeuge unentwegt das Gerichtsgebäude umkreisen und am Eingang dann Hunde und Metalldetektoren und Leibesvisitationen Verhöre Karteien Drohungen Warnungen Unterstellungen und all das

die kleine Tür hinter uns öffnet sich erneut und inmitten eines weiteren Polizeitrupps erscheinen oben an der Treppe die Frauen auch sie in Ketten und Handschellen wir springen alle auf und laufen auf sie zu der Käfig füllt sich mit Begrüßungsrufen Lächeln verschiedenen Parfüms alle haben sie kunterbunte Klamotten an lange Röcke bunte Blusen bunte Halstücher Ringe an den Fingern Halsketten Kettchen Broschen Armbänder Klimperreifen an den Handgelenken große bizarre Ohrringe und Haarspangen das Durcheinander macht die Carabinieri nervös sie brüllen Befehle die Hunde knurren drohend und wieder bricht das Blitzlichtgewitter der Fotografen los die Journalisten kritzeln hektisch in ihren Notizbüchern die wenigen Angehörigen schwenken die Arme rufen Begrüßungen über die Sperre und die Antwort sind weitere Zurufe und Grüße

die Carabinieri nehmen einer nach der anderen die Ketten ab und lösen die Handschellen die Mädchen laufen auf uns zu wir laufen auf sie zu auf der Treppe und wir vermischen verflechten umschlingen uns zu einem Mosaik von Umarmungen Liebkosungen Küssen Stimmen das Einzige was uns jetzt interessiert ist miteinander reden zu können über so vieles reden über alles reden endlich reden reden so lange wie möglich und uns anfassen spüren zu können Männer und Frauen alles um uns herum verschwindet der Gerichtssaal die Carabinieri die Fotografen die Hunde die Richter alles jenseits des Gitters ist uns fern existiert nicht Geschenke gehen hin und her Amulette Krimskrams alles was man bis hierher in den Käfig mitnehmen konnte wir tauschen sogar die Kleider Hemden Pullover Halstücher Schals

Klingeltöne die vom Richtertisch kommen und der Vorsitzende beginnt mürrisch die lange Liste der Anklagevorwürfe zu verlesen dieser und jener angeklagt und so weiter und so weiter dies und das begangen zu haben dieser und jener angeklagt dies und das begangen zu haben und so weiter und so fort in Tateinheit mit alles hastig runtergeleiert mit eintöniger Stimme dieser und jener angeklagt dies und das begangen zu haben und Pipapo er nuschelt verschluckt in der Eile die Wörter und dies und das und bewaffnete Bande kriminelle Vereinigung und Pipapo man kann ihm gar nicht folgen hastig schließt er und dann kommen die Präliminarien und die Anwälte erheben ohne jede Überzeugung rein formell die üblichen nutzlosen Einwendungen und so wird die Sitzung unterbrochen das Gericht zieht sich zurück um über die Einwendungen der Verteidigung zu entscheiden wenige Minuten und schon sind sie zurück und erneutes Klingeln um zu verkünden dass die Einwendungen der Verteidiger natürlich alle abgelehnt sind und wieder Klingeln und die Verhandlung wird eröffnet der Vorsitzende Richter erklärt die Verhandlung für eröffnet

2

der vereinbarte Tag war gekommen und in aller Frühe bevor die Schultore öffnen hatten wir ein großes Plakat angeklebt das die Versammlung ankündigte und alle aufforderte an der Versammlung teilzunehmen wir nehmen ohne zu fragen stand groß darauf und Gelso hatte noch druntergeschrieben und zwar alles was wir brauchen Rektor Mastino kommt wie immer als Erster und liest das Plakat bläst die Backen auf und blickt uns grimmig an fixiert uns einen nach dem andern als wolle er sagen ich nehme es zur Kenntnis aber wartet nur ich werd’s euch geben dann kommen die Lehrer lesen kommentarlos schauen uns nur an wie lauter Verrückte ein paar Minuten später kommt ein Trupp Schuldiener heraus denen hatte Mastino befohlen die Plakate zu zerreißen

der mutigste Schuldiener der zugleich auch der dümmste war hebt einen Arm um das Plakat abzureißen aber Cocco stellt sich wütend vor ihn mit erhobenen Armen in seinem langen schwarzen Mantel mit purpurrotem Futter und lässt einen Schrei los der Pedell hält erschrocken inne und derweil kommen auch wir näher die Schuldiener wissen nicht was tun schauen zu Mastino hinauf der sie vom Fenster des Rektorats aus beobachtet doch am Ende beschließen sie wieder reinzugehen weil ihnen klar ist dass es eine Schlägerei gibt wenn sie weitermachen die ersten Schüler die eintrudeln haben die Szene gesehen beginnen mit uns zu diskutieren und gehen nicht rein und nach und nach wird die Gruppe größer Mastino hält es für angebracht persönlich einzugreifen und tritt in die Vorhalle hinaus um zu zeigen dass er auch da ist und fängt an auf und ab zu gehen

mir kam er vor wie der Fabrikherr der vor der Fabrik auf und ab spaziert in diesen Geschichten die ich über die ersten Arbeiterkämpfe die ersten Streiks gelesen hatte die gleiche Einschüchterungsmethode und wirklich kriegen die Schüler Angst der eine oder andere sagt er will reingehen tausend Ausreden fallen ihnen ein obwohl wir uns jede Mühe geben ihnen klarzumachen dass wenn wir alle draußen bleiben Mastino uns nichts anhaben kann alle kann er uns nicht feuern aber da ist zu viel Unschlüssigkeit und zu viel Angst und ein erstes Grüppchen geht mit gesenkten Köpfen hinein und das ist wie ein allgemeines Signal auch die anderen stürzen hinein und innerhalb von Minuten sind fast alle drinnen nur an die zwanzig bleiben draußen und wir sechs und auch Mastino geht wieder rein und grinst zufrieden

wir machen lange Gesichter Malva ist ganz fertig aber Cocco lässt nicht locker gehen wir rein und machen sie trotzdem mit denen die da sind sagt er wir müssen sie trotzdem machen jetzt haben wir ohnehin nichts mehr zu verlieren ruft er und so überreden wir die anderen die Versammlung trotzdem zu machen wir gehen alle zusammen hinein und setzen uns in ein leeres Klassenzimmer im Erdgeschoss eine Minute sind wir drin und haben noch kein Wort gesagt da kommt Mastino und brüllt was wollt ihr hier du da und du und du ihr seid alle relegiert hinauf mit euch ins Rektorat einer nach dem anderen und dann geht er wieder und lässt die Tür offen Scilla gibt der Tür einen Tritt und verbarrikadiert sie wir schieben zwei Bänke davor verharren einen Augenblick stumm wir müssen was tun blicken uns in die Augen aber wissen nicht was tun kommen uns vor wie in der Falle

dann ein Geistesblitz und ich habe die Seite aus einer Broschüre vor Augen die ich diesen Sommer gelesen hatte über die Kampfformen in den Fabriken und all das Zeug ich habe die Seite genau vor Augen mit der fett gedruckten Überschrift Demonstrationszug durch die Fabrik und ich sage Demo durch die Fabrik einen Demonstrationszug durch die Schule müssen wir machen was sagen die andern dazu ja eine Demo in der Schule wir gehen in alle Klassen und holen alle raus probieren wir es wenigstens wir fangen bei der ersten an und machen sie alle durch alle sind einverstanden wir gehen auf den Gang hinaus und machen einen kleinen Demonstrationszug und kommen vor das erste Klassenzimmer der Unterricht hat schon begonnen wir platzen hinein treten alle schweigend ins Klassenzimmer der Lehrer ein notorischer Liebediener von Mastino kriegt einen Mordsschreck und tut keinen Muckser sämtliche Schüler drehen sich zur Tür

Valeriana ist resolut wenn sie spricht selbstsicher nervös aber bestimmt sie hat eine laute Stimme und spricht klar und deutlich der Rektor hat uns alle relegiert sagt sie weil wir ohne seine Genehmigung eine Versammlung machen wollten alle haben es gewusst ihr habt es auch alle gewusst dass wir vorhatten diese Versammlung zu machen schon seit zwei Wochen diskutieren wir darüber heute seid ihr aus Angst reingegangen aber wenn ihr heute Angst habt dann habt ihr morgen auch Angst und immer und wir werden nie selber über unsere Angelegenheiten entscheiden können also müsst ihr jetzt gleich was tun wir müssen die Versammlung jetzt gleich machen wir alle um zu zeigen dass wir in dieser Schule keine Sklaven sind wir müssen sie machen um das zu machen was in allen anderen Schulen auch gemacht wird um zu zeigen dass wir selber entscheiden denn es ist unsere Schule und nicht die von Mastino

Cocco und Scilla blicken den Lehrer drohend an wie um zu sagen wage nicht den Mund aufzumachen und der bleibt wirklich ganz still stehen an einigen Tischen steht jemand auf und es kommen die ersten Kommentare jawohl gehen wir raus alle raus ja machen wir die Runde durch alle Klassen vom anderen Ende des Korridors kommt Mastino und sieht den Demonstrationszug vor sich fängt an zu brüllen aber jetzt kann er keinem mehr Angst machen Cocco bleibt vor ihm stehen und schreit ihm ins Gesicht Versammlung Versammlung Mastino brüllt weiter rot vor Zorn und droht allen mit Rausschmiss und brüllt wir sollen in die Klassen zurück aber der Demonstrationszug platzt schon in die nächste Klasse hinein die Methode besteht darin alle gleichzeitig ins Klassenzimmer zu stürzen

Valeriana hat ihre Rede erst zur Hälfte gehalten und schon sind alle aufgesprungen um rauszugehen wir brauchen gar nichts mehr zu sagen sie haben schon alles kapiert der ganze Radau lockt auch alle aus den anderen Klassen an der Demonstrationszug wächst das Erdgeschoss ist wie leergefegt wir steigen die Treppen zum ersten Stock hoch und gehen in die erstbeste Klasse rein jetzt sind es schon so viele Leute dass nicht alle Platz finden und auch hier kommen alle Schüler sofort heraus die von draußen reindrängen stoßen mit denen zusammen die von drinnen rausdrängen wir gehen gar nicht mehr in die anderen Klassenzimmer die Schüler kommen überall von selbst heraus auch im zweiten Stock wir sehen wie sie sich übers Geländer beugen wir brüllen alle raus und gehen die Treppen hoch bis in den zweiten Stock und als wir oben im Gang ankommen sind schon alle aus den Klassenzimmern draußen und schließen sich der Demo an

der Zug steht oben auf der Treppe alle drängen hinauf nehmen die ganze Treppe ein man hört Mastino der unten irgendwas brüllt aber man versteht ihn nicht hört nicht was er sagt es herrscht ein unglaubliches Durcheinander dann beugen wir uns runter und sehen Mastino drunten im Erdgeschoss mitten im Treppenhaus er rauft sich die Haare und macht ein verzweifeltes Gesicht man hört nur wie er brüllt die Treppe die Treppe von oben fliegen Papierkügelchen und landen unten an Mastinos Kopf dann fliegen vom ersten und vom zweiten Stock Kugelschreiber Radiergummis Bleistifte bald auch Hefte und Bücher hinab alle werfen irgendwas runter auf Mastino der da unten steht ganz allein im Treppenhaus er versucht sich nicht mal zu schützen hat die Hände in den Haaren aber nicht um sich zu schützen und brüllt immer noch die Treppe die Treppe

von den Lehrern ist nichts zu sehen die Schuldiener sind verschwunden ein paar Lehrer haben sich in die leeren Klassenräume geflüchtet und sich eingeschlossen eine nach der anderen gehen die Fensterscheiben der Klassenzimmer zu Bruch und man sieht die Lehrer entsetzt dastehen mit dem Rücken an der Wand drunten lässt Mastino einen letzten verzweifelten Schrei los mit dem er sich endlich vernehmlich machen kann die Treppe stürzt ein brüllt er das Geschrei wird leiser aber nicht wegen dem was Mastino gesagt hat sondern weil die Leute sich schon ziemlich abreagiert haben Gelso sieht mich durch seine kleine runde Brille an und fragt was für einen Scheiß brüllt denn dieses Arschloch und Cocco sagt der blufft doch nur dort unten der weiß nicht mehr was er tun soll Mastino hebt die Arme und ruft flehentlich Kinder Kinder hört auf die Treppe hält das nicht aus dieses ganze Gewicht beruhigt euch und kommt runter aber der Reihe nach ordentlich ohne zu rennen ganz ruhig

was denn der Reihe nach hört euch das an der kann es nicht lassen rumzukommandieren ruft Cocco du nimmst jetzt alle deine Drohungen zurück alles nimmst du zurück hier vor allen keiner fliegt raus und Versammlungen wann wir wollen man hört tosendes Gebrüll alle schreien Versammlung Versammlung Mastino dort unten breitet die Arme aus und lässt sie wieder sinken und als er zu Wort kommt sagt er schwer atmend ja ja alles was ihr wollt aber kommt sofort runter ich flehe euch an ich sage es zu eurem Besten kommt runter geht langsam runter nicht rennen ich bitte euch niemand wird relegiert ihr dürft eure Versammlungen machen aber kommt bitte runter alle brüllen Sieg Sieg aber keiner geht runter keiner glaubt das Märchen von der einstürzenden Treppe keiner denkt auch nur einen Augenblick daran

Gelso putzt zufrieden seine Brille Malva und ich fallen uns glücklich in die Arme und immer noch hört man Cocco mit heiserer Stimme brüllen jetzt ist es dir wohl vergangen dich aufzuspielen was dann fügt er hinzu du bist entlassen Mastino für immer komm ins Rektorat wenn wir dich rufen man hört die Stimme von Valeriana wir gehen jetzt besser in den Hof runter sagt sie um die Versammlung zu machen nur dort haben wir alle Platz und alle rufen einverstanden alle rufen Versammlung Versammlung im Hof im Hof und fangen an runterzugehen und statt der Reihe nach runterzugehen wie Mastino es wollte rennen sie alle runter noch dazu hüpfend und laut trampelnd um ihn zu ärgern und schieben und drängen Mastino steht immer noch reglos da mit erhobenen Armen den Kopf hochgereckt und brüllt nicht doch nicht doch langsam langsam und wie es dann ausging wissen ja alle

3

in der Stadt haben die Jugendgruppen ein Fest auf dem Domplatz organisiert China und ich fahren allein im Zug hin wir kommen zu früh zur Verabredung mit den Freunden es sind schon massenhaft Leute da großes Polizeiaufgebot ringsherum werden Parolen an die Mauern und auf den Boden geschrieben Wir haben ein Recht auf Freiraum oder Mehr Lust statt Frust oder Holen wir uns das Leben zurück die Bullen beginnen Druck zu machen wollen uns vertreiben es gibt ein paar Keilereien Tränengaspatronen gehen los die keinem Angst machen aber dann schaffen sie es sich einen Genossen zu schnappen und ein bisschen auf ihn einzuknüppeln wir ziehen vom Platz ab aber in den Straßen ringsum fangen wir an Pflastersteine rauszureißen und uns damit die Taschen zu füllen am Treffpunkt kommen mittlerweile große Gruppen an vor allem aus den Ghetto-Vierteln der Außenbezirke

wir versuchen Ketten zu bilden und es kommt eine ansehnliche Schlange dabei heraus wir sehen die anderen von unserer Gruppe alle sind gekommen haben sich in kleinen Grüppchen unter die anderen gemischt die Spitze des Demonstrationszugs marschiert entschlossen los in Richtung Domplatz ein Transparent wird hochgehoben auf dem steht Es ist Zeit zu rebellieren wir sind im Karneval man sieht es am Konfetti und an den Luftschlangen auf dem Boden die Familien führen ihre als Zorro Sandokan oder Schwarzer Korsar maskierten Kinder aus wir drehen eine Runde um den Domplatz und in diesem Moment bricht der Tumult aus denn die Carabinieri greifen das Ende des Demonstrationszugs an schießen Salven von Tränengaspatronen ab die Luft wird sofort unerträglich allen tränen die Augen die Familien geraten in Panik rennen hinter ihren Zorros Sandokans und schwarzen Korsaren her die bei der wilden Flucht verloren gegangen sind

China und ich bleiben bei einer Gruppe stehen die mit Pflastersteinen schmeißt und entdecken neben uns Cotogno Valeriana und Nocciola wir sehen die Carabinieri zum Angriff stürmen da schieben einige Genossen ein paar Autos quer auf die Straße ein paar Mollies auf die Autos und die Carabinieri sind nicht mehr zu sehen hinter den Flammen und schwarzen Rauchschwaden hundert Meter weiter vorn nehmen sich ein paar Leute gerade einen Rolls Royce metallic vor gehen mit Knüppeln und Eisenstangen auf die Karosserie los ein Steinhagel gegen die Fenster dann auch hier ein Mollie und der Bonzenschlitten brennt lichterloh wir spielen mit den Carabinieri noch ein bisschen Haschen auf den Straßen im Zentrum zum Schluss zerstreuen wir uns und treffen uns alle am Bahnhof wieder

allen brennen die Augen und wir reiben und reiben auch wenn es davon noch schlimmer wird und dazu der Gestank von Tränengas in der Nase wir waschen uns die Augen am Brunnen da kommt Malva die gestolpert ist kam mit hohen Absätzen und hat sich die Nase aufgeschlagen die ganze Nase ist aufgeschürft Gelso ist wie immer die Brille runtergefallen und jemand hat sie ihm im Durcheinander zertreten und jetzt sieht er fast nichts mehr Verbena hat einen Haufen Gas eingeatmet ihr ist schlecht sie muss fast kotzen da kommt Ortica klappt seinen Regenmantel auf und zeigt uns einen Gummiknüppel schwarz und lang beinahe hätten wir noch was ganz anderes mitgebracht stimmt’s Cocco Cocco hat eine Knarre auf der Straße gefunden die haben sogar eine Knarre verloren ihr hättet Cocco sehen sollen wie ein Vogel Strauß kam er angelaufen mit der Knarre in der Hand alle lachten und applaudierten aber dann haben wir sie weggeworfen was sollten wir denn mit einer Knarre

ein andermal an einem Abend Mitte April bringen sie im Fernsehen die Meldung vom Mord an einem Genossen ein Faschist hat auf ihn geschossen siebzehn Jahre war er alt die Reaktion erfolgt sofort direkt und spontan am nächsten Morgen treffen wir uns alle im Zug zur Stadt die gleichen Mienen die gleichen Turnschuhe Jacken Umhängetaschen Schals Tücher Handschuhe Mützen die Wagons sind voll die Leute stehen auf den Gängen keiner spricht und an jedem Bahnhof steigen noch mehr zu an den Häusermauern in den Dörfern durch die wir fahren sehen wir die frisch geschriebenen Parolen die gleichen Worte die auch auf den schweigenden Gesichtern der Genossen zu lesen sind an den letzten Haltestellen der Außenbezirke steigt eine Flut von Leuten ein die sich auf den Plattformen drängen sie haben Plastiktüten dabei in denen die Schutzhelme sind und unter den Jacken Schraubenschlüssel Stöcke Eisenstäbe in der Tasche Schleudern Murmeln Bolzen

als wir ankommen füllt ein langer Demonstrationszug den ganzen Bahnsteig aus und bewegt sich die Treppe hinab zur U-Bahn keiner löst eine Fahrkarte auch die Fahnen und die langen Stangen der Transparente werden mit in die Waggons genommen jemand versucht ein Lied anzustimmen doch die Atmosphäre ist düster bedrohlich wir kommen zur Universität auf dem Platz vor der Uni ein Heer von Menschen aber nicht nur Studenten nicht nur Junge sondern Leute jeden Alters auch ältere Arbeiter im Overall mit roten Halstüchern der Demonstrationszug hat sich schon aufgestellt wartet auf den Abmarsch die Leute vom Ordnungsdienst mit Tüchern vorm Gesicht bis unter die Augen und dicken Stöcken an denen kleine rote Fähnchen befestigt sind ein dumpfes Brodeln dann ein Schrei und der Slogan ertönt Genosse dein Tod wird gerächt alle gemeinsam wie Donnerrollen und der Zug marschiert ab

vor dem Justizpalast vor den Treppen hat die Bereitschaftspolizei Aufstellung genommen in voller Kriegsausrüstung die Tränengaspatronen an der Mündung der Gewehre aufgesteckt und die Visiere runtergeklappt der Zug hält plötzlich an und Parolen gegen die Polizisten werden gerufen die Spannung steigt auf tausend der Zug setzt sich erneut in Bewegung und bleibt wieder stehen auf einem Platz sehe ich einen schmächtigen Alten mit einem roten Tuch um den Hals der auf den Sockel des Obelisks mitten auf dem Platz gehievt wird und die Trompete an die Lippen setzt und Il Silenzio spielt und augenblicklich tritt beklemmende Stille ein nur die hohen Töne der Trompete sind zu hören als die Trompete verstummt ein Schrei ein ungeheuerlicher Schrei Tausende von Fäusten fahren in die Höhe alle bewaffnet mit Schraubenschlüsseln und Eisenstangen

sämtliche Geschäfte in den Straßen durch die wir kommen sind geschlossen alle Rollläden runtergelassen und auf einmal setzen alle die Helme auf Reihe um Reihe sehe ich sie auftauchen eine endlose Fläche bunter Helme wie ein Meer bunter Kugeln weiß rot blau grün schwarz der Zug bleibt in der Allee stehen in Höhe einer Querstraße da vorne ein paar Meter weiter in der Querstraße ist eine Polizeisperre Autos Jeeps Gefangenentransporter von Polizei und Carabinieri die das Parteilokal der Faschisten schützen das wenige Meter hinter der Absperrung liegt die Spitze des Demonstrationszugs mit dem Ordnungsdienst bleibt ein paar Meter vor der Absperrung stehen Schraubenschlüssel und Eisenstangen werden drohend erhoben Polizei und Carabinieri rücken zusammen und schützen sich mit den Schilden ein Steinhagel bricht los der kein Ende nehmen will man hört den dumpfen Aufschlag der Steine die gegen die Schilde und Helme der Polizisten prallen

zu Dutzenden fliegen Mollies durch die Luft dann schlagen Flammen hoch gelb rot blau bilden eine riesige Feuermauer dicht vor uns einige Jeeps haben Feuer gefangen die Polizisten brechen aus den Reihen rennen alle davon stolpernd sich gegenseitig niedertrampelnd auf ihrer Flucht wieder fliegen Mollies und noch mehr Autos fangen Feuer eine schwarze Rauchwolke man sieht nichts mehr dann sind die dumpfen Aufschläge der Tränengaspatronen zu hören die von allen Seiten auf uns niederprasseln zu Dutzenden eine Ladung von Tränengaspatronen die auf uns niederhageln im Nu ist die Luft nicht mehr zu atmen die Kordons des Ordnungsdienstes weichen zurück bis zur Einmündung der Querstraße bleiben hinter der Einmündung an der Allee stehen der Zug hat sich aufgelöst und plötzlich hört man vom Ende der Allee her laut und schrill die Sirenen einer Kolonne Polizei-Jeeps

die Sirenen kommen näher immer lauter überall höre ich Geschrei dann rennen die Leute auf einmal alle zur Seite auf die Gehsteige zu und plötzlich taucht in der sich teilenden Menschenmenge ein riesiger Polizei-Jeep auf graugrün in rasender Fahrt und streift uns auch ich renne auf dem Gehsteig weiter noch mehr Jeeps der Kolonne kommen angerast die Sirenen sind dicht neben uns zerfetzen uns das Trommelfell Steine und ein paar Mollies fliegen gegen die Autos deren Fenster mit Eisengittern geschützt sind bei einem schießen an der Seite Flammen hoch es sind so viele sie scheinen kein Ende zu nehmen von den Gehsteigen aus schmeißen die Genossen immer noch Steine und Molotowcocktails schießen mit ihren Schleudern Stahlkugeln einen Jeep sehe ich im Zickzack mitten auf der Straße fahren und dann genau auf den Gehsteig zusteuern

die Leute drücken sich an die Häusermauern klettern die Schaufenstergitter der Geschäfte hoch auf die Fenstersimse im ersten Stock die Jeeps fahren auf den Gehsteig hinauf und rasen dicht an den Häuserwänden entlang streifen uns ich klettere an einem Schaufenstergitter hoch alle versuchen irgendwo hochzuklettern aber es ist nicht für alle Platz die Leute klammern sich aneinander die Jeeps fahren auf den Gehsteigen dicht an den Häusermauern entlang und streifen uns einer zwei drei ich halte den Atem an und schließe die Augen neben mir schreit jemand vor Entsetzen ich hänge immer noch am Gitter als die Kolonne schon vorüber ist und sehe das letzte Auto das uns gestreift hat und dann mit einem plötzlichen Ruck auf die Straßenmitte zusteuert höre laute Schreie die von der Stelle kommen auf die das Auto zugesteuert ist

ein entsetzliches Gebrüll laute Schreie ich sehe viele Genossen zu der Stelle rennen ich kann nichts sehen in dem Rauch und Durcheinander alle haben rote tränende Augen vom Tränengas ich klettere von meinem Gitter runter und laufe mit anderen zu der Stelle wir stoßen mit denen zusammen die aus der Gegenrichtung kommen verzweifelte Gesichter weit aufgerissene Augen manche nehmen sich die Tücher ab einer rauft sich die Haare ich kann nicht erkennen was passiert ist eine Schar Genossen steht im Halbkreis da einige weinen aber nicht wegen dem Tränengas einige schluchzen ein junges Mädchen ruft etwas das ich nicht verstehe dann sehe ich weiter vorn den blutigen Körper am Boden sehe die lange dunkle Blutspur und sehe ein Stück davon entfernt die rötliche Masse des Gehirns das aus dem vom Rad des Polizei-Jeeps zermalmten Kopf gespritzt ist

4

dann plötzlich ein starres verschwommenes Bild das ich nicht recht zu deuten wusste eine Fotografie war es nicht denn in der Einstellung waren kaum merkliche Bewegungen das helle Licht eines Scheinwerfers das musste eine Nachtaufnahme sein irgendwas aus nächster Nähe aufgenommen so nah dass man nichts Genaues unterscheiden konnte es gab keinen Kommentar dazu nur dieses stumme und verschwommene Bild ich hörte nur das Rascheln von Chinas Fingern die einen Joint drehte dann zoomte das Objektiv der Fernsehkamera nach hinten holte einen Kopf heran den Kopf eines Mannes der Kopf lag in einer Lache in einer großen roten Lache und da war ein roter Streifen der aus dem einen Ohr kam und über die Wange lief bis zum weißen Hemdkragen

die Fernsehkamera zoomte noch weiter zurück und zeigte den Körper des erschossenen Carabiniere vor der gelben Zapfsäule einer Tankstelle neben der Leiche sah man eine Pistole ob es seine eigene war oder die mit der er ermordet worden war weiß ich nicht ich stellte den Ton des Fernsehers lauter der runtergedreht war der Sprecher sagte der Carabiniere sei vor seiner Wohnung erwartet und mit zwei Schüssen Kaliber neun in den Kopf getötet worden noch hatte sich niemand zu dem Mord bekannt dann folgte eine Aufzählung der seit Jahresbeginn gefallenen Sicherheitskräfte Bilder von toten Carabinieri und Polizisten auf der Straße oder hinter Autofenstern eine lange Liste von Namen und Daten

zwischen die Bilder der Gefallenen wurden andere Bilder eingeblendet das Fernsehen kommentierte Fahndungsfotos von Flüchtigen Szenen von Terroristenverhaftungen von Schießereien mit Terroristen Morden an Terroristen Szenen aus Terroristenprozessen mit den Terroristen in großen Käfigen aufgereiht mit geballten Fäusten und finsteren Gesichtern der Tonfall des Kommentars war der eines Kriegsberichts China die sich inzwischen den Joint angezündet hatte reichte ihn mir rüber und nahm die Fernbedienung und schaltete den Ton aus man sieht noch zwei Carabinieri in Galauniform jung und stramm die einen gigantischen Blumenkranz tragen um den ein breites violettes Band geschlungen ist mit der Aufschrift DIE REGIERUNG in großen Goldbuchstaben dann wechselte China das Programm und fing an von einem Kanal auf den anderen umzuschalten vor und zurück

damals hatte ich gerade den Job in der Farbenfabrik aufgegeben und China und ich hatten keine feste Bleibe mehr wo wir uns aufhalten konnten wir waren ständig unterwegs mal da mal dort bei Genossen die uns beherbergen konnten wir waren keineswegs die Einzigen die so lebten damals waren wir fast alle gezwungen ein Nomadenleben zu führen wegen des gespannten Klimas das herrschte reihenweise Verhaftungen und fast tagtäglich Hausdurchsuchungen auch völlig wahllos bei den verschiedensten Leuten der Bewegung bei allen die in irgendeiner Weise Genossen waren oder mit Genossen zu tun hatten und deshalb hatte man die Gewohnheit nie allzu lang irgendwo zu bleiben

man sah zu dass man nachts bei Genossen schlief von denen man meinte sie seien weniger bekannt weniger exponiert oder besser noch bei Freunden die mit der ganzen Sache gar nichts zu tun hatten oder bei Freunden von Freunden mit den Demos und Straßenfesten war es schon seit einer Weile aus und vorbei die Bewegung war zum ungeheuren Phantom geworden die Leute hatten sich in ihre jeweiligen Ghettos verkrochen gemeinsame Aktivitäten liefen nicht mehr die Szene war beherrscht vom ewigen Einerlei der geheimen bewaffneten Aktionen zu denen sich Dutzende von Kampfgruppen mit den verschiedensten Namen bekannten die sich gegenseitig Konkurrenz machten das Leben der Bewegung war zu Ende aber für die Genossen war es nicht zu Ende man konnte sich ja nicht zurückziehen und sagen warten wir’s ab sehen wir mal denn von der Repression waren alle betroffen da wurden keine großen Unterschiede gemacht

und so saßen wir also an jenem Abend auf diesem fremden Bett voller Zeitungen Zeitschriften Klamotten China und ich und rauchten einen Joint und sahen fern was wir sonst nie taten und draußen hörte man alle naselang die Polizeisirenen vorbeifahren keiner ging abends mehr auf die Straße auch im Zentrum sahen wir uns nur tagsüber und man war vorsichtig wenn man sich irgendwo mit Genossen traf und dann war da diese Geschichte mit Scilla und seinen Freunden die uns Sorgen machte Sorgen wegen ihnen und Sorgen auch wegen der Folgen die es für uns haben konnte ich weiß noch dass wir auch an jenem Abend darüber geredet haben während China weiter von einem Programm zum anderen schaltete mit der Fernbedienung

vor dieser Zeit war Scilla der klassische Ordnungsdiensttyp gewesen einer der sich bei den Zusammenstößen mit den Faschisten hervorgetan hatte als jemand der zu allem entschlossen war sehr gewalttätig sehr aggressiv Scilla war immer dabei gewesen bei allen Zusammenstößen hatte sich auch ganz allein mit den Faschisten gekeilt und auf diese Weise hatte er nach und nach einen Mythos um sich aufgebaut denn hier in der Kleinstadt war die Präsenz der Faschisten beträchtlich gewesen und wie anderswo ließen sie einen auch hier nicht in Klamotten die damals als links galten in der Innenstadt rumlaufen oder mit einer linken Zeitung in der Hand damals provozierten und verprügelten die Faschisten Leute die als Linke bekannt waren oder auch nur verdächtigt wurden Linke zu sein

später schaffte es die Bewegung die Vormacht zu gewinnen dank solcher Typen wie Scilla damals aber dominierten die Faschisten und Polizei und Staatsanwaltschaft deckten die Faschisten und in diesem Zusammenhang haben Scilla und Typen wie er also gewissermaßen die Kämpfer der Bewegung ihr Prestige aufgebaut aufgrund einer von der gesamten Linken anerkannten Notwendigkeit die physische Auseinandersetzung mit den Faschisten war eine als legitim und notwendig anerkannte Aufgabe und in dieser Rolle als aktiver militanter Antifaschist konnte Scilla sein Prestige aufbauen das ihn dann später über jeden Verdacht erhaben machte als er anfing sich als Polizeispitzel zu betätigen

Scilla trug Konkurrenz gegen alles und jeden immer körperlich aus auch mit den Genossen weil er vermutlich spürte dass er auf anderen Gebieten nicht mithalten konnte weshalb er ständig Keilereien anfing wenn auch mit dem Vorwand es nur zum Spaß zu machen aber es war immer ein grober Spaß widerwärtig ja wirklich widerwärtig und Leuten gegenüber die sich nicht körperlich mit ihm messen wollten zeigte er ein unterwürfiges leicht kriecherisches und gezwungenes Verhalten im Grunde reproduzierte er innerhalb der Bewegung die gleichen Stufen der Gewalt die er gegenüber dem Feind demonstrierte ständig fühlte er sich im Krieg gegen alles und jeden und in jedem sah er einen Feind an dem er seine Gewalttätigkeit auslassen musste und einen Genossen verprügelte er genauso wie einen Faschisten

Leute wie Scilla waren aber auch nützlich innerhalb der Bewegung er war ein Polizist im Inneren hatte eine vielleicht unbeliebte aber dennoch für nützlich erachtete Funktion Scilla und seinesgleichen nahmen nie teil an der Diskussion innerhalb der Bewegung bei den Treffen und Versammlungen hielten sie meistens den Mund und waren nur interessiert wo es um Gewalt ging sie sahen die Zuspitzungsphase der Auseinandersetzung lediglich unter einem mechanischen und rein militärischen Gesichtspunkt der Verschärfung des Kampfs und der Gewalt gegen den Staat so wie früher gegen die Faschisten gekämpft wurde bei den Arbeitskämpfen in den Fabriken der Gegend waren sie nie dabei und mit der Zeit begannen sie die Verhaltensweisen und Ideale der Untergrundkämpfer zu imitieren die Praktik der im Keller versteckten Knarre und so weiter

als es dann zu diesem Treffen kam das entscheidend war für die Auflösung unserer Gruppe und von dem ich später noch erzähle also nach diesem Treffen hat man von ihm und den anderen die den gleichen Weg eingeschlagen hatten wie er nichts mehr gehört wir haben sie nicht mehr gesehen nichts mehr gehört von ihm und Valeriana und Cotogno und Gelso abgesehen von diesen Flugblättern mit denen sie sich zu den bewaffneten Aktionen bekannten die sie machten sie machten eine Reihe bewaffneter Anschläge bis dann die Sache mit dem Carabiniere kam aber davon erfuhr ich erst als ich schon einsaß getötet hatten sie keinen Raubüberfälle Attentate manchmal Körperverletzung bis die Sache mit dem Carabiniere kam aber als ich den damals im Fernsehen sah mit China dachten wir nicht im entferntesten dass sie was damit zu tun haben könnten

China drückt wieder auf die Fernbedienung jetzt sieht man auf dem Bildschirm eine grenzenlose Ebene das Objektiv zoomt nach vorn es muss eine Aufnahme aus einem Hubschrauber sein und man sieht einen Vogel Strauß über die dürre und flache Ebene rasen geradeaus rasen mit reglosem Kopf der Rumpf zuckt rhythmisch die Beine sieht man nicht so schnell sind sie ab und zu wendet er den Kopf und wird immer schneller ein lang gestreckter Schatten folgt ihm mit großer Geschwindigkeit holt auf der Strauß wendet den Kopf der Schatten ist wenige Meter hinter ihm der Strauß rennt jetzt im Zickzack gewinnt ein paar Meter Vorsprung doch Sekunden später ist der Schatten erneut dicht hinter ihm der Strauß rast ins Nichts mit aller Kraft der Schatten schnellt in die Luft und der Gepard wirft sich auf den Strauß mit einem Satz nun sind sie ein einziger unbeweglicher Schatten der Hubschrauber dreht ab man sieht nur den grauen Himmel hört das Knattern der Rotoren

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es passierte gleich nach Weihnachten am Heiligen Abend hatte ich ein Telegramm von China erhalten die mir mitteilte sie komme mich am Montag im Knast besuchen das Telegramm war eingetroffen als wir gerade diskutierten ich war im Gemeinschaftsraum mit vier anderen Genossen als wir darüber diskutierten wie wir die Arbeit für das Weihnachtsessen verteilen sollten ich machte Risotto gelben Risotto und war gerade dabei die Brühe zu machen auf dem Campingkocher mit Brühwürfeln ein Wärter rief nach mir ich drehte mich um und sah das kleine gelbe Viereck des Umschlags auf dem Gitter liegen das ist vom Anwalt dachte ich wegen dem Prozess der jetzt nah bevorstand aber als ich dann sah dass es von China war dachte ich nein ich dachte glaube ich gar nichts ich freute mich sehr denn es war eine Überraschung und ich dachte So eine Überraschung macht China mir besucht mich an Weihnachten und ich freute mich sehr

komisch dachte ich von all den Weihnachten die wir zusammen verbrachten haben wir glaube ich nicht eines gefeiert und jetzt stand ich da und bereitete das Weihnachtsessen vor dachte an Chinas Haar an ihr langes Haar das sie nach vorn wirft wenn sie lacht und das dann ihr ganzes Gesicht verdeckt ihr langes schwarzes Haar das ich wegen der Trennscheibe nicht mal anfassen konnte wenn sie mich besuchte aber zum Glück durfte man hier jetzt ohne Trennscheibe miteinander reden aber ich weiß noch das war eine Qual damals dass wir uns nicht mal einen Augenblick an der Hand fassen durften und das deprimierte uns schrecklich auch wenn wir froh waren uns zu sehen aber doch nicht in dieser unmenschlichen erniedrigenden und deprimierenden Weise und manchmal packte mich vor der Besuchsstunde eine irre Wut weil ich wusste dass ich sie dort hinter der Glasscheibe sehen würde und wir durch die Glasscheibe miteinander reden mussten ohne uns auch nur mit einem Finger berühren zu können

mir kam dieses Hassgefühl das ich schon öfters gehabt hatte das Blut stieg mir in den Kopf ein übermächtiger Wunsch alle umzubringen die Wärter irgendwen hier auf der Stelle jetzt sofort eigenhändig wenn ich daran zurückdenke kommt es mir vor als hätte ich es immer noch dieses Gefühl obwohl so viel Zeit vergangen ist diesen Besuch also hatte ich gar nicht erwartet weil China schon vorige Woche hier gewesen war ein sehr schöner Besuch war das gewesen wir hatten über alles Mögliche geredet Pläne geschmiedet denn ich rechnete damit bald rauszukommen gleich nach dem Prozess und deshalb war ich ganz gerührt wenn ich an die Wahnsinnsreise dachte die sie meinetwegen machen musste tausend Kilometer jedes Mal um zu mir zu kommen und dann wieder tausend Kilometer Heimfahrt ein Wahnsinn war das aber dieser Besuch fiel dann aus wegen dem ganzen Aufruhr zu dem es dann gekommen ist

der Montag kam nein es war schon am Sonntag es war die Zeit des nachmittäglichen Hofgangs morgens hatte es eine Durchsuchung gegeben aber seltsamerweise war diese Durchsuchung anders als die üblichen Durchsuchungen gewesen ein bisschen schärfer als sonst und die Wärter hatten auch etwas Merkwürdiges gemacht denn hier läuft viel über Zeichen und Symbole bei diesen Sachen bei Zellenkontrollen und Ähnlichem es ist immer ein Problem sich gegenseitig Zeichen zu geben und das Zeichen das sie dieses Mal hinterließen war schwer zu deuten war merkwürdig jedenfalls für mich weil ich absolut keine Ahnung hatte was vorging während die Wärter vermutlich eine Ahnung hatten natürlich hatten sie die denn sie witterten was für eine Stimmung herrschte und wir fanden dieses Zeichen dort auf dem Tisch als wir nachmittags von der Freistunde in die Zellen zurückkamen

sie hatten alles stehen lassen auf allen Tischen in allen Zellen allen Gruppenräumen hatten das ganze Zeug stehen lassen den ganzen Kram Dosen Büchsen Flaschen alles sämtliche Behältnisse hatten alles auf die Tische gestellt von den Waschpulverkartons über die Kaffee- und Zuckertüten bis zu den Öl- und Shampooflaschen sämtliche Büchsen sämtliche Gefäße die Flaschen alles hatten sie auf den Tischen stehen lassen als wollten sie auf irgendwas anspielen ich hab das Ganze erst später kapiert anfangs achtete ich gar nicht groß drauf wunderte mich nur über das ganze Zeug auf dem Tisch und als ich dann zum Hofgang runterging am Nachmittag wunderte ich mich dass sie das Gleiche in allen anderen Zellen gemacht hatten

jetzt erinnere ich mich dass die Atmosphäre an diesem Nachmittag im Hof besonders gespannt war die Luft war zum Zerschneiden dick und was ich damals dachte denn ich kannte solche Situationen und hatte meine Erfahrungen und so dachte ich da wird es wieder einem an den Kragen gehen denn alle waren angespannt es lag in der Luft man konnte es an vielem spüren an der seltsamen Stille die anders war als sonst und besonders an den Blicken rasche kurze Blicke die manche unvermittelt wechselten während sie auf und ab gingen was ich damals vermutete war dass eine Messerstecherei bevorstand oder jedenfalls irgendeine Abrechnung zwischen irgendwem und ich wartete drauf dass jeden Moment etwas derartiges passierte so was hatte ich schon öfters erlebt beispielsweise einmal kurz nachdem sie mich verhaftet hatten und das hat mich damals sehr geschockt

damals war das so gewesen dass wir ganz normal im Hof auf und ab spazierten und auf einmal gingen drei vier normale Gefangene denn wir hatten Hofgang zusammen mit den normalen Gefangenen diese drei oder vier also gingen von hinten auf einen anderen Gefangenen zu einen von denen die wie sie auf und ab gingen und warfen ihm von hinten eine Schlinge um den Hals eine Schlaufe aus Draht warfen ihm diese Schlinge von hinten um den Hals und fassten ihn zu zweit an den Armen packten seine Arme um ihn festzuhalten und zogen den Draht zu eine übliche Methode jemanden bei einer Messerstecherei bewegungsunfähig zu machen denn es ist gar nicht so leicht wie es aussieht jemanden zu erstechen außer der Stich trifft so gut an einer vitalen Stelle dass der Mann verreckt aber es kommt vor dass einer auch nach zwanzig dreißig Stichen noch nicht tot ist

es ist nicht leicht einen zu erstechen nicht so leicht wie es aussehen mag ich meine es ist leicht einem einen Messerstich zu versetzen aber nicht leicht ihn zu töten auch weil einer einen Messerstich ja nicht so einfach hinnimmt ohne zu reagieren der reagiert versucht sich loszumachen stellt alles Mögliche an schlägt um sich es ist sehr schwierig ihn festzuhalten und eine Methode ist eben die ihm vorher eine Drahtschlinge um den Hals zu werfen sie zuzuziehen bis er halb bewusstlos ist weil er fast erstickt und inzwischen von unten nach oben auf ihn einzustechen denn Stiche von oben nach unten sind weniger wirkungsvoll man muss von unten nach oben stechen und vor allem versuchen einen vitalen Punkt zu treffen hier unter dem Brustbein

sie warfen ihm also diese Schlinge um den Hals und die anderen packten ihn an den Armen und der hinter ihm zog an der Drahtschlinge aber der Draht riss oder die Schlinge war schlecht gemacht was wahrscheinlicher ist jedenfalls löste sich die Schlinge ging auf oder was weiß ich jedenfalls schafften sie es nicht sie an seinem Hals zuzuziehen und der Mann reagierte natürlich mit blankem Entsetzen denn er kapierte sofort was die vorhatten die ihm da den Draht um den Hals legen wollten die jedoch rissen nach einem Moment der Verlegenheit Witze und sie hatten ja auch noch nicht die Messer gezogen man hatte noch nichts gesehen von den Messern

sie machten also Witze schlugen ihm auf die Schultern und sagten jetzt bist du aber erschrocken was als sei alles nur ein Scherz gewesen aber der Mann glaubte nicht dass es ein Scherz war der fiel natürlich nicht darauf rein und solche Scherze macht man ja auch nicht im Knast wenn einer so einen Scherz mit dir macht den schlägst du echt tot denn solche Scherze macht man nicht und dann ist der Typ an das Gitter vom Hof gelaufen und hat gebrüllt hat nach den Wärtern gerufen damit sie ihn rausließen und in diesem Augenblick wurde denen die ihn erledigen sollten klar entweder schnappten sie ihn sich jetzt gleich oder die Wärter kamen angelaufen und das Ganze wurde schwieriger und wenn der es rechtzeitig schaffte rauszukommen erwischten sie ihn nie mehr denn dann wäre er natürlich verlegt worden oder hätte sich in eine Isolationszelle stecken lassen jedenfalls hätten sie ihn hier nicht mehr zu Gesicht gekriegt